Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Neonazis + Hitler = „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott.“ Konrad Heiden

22. August 2022 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Da schon wieder oder immer noch die geistige Schwäche, diesmal sogar in Form einer deutschen Parlamentspartei, auf angebliche nazi-onale Größe sich beruft und über einen ihrer Vordenker auf Vogelschiss sich herausreden wollte, wird hier für ewig Gestrige eine historische Abrechnung aus dem Jahre 1935  exhumiert, die keineswegs als nachträgliches braunes Sakrament daherkommt, sondern der Klärung der geistigen Exkremente ewig Gestriger dient.

Karl Kraus beschrieb bereits 1933 in „Dritte Walpurgisnacht“  die Terrorwelt im dritten Reich. Er hatte als Quelle nur die jedermann zugänglichen Berichte aus Zeitungen. Sie beschrieben das Grauen im NS-Staat, als jeder Gegner nicht nur sprichwörtlich wie Freiwild zum Abschuss freigegeben wurde. „Wir haben es nicht gewusst…“, dabei musste man nur die Zeitungen in Nazideutschland aufschlagen. Auschwitz begann 1933. 

Zwei Jahre danach veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine Biographie des aus Österreich stammenden Führers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an Versager oder Verbrecher waren, also schon lange vor der sog. Machtergreifung und es auch blieben. „Nationalsozialismus: Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“.  So 1935 Konrad Heiden und ich möchte hinzufügen: Tat ohne Moral.

Konrad Heidens Hitlerbiographie wird hier in wesentlichen Auszügen vorgelegt zur Standortbestimmung gegen pseudonational Verwirrte für alle Zukunft. Für die im Denken Kurzen leider etwas länger als besagter Vogelschiss, aber es lohnt der Klarheit wegen.

Der geistige Ziehvater der neuen Rechten, Adolf Hitler, war ein kompletter Versager im bürgerlichen Leben, wie sehr viele seiner damaligen Mit- und heutigen Nachläufer auch. Er war ein nichtsnutziges Rednertalent, körperlich schwach und überaus faul, deshalb begrenzt gebildet, ausgestattet mit den darwinistischen Instinkten des Obdachlosenasyls, ohne Moral und Anstand, persönlich feige, ein Menschenverächter aus Überheblichkeit und Neid, als Mensch untauglich, ein notorischer Lügner für seinen Vorteil, skrupellos gegen Andersdenkende bis zum vielfachen Mord in den eigenen Reihen schon 1934. So machte er sich auf dem Weg zur Entfesselung des Weltenbrandes, in Begleitung des Abschaums der Gesellschaft und den zu allen Zeiten bereiten, korrupten Karrieristen.  Mehr war das nicht mit diesem Hitler und bedauerlicherweise nicht weniger, allen ähnlich gearteten Epigonen zum Trotz.

 Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte Flachköpfe sie immer aufs Neue mit dem Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den jene mit der Verrichtung ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen.  Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes. Man muss nicht von dieser grausigen Ausgeburt sprechen, aber man soll und man muss von ihren Opfern sprechen.  Diese Albtraumspottfigur ist es nicht wert, außer man liest Konrad Heiden. Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden. Und: Es gibt nichts wirklich Neues über den Verführer nach Konrad Heiden. Das trifft auf alle Biographien Hitlers der folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu.

Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte Heiden die Rückführung des „Phänomens“ Hitler auf die banale Wirklichkeit. Man erinnert Hannah Arendts Wort von der Banalität des Bösen.

Eine Neuauflage erschien dankenswerterweise 2011  im Europaverlag Zürich. Erhältlich ist sie bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage und lohnt mehr als alle anderen postmortalen telegenen Erklärungsversuche des großen Verderbers.

Konrad Heiden, *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im allerbesten Sinne.

„Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.“

KONRAD HEIDEN

ADOLF  HITLER

DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT

    EINE BIOGRAPHIE          EUROPAVERLAG  ZÜRICH 1936

Am Furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe; ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, dass der hellere Teil der Menschheit sie als Betrogene oder Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen.

Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zwanzigstes Buch

Vorwort

Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Bedürfnis auszusprechen, was ist. In Deutschland ist das heute unmöglich, weil dort die Interessen des Staates der objektiven Erforschung der Wahrheit entgegenstehen. Außerhalb Deutschlands erschweren es zunächst jene natürlichen Irrtümer, die aus Fremdheit und Entfernung entspringen. Ein System schließlich, dass mit soviel Intelligenz und Leidenschaft über seine Grenzen hinauswirkt und das andererseits wie mit magnetischer Kraft soviel Intelligenz und Leidenschaft feindlich gegen sich sammelt, ist durch das bloße Bestehen eine ernste Gefahr für den Wahrheitssinn in der ganzen Welt. Die Hingabe von Kämpfern an hohe Ziele kann ebenso wie der niedrige Einfluss von Interessen das reine Gefühl für die Wahrheit trüben.

Die Lüge ist wie der Krieg ein Unheil, das einseitig entfesselt werden kann, aber dann alle verdirbt. Wahrheit ist auf die Dauer die schärfste Waffe, und das Erz, aus dem sie geschmiedet wird, heißt Tatsache. Das vorliegende Buch basiert auf fünfzehnjähriger  Beschäftigung mit dem Thema, auf Beobachtung aus der Nähe, schon in der frühesten Stunde; auf Durchsicht aller erreichbaren Quellen, offener und vertraulicher; schließlich auf  Auskünften mancher eingeweihter Personen, von denen heute noch einige in der Nähe Hitlers an wichtiger Stelle tätig sind. Die aller Welt bekannten Umstände machen es leider unmöglich, diese Gewährsmänner zu nennen; ich muss mich mit der Hoffnung zufrieden geben, dass die belegten Teile des Buches ausreichendes Vertrauen  auch für die notgedrungenerweise  nicht belegten  erwecken werden.

Auf Grund dieses Materials habe ich in meiner „Geschichte des Nationalsozialismus“ den Aufbau der Hitlerbewegung, in „Geburt des dritten Reiches“  den Aufbau des Hitlerstaates darzustellen versucht. Die Schilderung der Hauptperson musste dabei zu kurz kommen; das Menschliche, Private, vieles Anekdotische wegfallen. In diesem Buche versuche ich es zu geben. Ich halte das für gerechtfertigt. „Adolf Hitler ist Deutschland“ wurde von maßgebender Stelle verkündet, nun, so versuche ich, in Adolf Hitler dies heutige Deutschland zu erklären. Der „Held“ dieses Buches ist weder ein Übermensch noch ein Popanz, sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse  und, zahlenmäßig betrachtet, der größte Massenerschütterer der Weltgeschichte. Man hat mich früher wegen der Überschätzung dieses Gegners getadelt; ich muss heute solche Tadler von ehemals vor Überschätzung warnen. Es scheint an dem eigentümlichen Magnetismus dieser Persönlichkeit zu liegen, dass sie die Urteile nach oben oder nach unten  verrückt. Ob ich grade getroffen habe mag der Leser entscheiden. Wenn man einen Abgrund zuschütten will, muss man seine Tiefe kennen.

Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.

Zürich, 20. August 1935  Konrad Heiden

Vorwort zum 18. Bis 20. Tausend

Nach dem Erscheinen des Buches gingen mir, wie zu erwarten war, von vielen Seiten  Mitteilungen zu, die dem Bilde Adolf Hitlers weitere Einzelzüge hinzufügen wollten. Ändern konnten sie es nicht. Lücken oder gar Irrtümer, mit denen eine zeitgenössische Darstellung rechnen muss, berichtigt zum Teil die Geschichte, indem sie die Figuren von den Plätzen stößt und Verborgenes bloßlegt; völlige Klarheit bleibt das unerreichte Ziel  jeder Geschichtsschreibung. Künftige Forscher werden vieles sehen, was uns heute noch entzogen ist; manches werden sie aus ihrer Ferne kaum glauben, was die Gegenwart breit erlebt, aber selten lang bewahrt. Dies rechtfertigt den Versuch zeitgenössischer Geschichtsschreibung.

Die Notwenigkeit fortwährenden Neudrucks legte den Gedanken nahe, eine der Auflagen  zur Einfügung des sich ansammelnden zusätzlichen Materials zu benutzen. Das ist hiermit geschehen. Der Leser wird dabei allerlei bisher unbekanntes Detail finden, und ich hoffe, dass das Buch an Farbe und Spannung gewonnen hat. Vom Ganzen her gesehen handelt es sich  freilich um  Neuigkeiten, doch um nichts Neues. Die Familien- und Jugendgeschichte wurde ausgeforscht und mit Daten belegt; die Schauer des 30.Juni mussten, wie sie mir  mit neuen Tatsachen mitgeteilt und verbürgt wurden, berichtet werden. Aber wirklich abgeändert werden musste die Darstellung nur in einem Punkt. Der Tod Angela Raubals, der Nichte Adolf Hitlers, erscheint mir  heute nicht mehr als Selbstmord.

Die Zusätze haben den Umfang des Buches erweitert. Sie hätten es noch mehr getan, wenn nicht einige Striche anekdotisches Nebenwerk, gelegentlich Wiederholungen und Längen beseitigt hätten.

*

In Tagen des Bangens um Europa werden diese Zeilen geschrieben. Die Zeit hat ein furchtbares Tempo angenommen, und die Schrecken von gestern weichen schier der rasch  wachsenden Angst vor dem Morgen. Aber gerade deshalb hat dieses Buch seinen guten Sinn. Es sucht zu schildern, wie eine Welt unterging, weil sie der eigenen Kraft nicht mehr vertraute, an die volle Ruchlosigkeit des Gegners nicht glaubte, mit der Treulosigkeit Verträge und mit der Vernichtung Frieden schloss. Diese tödlichen Irrtümer aber waren kein Zufall. Sie entsprangen dem Egoismus der einzelnen Teilhaber an jener versinkenden Welt. Ihnen fehlten Kraft und Klammer eines gemeinsamen, durch Willen lebendigen Gedankens, für den sie die Existenz in den Kampf geworfen hätten.

Auch Europa wird in den kommenden Kampf – in welcher Form er immer ausgefochten werde –  nicht bestehen, wenn ihn nur die verbündete Selbstsucht einzelner Völker führt. Nicht das Sicherheitsverlangen  ängstlicher  Nationen, sondern das neue Hochgefühl einer stolzen europäischen Zukunft, weit alle beschränkten nationalen Zielsetzungen überflügelnd, wird die Gefahren von heute bannen. Und diese Hegemonien und Imperien  würden, eins nach dem andern, wiederum an dem inneren Widerspruch ihrer Zielsetzung zugrunde gehen, die eine hoffnungslose Völkerwelt des Eroberns und Zerstörens, Fressens und Gefressenwerdens nicht überwindet, sondern verewigt.

Es gibt geschichtliche Notwendigkeiten, deren Strom tief unter dem Wellenschlag der Tagesereignisse dahinzieht. Die Europäisierung der Nationen wird der große geschichtliche Prozess der nächsten Jahrzehnte sein. Aus ihm wird ein Europa hervorgehen, das nicht mehr auf den Berechnungen der Staatsmänner, sondern auf dem Willen der Völker gründet. Denn an den Willen, nicht den Glauben, geht der neue Auftrag der Geschichte: das Europa des neuen Menschen zu schaffen. Deutschland wird in ihm nicht mehr der Schrecken, sondern eine Hoffnung der Welt sein. Das ist ein deutsches Ziel.

Zürich 10.Mai  1936  Konrad Heiden

Erster Teil

ZUM MENSCHEN UNTAUGLICH

1. Heimat und Herkunft

Die Vorfahren

Adolf Hitlers Vater ist der uneheliche Sohn einer armen Bauernmagd. Die merkwürdigen Familienverhältnisse Hitler mag die nebenstehende Stammtafel (fehlt hier. Anm. d. Red.), die sich auch zum Teil auf die  Forschungen des Wiener Genealogen Karl Friedrich von Frank, aber auch auf sonstige Nachforschungen in Kirchenbüchern stützt, etwas verdeutlichen. Dieses Bruchstück einer Ahnentafel zeigt, wie die heutige Namensform Hitler aus einem Sammelsurium verschiedener Klänge und Schreibungen erst sehr spät herauswächst. Es gibt erwiesenermaßen viele jüdische Hitlers, und die Ähnlichkeit des sonst seltenen Namens hat zur Suche nach einem jüdischen Einschlag in der Familiengeschichte verleitet. Es ist ein Irrtum.(…)

Merkwürdige Familie

Das „Waldviertel“ (…) ist eine ernste, abseitige, nicht eben reiche Landschaft; wie viele solcher Gegenden hat sie keinen Mangel an Aberglauben und Spukgeschichten. Die Ahnen scheinen arme Bauersleute gewesen zu sein; „Kleinhäusler“ steht öfters in den Kirchenbüchern. Von der Unruhe der Hitlerschen, der Beständigkeit der Pölzlschen Linie, die in Adolf Hitlers Elternpaar aufeinandertreffen, wurde schon gesprochen. (…) Bemerkenswert ist in der väterlichen Linie die Vitalität. Die Zahl von Alois Hitlers ehelichen Kindern ist sieben, doch schon bei Georg Hiedler lassen die spärlichen  Daten alle Vermutungen zu. Dreimal hat Alois Hitler geheiratet, 52 Jahre war er alt, als sein Sohn Adolf geboren wurde, mit 57 Jahren kann das letzte Kind. Das auffallende Kindersterben in der dritten Ehe deutet auf eine Schwächeanlage, die offenbar aus dem Blute der Mutter stammt; das Bild zeigt ein junge Frau von zartem Typus. Merkwürdig wie dieselbe Krankheit durch die ganze Familie schleicht: Alois Hitlers erste und zweite Frau sterben an Schwindsucht, auch er erliegt einem Lungenleiden.

Ist erbliche Belastung zu erkennen? Eine Tante Adolf Hitlers mütterlicherseits wird von einer Hausgenossin als „arbeitsscheu und nicht ganz normal“ bezeichnet, doch reicht dies Zeugnis natürlich nicht aus. Ein Sohn aus Alois Hitlers zweiter Ehe geriet auf die schiefe Bahn, doch gerade dessen Vollschwester  Angela wird als tüchtiger, normaler Charakter mit sympathischen Zügen geschildert.  Absonderlichkeiten weist die Familiengeschichte genug auf; dennoch reichen sie wohl nur eben hin, das bereits bekannte Bild Adolf Hitlers ein wenig schärfer zu beleuchten. Mit Adolf Hitler ist die Familiengeschichte in die Politik gekommen. Darum steht die seine hier.

2. Ein früh gescheiterter

Erste Daten

(…) Die nächste offizielle Nachricht  über den Lebensgang dieses Kindes liefert das Jahr 1895. Am 2. April dieses Jahres kommt es in die Volksschule von Fischlham bei Hafeld. Zwei Jahre darauf Übergang in die Klosterschule des Stifts Lambach; ein Lehrer erinnert sich, dass er diesen Schüler wegen Rauchens im Klostergarten entlassen habe. Das letzte Volksschuljahr verbringt er in Leonding; es muss vermerkt werden, dass in seinen Zeugnissen aus dieser Zeit nur die Note 1 steht, gelegentlich mit Ausnahme von Gesang, Zeichnen und Turnen. Umso auffallender ist der Rückschlag, als er im September 1900 in die Staatsrealschule in Linz eintritt. Im ersten Schuljahr sind dort die Leistungen derart, dass er sitzen bleibt und die Klasse wiederholen muss. Dann bessern sich die Leistungen zeitweise; in Geschichte sind sie mehrmals vorzüglich, in Mathematik genügend oder nicht genügend, ebenso Französisch; meistens genügend oder allenfalls befriedigend auch in Deutsch, vorzüglich in Freihandzeichnen und in Turnen. Der Fleiß wird als ungleichmäßig oder allenfalls hinreichend bezeichnet. Ein Jahr nach dem Tode des Vaters geht er von Linz fort nach Steyr in Oberösterreich(…) und besucht die dortige Staatsrealschule.

Kindheit und Schule

Was sagt Hitler selbst über seinen Bildungsgang? Vater will ihn studieren lassen. Er soll höherer Staatsbeamter werden. Adolf will nicht: „Mir wurde gähnend übel bei dem Gedanken  als unfreier Mann in einem Büro sitzen zu dürfen, nicht Herr sein zu können der eigene Zeit, sondern in auszufüllende Formulare den Inhalt eines ganzen Lebens füllen zu müssen.“ Die Scheu vor geregelter Arbeit ist ihm geblieben. Er wagt dem Vater aber nicht offen zu widersprechen: „Ich konnte meine inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügt mein eigener fester Entschluss, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen.“ Ein kleiner Duckmäuser also.

„Wie es nun kam, weiß ich heute selber nicht, aber eines Tages war mir klar, dass ich Maler werden würde, Kunstmaler.“ Härteste Opposition des Vaters: „ Kunstmaler, nein, solange ich lebe niemals!“ Darauf passive Resistenz des Sohnes: „ Ich ging einen Schritt weiter und erklärte, dass ich dann überhaupt nicht mehr lernen wollte. Da ich nun natürlich doch mit solchen Erklärungen den Kürzeren zog, insoferne der alte Herr jetzt seine Autorität rücksichtslos durchzusetzen sich anschickte, schwieg ich künftig“ – der Widerstand duckt sich abermals vor dem väterlichen Stock – „setzte meine Drohung aber in die Wirklichkeit um. Ich glaubte, dass, wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben mich doch meinem erträumten Glück würde zugehen  lassen.“

Mit anderen Worten: Der Schüler Adolf Hitler wird aus Kunstbegeisterung faul: „Sicher war zunächst mein  ersichtlicher Misserfolg in der Schule.  Was mich freute, lernte ich, vor allem auch alles, was ich meiner Meinung nach später als Maler brauchen würde. Was mir in dieser Hinsicht bedeutungslos erschien oder mich auch sonst nicht so anzog, sabotierte ich vollkommen. Meine Zeugnisse in dieser Zeit stellen, je nach dem Gegenstande und seiner Weinschätzung, immer Extreme dar. Neben „lobenswert“ und „vorzüglich“  „genügend“ oder  auch  „nicht genügend“. Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in Weltgeschichte.“ Das ist ein sehr verklärendes Rückerinnern. In Wahrheit blickt aus diesen Schulzeugnissen ein gewecktes Kind mit lebhafter Phantasie und wenig Disziplin heraus, das sich für die bunten und leicht fasslichen Fächer interessierte und die anstrengenden vernachlässigte.

Es gibt genug Berichte von Lehrern und Mitschülern, Hausgenossen und Nachbarn, die den Buben von damals ziemlich übereinstimmend schildern: ein großer Indianerhäuptling, Raufbold und Anführer,  stimm- und wortbegabt,  plant mit den Kameraden eine Weltreise, bringt Mordinstrumente wie „Bowie-Messer“ und „Tomahawk“  mit in die Schule und liest unter der Bank Karl May. Wenn er Prügel bekommt,  darf er sich beim Vater nicht beklagen, sondern muss sich selber helfen. Das alles gibt kein unsympathisches Knabenbild; nur sollte in Verständiger, groß geworden, nicht mehr daraus machen, als dran ist.

Ungenügende Schulleistungen sagen gewiss nichts gegen einen Menschen; selbst ungenügende Leistungen in Deutsch brauchen  einen künftigen Redner und Schriftsteller noch nicht bloßzustellen. Aber Hitler selbst  ist es, der diese Dinge ungeheuer ernst nimmt, indem sie weit über ihr natürliches Gewicht hinaus das Gemüt belasten. Den mangelhaften Schulleistungen schreibt er den Fehlschlag seiner bürgerlichen Laufbahn zu; und was er – im Gegensatz zu tausenden anderen Autodidakten –  im Leben an Bildung nie erwirbt, soll nach seiner Meinung immer noch die Folge dieser Jahre in Linz und Steyr sein. Diese Selbstbemitleidung wird von den Schulzeugnissen auf ihr richtiges Maß zurückgeführt. Schnelligkeit des Begreifens und Unlust zur Arbeit – diese Eigenschaften  kennzeichnen den Knaben und prägen bis in die feinste Verästelung die intellektuelle Seite eines ganzen Menschenlebens.

Inzwischen werden sein Leistungen in der Schule immer schlechter, der Konflikt mit dem Vater immer härter. Alois Hitler erleidet einen Schlaganfall, als sein Sohn zwölf Jahre alt ist. „Was er am Meisten ersehnte, seinem Kinde die Existenz mitzuschaffen, um es so vor dem eigenen bitteren Werdegang zu bewahren, schien ihm damals wohl nicht gelungen zu sein.“ Alois Hitler starb, an der Wohlgeratenheit seines Sohnes zweifelnd.

Kunst und Krankheit

Die Mutter lässt ihn weiter auf die Schule gehen. Aber: „In eben dem Maße nun, in dem die Mittelschule sich in Ausbildung  und Lehrstoff von meinem Ideale entfernte, wurde ich innerlich gleichgültiger. Da kam mir plötzlich eine Krankheit zu Hilfe.“ Diese Krankheit ist ein Lungenleiden, das ihn auch zum Militärdienst untauglich macht, das später unter der Wirkung einer Gasvergiftung wieder hervortritt, seine Stimme zeitweise schwächt, dann eine Weile wieder schläft und in der Mitte des fünften Lebensjahrzehnts anscheinend abermals ausbricht.

In den Jahren nach des Vaters Tode war Adolf Hitler öfters mit der Mutter und der jüngsten Schwester Paula in Spital, also in der Heimat der Mutter. Dort verbrachte er bei der Tante Therese Schmidt seine Ferien. Er wird aus jener Zeit als großer, bleicher und hagerer Junge geschildert. In Spital scheint ihn das Leiden besonders gepackt zuhaben. Er war in Behandlung bei dem Arzt Dr. Karl Keiß in Weitra. Dieser sagte zu der Tante Therese: „Von dieser Krankheit wird der Adolf nicht mehr gesund.“ (…) Zu seiner Tante Therese sagt er beim Abschied im Jahre 1908: er werde nicht früher wieder nach Spital kommen, als bis er etwas geworden sei.

Was er werden will, ist immer noch Maler. Der Schulbesuch wird einfach abgebrochen. Ohne Abschluss und Reifzeugnis und zumindest auch ohne zwingenden materiellen Grund  verlässt er die Schule im Jahre 1905 endgültig. (…) Was Adolf Hitler in den letzten Jahren bis zum Tode seiner Mutter tat und wo er sich aufgehalten hat, darüber geht er in seiner Lebensbeschreibung mit dunklen Worten hinweg. Es scheint fast, dass er damals zum ersten Male für ein paar Monate in Deutschland gewesen ist. Ehemalige Schüler der privaten Malschule des Professors Gröber in der Blütenstraße in München erinnern sich an einen Mitschüler namens Hitler. Es gibt auch zwei Photographien; sie zeigen im Kreise von Kolleginnen und Kollegen einen Jüngling, dessen Ähnlichkeit mit etwas späteren Bildern nicht gering ist. Er soll nach Schilderungen im Allgemeinen ruhig und zurückhaltend, fast schüchtern gewesen sein; gelegentlich konnte er dann stark ausbrechen und viel Lärm und Betrieb machen. Er sprach stark mit den Händen, und seine kurzen, eckigen, brüsken Kopfbewegungen fielen auf – Merkmale, die ein paar Jahre später auch in Wien von Kameraden beobachtet wurden. Ein Schulkollege aus dieser Münchner Zeit sagte viele Jahre später zu einer Mitschülerin, die ihn an den ehemaligen Kameraden erinnerte: „ Was, unser schüchterner Jüngling soll jetzt der Hitler sein?“

Durchgefallen

Seit Oktober 1907 lebt er, von der Mutter oder anderen Verwandten unterstützt, in Wien, sich auf die Malakademie vorbereitend und im übrigen die große Stadt auf knabenhafte Weise genießend: Theater, Museen, Parlament. Bald bezeichnet er sich als Student, bald als Maler, denn er ist überzeugt, dass er demnächst Schüler der Malschule in der Akademie der bildenden Künste sein wird. Er wird es nicht sein.(…) „Die Probezeichnung machten mit ungenügendem Erfolg oder wurden nicht zur Probe zugelassen, die Herren: … Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…  ungenügend.“

Also abgelehnt. Zu Hause scheint er von diesem Misserfolg nichts erzählt zu haben und in seiner Lebensbeschreibung verschweigt er ihn völlig. Er bleibt in Wien (…) und nimmt sich vor, es im nächsten Herbst nochmals zu versuchen. Das Ergebnis ist noch niederschmetternder, denn diesmal heißt es in der Klassifikationsliste einfach:

„Die Probezeichnungen machten mit ungenügendem Erfolg oder waren nicht zum Probezeichnen zugelassen die Herren: …. 24.  Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…Nicht zur Probe zugelassen.“ Das bedeutet, die von ihm mitgebrachten Zeichnungen waren derart, dass die Prüfenden eine Probe nicht mehr für notwendig hielten. (…)

Gebrochen fährt er nach Hause zurück, ans Krankenbett der Mutter. Entschlusslose Monate folgen. Es ist schon zu sehen, dass ihn die Mutter demnächst verlassen wird, bei der er seit des Vaters Tode – nach seinen eigenen Ausdrücken – als „Muttersöhnchen“ in „weichen Daunen“ und der „Hohlheit gemächlichen Lebens“ herumgelegen hat. Ein verspieltes, verträumtes Jugenddasein geht dem Ende zu. Klara Hitler stirbt am 21. Dezember 1908. Adolf Hitler, ein verwöhnter Junge von 19 Jahren, der nichts gelernt hat, nichts erreicht hat und nichts kann, steht vor dem Nichts.

Das Arbeitererlebnis

Dieses Nichts bedeutet vier Jahre Elend in Wien. Er selbst erzählt, er habe sich in dieser ersten Wiener Zeit durch Handarbeit sein Brot erworben, namentlich als Handlanger  und Steinträger  auf dem Bau. Sein Bericht über diese Lebensperiode ist so kennzeichnend für ihn, dass er trotz aller Bedenken hier stehen möge: „Meine Kleidung war noch etwas in Ordnung, meine Sprache gepflegt und mein Wesen zurückhaltend. Ich suchte nur Arbeit, um nicht zu verhungern, um damit die Möglichkeit einer, wenn auch noch so langsamen Weiterbildung zu erhalten.  Ich würde mich um meine neue Umgebung überhaupt nicht gekümmert haben“  – wenn sie sich nicht um ihn gekümmert hätte.

Die Arbeiterkollegen verlangen seinen Eintritt in  die Gewerkschaft. Er antwortet, er lasse sich zu nichts zwingen. Stumm und erbittert sitzt der Jüngling  mit  den besseren Kleidern und dem gepflegten Wesen abseits, trinkt ein Flasche Milch und macht lange Ohren, wenn die Kollegen politisieren. (…) Diese unglückseligen Wiener Arbeiter  „lehnen alles“ ab,  wie Hitler findet.(…) Er versucht zu widersprechen und macht eine unangenehme Entdeckung: Die Arbeiter wissen mehr als er. Sie führen ihn vor: „Da musste ich allerdings erkennen, dass der Widerspruch solange vollkommen aussichtslos war, solange ich nicht wenigstens bestimmte Kenntnisse über die nun einmal umstrittenen Punkte besaß.“

Darum beginnt er zu lesen – „Buch um Buch, Broschüre um Broschüre“: wie eben ein intelligenter junger Mensch wissen saugt. Über die Kunst des Lesens hat Hitler gescheite, aber verräterische Sätze geschrieben. Er verhöhnt die Vielleser, die keine Registratur für ihr angelesenes Wissen im Gehirn haben und darum zwecklosen Ballast aus der Lektüre mitschleppen; die sich mit jedem neuen Zuwachs ihrer Art von Bildung sich immer mehr der Welt entfremden, bis sie entweder in einem Sanatorium oder als Politiker in einem  Parlament enden. Anders Hitler: Ihn macht das Gefühl beim Studium jedes Buches, jeder Zeitschrift oder Broschüre  „augenblicklich auf all das aufmerksam, was seiner Meinung nach  für ihn zur dauernden Festhaltung geeignet, weil  es entweder zweckmäßig oder allgemein wissenswert ist.“ Das Gelesene findet so „seine sinngemäße Eingliederung in das  immer schon irgendwie vorhandene Bild, das sich die Vorstellung von dieser oder jener Sache geschaffen hat.“ Dort wird es „entweder korrigierend oder ergänzend wirken, es wird „die Richtigkeit oder Deutlichkeit desselben erhöhen.“ Nur solches Lesen habe Sinn, denn – „ein Redner zum Beispiel, der nicht auf solche Weise seinem Verstande die nötigen Unterlagen liefert, wird nie in der Lage sein, bei Widerspruch zwingend sein Ansichten zu vertreten. Bei jeder Diskussion wird ihn das Gedächtnis schnöde im Stich lassen.“

Gescheite Sätze, zumal für einen Redner. Aber auch verräterische, zumal für einen Propheten. Es ist vielleicht das Aufhellendste, was Hitler jemals über sich geschrieben hat. Das führt tiefer als bloß hinter die Tricks eines Streithammels, der nach Zitaten jagt, um am Stammtisch oder vor dem Volke Gegner abzutrumpfen. Das ist der fanatische Wille zur Borniertheit, der nur lernen will, was er schon weiß; der den Schmerz der Erkenntnis scheut und nur das Wohlgefühl des Rechthabens sucht. Und nun stelle man sich vor, wie ein Mensch mit solchem Hang zum Vorurteil später fremde Völker und Rassen nach den einseitigen Jugendeindrücken Wiens beurteilen, verkennen und verleumden musste!

Was Hitler eigentlich gelesen hat, verschweigt er sorgfältig. Sein ganzes Reden und Schreiben aber setzt es außer Zweifel, dass er niemals eine wesentliche Schrift von Marx gelesen, geschweige denn sich kritisch mit ihr auseinandergesetzt  hat, niemals führt er einen marxistischen Gedankengang an, auch nur um ihn zu widerlegen. Hat doch selbst später der wirtschaftliche Theoretiker des Nationalsozialismus, Gottfried Feder, einem Bekannten auf energisches Drängen zugegeben, er habe niemals das Kapital von Marx (ein übrigens nicht sonderlich schwer zu lesendes Werk), sondern nur das kritische Buch von Eugen Böhm-Bawerk gelesen. Hitler dürfte es nicht einmal bis zu Böhm–Bawerk gebracht haben. Wie er den Marxismus studierte, muss man im Wortlaut genießen:

„So begann ich nun, mich mit den Begründern dieser Lehre vertraut zu machen, um so die Grundlagen der Bewegung zu studieren.“ Er las also die dicken Bücher in wochenlanger Arbeit durch? Nun… „Dass ich hier schneller zum Ziele kam, als ich vielleicht erst selber zu denken wagte, hatte ich allein meiner nun gewonnenen, wenn auch damals noch wenig vertieften Kenntnis der Judenfrage zu danken. Sie allein ermöglichte mir den praktischen Vergleich der Wirklichkeit mit dem theoretischen Geflunker der Gründungsapostel der Sozialdemokratie…“- so redlich bemüht studierte das gelehrte junge Haupt die Gesetze vom Mehrwert und das Gesetz der fallenden Profitrate – „da sie mich die Sprache des jüdischen Volkes gelehrt hatte, das redet, um die Gedanken zu verbergen oder mindestens so zu verschleiern…“-  lohnt sich also gar nicht zu lesen!- und sein wirkliches Ziel ist mithin „nicht in den Zeilen zu finden, sondern schlummert wohlverborgen zwischen ihnen“, er klappt das Buch spätestens auf Seite 50 wieder zu.

Gerüstet mit den Argumenten aus antisemitischen Traktätchen und Broschüren, aus dem „Deutschen Volksblatt“, diskutiert er nun mit den Kollegen. Er zerrt ihre Ideale herunter, so wie sie es mit den seinen getan haben; beleidigt und reizt sie derart, dass sie ihn, wie er angibt, vor die Wahl stellen: den Bauplatz sofort zu verlassen oder vom Gerüst zu herunter zu fliegen. Nicht seine Weigerung, in die Gewerkschaft einzutreten, war Ursache dieser ersten schlechten Erfahrung mit den Arbeitern.

Obdachlosenasyl Meidling

So endet Adolf Hitlers erste Berührung mit der Arbeiterwelt, wenn wir seinem Bericht glauben dürfen. Aber dürfen wir es? Menschen, die ihn um jene Zeit gut kannten – Hausgenossen, Geschäftsfreunde, Bilderhändler -, behaupten, Hitler sei damals für körperliche Arbeit viel zu schwach gewesen, zumal für Arbeit auf dem Bau, bei der nur die robustesten Kerle eingestellt worden seien. Auch habe er damals nie etwas von dieser Bauarbeit erzählt. Diese Zweifel genügen nicht, um seine eigene Darstellung ganz zu wiederlegen; aber ausgeschmückt mag sie wohl sein. In einem Schriftchen, betitelt „Mein politisches Erwachen“, hat der eigentliche Gründer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, der Werkzeugschlosser Anton Drexler, ebenfalls erzählt, wie er wegen seiner Feindseligkeit gegen die Gewerkschaften durch die Arbeitskollegen von der Baustelle vertrieben worden sei; auch er sagt, damals sei in ihm der Hass gegen sie Sozialdemokratie entstanden – kurz, der Bericht Drexlers und Hitlers ähneln sich so auffallend, als ob einer vom andern abgeschrieben sei. Nur erschien „Mein politisches Erwachen“ 1920, „Mein Kampf“ aber 1925.

Seinen Quartiergebern erklärte Hitler damals, er „bilde sich zum Schriftsteller aus“. Sicher ist, dass er weder Geld noch Arbeit hatte und wirklich ins bitterste Elend geriet. Seine letzte Wohnung muss er im November 1909 verlassen. Ein paar Nächte irrt er obdachlos umher, schläft erst in Kaffeehäusern und dann in der Herbstkälte auf den Bänken in den Parkanlagen, von wo die Wachleute ihn wegjagen. (…)

Dieser Weg des bereits Einundzwanzigjährigen nach abwärts endet Anfang November 1909 im Obdachlosenasyl von Meidling. Auf harter Drahtpritsche, eine dünne Decke, als Kopfkissen die eigenen Kleider, die Schuhe unter den Bettfüßen festgeklemmt, damit sie nicht gestohlen werden, links und rechts die Genossen des gleichen Elends – so verbringt Adolf Hitler die nächsten Monate. Im Kloster in der Gumpendorferstraße  isst er täglich morgens die Armensuppe; abends schenken ihm die Kameraden im Asyl ein Stück Pferdewurst  oder eine Bissen Brot. Als der erste Schnee fällt, humpelt er, schwächlich und mit wunden Füßen, ein paarmal zum Schneeschaufeln an der Pilgrambrücke, aber er hält diese harte Arbeit bei Winterkälte, in einem abgeschabten blauen Röckchen und ohne Mantel, nicht lange aus. Dann stapft er mit den Kameraden durch den Schnee nach Erdberg, von da nach Favoriten; sie klopfen die Wärmestuben ab, wo die Obdachlosen vor Kälte Zuflucht finden und Suppe und ein Stück Brot bekommen. Diese Wärmestuben sind eine Stiftung des Barons Königswarter, eines Mannes jüdischer Abstammung; übrigens war auch  das Meidlinger Asyl aus jüdischen Mitteln gestiftet.

Gelegentlich steht Hitler am Westbahnhof  und trägt den Reisenden für ein paar Kreuzer die Koffer. Dann will er sich zu Erdarbeiten melden, die in der Gegend von Favoriten ausgeschreiben sind; aber ein neugewonnener Freund sagt ihm, er solle das nicht tun; habe er erst einmal mit schwerer Handarbeit angefangen, dann sei der Weg hinauf sehr schwer. Hitler folgt dem Rat.

Männerheim Brigittenau

Der Freund, der sich durch diese lebenskluge Warnung kennzeichnend einführt, ist der spätere Zeichner Reinhold Hanisch; etwas älter als Hitler, damals im gleichen Elend wie er, mit dem auf und ab des Lebens sehr vertraut. Hanisch hat vom Herbst 1909  bis in den Sommer 1910 acht Monate  lang mit Hitler in enger Freundschaft, Duzbrüderschaft und geschäftlicher Sozietät zusammen gelebt, Gutes und Böses mit ihm geteilt und über diese Zeit einen lebendigen und reizvollen Bericht geschrieben, dem hier ein paar Züge entnommen sind.

Bis etwa zum Jahresende bleiben die beiden im Obdachlosenasyl in Meidling. Während Hanisch nach allerlei Gelegenheitsarbeit läuft, sitzt Hitler brütend und untätig herum, so dass der neue Freund ihn einmal fragt, worauf er eigentlich warte? Er wisse es auch nicht recht, ist die Antwort. Gegen Weihnachten schickt die Schwester aus Linz ihm 50 Kronen  von der väterlichen Pension. Damit beginnt eine Art sozialer Aufstieg. Hitler zieht aus dem Obdachlosenasyl ins Männerheim in der Meldemannstraße im XX. Bezirk. Gegen das Asyl ist das schon ein guter Abstand; in Wahrheit freilich bleibt es ein dürftiges und trostloses Quartier. „Nur Tagediebe, Trinker und Dergleichen sind  längere Zeit im Männerheim zu finden“, meint Hanisch, der ebenfalls ein halbes Jahr mit Hitler dort gewohnt hat.

Hitler hat Hanisch erzählt, er sei akademischer Maler. Daraufhin rät ihm der geschäftstüchtige Freund, mit seiner Kunst etwas anzufangen und Ansichtskarten zu malen. Hitler antwortet, er wolle sich nach den vergangenen Strapazen erst einmal acht Tage ausruhen.(…) Er drängt Hitler zur Arbeit, nimmt ihm die Malereien ab und verkauft sie in den Gastwirtschaften. Später malt Hitler nach Vorlagen kleine Bildchen, die von Möbelhändlern und Rahmentischlern für ein paar Kronen gekauft werden. Damals wurden in die Rückenlehnen von Sofas solche Bilder eingelassen. (…)

Es sind durchweg steife, aber exakte Zeichnungen nach gedruckten oder lithographierten Vorlagen, und zwar Stadtansichten und Architekturstücke; menschliche Figuren, die allenfalls als winzige Staffage vorkommen, sind ganz missraten und wirken wie gestopfte Säcke. Hanisch wollte den Freund einmal bewegen, eine Kirche im Freien nach der Natur zu zeichnen; aber das misslang völlig, und Hitler entschuldigte sich: es sei zu kalt, er habe steife Finger. Eine groteske Malerei hat sich gefunden, in unverkennbarer Handschrift signiert: A. Hitler. Es ist ein Reklameplakat, offenbar von einem Krämer oder Drogisten bestellt, der ein Erzeugnis namens „Teddy-Schweißpuder“ feilbot. (…)

Zu diesen missglückten Reklamezeichnungen wurde Hitler durch einen anderen Freund aus dem Männerheim angeregt, einen ungarischen Juden namens Neumann. Dieser Neumann, der meist ein klein wenig Bargeld bei sich hatte, half Hitler oft aus seiner ärgsten Not, schenkte ihm Hemden und andere Kleidungsstücke; so einen >Kaiserrock< (Gehrock), den er dann jahrelang getragen hat. Hitler schwärmte von diesem Neumann und nannte ihn gegenüber Hanisch öfters einen der anständigsten Menschen, die er kenne. 1910 wanderte Neumann nach Deutschland  und redete Hitler zu, mit ihm zu gehen. Hitler schwankte, entschloss sich dann aber zum Bleiben. So ist die Weltgeschichte um das Schauspiel gekommen, das Adolf Hitler an der Seite eines ungarischen Juden seinen Einzug in Deutschland gehalten hat.(…)

Von all dem ist in „Mein Kampf“ nichts zu lesen. Das Männerheim findet sich dort nicht, die Reklamezeichnungen nicht, der Freund Hanisch nicht und selbstverständlich der jüdische Freund Neumann nicht. Nur die Atmosphäre jener Zeit und jener Verhältnisse blieb und hat sich in der Erinnerung an dem Gift verdichtet, das die ganze Schilderung seines Wiener Aufenthaltes durchtränkt.  (…)

Die Lebensschule der Entartung

Im Männerheim kommen die Klassen auf eine eigentümliche und verderbte Art zusammen. Da gibt es Grafen, Professoren, Großindustrielle, Kaufleute, Maler, Facharbeiter, Handlanger und Ausgeher – nur alles  a. D. oder z. D. oder, wie man im Milieu sagt, „Verkrachte“. Die Klasse in entarteter  Form. Aber das Klassenbewusstsein entartet nicht; der „verkrachte“ Graf bleibt in seiner Gesinnung Graf, der Prolet Prolet, und was sie alle wollen, ist: dorthin zurück, von wo sie gekommen sind. Das Elend schafft gewiss Kameradschaft; gemeinsamer Absturz kann  zu gemeinsamem Streben zusammenführen, aber die Ziele bleiben verschieden, in dieser gemischten Tiefe verschiedener als irgendwo sonst; aus diesem Abgrund späht jeder nach seinen eigenen Sternen –  der Mangel an Solidarität ist das große Hauptmerkmal der großen Klasse der Deklassierten, die Adolf Hitler hier zum ersten Male kennenlernt und die für seine spätere Laufbahn noch so wichtig werden wird. Gemeinsam nach den Gegensätzen streben, ist die Losung dieser entarteten Volksgemeinschaft, einander hochzuhelfen, um dann einander wieder hinabzustoßen, zusammenhalten, um sich zuletzt zu betrügen. In diesem furchtbaren Milieu stellt Hitler sich zum erstenmal die schwere Frage nach der Möglichkeit einer Verwirklichung seiner in der Linzer Realschule empfangenen Träume; nach den Mitteln aus dem Stoff, aus denen eine deutsche Einheit, eine deutsche Weltherrschaft geformt werden könnten. Das heißt: der Begriff der Politik tritt ihm hier zum erstenmal nahe, hier, unter den Verkommenen des Weiner Männerasyls. In diesem Abfall lernt er das Volk als Objekt der Politik kennen; an dieser Spreu bildet ein Altkluger sich für ein ganzes Leben seine Vorstellungen vom Wert der Menschen, vom  Unverstand  der Masse. Vergessen wir nicht, dass dieser Begriff ihm zuerst von oben eingetrichtert wurde, im Geschichtsunterricht  deutscher Schulen  gibt es immer erleuchtete Fürsten und törichte Völker, und „plebs“ heißt das niedere Volk. Im Wiener Männerheim aber lernt man, wie recht der Professor zu Hause hatte.(…)

„Hungerkünstler“

Dieser früh Gescheiterte denkt nicht daran, sich mit der  Gründung von Reklameinstituten oder dem Erfinden von Mitteln gegen gefrorene Fensterscheiben zufrieden zu geben. Er sieht eines Tages einen Film in dem ein Volksredner eine Masse aufwiegelt. Jetzt will er eine neue Arbeiterpartei gründen, also eine Partei seiner Objekte. Die Organisation müsse man von den Sozialdemokraten lernen und die besten Schlagworte von den Parteien übernehmen, denn im übrigen heilige der Zweck die Mittel. Während Hanisch draußen herumläuft und Hitlers Zeichnungen zu verkaufen sucht, sitzt dieser im Lesesaal des Männerheims und hält Vorträge. Oder er beugt sich über eine Zeitung, zwei andere links und rechts unter die Arme geklemmt. Wenn er wirklich einmal zeichnet oder jemand eine neue Zeitung mitbringt, lässt er sofort  die Arbeit liegen und stürzt sich auf das Blatt. Oft nimmt ihm Hanisch, wenn er abends nach Hause kommt, die Reißschiene aus der Hand, die Hitler wild über dem Kopfe schwingt, während er auf die Umsitzenden losdonnert; drückt ihn auf die Bank und sagt: „Arbeite endlich!“ Die anderen rufen: „Arbeiten, Hitler, Dein Chef kommt!“ Manchmal ist Hitler freilich auch sehr niedergedrückt; er hat mit seinen Reden keinen Eindruck gemacht, man hat ihn ausgelacht, einmal ihm ein Spottplakat auf den Rücken geklebt, und Hanisch muss abends das weinende Menschenkind trösten.

Die lauten Debatten im Männerheim steigern sich oft zu wilden Lärmszenen. Dann rast der Verwalter herauf, um Ruhe zu gebieten – und schon sieht man Hitler mit angezogenen Armen am Tisch sitzen, bescheiden und musterhaft über seine Zeichnung geduckt. Einmal haben Hanisch, Hitler und ein Dritter aus dem Männerheim beschlossen, einem verhassten Wachmann im Prater einen Streich zu spielen: Hanisch will ihm heimlich ein Plakat auf den Rücken kleben, die beiden anderen sollen den Wachtmann indessen von vorne beschäftigen. Hanisch kommt von hinten an den Wachtmann heran und berührt ihn; in diesem Augenblick ist auf der anderen Seite Hitler der Erste, der erschrocken davon läuft. Der Ängstlichkeit Hitlers schreibt es Hanisch auch zu, dass er bei den Frauen kein Glück gehabt habe. Dagegen konnte Hitler mit leuchtenden Augen von den Bauernraufereien in seiner oberösterreichischen Heimat erzählen; ein älterer Freund habe ihm einmal im Gerichtsgebäude in Ried eine Sammlung von Mordinstrumenten gezeigt, die raufenden Bauern abgenommen worden waren; das sei für ihn als Knaben ein glücklicher Tag gewesen. Hanisch, der diesen Zug berichtet, fügt bieder hinzu: „Ob derartige Instinkte im späteren Alter verschwinden, weiß ich nicht. Ich bringe einfach als Erzähler meine Erfahrungen und Erlebnisse mit Hitler, so wie ich alles von ihm selbst gehört habe.“

Das Freundschafts- und Arbeitsverhältnis zwischen beiden zerbröckelt langsam. Hanisch bringt von Bilderhändlern und Privaten Bestellungen, Hitler aber liest Zeitungen und ist nicht zum pünktlichen Arbeiten zu bewegen. Auch glaubt er nicht, dass seine Erzeugnisse nur bescheidene Qualität haben, sondern hält sich für einen großen Künstler – vor allem betont er, ein Künstler brauche Inspiration und könne doch nicht arbeiten wie ein Kuli. Hanisch antwortet aufgebracht: “Künstler – höchstens Hungerkünstler“, im Übrigen sei er ein Schmierant, daneben ein Faulpelz, der auch mit dem Geld nicht hauszuhalten wisse. Wenn er ein paar Kronen verdient hat, rührt er keine Arbeit an, sitzt tagelang in einem billigen Volkscafe und isst vier bis fünf Schaumrollen hintereinander; allerdings gibt er fast kein Geld für Alkohol und gar keins für Tabak aus.

Abschied von Wien

Drei Jahre hat Hitler im Männerheim verbracht, „die schwerste, wenn auch  gründlichste Schule meines Lebens“; doppelt hart und bitter nach der zugestandenen sorgenfreien Jugend in Linz und Steyr. In diesen Jahren ist er nach seiner Behauptung „ernst und still“ geworden. Er ist in der Tat jetzt oft deprimiert und in sich gekehrt. Ein fast schöner Künstlerkopf mit ekstatisch brennenden Augen, mit breitem, buschigem Schnurrbart; zarte Gestalt, hastiger, springender Gang. Führt oft Selbstgespräche. Ein Sonderling. Ein künftiger Künstler. Das innere Erlebnis der politischen Berufung ist noch nicht da, wenn er auch schon vom Parteigründen gesprochen hat. Junge Menschen wollen gelegentlich alles. Was treibt ihn von Wien fort? Nun, das Elende im Asyl konnte ihn gewiss nicht halten. Den unmittelbaren Anstoß, der ihn wegbrachte, nennt er nicht. Er schreibt in den Wiener Jahren folgendes Testament:

„Meine innere Abneigung dem habsburgischen Staat gegenüber wuchs in dieser Zeit immer mehr an. Meine Überzeugung gewann an Boden, dass dies Staatgebilde nur zum Unglück des deutschen Volkstums werden müsste. Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt beherrschte; widerwärtig dies ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben, Kroaten usw.; zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz  der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien die Riesenstadt als Verkörperung der Blutschande.“

Mit dieser erotisch getönten Hasserklärung schließt Adolf Hitler die Darstellung seiner Wiener Zeit. Ohne dass Einzelheiten greifbar werden, sagt er zwischen den Zeilen über die Ursache seines Weggangs viel. Und dazwischen spricht das Gewissen immer: Hättest Du Deine Schule nicht verbummelt, dann wärst Du heute ein fertiger Architekt, ein geachteter Bürger und ein gemachter Mann – Du Vagabund!

3. Der Krieg als Erlöser

Das Münchner Sofa

Im Frühsommer 1913 mietete ein junger Student der Technik aus Wien im Bahnhofsviertel in München ein Zimmer. Die Vermieterin sagte ihm,  den bisherigen Mieter müsse sie hinaussetzen, weil  er seine Miete seit längerer Zeit nicht mehr bezahlen könne. Während dieser Unterhaltung kommt der arme Hinausgesetzte hinzu; dies ist merkwürdigerweise auch ein  junger Österreicher. Er fasst sich ein Herz und bittet den Landsmann um Erlaubnis, doch wenigstens noch eine Nacht bei ihm auf dem Sofa schlafen zu dürfen. Der Neue ist ein gutherziger Mensch, nimmt den armen Teufel zum Bier mit, und sie verabreden, dass er in Gottes Namen vorerst umsonst da wohnen und auf dem Sofa schlafen solle, bis er Geld habe, um seinen Teil an dem Zimmer zu bezahlen. Dabei bleibt es, die beiden sind über ein Jahr lang Stubenkameraden: der junge Ingenieur aus Wien und sein Gast auf dem Sofa, der Reklamezeichner Adolf Hitler aus Linz. (…) In München ging es ihm nicht viel besser (als in Wien. Anm. d. Red.); hier zeichnete er Plakatentwürfe für Firmen. Das Dasein ist äußerlich noch einsamer als in Wien,…(…) . Am liebsten sitzt er mit den wenigen Bekannten, die er hat, abends in der Schwemme des Hofbräuhauses, isst mit Vorliebe Weißwürste aus der Suppenschüssel, was dem österreichischen Freunde ein Gräuel ist; wenn es ein anderer zahlt, trinkt er auch ein Bier. Weiblichen Verkehr meidet er ganz.(…) Aber vielleicht noch bezeichnender für den Charakter des jungen Mannes ist es: Auch hier gewinnt er keinen nahen persönlichen Freund; so wenig wie in Wien. Immer mehr gerät er in Distanz zu Menschen; sichtlich nicht aus Stolz, sondern aus Angst; nicht aus Hochmut, sondern aus Unvermögen.

Seine politischen Ansichten sind damals zum mindesten in der Richtung schon sehr entschieden. Man durfte in keine sozialdemokratische Versammlung mit ihm gehen, weil er sich dort vor Zwischenrufen nicht halten konnte. Sobald das Gespräch auf Politik kam, begann er zu schreien und endlose Reden zu halten, dabei fiel eine gewisse Präzision und Klarheit seiner Darstellung auf. Er liebte es, zu prophezeien und politische Entwicklungen vorherzusagen. Und wieder macht der österreichische Freund die traurige Beobachtung, die Hanischs alte Klagen bestätigen: sobald von Politik die Rede war, ließ Hitler jede Arbeit stehen und liegen, mochte sie auch noch so dringend sein. Dann setzte er sich in die Hofbräuschwemme, politisierte mit allen und hatte viele Zuhörer.

Dank für den Weltkrieg

Sonderliches Vorwärtskommen kann man dies nicht nennen. Noch immer kriecht der gescheiterte Realschüler tief unter der Stufe herum, die der Vater für ihn erträumte; von den eigenen hochfliegenden Künstlerplänen gar nicht zu reden. Grau liegt ein kleines, langweiliges Leben vor ihm; da greift der Himmel ein und lässt für ihn und so viele andere ausweglose Existenzen den Weltkrieg ausbrechen. Wie Hitler diese Katastrophe erlebt, das ist fast ein Gleichnis:

„Der Kampf des Jahres 1914 wurde den Massen, wahrhaftiger Gott, nicht aufgezwungen, sondern vom gesamten Volke selbst begehrt.“ Vom gesamten Volke begehrt? Nein, aber von einer Schicht, die man Hitler-Schicht nennen könnte: „Mir selbst kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jungen vor. Ich schäme  mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie sank und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte…“. (…)

Dabei ist er dem Militärdienst bisher sonderbarerweise ziemlich erfolgreich aus dem Wege gegangen. Bei den vorgeschriebenen Stellungen in Österreich war er weder 1910 noch 1911 noch 1912 erschienen. In der Stellungsliste wurde er als „illegal“ bezeichnet, 1913 als „uneruierbar“. Am 5. Februar meldete er sich dann von München aus zur Nachstellung im nächsten österreichischen Grenzort, nämlich in Salzburg. Dort ergab die ärztliche Untersuchung das Urteil: „zum Waffen- und Hilfsdienst untauglich, zu schwach“; der Beschluss lautete auf „waffenunfähig“.Der Krieg ändert natürlich vieles. Auf dem österreichischen Konsulat  stellt er sich. Aber irgendetwas passt ihm dort nicht. Mit sprunghaftem Entschluss meldet er sich bei den Bayern als Freiwilliger. ( zum Regiment List. Anm. d.Red.)

Das eiserne Krauz

Über seine Kriegserlebnisse ist Hitler wieder wortkarg.(…) Dabei macht er sich des falschen Berichtes schuldig; vielleicht harmlos, aber nicht ganz unwichtig. Vom ersten Kampftag sagt er:„Aus der Ferne aber klangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und  kamen immer näher und näher, sprangen über Kompagnie zu Kompagnie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“

Der Herausgeber der „Geschichte des Regiments List“, Dr. Friedrich Solleder, sagt dazu: „Seit 1915 kehrt in fast allen Veröffentlichungen die Nachricht wieder, das die Lister beim Sturm auf Ypern das Deutschlandlied sangen. Das ist ein geschichtlicher Irrtum. Die Lister sangen das alte deutsche Trutzlied „Die Wacht am Rhein.“ Auch ein Beitrag zur Psychologie  der Zeugenaussage – zumal wenn der Zeuge Adolf Hitler heißt.

Hitler war Gefechtsordonanz beim  Regimentsstab, gehört also nicht zur Grabenbesatzung. Er selbst erwähnt diese Art der Verwendung nicht. Der Regimentsstab des Regimentes List hat nach der eben zitierten offiziellen Quelle im Kriege nur einen Angehörigen verloren, nämlich den Obersten List,  und zwar in den allerersten Kämpfen.  Der Dienst im Regimentsstab mag also im Ganzen weniger gefährlich  gewesen sein. Hitlers Regimentsoberst von  Baligand hat ihm bezeugt, dass er sich „ der schweren Pflicht eines Meldegängers jederzeit nicht nur willig, sondern mit Auszeichnung unterzogen hat.“ Die Auszeichnungen sind laut Militärpass ein Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit, das Militärverdienstkreuz  Dritter Klasse, das schwarze Verwundetenabzeichen (er wurde 1916  durch einen Granatsplitter verwundet) und das Eiserne Kreuz Erster Klasse, verliehen am 4. August 1918. (…) Freiherr von Tubeuf, der die Kämpfe bei Montdidier  in der Geschichte des Regiment List persönlich schildert, erwähnt diese auffallende Tat nicht; andere Schilderungen verlegen die Tat um drei Jahre zurück. Sie wäre jedenfalls so bemerkenswert, dass die Regimentsgeschichte sie nicht gut übersehen könnte. Aber sie tut es. (…)

Dabei nimmt sie  durchaus Notiz von ihm; bringt einmal eine Photographie, wie er in Gefechtsausrüstung, Pickelhaube, Gewehr umgehängt durch die Straße einer Ortschaft stürmt; sie erwähnt, dass er im schwersten Feuer den Kommandeur mit dem Leibe gedeckt und in ein schützendes Erdloch  zurück-gedrängt habe; (…) Aber nichts von fünfzehn gefangenen Franzosen. Zusammengefasst: die Verleihung des Eisernen Kreuzes 1. Klasse an Hitler sollte man nicht bezweifeln. Die fünfzehn Franzosen sehen stark nach Legende aus.  (…)

Der unerkannte Führer

Bei seinen Kameraden ist unbeliebt wegen seiner, wie es ihnen scheint, streberhaften Willigkeit gegen die Vorgesetzten. Wenn er vor den Kommandeur springt und ihn bittet, sein Leben zu schonen, „das Regiment davor zu bewahren, in so kürzer Zeit ein zweiten Mal seinen Kommandeur zu verlieren“, so hat das einen leisen Hauch von vaterländischem Schullesebuch. “Ich habe“, berichtet ein späterer Nationalsozialist, „aus Hitlers Munde nie ein Murren oder Klagen gehört über den sogenannten Schwindel. Wir alle schimpften auf ihn und fanden es unerträglich, dass wir einen weißen Raben unter uns hatten, der nicht auch mit einstimmte in die Schimpfkanonade.“ Er war ihnen unerträglich.

Auf den Photos in Gesellschaft der Kameraden sieht man ihn mit starrem Blick abseits stehen oder sitzen. “Bescheiden und schon deshalb nicht auffallend“, sagt ein Vorgesetzter. Wenn an seiner Auszeichnung, seiner Hingabe und Dienstwilligkeit nicht zu zweifeln ist, so erhebt sich die gewichtige Frage: Warum ist dieser „Führer“ viereinhalb Kriegsjahre lang ewig  nur Gefreiter geblieben? Es war ein Mangel an Unteroffizieren; trotzdem sagte dein Kompagnieführer: „Diesen Hysteriker mache ich niemals zum Unteroffizier!“

Hitlers weltgeschichtlicher Irrtum

Hier unter den Soldaten erlebt er zum zweiten Male die Volksgemeinschaft, die er bereits im Männerheim in verdorbener Art kennenglernt hat. Und wieder ist es ihm unmöglich, sich von Mensch zu Mensch mitzuteilen, als einzelner mit einzelnen zu sprechen und sie zu überzeugen. “Von mir werdet ihr noch viel hören,“ sagt er dann aufgebracht. „Wir lachten damals drüber,“ sagt der nationalsozialistische Gewährsmann. Sein Misserfolg im persönlichen Umgang verführt ihn immer mehr zur Menschenverachtung; sie steigert sich, je mehr er die Lenksamkeit dieser Menschen durch simple Tricks kennenlernt. Er beobachtet die Wirkung von Flugblättern, die der Feind bei der deutschen Truppe einschmuggelt; die gleichzeitige Unwirksamkeit der eigenen Propaganda bei den eigenen Leuten, das Verpuffen des „vaterländischen Unterrichts“ kann ihm nicht entgehen. Es ist damals viel gehörte Phrase, dass Propaganda im Kriege so wichtig  sei wie Munition; aber wie man Propaganda macht, weiß an Deutschlands verantwortlichen Stellen niemand. Diese Herren kennen das Volk nicht, das begreift der mit dem ganzen Spülwasser des Wiener Männerheims gewaschene Adolf Hitler blitzschnell.(…) Hitler vergleicht die ausgezeichnete politische Führung des Krieges auf der Gegenseite mit der Stümperei der eigenen; während die ganze Welt rot sieht vor Hass auf die Deutschen, die in Belgien angeblich  Kindern die Hände abgehackt haben sollen, tatsächlich leider nur zwei Zivilisten als  Geiseln  getötet haben, spinnen deutsche Annexionisten den Plan, einen Prinzen aus Schwabenland als Herzog über ein großes Österreich zu setzen.  Und mit solchen „Schnapsideen“ will man beim Volk und gar bei fremden Völkern moralische Eroberungen machen!

Adolf Hitler hat ein wichtiges inneres Erlebnis. Er sieht, dass er Wesentliches besser weiß als seine Führer, zu denen er aufzublicken gewohnt war. Es handelt sich nicht um Meinungsverschiedenheiten in der Sache, nicht um Gegensätze aus Weltanschauung. Es handelt sich nur  darum, dass er sich seinen  anerkannten Oberen überlegen fühlt. Aus einem Gehorsamen wird ein Besserwisser, aus einem Befehlsempfänger ein Besserkönner. Das arbeitet noch Jahre in ihm, aber hier fängt es an. (…)

Er beginnt die Mechanik der Demokratie zu verstehen, die Zauberwirkung der großen weltumspannenden Ideen, die in Deutschland niemand erfasst hat, nicht einmal die Sozialdemokratie völlig. Aber dieser stets an der Außen- und Unterseite des Volkes  herumgekrochene Mensch versteht  das innere Wesen der Demokratie nicht: die Kraft, die in der Freiheit wohnt, die dem einzelnen Verantwortungsgefühl einprägt, die in ganzes Volk sicherer führt, als irgendein Heldenkaiser oder Marschall-Präsident. Er glaubt große Führer zu sehen, wo große Systeme sind, die ihre Repräsentanten aus sich heraus schaffen: in normalen Zeiten Normale, in großen Zeiten Große. Er lernt die Kniffe der Demokratie, ohne ihren Geist zu begreifen; dieser Irrtum ist der tragische Gewinn, den der wunderliche Kamerad aus dem Schützengraben mit nach Hause bringt. Unter den Kameraden, deren Schwächen er mit dem feinen Instinkt  des Bösen wittert, ohne ihre wertvollen Seiten  zu schätzen, hochmütig und zugleich scheu, wächst seiner künftigen Bestimmung entgegen: eine gewaltige Figur der Demokratie zu werden, ohne  Demokrat zu sein.

Flucht in die Legende

4. Umkehr in die Sackgasse

Nichtsnutziges Talent

Eine Vorkriegsjugend ist zu Ende. In ihrer Ereignisarmut ist sie ein Rätsel, dessen Sinn weit über das Persönliche hinausreicht. Das Rätsel dieser Jugend ist:  wie kommt es, dass dem Mann, der heute wohl der berühmteste Mensch auf der Erde ist, bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr auch nicht der bescheidenste Erfolg geglückt ist? Warum blieb dieser Menschenbezwinger im bürgerlichen Leben Bettler und im Krieg ein unbedeutender grauer Soldat? (…)

Illusionen gegen Interessen

Wenn man fragt, wie es möglich war, dass alle diese Parteien, die doch reale >Interessen< vertraten, einer einzigen, in ihren Interessenverbindungen sehr unklaren Partei unterliegen konnten, so darf man sich nicht mit der Antwort begnügen, die alten Parteien hätten die Interessen ihre Anhänger nicht gut genug vertreten. Gewiss macht die Krise es jeder einzelnen Gruppe schwierig, für sich und die ihren noch ein gleich großes Stück wie früher aus dem kleiner gewordenen Kuchen herauszuschneiden. Aber die Frage reicht tiefer. In großen modernen Massen Parteien, an ihrer Spitze die faschistischen, haben eine alte geschichtliche Wahrheit wiederentdeckt, die lange verschüttet schien: dass die Menschen oft  nicht und die Massen fast nie ihren  Interessen dienen, sondern ihren Illusionen. Diese Tatsache ist etwas Gewaltigeres als Torheit und Blendung; sie beruht der tiefen Lust des Menschen an Hingabe und dem Selbstopfer, die in der Geschichte eine ebenso große Rolle spielt wie Hunger und Liebe. Hitler lügt nicht, wenn er stolz erklärt, dass er von seinen Anhängern immer nur Opfer verlangt habe. Man verkleinert die Bedeutung dieses ebenso großartigen wie verderblichen Hanges der Menschenseele nicht durch den Hinweis, dass bei der Opferbereitschaft der SA natürlich die Eitelkeit auch ihre Rolle spielte.

Das Versagen der Revolution

Die Revolution von 1919 hatte nur (…) zum Teil soziale Ursachen und entsprang in der Hauptsache der Sehnsucht nach Frieden. Sie war eine pazifistische Volksbewegung, keine sozialistische. Freilich hätte sie immer noch Raum und Gelegenheit genug für die Initiative wirklicher Führer geboten. Solche Führer haben sich unter den „Volksbeauftragten“ von 1919 nicht gefunden; der spätere Reichspräsident Ebert hatte nicht den Mut zum revolutionären Handeln, sondern nur zu einer Handlung, die –  bei subjektiv vielleicht bester Absicht – hart an Verrat grenzt. Er führte seine Genossen hinters Licht, ließ eine geheime Telefonleitung von seinem Schreibtisch in das der Revolution feindliche Große Hauptquartier des Generalfeldmarschalls von Hindenburg legen und stellte im Bunde mit diesem  durch seinen Parteigenosse Noske aus beschäftigungslosen Offizieren und Soldaten Freicorps auf. Diese schlugen verschiedene Erhebungen der radikalen Arbeiter nieder. Die radikalen Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden von  Offizieren ermordet. Den schwersten Schlag führten Ebert und Noske zusammen mit den alten Generälen gegen die sozialistische bayrische Räterepublik in München am 2. Mai 1919. Unmittelbar nach diesen Kämpfen taucht an dieser Stelle Adolf Hitler zum ersten Mal in der Politik auf.

Er findet ein Feld vor, reif  zum Mähen: dies zu sehen freilich ist schon eine politische Leistung. Die Arbeiterführer haben sich in dieser kurzen Periode durch ihre Ziellosigkeit entsetzlich  kompromittiert. Die Generäle haben scheinbar wieder ein Stück Macht in die Hand bekommen, aber diese Macht ist nichts; sie ist nur der negative Abdruck der vollkommenen Machtlosigkeit und Unfähigkeit der sozialdemokratischen Minister. Das Volk hat weder zu den Generälen noch zu den Arbeiterführern Vertrauen. Friedrich Ebert, der hier erwähnte sozialdemokratische Führer, wurde 1919 zum Reichspräsidenten gewählt. Er hielt es für seine Pflicht, auch weiterhin sich auf die alten Mächte in Staat und Gesellschaft zu stützen. Sie dankten es ihm nicht, aber er ließ sich nicht beirren.

Bei einem Diner saß er neben der Gräfin Holtzendorff, der Frau des sächsischen Gesandten in Berlin. Die Gräfin erzählte, wie sie auf einem Ausflug einmal absichtlich in der Eisenbahn vierter  Klasse gefahren sei: sie hielt das für eine köstliches Abenteuer. Ebert fragte:“ Nun, Frau Gräfin, wie kamen sie sich denn in der vierten Klasse unter den einfachen Leuten vor?“ – Die Gräfin:“ Herr Ebert, genauso wie Sie im Salonwagen!“ Das proletarische Reichsoberhaupt steckte die Frechheit ein.

Die Autorität liegt auf der Straße. Wer sie aufhebt, hat die Macht.

                                   Adolf Hitler hebt sie auf. Das Ergebnis ist bekannt.