Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer

07. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

DIE FACKEL

Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr. S. 6-13

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Das Gehirn des Journalisten.

»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.

Tausend Jahre Zeitungen — es ist ein Gedanke, den man nur mit Grauen denken mag! Wird es, kann es nach dreißig Generationen von Zeitungslesern noch eine Vernunft, einen Geist auf Erden geben? Einen Geist, der mehr ist als die tote, verschliffene Hülse geistloser Gemeinheit? Die schlimmsten Befürchtungen sind hier immer noch nicht schlimm genug. Mit der Geburt des Tagschreibers aus der Geistverlassenheit des Dünkels schloss sich der Ring der modernen demokratischen Unkultur. Und diese Spottgeburt, die sich durch Lumpen und Schwärze fortpflanzt, musste notwendigerweise erfolgen, sobald die unseligsten aller Erfindungen die Voraussetzungen hierzu geschaffen hatten. Der Zwang, in irgend einer Hinsicht ein Fürsichstehender, ein Eigner seiner selbst zu sein, ist dem Massenmenschen jederzeit eine unerträgliche Last gewesen; immer hat dieser es als Wohltat empfunden, sich sein Denken, Handeln und Fühlen vorschreiben zu lassen. Aber niemals — auch nicht zur Zeit der kirchlichen Allmacht — ist die intellektuelle und ethische Kastration der Menschheit mit so durchschlagendem Erfolg versucht worden wie von den unverfrorenen Faiseuren, die jetzt mit Hilfe einer wahrhaft schwarzen Kunst der Masse das lästige eigene Denken und Betrachten abnehmen und das Surrogat hierfür täglich zweimal ins Haus schicken. Gab es jemals ein glänzenderes Geschäft? Der hungernde Philister versagt sich ein Stück Brot, um ein Zeitungsblatt zu kaufen. Heute bereits ist die Lesemanie so allgemein verbreitet, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer Muße mit dem Verschlingen von Nachrichten und Betrachtungen ausfüllen, zu denen sie nicht die geringste innere Beziehung haben. Sie verschlingen die fragwürdigste geistige Kost ohne jede Not und ohne jede Möglichkeit der Verdauung, die schon wegen der übermäßigen Quantitäten ausgeschlossen ist, auch wenn die Nahrung selbst verdaulich wäre. Gibt es ein besseres Rezept zur schnellsten Erlangung der gründlichsten Stupidität? Und nun denke man an die Folgen dieser immer mehr sich verbreitenden und immer intensiver sich gestaltenden Praxis nach tausend Jahren! …

Die Kirche, die Vorgängerin der Presse in der Herrschaft über den Intellekt der Masse, hatte wenigstens ein Ideal, wenngleich ein lebensfeindliches. Sie besaß auch einen Geist, obgleich nur einen kranken, sie erschuf auch eine unvergängliche Kunst. Innerhalb der kirchlichen Allmacht war noch eine Kultur möglich. Der Kastratismus der Kirche war wenigstens ein System, der Kastratismus der Presse aber ist Unsinn und Gemeinheit als »Selbstzweck«, wie der Ausdruck für alle moderne Sinn- und Systemlosigkeit lautet. Die Kirche stand allezeit über den Gläubigen, die Presse kann ihre Macht nur erhalten, wenn sie den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. Die Popularität der Kirche war Klugheit, die Popularität der Presse ist wirkliche Gemeinheit, die Presse ist des Pöbels. Was der Zeitungsleser in den Blättern sucht und findet, ist der Abklatsch seiner eigenen Niedrigkeit, welche Welt und Leben von gesicherter Futterkrippe aus als ein weitläufiges Panoptikum für nimmersatte Gaffer betrachtet. Der Genius der Kultur wandte sich ab, als die Menschheit die Religion mit der Zeitung vertauschte. Aber dieser Tausch war ein unabweisliches Schicksal. Die Presse ist da, sie wächst, sie überwuchert alle Gebiete des Lebens, und der Tagschreiber löst den Pfaffen ab. Die Welt muss sich dafür interessieren, wie es in dem Gehirn aussieht, aus dem sie neu erschaffen ward: in dem Gehirn des Journalisten.

Es ist eine wenig erfreuliche Spezies Mensch, aus der die Tagschreiber sich rekrutieren. Es sind bestenfalls Menschen mit Ehrgeiz und Unternehmungslust ohne Rückgrat und Willen, Leute mit einem Zuviel an Phantastik und Überhebung, um es in einer bürgerlichen Nützlichkeitsexistenz auszuhalten, und mit einem Zuwenig an Verstandeskraft, Geschmack und Bildung, um im Geistigen und Kulturellen auch nur Kleines zu bedeuten. Es sind im bürgerlichen Sinne Deklassierte, im geistigen Sinne sterile Parasiten der wirklichen Bildung, Nebelgehirne, undisziplinierte Wildlinge mit Vandaleninstinkten. Wer irgendeine tiefere Bildung, wer auch nur das bescheidenste intellektuelle und ethische Reinlichkeitsgefühl besitzt, kann kein tauglicher Journalist werden. Bildung ist nämlich ein Hindernis für die journalistische Fixigkeit, sie untergräbt die dreiste Selbstgefälligkeit, die über alles so leicht und sicher urteilt. Bildung ist ein retardierendes Prinzip: die Erziehung zur Vorsicht im Urteil. Sie hält davon ab, einen Einzelfall bedenkenlos zu verallgemeinern oder eine Regel auf jeden Einzelfall zu beziehen. Die Bildung hat mit einem Wort Vorurteile, der Journalismus aber ist ‚vorurteilsfrei‘. Bildung verantwortet Urteile schwer und zögernd, der Journalismus verantwortet ohne weiteres alles und jedes.

Mit wirklicher Bildung kein Journalist, mit wirklicher Bildung daher auch kein Schriftsteller, kein Dichter, kein Künstler, kein Gelehrter nach dem Herzen der Zeitungskritiker. Es ist leicht zu erraten, was für eine Art von Literatur, Kunst und Wissenschaft die Presse propagiert, was für Leute sie am begeistertsten lobt: Alles, was mit ihr verwandt ist. Es gibt viele und darunter nicht wenig berühmte Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, die ihren Ruhm nur ihrem Mangel an tieferer Bildung und Einsicht verdanken. Aus diesem Mangel stammt jenes leichte Urteil, jene Bedenkenlosigkeit der Dummheit, jene kecke Geschwätzigkeit und aufdringliche Schamlosigkeit, die von der Ignoranz immer wieder mit Temperament, Mut des Geistes und künstlerischer Naivität verwechselt wird. Solche Berühmtheiten wirken im Grunde mit den Mitteln des Journalismus, sie sind dem Tagschreiber verwandt, — es sind vielfach nur entsprungene Tagschreiber …

Die Bildung ersetzt der Tagschreiber durch ein spezifisches Gedächtnis, durch ein Notizbuch oder einen Zettelkasten. Aus aufgeschnappten Namen und Aussprüchen, schlechtgehörten Urteilen und schlechtgelesenen Berichten, zusammenhangslosen Begriffen und Historien, aus schiefgesehenen Tatsachen, aus fünfzig gangbaren Phrasen und mit dem Zubehör des eigenen Fetzenwissens webt er die Ellen seiner Arbeit. Man darf billigerweise nicht übersehen, dass auch unser moderner Schulmechanismus kein anderes als ein solches Phrasenwissen hervorbringt, dass die Schule alles tut, die unheilvolle Verwechslung von Bildung (d. h. Zucht der Sinne und des Intellekts, um richtig sehen und denken zu lernen) mit wertlosem Gedächtnisballast und papageienhafter Nachplapperei vorzubereiten. Die Schule, die von jeder Ecke der Welt einen Theoriefetzen und von jedem Ding wenigstens den Namen in uns hineinstopfen will, verführt die Masse dazu, die Zeitungslektüre für die natürlichste Fortsetzung der »Bildung« zu halten. Der Tagschreiber hält heute den Posten für »Ausbau der Bildung« besetzt. Die Zeitung ist das Schulbuch der Erwachsenen. Und der Tagschreiber ist der Lehrer der großen Masse.

Allem, was heute als Bildungsfaktor gilt, der  Zeitung, der Schule, der Reisewut, den Ausstellungen, dem unmäßigen und sterilen Kunstbetrieb, all dem haftet der Fluch des Vielzuviel an. Wir liegen vor der Quantität auf dem Bauch, wir haben völlig vergessen, dass die eigentliche Geistigkeit, die innere Kultur gerade in der Abwehr des Zuvielen, des Angehäuften, in der Beschränkung auf das Wenige, das Verdauliche besteht. Wir haben die Bildung zu einem Kinematographentheater umgestaltet, in dem auf einem endlosen Film eine Kette von wahl- und zusammenhangslosen Momentbildern sich abhaspelt. Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen, Flüchtigen und Halbgesehenen …

Der Journalist ist nicht ein Schriftsteller aus innerem Zwang, sondern ein Schreiber, der einem Druck von außen gehorcht. Er schreibt nicht, weil er etwas zu sagen hat, sondern er sagt immerfort etwas, weil er schreiben muss. Und er hat beim Schreiben das Gefühl, nicht das sagen zu müssen, was er für richtig hält, sondern das, was »man« heute für richtig hält und was übermorgen bestimmt nicht mehr wahr ist. Der Tagschreiber hält beim Schreiben nicht Gericht mit sich selbst und jenem »Man«, sondern schielt ängstlich nach dem Leser, den er schon über seine Schulter gucken sieht. Beim Schriftsteller besteht zwischen Person, Stoff und Form ein organischer Zusammenhang. Das Verhältnis des Tagschreibers zu seinem Stoff aber ist ein durchaus widernatürliches und gezwungenes. Die Auswahl des Stoffes ist bereits ohne ihn vollzogen: er ist abhängig von der Augenblicksgegenwart, von der Aktualität, vom Vordergrund; er hat nur innerhalb des Heute, des »Modernsten« eine Auswahl. Das Heute, der Gischt der Unmittelbarkeit, ist aber gerade das Noch-nicht-zu-Beurteilende, ist dasjenige, was von einem Betrachter, der die Wahrheit und das Wesen einer Sache zu ergründen sucht, mit der feinfühligsten Behutsamkeit und dem kühlsten Misstrauen aufgenommen werden muss. Dem Tagschreiber ist es nicht im Geringsten um die Wahrheit zu tun — er führt dieses Wort, wie alle schönen Worte, im Munde —, sondern nur um Urteile überhaupt, um Urteile, die lediglich durch die Aktualität der beurteilten Substanz interessieren. Was weiß er von der vorsichtigen Gelassenheit, mit der ein geschulter Denker seinem Problem gegenübertritt, von der unbeirrbaren Geduld und zarten Unerbittlichkeit, mit der er es allmählig entwirrt und fasslich macht? Wie hätte der Schreiber des Tages auch nur die Muße zu wirklicher Denkarbeit! Er hat zu schreiben, nicht zu denken. Er kriecht auf den schwierigsten Problemen so geschäftig herum wie die Made auf dem Käse, um sich davon zu nähren und sie überdies noch zu beschmutzen. Der Ernst einer Sache schreckt ihn niemals ab; er hat nur einen Ernst: mit den Brocken, die er der Masse hinwirft, ihren Geschmack zu treffen, vor der Masse recht zu behalten, maßgebend zu sein, eine Macht zu sein, mit der man sich verhalten muss! Er sagt mit Pilatus: Was ist Wahrheit! Er fühlt sich als Anwalt einer Majorität, er stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf die Mode, auf das unisone Geschrei des Tages.

Die Presse hat mit Vernunft und Wahrheit nichts zu tun, sie schlägt ihnen täglich ins Gesicht;  sie sorgt für den Obskurantismus besser noch als die Kirche. Dass die Presse, die sich fortschrittlich nennt, irgendwie Aufklärung verbreite oder den Fortschritt fördere, das glauben nur solche, die durch Zeitungslektüre bereits hoffnungslos verdummt sind. Das Hauptargument für die »Berechtigung« oder »Notwendigkeit« der Presse ist jetzt dieses, dass sie die liberalen Institutionen in Schutz nehme. Nun, man mag über die liberalen Institutionen denken wie man will; was würde aber — gesetzt, es wäre wahr — der Schutz einzelner verbriefter (und trotz Presse meist eben nur verbriefter) persönlicher Freiheiten bedeuten gegen die scheußliche Tyrannei der Masse, welche gerade durch die Presse gefestigt und geheiligt wird! Schließlich steckt hinter jedem liberalen Ding immer ein Tyrann. Die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird, ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die illiberalste aller Institutionen. Die Presse wird immer den Erfolg anbeten und — um selbst daran teil- zunehmen — dem huldigen, der die Macht hat, oder dem, welchem die Macht winkt. Nein, die Presse hat nichts mit der Freiheit zu tun, die »freiheitliche« am wenigsten! Und mögen Präsidenten, Minister, Zelebritäten und Streber sie noch so oft als segensreiche Macht verhimmeln! Sie wissen, warum sie’s tun ….

Aber der Mensch ist ein zähes Tier. Vielleicht wird die Presse sich selbst ad absurdum führen und wie jener Frosch, der sich zum Ochsen aufblähen wollte, krepieren, noch ehe der menschliche Intellekt und die menschliche Würde ganz zuschanden werden. Eines aber wird schon in kurzer Zeit unwiederbringlich verloren sein: das lebendige Sprachgefühl. Der Tagschreiber, dem fast ausschließlich nur der Zufall Artikel diktiert, der sich für alles  interessieren Muss und daher für nichts interessiert, ist von vornherein zu einer affektierten Schreibweise verurteilt. Er schreibt nicht als Fachmann eines Gebietes, sondern über alles nach unzureichender Information. Er verwendet die Termini und Formeln aller Berufe und Wissenszweige, ohne deren Sinn zu kennen, er ist ein Ignorant, ein typischer Oberflächenmensch und drückt sich daher am liebsten verschwommen und zweideutig aus. Da er immer eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer übertrieben, ist er — nolens, volens — ein Liebhaber des Extrem-Expressiven. Er beherrscht, da er keinen eigenen Stil haben kann, alle Stilarten und hetzt jedes klingende Wort erbarmungslos zu Tode. Der Tagschreiber aber ist der einzige, der von einer ungeheuren Majorität gelesen wird. Die totale Korruption des Wortes ist unabwendbar, wenn es nur noch drei Generationen Tagschreiber und Zeitungsleser geben wird. Denn die Zeitungsleser sind Wiederkäuer! Anschaulicher, als lange Reden es vermöchten, malt Nietzsches Gedichtchen »Das Wort« — selbst ein sprachliches Kleinod — das trübselige Geschick, mit dem Sprache und Wort von ihren Schmarotzern und Würgern bedroht werden. Dem frommen Wunsch, in den es ausklingt, stimmen alle besorgten Schützer der Kultur zu, denen der Tag nicht in Morgen- und Abendblatt zerfällt:

»Pfui allen hässlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!«

K a r l H a u e r.

*
* *

Es ist unzulässig, dass Leute der Wissenschaft Tiere zu
Tode quälen; mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern
experimentieren.

I b s e n.

*

Die Zeitungsschreiber haben sich ein hölzernes Kapellchen
erbaut, das sie auch den Tempel des Ruhms nennen, worin sie
den ganzen Tag Porträts anschlagen und abnehmen, und ein
Gehämmer  machen, dass man sein eigenes Wort nicht hört.

L i c h t e n b e r g.

Aus „Die Fackel“ Doppel-Nummer Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr.                             Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer.

 

»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.

Selbst nach über einhundert Jahren bleibt nur ungläubiges Staunen vor der Weitsicht dieses Denkers. Würde es heute jemand wagen können bei eintausend Fernsehkanälen eine auch nur fünfzigjährige  Konklusion zu ziehen, wo die multimediale Entmündigungsmaschine auf Hochtouren läuft? In Unmengen werden scheinbare Antworten auf  erfundene Fragen gegeben, die  niemand je stellen wollte und deren Beantwortung  so sinnlos ist wie die Frage selbst. Der Journaille  hat die Bescheidenheit  zur Frage von je her gefehlt, da sie  implizit vorher glaubt,  hinterher sowieso, alles besser zu wissen. Wieviel muss man wissen, um von sich zu behaupten zu dürfen, dass man nichts weiß? Meine Bewunderung gilt der Demut des Sokrates, die aus seiner lakonischen Bemerkung spricht. Dem Gehirn des Journalisten muss das  ein Rätsel bleiben.  Man kann sicher fragen, ob nun alle Journalisten gemeint seien. Nein,  nicht die Denker unter ihnen, die ihre Verantwortung kennen und wollte man Besipiele nennen, fiele einem Hermann Gremliza ein, Hans-Ulrich Jörges oder  eventuell noch  Klaus Kleber vom ZDF und manchmal sogar „Die Zeit“. Aber jene sind  in der Masse  selten , wie die Anderen  häufig und man muss lange suchen bevor man auf einen trifft, der spricht oder schreibt, weil er etwas zu sagen hat und nicht, um der Redaktion einen normierten  Beitrag  zu liefern. Nachhilfe kann  jedermann unter anderem bei Montaigne, den französischen Moralisten und bei Karl Kraus erhalten.   W.K. Nordenham

 

 

 

 



Der Löwenkopf oder Die Gefahren der Technik. Von Karl Kraus

02. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

(…) Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn
sie nackt sind, auffallend gekleidet gehen. Jede Gebärde eine Arabeske,
jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist
notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen
würde: mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem
Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies
Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe       und die Herzen von Katzen!                                                          Karl Kraus

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DIE FACKEL Nr. 384/385 13. OKTOBER 1913 XV. JAHR

Der Löwenkopf
oder
Die Gefahren der Technik

Eine ernste Nachricht, die eine Zeitung bringt, ohne dass sie einen Witz dazu macht, und keine andere, die es liest, macht einen Witz dazu:

[Die schweren Autobusse eine Gefahr für die Gebäude.]
Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die durch das Gewicht der Autobusse hervorgerufene Erschütterung des Bodens nicht ohne Einfluss auf Bauten bleibt, die sich in den Straßenzügen befinden, in denen die Autobusse verkehren …. Nun hatte sich die Bezirksvertretung Leopoldstadt vorgestern mit einem Antrage zu befassen, dessen Veranlassung beweist, dass unsere Forderung, es müsse bei der bevorstehenden Automobilisierung des Stellwagenverkehres vor allem das Gewicht der Wagen in Berücksichtigung gezogen werden, vollkommen berechtigt ist. Es haben sich nämlich mehrere Hausbesitzer der Praterstraße wiederholt beschwert, dass durch den Verkehr der ungemein schweren Autobustypen die Erschütterung der Häuser derart heftig sei, dass sich dadurch die Verzierungen an den Häusern lockern und leicht ein Unglück herbeiführen können. Um dieser Gefahr zu begegnen, soll die Praterstraße asphaltiert werden. — Außer der Bezirksvertretung Leopoldstadt haben sich ja auch schon andere Gemeindefunktionäre mit dieser Frage beschäftigen müssen, und man sieht, dass es gut sein wird, wenn bei der kommenden Automobilisierung die leichten Typen bevorzugt werden ….

Man hat keine Ahnung, von welchen Gefahren man stündlich bedroht ist. Wie leicht können sich die Ornamente lockern, wenn man gerade vorübergeht, und das Unglück ist geschehen.Ehedem war von den Ziegelsteinen das Ärgste zu befürchten, wiewohl sie viel fester saßen als die Ornamente. Aber wenn ein Ziegelstein an einem Kopf kaput geht, so ist das weiter kein Malheur, während durch die Vernichtung eines Ornaments unabsehbares Unglück herbeigeführt werden kann. Die schweren Autobusse sind eine Gefahr für die Gebäude, an
denen die Menschen vorbeigehen. Gewiss wird vielfach nicht nur an die Erhaltung der Ornamente, sondern auch an die Sicherheit der Passanten gedacht, wenn man den heutigen Zustand unhaltbar findet.Ein frivoler Mensch würde sogar den Vorschlag machen, die Ornamente abzuschaffen und Gott zu danken, dass die Autobusse uns die Trennung erleichtern, und diese Trennung lieber freiwillig vorzunehmen als sie von der Erschütterung durch die Autobusse herbeiführen zu lassen. Ja, man könnte geradezu sagen, die Gefahren der Technik seien ein wahres Glück und die Erfindung der Autobusse sei ein Fingerzeig der Vorsehung, der die Abschaffung der Ornamente dringend empfiehlt: die technische Entwicklung bringe doch die eine geistige Entschädigung mit sich, dass sie den Schnickschnack gefährdet! In dieser großstädtischen Zeit aber findet sich keine Bezirksvertretung, die den Konflikt zwischen der Technik und der Ästhetik zugunsten der ersten entscheidet. Denn jede hat ein Gemüt für die Ornamente und schafft lieber die Autobusse ab, die so viel brum brum machen, dass die Ornamente nicht schlafen können, sondern erschrecken und, bumstinazi, unten liegen. Ein frivoler Mensch würde den Vorschlag machen, durch sämtliche Straßen Wiens in derselben Stunde Autobusse zu jagen, auf dass dem Unfug ein jähes Ende bereitet werde, auf die Gefahr hin, dass ein paar Schock Verfasser von Zuschriften über »die Berge, die Eltern und die Gefahren« unter Ornamenten begraben würden und noch etliche andere unnütze oder verkehrshinderliche Existenzen dazu, und in der Hoffnung, dass die Erfinder der Ornamente selber darunter wären, wobei jeder jeweils den Vorzug hätte, seine eigene Pletschen auf sein eigenes Dach zu bekommen. Als der Erbauer des Michaelerhauses, dieser leibhaftige Autobus, der mit der Schönheit tabula rasa macht, von den Bezirksvertretern gemartert wurde, hätte er ihnen einfach einen Lohengrin und eine Leda mit je einem Schwan hinpappen sollen, damit die Seele eine Ruh hat, und dann einen tüchtigen Akkumulator arbeiten lassen sollen, um darzutun, dass die mythologischen Persönlichkeiten mit Pferdekräften doch noch schneller fortkommen. Ich wohnte einmal in einem Hause auf der Dominikanerbastei, da betete ich täglich, es möge endlich ein Autobus durchrasen, mich würde er nicht stören, denn ich wohnte in einem Zimmer mit Aussicht auf eine herrliche Feuermauer, auf die nichts gemalt war, so dass der Teufel noch Platz hatte, aber die Aeskulapschlangen, Gorgonenhäupter und sonstigen Utensilien, die auf der Fassade aufgeklebt waren, stierten mirs. Es war schwer, nachhause zu gehen. Zumal wegen der immer auftauchenden Sorge, was der Herr Wassertrilling, der das Haus erbaut hatte, nur mit der Mythologie habe. Eines Tages, ich saß geborgen vor meiner Feuerwand, — Riss es an der Klingel. Ich glaubte, es sei ein Leser, der mir einen Übelstand mitteilen wolle, es war aber ein Mann, der ganz echauffiert mir zurief: »Schaun S’ zum Fenster außi!« Ich erwiderte, dass es in meinem Hof Gottseidank nichts zu sehen gebe, worauf er unwillig versetzte: »Was, Sie wohnen gar nicht auf die Straßen?« Ich: »Nein, was ist denn geschehn?« Er: »Die Parteien, die was auf die Straßen wohnen, sollen außischaun!« »Ja, warum denn?« »’s Haus wird doch photographiert!« Ich warf die Tür mit einem so heftigen Wurf zu, dass ich einen Augenblick hoffte, die Aeskulapschlangen hätten sich von innen gelockert, das Haus werde nun kein freundliches Gesicht mehr machen und der Photograph erklären, unter solchen Umständen könne er nicht weiter arbeiten. Ich erfuhr aber, dass nichts passiert war, und ich ersah, dass es Menschen gibt, die sich zum Fenster hinausbeugen, wenn solch ein Haus photographiert wird, und die den Ehrgeiz haben, anstatt ihren Ursprung zu verleugnen, auf solche Platte zu kommen. Und kein Autobus fuhr durch. Das Haus, wiewohl ein neues Haus, steht noch heute, es ist eine Sehenswürdigkeit und vom Franz Josefskai leicht zu erreichen. Das Publikum, welches sich dort tummelt und das sichere Gefühl hat, dass dieses Haus das schönste auf der ehrwürdigen Dominikanerbastei ist, geht gern Samstag abends ins Café Imperial, des Staunens voll über die Pracht, die dort zu schauen ist. Als das freundliche alte Café von einem jungen Meister erneuert werden sollte und man lange nichts sah, da sah man zwar noch nicht die Klaue des Löwen, aber ein Löwenkopf hing doch schon an der Fassade und hielt einen Ring im Maul. Er hat einen Zweck, dachte ich mir. Er wird der künftigen Beleuchtung dienen. Geduld, dachte ich, zum Beleuchten einer finstern Gegend gehört vor allem ein Löwenkopf. Den hat man und dann wird man sich schon durchfretten. Vom Bauernschreck hat man auch nicht mehr und er erfüllt doch seinen Zweck. Genug, der Löwenkopf war da und er blieb durch Monate, als alles noch im Finstern lag. Schon aber kamen die entzückten Besucher aus der Leopoldstadt, wo sie für die Ornamente zittern, die vor den Autobussen zittern, und bewunderten den Löwenkopf. Ein Dorfschulbub wird bekanntlich gefragt, wie man eine Planke mache. Er weiß Bescheid, und wenn das Gestell so weit sei, schreibe er noch schnell  Lekmimoasch drauf und die Planke sei fertig.
Die Besucher des Café Imperial aber waren schon zufrieden, weil es drauf stand, noch ehe das Gestell so weit war. Die Planke ist auch heute mehr schön als brauchbar, aber die Wucherer haben einen so ausgeprägten Schönheitssinn, dass ihnen Löwenköpfe, Gottheiten oder Spargelbünde, die Licht geben, weiß Gott lieber sind, als eine Sitzgelegenheit. Den Schmutz der Gasse haben sie zuhause, und selbst der ist von Hoffmann. Je schöner aber die Welt wird,  desto mehr Wucherer ziehen in sie ein und bewundern die Arabesken. Es ist keine kleine Angelegenheit, dass einem der letzte Lebenswinkel austapeziert wird und die Verschönerung der Wände die Verschlechterung der Betrachter zur Folge hat. Die Welt der Autobusse ist nicht die, die man mit der Seele sucht. Aber man muss in ihr leben, um eine bessere zu finden, und eine schlechtere wird einem so zur Qual, dass man wünscht, ein Autobus möge nicht nur an einem renovierten Kaffeehaus vorbei, sondern auch durch seine Pracht hindurchfegen und alle Ornamente, die dort an den Wänden sitzen, und alle Bärte, die dort an den Ohren kleben, glatt mitnehmen. Denn allerorten drängen sich jetzt die Löwenköpfe, die Wände haben Ohren und es tauchen Menschen auf, die den Bauch wie einen Erker tragen und die Nase wie einen Risalit, und deren Hängebart sich im nächsten Augenblick, wenn die Arbeiten weiter fortgeschritten sind, als Beleuchtungskörper oder als Briefbeschwerer oder als  Bettvorleger entpuppen kann. Es muss etwas zu bedeuten haben, denn das Ding an sich kann es unmöglich sein. Wer wird denn mit so etwas im Gesicht herumgehen und es noch  offerieren,  wenn nicht was dahinter wäre? Aber man wartet vergebens, es wird nichts draus. Nun, praktisch ist so ein Vollbart nicht, »aber schen is«, sagt meine Bedienerin in solchen Fällen. Da ist ein Sprachlehrer, dessen Bild herumgetragen wird, Dienstmänner haben es auf dem Rücken, wo man jetzt hinkommt, sieht man diese Arabeske, selbst auf Zündsteinen, die sonst nur der Unterstützung des gefährdeten Deutschtums in der Ostmark dienen, taucht sie auf. Schön und stattlich, das ist der Eindruck. Man sieht es gern. Aber ein rasiertes Gesicht  hat auch seine Vorzüge, man kommt auf der Straße schneller vorbei, und wenn ich französischen Unterricht zu nehmen hätte, wegen des Fortkommens, würde ich geradezu darauf bestehen. Der Friseur am Lido, ein Idealist, der zwischen den Kapannen umherirrt und dessen Lebenslüge darin besteht, dass man nur von »manicure, pedicure!« leben könne,  verlangte drei Kronen für das Rasieren. Ich bot ihm dreihundert für den Bart des Bahr, der mir schon lange im Weg ist. Weiß der liebe Gott, ich mag solche Barben nicht! Man verstehe  mich recht. Der Löwe ist ein Löwe, er hat nicht nur einen Löwenkopf, sondern auch ein Löwenherz und man bleibt nicht stehen und sagt: Gut frisiert, Löwe! Ich weiß, wo die Manneszier den Mann beweist, und ich möchte um keinen Preis mir Tolstoi, Lear oder den Moses des Michelangelo rasiert wünschen. Aber wenn ein Wels aus Linz in der Adria vorkommt und sich in diesem Zustand gar photographieren lässt, sind physiognomische Beschwerden erlaubt. So möchte ich beim Barte des Propheten schwören, dass der des Bahr keine organische Notwendigkeit ist, sondern nur ein feuilletonistischer Behelf, ein Adjektiv,  eine Phrase. Es muss nicht sein. Oder vielmehr: es muss sein,  denn schon der gestutzte Schnurrbart verrät, wie dieses Gesicht aussähe, wenn es nicht phrasiert, sondern rasiert wäre. Die Augen sind gut, sie leuchten wie Rubine, aber man trägt nicht Rubine in einer Kartoffel. Ich möchte behaupten: gerade jene Gesichter, die des Vollbartes nicht wert sind, brauchen ihn. Es ist ein Dilemma. Köpfe gibt es, die dem Friseur nicht mit der Kundschaft weitergehen können, weil sie vom Raseur entlarvt würden. Der Historiker Friedjung hat einen Voll- und Ganzbart; man stelle sich vor, er hätte ihn nicht. Der Dichter Beer-Hofmann muss wie ein Hohepriester aussehen; sonst wär’s gefehlt, denn er sähe am Ende wie der Dichter Beer-Hofmann aus. Der Denker Bahr muss wie der liebe Gott aussehen; man stelle sich vor, wie er sonst aussehen würde. Und die Ähnlichkeit ist so zwingend, dass man sich, wenn man nur einmal am Lido geweilt hat, den lieben Gott künftig als Kapannenbewohner vorstellt, der binnen einer Stunde in vier verschiedenen Bademänteln an den Gläubigen vorüberwallt, in einem roten, in einem braunen, in einem blauen und in einem schwarzweißen, welcher der schönste ist, immer wechselnd, zieht an, zieht aus, zieht an, zieht aus, als ob der liebe Gott der Rothschild selber wäre. Ich habe Wunder über Wunder in diesem Sommer geschaut. Richard Wagner liebte Samt und Seide. Aber er brauchte nur zum Schreiben, was die Wiener Meister zum Baden brauchen. Und Schiller hat die faulen Äpfel nicht gegessen. Wunder über Wunder habe ich gesehn an jenem Strand. Quallen, die im Kaffeehaus arg darniederliegen, aber hier zu leuchten begannen, wenn jenes Gottes Sonne sie beschien, und alle Farben spielten, wenn ich in die Nähe kam. Tintenfische trugen Rezensionsexemplare in die Kapanne Nr. 20, liebe Schnecken, die im Winter plaudern, wanden sich vor mir, wenns  niemand sah, aber die ganze Fauna stand habtacht, wenn ihrer aller S. Fischer auftauchte. Der Bartsch fehlte mir in dem Aquarium. Aber wenn es Menschen waren, waren es Hohepriester. Nichts als Hohepriester sah ich, die nach dem Wetter auslugten und nach den Tantiemen. Sie wandelten nicht nur, sie badeten gern, denn wo sie hintraten, war das Meer seicht. Meine Anwesenheit störte sie nicht in den Geschäften, wenngleich sie unruhiger waren, als es Hohepriestern ansteht. Die Sonne war verhängt von farbigen Draperien und sie selbst schienen dahinter Schutz zu suchen. Aber solche Mimikry, dachte ich, macht nicht unkenntlich und schützt nicht vor Verfolgung, sondern im Gegenteil. Ich bin noch nüchtern genug, einen Hohepriester von einem Librettisten unterscheiden zu können. Ich trau mir’s zu. Ich weiß schon, wer die sind. Ihre Hülle verrät sie und über ihre Krücke straucheln sie. So leben sie. Wenn sie sterben, werden sie einem Hervorruf Folge leisten. Dass sie fünfzig Jahre alt werden, glaubt man ihnen zur Not, den Tod nicht, und nicht einmal wenn sie ihn erleben sollten, statt ihn bei S. Fischer erscheinen zu lassen. Es sind die Künstler, von denen, so wie sie da in ihrer Formen Fülle schreiten, das »Künstler-Beinfleisch« kommt, das jetzt in einem neuwienerischen Beisl angepriesen wird, und es ist jene Bohème, die das beliebte »Bohème-Gullasch« liefert. Der Bürger hat Geschmack, die Kunst schmeckt schon fast so gut wie Beinfleisch, und seitdem Gedichte vomiert werden, ist das Essen ein Gedicht. Die Landschaft ist malerisch, die Maler sind malerisch, alles ist malerisch bis auf das Malen. Alles ist wie wenn; es ist, wie wenn es wäre. Du liebe Zeit, verlange ich einen Scheiterhaufen, bringt man mir eine Mehlspeise. Wie gut wirs haben, sehen wir die Schönheit alter Formen so dem  weck gepaart! Ich lebe fern den Dominikanern und wohne jetzt in einem Hause, das ein Scheiterhaufen mit Schlagobers ist, der ein Gedicht ist. Nein, eine Symphonie von Bäuchen und Nasen,  und hat es gleich keine Aeskulapschlangen, die immer ein apartes Tragen sind, so meint es doch alles, was es sagt, anders und sagt es allegorisch. Wie reich ist die Welt und wie überbietet sie das Maß der Schöpfung! Wo das Auge sich umtut, findet es Schönheit. Nur in den Seelen macht die Technik Fortschritte. Der Mensch ist  außer sich geraten. Kein Wort lebt, keine Farbe — denn alles ist sowieso laut und bunt. Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn sie nackt sind, auffallend gekleidet  gehen. Jede Gebärde eine Arabeske, jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen würde: mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe und die Herzen von Katzen! Der Autobus ist kein Ziel, aber eine Rettung. Ich kann tabula rasa machen. Ich fege die Straßen, ich lockere die Bärte, ich rasiere die Ornamente!


Zur Sprachlehre. Von Karl Kraus

27. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Sprache

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR 1927 XXVIII. JAHR


S.37 -57

Zur Sprachlehre

Zu den Vorurteilen gegen mich, die wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein werden, gehört die Vermutung, dass ich die Zeitungen lese, »um etwas zu finden«, woran ich Anstoß nehmen könnte, während ich in Wahrheit im Blätterwalde so für mich hingehe und nichts zu suchen mein Sinn ist. Ja bereit, die Herren Journalisten zu bestechen, damit ich nur ja nichts zu finden brauche, was mich zur Wiederherstellung der Natur nötigt, komme ich mir wie der  Nestroysche Hausmeister vor, der lieber selber einer jeden Partei ein Sechserl schenken möchte, um nur seine Ruh’ zu haben. Oft denke ich mir auch, die Zeit, die sie mir rauben, würde ich gern daran wenden, ihnen rechtzeitig zu helfen, alles das zu unterlassen, was mich in Tätigkeit setzt. Denn ich bedarf doch wahrlich nicht ihrer Anstöße, um mir über die Gestalt, die sie der Welt gegeben haben, etwas einfallen zu lassen. Wenn sie nun gewillt wären, mir täglich ihre  Bürstenabzüge zur Korrektur zu schicken, so bin ich erbötig, bei voller Belassung der moralischen Eigenart, ihnen das Gröbste im Stilistischen und  Grammatikalischen abzutun und gerade dadurch ihre schlechten Absichten wirksamer herauszuarbeiten. Ich muss diese Arbeit ja oft genug an Zitaten  besorgen und manchen Formfehler beseitigen, um die Aufmerksamkeit nicht von dem Schwachsinn der Gedankenführung oder der Lumperei der Gesinnung  abzulenken. Sie wissen es nicht, merken es nicht und ich stiller Wohltäter mache kein Aufhebens davon. Aber natürlich wäre ich auch bereit, in  den Inhalt einzugreifen, zu zügeln, zu beleben, zu veredeln, kurz eine Textgestalt herzustellen, die vor meinem Witz sicher sein kann. Weiß Gott, es wäre gar  nicht übel, die Vorzensur, die sich im Krieg bloß auf die Unterdrückung von Artikeln beschränkt hat, die die Siegeszuversicht herabmindern konnten, in  meine Hände zu legen, welche doch für einen weit kulturvolleren Zweck tätig wären. Aber wie ich die Herren Journalisten kenne, werden sie diese Idee als  eine unerlaubte Zumutung an die Freiheit der Prostitution stolz von sich weisen, und was ich seit Jahrzehnten als Zensor ihrer Resultate leiste, hat, ach, nicht  einmal an der äußersten Oberfläche der Sprachkorrektur seinen erzieherischen Einfluss bewährt. Man kann es mit dem ihnen geläufigsten Worte sagen: sie haben »daran« vergessen, auch wenn es ihnen noch so oft eingetrichtert wurde; und wenn sie auch nichts wissen, sie »brauchen nicht lernen«. Aber vielleicht kommen wir einander ein wenig näher, wenn ich von Zeit zu Zeit die ärgsten sprachlichen Missbildungen förmlich ausstelle — ohne an bestimmte  Fälle anzuknüpfen, denn da täten sie’s justament! Um nur, was mir grade zur Hand liegt, zu erwähnen: »w i e s o  kommt es«, dass sie so schlechtes Deutsch  schreiben und dass diese Frage, die der Tandelmarkt frei hat an das Schicksal, immer wieder gestellt wird? Also man fragt: w i e   (oder         w o h e r ) kommt es (das  andere bedeutet etwas ganz anderes). »N a c h vorwärts« geht es in keinem Fall, sondern es sollte bloß »vorwärts« gehen. Dies gilt natürlich auch, wo es  »rückwärts geht«. Dagegen soll nie etwas »rückwärts sein«, sondern nur  h i n t e n. Völlig unmöglich aber ist es, die Fremden, die man nach Wien lockt und denen man solche Lokalismen als Sehenswürdigkeiten bietet, »Gäste  v o n  a u s w ä r t s« zu nennen, weil da zwei entgegengesetzte Richtungen  karambolieren. Die Herren Journalisten werden sagen: Wir »v e r b i e t e n  uns« diese Kontrolle. Aber was mich betrifft, ich kann weder ihnen noch mir ihr schlechtes Deutsch verbieten, ich kann es mir nur  v e r b i t t e n. Denn ich kann ihnen nicht gebieten, dass sie besser schreiben, ich kann sie nur darum  bitten. (Wenn ich’s erpressen könnte, würde ich es tun.) Imperfektum: nicht er »verbot sich etwas«, sondern er »verbat« es sich. Perfektum: nicht »er hat es  sich verboten«, sondern »verbeten«. Wie kommt das? Woher kommt das? Eben nicht von »bieten«, sondern von »bitten«. (Der Nestroysche Sprachwitz, in der  wienerischen Üblichkeit begründet, ist ein rein akustischer: »Ich werd’ mir das verbieten!« »Sich können Sie verbieten, was Sie wollen, aber mir nicht!«.  Wenn die Gegenfigur deutlich sagte: Ich werd’ mir das verbitten!, wäre der Witz nicht möglich.) Bei dieser Gelegenheit: Wenn ich einem etwas »geboten« habe, so kann das sowohl von »bieten« wie von »gebieten« kommen; nicht zu verwechseln mit: »gebeten«, das von »bitten« kommt und wieder nichts zu tun hat  mit »gebetet«, das von »beten« kommt. Die Sache ist nicht leicht, aber da wir zum Publikum sprechen, so müssen wir doch, nicht wahr, mit gutem Beispiel  vorangehen. Nun, ich  m u t e  ihnen zu, es sich zu merken, ohne dass ich ihnen diese Fähigkeit  z u t r a u e. Sie aber beklagen sich: ich »mute ihnen zu, es nicht  zu wissen« — was so viel bedeutet als: ich verlange von ihnen, dass sie es nicht wissen, während ich doch das gerade Gegenteil von ihnen verlange, wenngleich  nicht erwarte, es ihnen also nicht »zutraue«. Denn sie haben mich, wie sie sagen würden, nicht »allzu verwöhnt«. Eine arge Misere ist diese Verbindung von  »allzu« mit einem Zeitwort. Der gebildete Schmock schreibt, einer habe »allzu dominiert«. Nun wäre wohl seine »allzu dominante« Stellung denkbar, aber er  könnte natürlich nur »allzu  s e h r« dominieren. Etwas mag allzu lieb, selbst allzu geliebt sein (wenn das Partizip mehr als Adjektiv denn als Zeitwort gedacht  wird), aber man kann nur »allzu sehr« lieben. Einer kann allzu groß sein, aber nicht allzu gewachsen. Es wäre auch möglich, dass er »allzu verwöhnt ist«, aber er »wurde allzu sehr verwöhnt«. Komplizierter wird es, wenn der Schmock schreibt, man dürfe »einem nicht allzu Unrecht tun«. Man kann sich wohl »allzu  unrecht« (unrichtig) ausdrücken, aber man kann nur »allzu sehr Unrecht« tun (allzu großes Unrecht). Tue ich das? Es gibt kaum einen sprechenden oder  schreibenden Menschen in Wien, der sich nicht erlaubte, »bisschen« schlampig zu sein statt »e i n  bisschen« (das von einer sehr realen Sache, nämlich einem  kleinen Bissen stammt). Vollends mit dem »bis« wird aber verfahren, dass es schon nicht mehr schön ist und die Bedeutung auf dem Kopf steht: sie werden einem etwas sagen, »bis er kommt«. Aber sie meinen natürlich nicht, dass sie es ihm so lange sagen werden, bis er kommt, sondern erst sagen werden, w e n n    er kommt. In Wien geht der Krug erst dann zum Brunnen, wenn er bricht, weshalb er meistens zu spät kommt. Und wird »bis« schon einmal richtig statt für den Zeitpunkt für die Zeitstrecke verwendet, so kann man sicher sein, dass ein »nicht« seine Begleitung anbietet:

ein Gnadengesuch, mit dessen Erledigung so lange gewartet werden sollte, bis die Entscheidung des Oberlandesgerichts .. n i c h t  vorlag.

Fast alle diese Bildungen sind spezifisches Wiener Gewächs, dessen jüdische oder nichtjüdische Herkunft nicht mehr feststellbar ist. Wenn die Wiener heute » a m Land« sind, so ist es kaum mehr das alte: »aum« (auf’m) Land. Hier kann man jüdisch oder zur Not alldeutsch sprechen, deutsch keineswegs. Ein Franzose,  der schlecht französisch spricht, ist kaum vorstellbar, dagegen ist er stolz darauf, wenn er schön französisch spricht. Eine verstorbene Freundin, die für diese  Werte ein besseres Gefühl hatte als die ganze Kollektion, die Kürschners Literaturkalender umfasst, schilderte mir einmal, wie sie in einem kleinen Laden  einer Pariser Vorstadt nach etwas vergebens fragte, aber nicht von einem Klachel in einem undefinierbaren Dialekt angeschnauzt wurde, sondern freundlich  an einen Konkurrenten gewiesen, der die Ware bestimmt vorrätig habe: »U n d  außerdem spricht er ein so schönes Französisch!« Man versuche sich  vorzustellen, dass eine solche Auskunft bei uns, in Kauderwelschland, erteilt wird. Die Zusammenhänge mit dem Infanterieregiment Nr. 4 sind in Wien weit  lebendiger als die mit den Deutschmeistern. Die Perversion aber, dass die gedruckte Sprache auf einem noch tieferen Niveau angelangt ist als die gesprochene, ist das geistige Unikum, das diesem Klima vorbehalten blieb. Die öffentliche Meinung ist zur Wand eines Abtritts geworden, auf der nicht nur jede Büberei der  Gesinnung Platz hat, sondern auch jede Missetat an der Sprache. Setzt der jüdische Journalist die Wendung hin: »worauf man darauf folgern kann«, so antwortet der Arier: »wonach hervorgeht«. Die Lokalredakteure müssen als Volksschüler doch ein besseres Deutsch geschrieben haben; sonst wären sie es  noch heute. Kürzlich schrieb einer:

Die Anklage wird auf einen  w e i t e r e n   s i c h   g e s t e r n                           z u g e t r a g e n e n  Vorfall ausgedehnt.

Dem geschätzten Autor würde man natürlich auch nicht begreiflich machen können, dass er durch das Fehlen des Kommas nach »weiteren« ausgedrückt hat, die Anklage habe sich auf einen andern »sich gestern zugetragenen« Vorfall bezogen. Aber sie können nicht nur nicht die Wörter richtig zusammenstellen, nein, da liest man täglich auch solche, die es gar nicht gibt: »insbesonders« dieses. Der Dichter der ‚Wiener Stimmen‘, von dem man doch annehmen müsste,  dass er, wenn schon nichts anderes, so zum mindesten eine Muttersprache habe, beginnt ein Verslein mit dem Wörtlein: »zumindestens«, das sich ihm aus  dem Vorrat von »mindestens«, »zu mindest« und »zum mindesten« geballt hat; »zumeistens« würde er kaum riskieren. Einer, der trotz seinem  Mauscheldrang ein kerndeutscher Mann ist, prophezeite kürzlich, ein Jargonstück werde »durch Wochen lang« zugkräftig sein. Dem Grafen Keyserling, der  gewiss eine fatale Einstellung zur deutschen Sprache hat und viel geschwänzt haben muss, ehe er die Schule der Weisheit gründete, korrigierte er einen ausnahmsweise korrekten Satz. Die Strafe folgte auf dem Fuß:

Wenn ich nun einen Menschen .. fragte, worin also die Lehre des Grafen Keyserling  b e s t ü n d e, so würde ich ….

Der Konjunktiv ist sicherlich eine schwierige Angelegenheit der deutschen Sprache, die auch den besten Schriftstellern schon Kummer bereitet hat. Selbst  wenn jenes »fragte« ein inneres Imperfektum wäre — das es hier ja nicht sein kann —, ihm also »ich fragte« und nicht »ich frage« zugrundeläge, so müsste es  heißen: »worin die Lehre  b e s t e h e«. Der Konjunktiv des Imperfekts wäre nur dann richtig, wenn der Satz bedingt gedacht oder in eine Bedingung fortgesetzt würde: »bestünde, w e n n  …« Er wäre richtig, wenn der Satz nicht die Frage enthielte: »Worin besteht die Lehre?«, sondern: »Worin bestünde die Lehre?«.  (Dies wäre etwa möglich, wenn bereits alles, worin sie nicht besteht, dargestellt wäre und der Schluss übrig bliebe, dass sie in nichts besteht. Im Falle  Keyserling zwar denkbar, aber hier nicht beabsichtigt.) Immerhin ist es vielleicht das Bemühen um eine consecutio temporum, die im Deutschen so leicht  wider den Gedanken geht. Aber der Konjunktiv imperfecti ist an und für sich das Prunkstück der Bildung. Ein geräuschvoller Advokat, der sich auch in der Presse als Polemiker lästig macht, schrieb kürzlich:

Und er  f i n d e t, dass alles prächtig vorwärts  g i n g e.

Eine ausnahmsweise richtige Konstruktion — wenngleich durch andere Fehler wettgemacht — stand in der Neuen Freien Presse:

Der Inspektor erklärte, dass er die Angeklagte, t r o t z d e m   sie   i h m beschimpft habe, hätte laufen lassen, wenn sie nicht eine Beschwerde gegen ihn erstattet hätte.

»Ihm« ist der typische Setzfehler der Wiener Druckereien; vom  Schreiber, der vielleicht so spricht, ist zu vermuten, dass er »beschimpfen« doch mit dem  Akkusativ konstruiert. »Trotzdem« als führendes Bindewort des Konzessivsatzes (statt »obgleich«) mag als ein tief eingewurzelter Missbrauch hingehen. Aber der Satzbau ist in Ordnung. Hier ist das »hätte laufen lassen« richtig, weil ihm der Konditionalsatz folgt: »wenn sie nicht erstattet hätte«. Hätte sie aber die  Beschwerde  n i c h t   erstattet und  h ä t t e  er sie laufen lassen, wäre also der Sachverhalt das Gegenteil, so hätte die Zeitung wohl trotzdem geschrieben: »Der Inspektor erklärte, dass er die Angeklagte hätte laufen lassen«. Anstatt richtig zu schreiben:»Der Inspektor erklärte, dass er die Angeklagte laufen ließ« oder »er habe sie laufen lassen«. Der ‚Abend‘, der außer dem Namen seines Herausgebers kein Fremdwort in seinen Spalten duldet, der sich grundsätzlich nicht an  die Adresse, sondern an die »Anschrift« der Proletarier wendet und dessen Sätze zu neunzig »vom Hundert« nicht deutsch sind, stellte kurz und bündig fest:

Das Berliner Gesundheitsamt m e l d e t, die Krankenhäuser  w ä r e n  überfüllt.

Man erwartet etwa die Fortsetzung: wenn nicht schleunigst neue eröffnet worden wären. Richtig muss es heißen: »die Krankenhäuser seien überfüllt« oder  »dass die Krankenhäuser überfüllt sind«. »Sie wären überfüllt« würde geradezu bedeuten, dass das Blatt die Meldung des Berliner Gesundheitsamtes als Lüge  hinstellen will. Ein Zweifel an ihr wäre schon angedeutet durch den Konjunktiv präsentis: »dass sie überfüllt seien« (während »sie seien überfüllt« bloß den  Ersatz für den dass-Satz mit Indikativ vorstellt). Selbst wenn das regierende Verbum die Zeitform des Imperfektums oder Perfektums hätte: »das Amt  meldete« oder »hat gemeldet«, so wäre fortzusetzen: »dass die Krankenhäuser überfüllt sind« oder »sie seien überfüllt«. Dies, wenn der Inhalt des abhängigen  Satzes für den Berichtenden feststehen soll. Ohne diese Tendenz darf sich hier der »dass«-Satz mit dem Konjunktiv präsentis anschließen: »meldete, dass sie  überfüllt seien«. Der Konjunktiv imperfecti nur dort, wo der des Präsens nicht in Erscheinung tritt, z. B. »er versicherte, dass sie kommen m ü s s t e n« (statt  »müssen«). Sonst aber würde er immer den Zweifel an der Aussage bezeichnen. Sanders hat hier ein vorzügliches Beispiel aus Schiller, das, gleichfalls eine  Krankmeldung betreffend, nebeneinander die Vermutung der Lüge und die Behauptung der Wahrheit durch Modus wie Tempus ausdrückt:

Mir meldet er aus Linz, er  l ä g e krank,
doch hab’ ich sichre Nachricht, dass er sich
zu Frauenberg  v e r s t e c k t   beim Grafen Gallas.

Bedenklich dagegen ist die von Sanders angeführte und nicht ausdrücklich getadelte Wendung bei Goethe:

Da er hörte, dass ich viel zeichnete und Griechisch  k ö n n t e.

Wäre hier der Konjunktiv unerlässlich, so wäre »zeichnete« richtig, da »zeichne« als Konjunktiv nicht hervortritt; »könnte« ist nicht richtig und die gedankliche Diskrepanz hebt sich nur im Mitklang des Tempus auf. Immerhin regiert hier das Imperfektum. Unmöglich aber ist es, von einem Präsens das  Imperfektum des Konjunktivs abhängig zu machen, ohne damit die Aussage als unglaubwürdig oder als bedingt hinstellen zu wollen. Da hat eine Berlinerin  mit Rilke gesprochen:

Er erzählte, dass er im Wallis bei Sierre wohne, in einem kleinen, alten Schloss, ganz einsam, Jahr für Jahr, und nur selten, wenn es nicht mehr anders  g i n g e, einen kurzen Flug in die  Welt hinaus mache. Der Kanton Wallis sei das Landschaftsbild, welches ihm durch seine Romantik und Üppigkeit am nächsten  k ä m e, und  wa s  ihn außerdem so sehr an seinen  Aufenthalt in Spanien erinnere.

Wie man nur aus einem Gespräch mit einem deutschen Dichter so schlechtes Deutsch bewahren kann! Von dem »was« abgesehen — warum denn »ginge« und  käme«? warum dann nicht auch »wohnte«, »machte«, »wäre« und »erinnerte«? »Wenn es nicht mehr anders ginge«? Es ginge nicht mehr anders, wenn  —! Aber in der deutschen Presse geht es wirklich nicht mehr anders. Vor dem Konjunktiv wird alles, was Deutsch schreiben möchte, scheu. Freilich anders, als es »der Wustmann« meint, welcher es verkehrt meint, gerade in diesem Kapitel seinem Namen, der geradezu ein Symbol der Sprachverwirrung geworden ist,  Ehre macht und dem Titel seines berühmten Buches »Allerhand Sprachdummheiten« zu einem unbeabsichtigten Sinn verholfen hat. Auch er verwendet  zufällig das Beispiel einer Krankmeldung, aber freilich um jede Sprachsimulation zu erlauben. Es sei »ebenso gut möglich, zu sagen«: e r  s a g t, e r   w ä r e   krank, wie: er sagte, er sei krank, u. dgl. Aber das erste ist nur möglich, wenn der Krankmeldung das stärkste Misstrauen entgegengesetzt wird. Über den Bedeutungsunterschied der Formen macht er sich so wenig Gedanken, dass er schlicht erklärt, der Konjunktiv der Gegenwart werde von vielen »als das  Feinere« vorgezogen; »wenn sich aber jemand in allen Fällen lieber des Konjunktivs der Vergangenheit bedient«, so sei auch dagegen »nichts ernstliches  einzuwenden«. Gleich darauf beklagt er aber die »fortschreitende Abstumpfung unseres Sprachgefühls«, von der er selbst, ohne es zu ahnen, die lebendigsten  Beweise gibt. Der Mann, der die Verderbnis unserer Schriftsprache von dem Übel herleitet, dass man nicht schreibe, wie man spricht — wiewohl man es doch  längst tut, ja noch schlechter schreibt als man spricht —, bringt es zuwege, Wendungen, die natürlich und richtig sind, für »papieren« zu erklären und die  papiernen für natürlich und richtig. Eine der fixen Ideen dieses Wegweisers, der in Deutschland so beliebt ist, weil er einen flachen Ernst mit einem seichten  Humor verbindet, ist sein Kampf gegen das Relativpronomen »welcher«, welches man nicht schreiben dürfe, weil man es nicht spricht. Findet er es bei Goethe und Hölty, so ist es »nichts als ein langweiliges Versfüllsel, eine Strohblume in einem Rosenstrauß«. Aber wenn man bedenkt, dass so ziemlich aller Wert der  geschriebenen Wortschöpfung jenseits aller Sprechbarkeit besteht und dass kaum je ein Satz aus der »Pandora« zur Verständigung im täglichen Umgang  gedient haben dürfte, so kann man ermessen, auf welchem Niveau sich diese Sprachkritik bewegt. Um bei dem »welcher« zu bleiben: es ist natürlich nicht  nur, wie Wustmann großmütig einräumt, zur Not in einer Folge von abgestuften Relativsätzen, im Wechsel mit dem einzig konzessionierten Pronomen »der«  anwendbar, sondern es waltet da wohl ein Bedeutungsunterschied, der nicht nur dem Wustmann, sondern auch solchen Grammatikern fremd ist, die das  »welcher« ohne Angabe der Gründe tolerieren. Ich will das Gefühl für diesen Unterschied an einem der verbreitetsten Fehler zu wecken versuchen. In einem  Blatt, das zwar großdeutsch, aber nicht deutsch geschrieben ist, heißt es:

Die Art, wie das Gedenken um Rainer Maria Rilke .. zum Ausdruck kam, ist  sicher  eine  der besten und schönsten, die  für  einen solchen Anlass .. möglich   w a r.

Es muss natürlich heißen: … eine der besten Arten, die möglich w a r e n. Der Nonsens, den der Singular ergibt, hätte den folgenden Sinn: die Art ist eine der  besten und sie war denn auch für einen solchen Anlass möglich. Es würde also von der besten Art noch ein weiteres ausgesagt. Wäre dies der Sinn, so würde  ihm »welche« eher gerecht als »die«: eine der besten Arten, welche eben hier möglich war (welche = und eine, die). Um es an einem gegenständlicheren Beispiel zu erläutern: »Eines der besten Bücher, das ich gelesen habe«. So sprechen und schreiben die Leute, die sagen wollen: Eines der besten Bücher, d i e  i  c h  gelesen habe. Das heißt: von den Büchern, die ich gelesen habe, eines der besten. Es soll aber nicht von einem der besten Bücher die Rede sein, die als solche schon feststehen, nicht von einem unter ihnen, von dem extra noch gesagt wird, dass ich es gelesen habe. Wäre dies — also eine bloß beigeordnete  Aussage — beabsichtigt, so träte der Fall ein, wo das Relativpronomen »welches« vorzuziehen ist: »eines der besten Bücher« als eine für sich stehende  Charakteristik, »welches ich gelesen habe« als ein hinzutretender Umstand. (Also: eines der besten Bücher und eines, das ich gelesen habe.) Dagegen: »Eines  der besten Bücher, die ich gelesen habe« — hier hat der Relativsatz eine bestimmende Funktion. Es handelt sich nicht um die besten Bücher als solche, sondern um die besten von denen, die ich gelesen habe. Diese Aussage enthält das wesentliche Kennzeichen der Bücher, keinen bloß hinzutretenden  Umstand, denn es sind die von mir gelesenen besten Bücher, von deren einem ich spreche und über die ein anderer anders denken wird. Hier ist das Relativpronomen »die« zu setzen, nicht »welche«.  Zwischen  »der«  und  »welcher«  fühle  ich  einen  Unterschied, der   etwa   dem   einer                    d e t e r m i n a t i v e n   und  einer  a t t r i b u t i v e n  Beziehung gleichkommt. Der Relativsatz, den ich mir, ohne das Wesentliche der Vorstellung des Gegenstandes zu verletzen, auch  eliminiert denken könnte, ist eher mit »welcher« anzuschließen. Der Relativsatz, der diese Vorstellung erst bildet oder wesentlich ergänzt, nur mit »der«.  Diese Form (die im Genitiv »dessen« ohnehin die andere verschlungen hat) wird freilich beiden Bedeutungen gerecht, und innerhalb des gedanklichen Unterschieds werden Rücksichten des Wechsels, des Klanges und allerlei sonstiges Stilgeheimnis die Wahl bestimmen — keineswegs aber irgendwelche  geistleere Vorschrift. »Der schlechteste Sprachlehrer, den ich gekannt habe«: das ist nicht der schlechteste Sprachlehrer überhaupt, sondern der schlechteste von denen, die ich gekannt habe. Sage ich: »Der schlechteste Sprachlehrer, welchen ich gekannt habe«, so spreche ich von dem überhaupt schlechtesten oder von einem, der als solcher schon dargestellt ist, wozu ich nur noch bemerke, dass ich ihn gekannt habe. Das Relativpronomen kann eine schwierige  Unterscheidung erleichtern: »Eine der anmutigsten Frauen, die ich gesehen habe«: da wird der Relativsatz wohl vom Plural abhängen. »Eine der anmutigsten Frauen, welche ich gesehen habe«: hier wohl von der einen. Beim Maskulinum und beim Neutrum ist die Unterscheidung, ob Singular oder Plural, von selbst  gegeben. »Einer der reichsten Männer, der eine Zeitung subventioniert«: das dürfte der typische Fehler sein, den solche Zeitungen machen, und es ist wohl gemeint: einer der reichsten Männer, die eine Zeitung subventionieren. Nehmen wir aber den einfacheren Fall: »Der reichste Mann, der eine Zeitung  subventioniert« und »Der reichste Mann, welcher eine Zeitung subventioniert«. Dort ist von dem größten Zeitungskapitalisten die Rede: der Relativsatz gibt  das Wesen. Hier ist von dem größten Kapitalisten die Rede, von welchem auch gesagt wird, dass er Geld für eine Zeitung übrig hat: der Relativsatz fügt dem  Wesen etwas hinzu. Dass da ein weltenweiter Abstand der Relativbegriffe vorliegt, daran ist nicht zu zweifeln. Ob ich diesem Abstand durch meine Unterscheidung zwischen »welcher« und »der« gerecht werde, mag jeder beurteilen, der über diese Dinge nachdenkt. Es könnte sich ihm, gleich mir selbst,  ergeben, dass er manchmal einer andern, gar der gegenteiligen Entscheidung nahekommt, um dann doch, an den geeigneten Beispielen, der Gesetzlichkeit  des von mir gewiesenen Unterschiedes habhaft zu werden. Scheinbar kommt ja der Form »welcher« die stärkere Beziehungsfähigkeit zu, wie sie auch die
Fügung »derjenige, welcher« dartut. Aber diese deutlichere Relation spielt sich  e r s t   i n n e r h a l b   d e s   h i n z u t r e t e n d e n  U m s t a n d e s   ab, den ich die Form »welcher« bezeichnen lasse, und nachdem die allgemeine Begriffsbestimmung der Person oder Sache schon vollzogen ist. Dies ist gerade an Fällen nachweisbar, wo die attributive Beziehung in die determinative überzugehen scheint: wenn kontrastierende Gegenstände durch eine Aussage voneinander unterschieden werden sollen, die keineswegs ihrer wesentlichen Bestimmung dient. Wenn ich von zwei Leuten erzählen will, die ich getroffen und deren  einen ich gegrüßt habe, so sage ich: »Den einen, welchen ich gegrüßt habe, kenne ich seit langem ….« Ich will von ihm sagen, dass ich ihn seit langem kenne etc. Ich mache ihn in der Erzählung aber kenntlich durch den eingeschalteten Relativsatz, der ihn sofort von dem andern unterscheiden soll, welchen ich nicht gegrüßt habe. Dieser Relativsatz mit »welcher« könnte auch zwischen Gedankenstrichen oder in Klammern stehen, ja für den Hörer, der den Sachverhalt schon erfasst hat, sogar ganz entfallen. Eben in ihm ist das »derjenige, welcher« elliptisch enthalten. Dieses »welcher« hat die Gabe der Erläuterung oder der  Absonderung, es bezeichnet ein hinzutretendes, oft unterscheidendes Merkmal, es bestimmt aber keineswegs den Begriff der Person oder Sache als solcher, von der ich aussage. Es ist scheinbar determinativ, in Wahrheit attributiv. Schriebe ich nun: » Der eine, den ich  gegrüßt habe …«,  so  erhielte  der    »e i n e « leicht die stärkere Betonung als »gegrüßt«, es ergäbe zunächst den Sinn, dass ich beide gegrüßt habe und von jedem der beiden Gegrüßten etwas aussagen will. Wäre dies beabsichtigt, so könnte vor »den« sogar das Komma entfallen, denn es handelte sich um »den einen Gegrüßten«, nicht um »den einen, den Gegrüßten«. Bei »welcher«, welches die  Tonkraft  dem  eigenen  Prädikat  zuschiebt  (»welchen  ich     g e g r ü ß t  habe«) ist dem Relativsatz begriffliches Eigenleben erhalten; das schwächere »der« liefert es dem regierenden Satze aus. Dieses Prinzip wird man an allen Beispielen bestätigt finden, wiewohl die Verhextheit gerade dieser sprachlichen Region immer wieder zu neuen Zweifeln verführen mag.(*Fußnote folgt am Ende) Ist es aber nicht Resultat genug, sich verführen zu lassen? Die Grammatiker haben es nicht getan und Wustmann ist weit davon entfernt. Er macht sich wohl über allerhand Sprachdummheiten Gedanken, aber nicht ohne jene durch diese zu vermehren. Namentlich hat es ihm auch der Konjunktiv angetan, zu welchem ich darum gern zurückkehre. Er spricht von der  kläglichen  Hilflosigkeit unserer Papiersprache«, der er etwa die korrekte Wendung zuschreibt:

Es ist eine Lüge, wenn man behauptet, dass wir die Juden nur  a n g r e i f e n , weil sie Juden sind.

Es müsse »unbedingt« heißen: »a n g r i f f e n«, denn »es muss der Konjunktiv stehen, und das Präsens ‚angreifen‘ wird nicht als Konjunktiv gefühlt«. Das  zweite ist wahr, das erste ist falsch, denn es muss der Indikativ stehen. (»Angriffen« würde aber als der Indikativ imperfecti gefühlt werden.) Selbst wenn es schlechthin hieße: »es ist eine Lüge, wenn man behauptet, dass wir die Juden angreifen«, so wäre der Indikativ nicht unrichtig, wiewohl wir die Juden  tatsächlich nicht angreifen. Was vom Berichtenden hier als falsch hingestellt wird, ist zwar der Inhalt einer bestimmten Behauptung, jedoch einer, die eben in ihrer Bestimmtheit ausdrücklich schon als Lüge deklariert ist. »Mir meldet er aus Linz, er läge krank«: da wird der Inhalt der Meldung erst durch den  Konjunktiv angezweifelt. Nun heißt es aber vollends, es werde behauptet, dass wir die Juden »nur angreifen, weil sie Juden sind«. Es wird sogar der Inhalt der  Behauptung, dass wir die Juden angreifen, bestätigt und nur der Grund des Angriffs in Abrede gestellt. »Weil sie Juden sind«: das wollte Wustmann offenbar  nicht bezweifelt wissen; Wunder genug, dass er nicht trotzdem »seien« verlangt oder »wären« erlaubt hat. Hervorragend ist der Mangel an  Unterscheidungsfähigkeit, mit dem er seine Vorschriften erlässt. Er führt eine Reihe von Sätzen an, die nach seiner Meinung falsch sind, und setzt »das  richtige immer gleich in Klammern daneben«. Da findet sich denn:

Er hatte .. den Wunsch geäußert, die Soldaten mögen (möchten!) ..nicht zielen.

Richtig, aber nicht weil der Satz den Konjunktiv erfordert, sondern weil der Konjunktiv hier als Ersatz für das fehlende »dass« auch dann eintreten müsste,  wenn diesem der Indikativ folgte.

Es ist ein Irrtum, wenn behauptet wird, dass sich die Ziele .. von selbst ergeben (ergäben!).

Es ist ein Irrtum: hier ist kein Konjunktiv beabsichtigt.

Von dem Gedanken, dass in Lothringen ähnliche Verhältnisse vorliegen (vorlägen!) … muss ganz abgesehen werden.

Hier kann ein Konjunktiv beabsichtigt sein, darum wäre das
Imperfekt möglich.

Es wird mir vorgeworfen, dass ich die ursprüngliche Reihenfolge ohne zwingenden Grund verlassen habe (hätte!).

Verlassen hat er sie ja, vorgeworfen wird ihm nur die Grundlosigkeit, also ist der Indikativ richtig. Dagegen: »es wird mir (schlechthin) vorgeworfen, dass ich  sie verlassen  h ä t t e«; es ist nicht wahr, ich habe sie nicht verlassen. Aber es dürfte — wie oben bei dem Angriff auf die Juden — berichtigt werden: »es ist eine  Lüge, wenn mir vorgeworfen wird, dass ich sie verlassen  h a b e«. Die Unwahrheit des Vorwurfs kann ich durch den Konjunktiv charakterisieren, wenn ich  aber den Vorwurf eine Lüge nenne, so bedarf ich des Konjunktivs nicht mehr. Durch diesen würde ich meine eigene Aussage als zweifelhaft hinstellen.

H. Grimm geht von der Voraussetzung aus, dass ich den Unterricht bekrittelt habe (hätte!).

Hier hat Wustmann recht, denn es wird eine falsche Voraussetzung Grimms angenommen, die nicht anders als durch den Konjunktiv entwertet werden kann,  während oben die Behauptung, dass sich die Ziele ergeben, als solche feststehen mag, um eben als »Irrtum« entwurzelt zu werden. Aber er schließt  summarisch: »dass die Verfasser dieser Sätze den Indikativ  h ä t t e n  gebrauchen wollen, ist nicht anzunehmen; sie haben ohne Zweifel alle die Absicht  gehabt, einen Konjunktiv hinzuschreiben«; und sie hätten eben fälschlich den papierenen Konjunktiv präsentis oder perfecti erwischt, der als solcher nicht  erkennbar ist. Aber woher wusste Wustmann, dass sie, wenigstens zum Teil, nicht den Indikativ beabsichtigt haben? Und wie hätte er in diesem Falle  bewiesen, dass es fehlerhaft sei? Wustmann schreibt, es sei nicht anzunehmen, dass sie den Indikativ  h ä t t e n  gebrauchen wollen. Ich nehme an, dass selbst er hier den Indikativ hat gebrauchen wollen, also zu sagen gehabt hätte: »dass sie den Indikativ  h a b e n  gebrauchen wollen«. Sein eigener Zweifel ist ja durch die Negation im Hauptsatz (»nicht anzunehmen«) konsumiert und was er geradezu »nicht annimmt«, ist als Tatsache zu setzen. (Sonst würde er ja seine  eigene Nichtannahme bezweifeln.) Wenn ich nun soeben schrieb: »dass er zu sagen gehabt          h ä t t e«, so stellt dieser Konjunktiv den besonderen Fall einer  gedachten Bedingtheit vor, auf den ich schon hingewiesen habe. Auch in direkter Aussage würde es hier heißen: »er hätte zu sagen gehabt« (ergänze: während er gesagt hat). Er aber hätte vermutlich sogar das Folgende gesagt oder erlaubt: »Es ist nicht anzunehmen, dass die Verfasser behaupten würden, die Sätze, die  sie geschrieben   h ä t t e n, seien Indikativsätze.« Hier liegt der Fall vor (den Sanders richtig heraushebt), dass der Zwischensatz eine Bemerkung des  Aussagenden ist und nicht eine Bemerkung dessen, von dem ausgesagt wird, dass es also heißen muss: »… behaupten würden, die Sätze, die sie geschrieben  h a b e n, seien Indikativsätze«. Vielfache stilistische Rücksicht kann hier wie überall gegen die Vorschrift gelten. Aber doch umso mehr gegen eine Erlaubnis,  die von keinem Gedanken bezogen ist. Supra grammaticos wird immer die künstlerische Entscheidung stehen und ein scheinbarer Fehler dürfte manchmal  gegen alle Regel alles Recht von der gedanklichen Vollmacht seiner Umgebung erhalten. Eben solchem Wert kann sprachlogisches Bemühen, das Richtige  vom Unrichtigen zu unterscheiden, nur zugutekommen. Richtig gebaut ist zum Beispiel ein Satz in einer Erklärung, die ich in einer Polemik der Arbeiter-Zeitung zitiert finde und die eine Ausnahme vom Wiener Amtsdeutsch zu bilden scheint:

In den letzten Tagen ist in Versammlungen wiederholt behauptet worden, Vizekanzler Dr. Dinghofer  h a b e  sich gegenüber einer Abordnung des Reformverbandes der Hausbesitzer geäußert, die Hausbesitzer  k ö n n t e n  sich auf den vielumstrittenen Beschluss der steiermärkischen Landesmietenkommission auch ohne amtliche Kundmachung des Beschlusses berufen. Demgegenüber wird  f e s t g e s t e l l t, dass der Vizekanzler eine solche Erklärung nicht abgegeben h a t. Er hat nach den Ausführungen des Sprechers der Abordnung, der seine eigenen Ansichten vortrug, lediglich bemerkt   u.  s.  w.

Weit entfernt, aus dem richtigen Ausdruck des Sachlichen auf die sachliche Richtigkeit zu schließen, gehe ich zu der polemischen Antwort über. Sie enthält  eine kuriose Fügung, der man häufig bei einem Publizisten begegnet, dessen Fehler besser sind als die Vorzüge anderer Zeitungsleute:

Wonach es wohl so sein wird, dass Herr Dr. Dinghofer den Hausbesitzern das gesagt  h a b e, was sie hören wollten ….

Aber da es doch einem entgegengehalten wird, der seine Worte verleugnen möchte, so könnte es gar keinen indikativeren dass-Satz geben als diesen und er  müsste natürlich lauten: »dass er ihnen gesagt       h a t«. Hier hat wohl das »wohl« des regierenden Satzes den indikativen Charakter des abhängigen Satzes zu  Unrecht beeinflusst. Warum sollte denn ein Zweifel an der eigenen Deutung ausgedrückt sein? Es soll doch nur das vom andern Teil Gesagte entwertet  werden, nicht die Entgegnung, welche durch das »wohl« ja noch ironisch verstärkt wird. Nun, es ist wohl der Absprung einer jähen Feder, während die Willkür in modis und temporibus geradezu das System einer Tagesschriftstellerei ausmacht, die im falschen Modus gern ihre Bildung und im falschen Tempus deren  Imperfektheit zeigt. Was aber bedeuten selbst solche Formsünden in einer Sphäre, wo fast jedes Wort, das hervorkommt, Sünde wider den Geist ist, wo  überhaupt nur mehr gestottert wird, um den schäbigsten Sachverhalt an einen Leser heranzubringen, der es vielleicht doch etwas besser sagen könnte, wenn  er nicht täglich diesem verderblichen Einfluss ausgesetzt wäre, so dass er schließlich selber zum Journalisten taugt. Ein Theaterkritiker, dessen apodiktische Ödigkeit sich in kurzen Absätzen auslebt, die jeder für sich nur einen Satz, aber dafür einen schlechten bilden, beschwert sich über seinen Sitznachbarn:

… der junge Mensch vergnügte sich damit, die Schnur an  d a s  Aluminium des Feldstechers zu  r e i b e n, was ein kreischendes, kratzendes, Nerven erregendes Geräusch verursachte.

Kein Wunder, wenn »an etwas reiben« als Akkusativ konstruiert wird. Aber das Geräusch hört nicht auf, denn:

… er  w e t z t e  die Schnur ausschließlich dann an  d a s  Fernglas, wenn der Vorhang hochgegangen war.

»An etwas wetzen« als Akkusativ ist freilich auch eine rechte Störung im Theater. Damit man aber sieht, was so ein Sitznachbar imstande ist, fasst der Kritiker seine Eindrücke noch
einmal zusammen:

… Er  r i e b  und  w e t z t e   die verdammte Schnur an  d a s  verdammte Aluminium. Für meine Erfahrung war das eine neue Nuance.

Für meine auch. Es muss schrecklich sein, so empfindlich für alle Geräusche, aber so verlassen von allem Sprachgefühl im Theater zu sitzen. Offenbar  verwechselt man »reiben« und »wetzen« mit »rühren« und »stoßen«. In diesen Wörtern ist auch die Bewegung »an den« Gegenstand hin enthalten, »an dem«  sich der Vorgang abspielt, während dort nur dieser selbst ausgedrückt wird. Man stößt sich an dem oder an das (gegen die Sitte anstoßende) Benehmen des  Sitznachbarn, der aber die Schnur bloß an  d e m  Aluminium reiben oder wetzen kann. Freilich, in der Wiener Presse würde es heißen: »man s t o ß t  sich«, wie  man ja dort auch »l a u f t«. Aber das Analphabetyarentum ist geradezu erfinderisch in Ausbau und Vertiefung dessen, was als Zeitungsdeutsch schon  eingelebt ist. Dass in diesen Kreisen » n a c h d e m « längst auf die temporale Bedeutung zugunsten der kausalen verzichtet hat, ist bekannt. Bühnen-Ausflüge  fanden statt, nachdem der Wettergott ein Einsehen gehabt hatte: aber nicht »als«, sondern »weil«. Sie finden sogar statt, nachdem heute schönes Wetter »ist«.  Dass aber »nachdem« nebst dem Präsens-Charakter sogar einen futurischen sich zuziehen kann, bedeutet eine große Errungenschaft. Beides ist in dem  Folgenden geglückt:

Man wird sich überall in allen Theatern, die für Frau Roland in Betracht kommen, fragen, weshalb die Roland eigentlich aus dem Burgtheater weg musste,               n a c h d e m   Schauspieler und  Schauspielerinnen, die sich mit dieser Frau bei weitem nicht messen können, seit Jahren behaglich im Burgtheater  s i t z e n  und wahrscheinlich bis an ihr seliges Ende dort sitzen bleiben  w e r d e n.

Dieses »nachdem« bedeutet schon nicht mehr »weil«, sondern »während dagegen«. N a c h d e m   etwas geschehen  w i r d: einen temporellen Inhalt da  hineinzudenken, dürfte ohne Kongestion nicht möglich sein. Es gelänge auch nicht am Beispiel einer bequemeren Materie, etwa: Man wird sich überall  fragen, weshalb Herr Bekessy eigentlich von Wien weg musste, nachdem seine Redakteure in Wien schreiben und wahrscheinlich bis an ihr seliges Ende hier  weiter schreiben werden. (In Wien sitzen wird nicht einmal er.) Dass der Tandelmarktjargon druckreif geworden ist, ja dass es überhaupt keine andere  Schriftsprache mehr gibt als ihn, offenbart der flüchtigste Blick in ein Zeitungsblatt. Es ist bereits möglich geworden, dass eine Wendung in Druckerschwärze erscheint wie diese:

Nach und nach entdeckte sie, dass es ihm an  S a c h e n  fehle, w a s  jeder andere .. besitzt.

Oder diese:

weil sie mit ihm Nachtmahl essen war.

Man fragt sich nun, wie (nicht wieso) insbesondere (nicht insbesonders) solches möglich ist. Denn es versucht geradezu den Jargon konstruktiv einzurichten.  Schon die Wendung: »Ich war mit ihm essen« ist im Privatleben selten. Man hört gerade noch: »Ich war essen« und nur als
Antwort, nämlich durch die Verführung der Frage: Wo warst du? Man kann sich akustisch vorstellen, dass einer bekennt: »Ich war baden«, aber doch nur als  Antwort auf die Frage, was er unternommen habe. Fragt man einen, der sich nebenan im Badezimmer aufhält: Was tust du?, so könnte er natürlich nicht  antworten: Ich bin baden. Auf die Frage, was er tun werde, nicht antworten: Ich werde baden sein. Sondern nur: Ich bade, oder: Ich werde baden. Für die Vergangenheit geht es irgendwie vom Mund. Nie aber selbst von diesem innerhalb einer festen Fügung, mit dem nachgestellten Hilfszeitwort: weil ich baden  war, weil ich essen war, oder gar: »weil ich mit ihm Nachtmahl essen war«, also als richtiggehende Wortfolge. Hier ist Neuland des Jüdelns erobert. Außer bei  ganz wenigen einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens wie »essen«, »baden«, eventuell »tanzen«, »eislaufen«, also was man so zu tun hat — aber schon  nicht bei »schlafen«, welches doch nicht so kurz abgemacht wird — ist dieser entsetzliche Infinitiv mit diesem entsetzlichen »war« vorstellbar. Dem Leser, der das, was ihm im intimsten Kreis von der Lippe fließt, als kausale Konstruktion gedruckt findet, wird sogar noch das Mauscheln verhunzt. Er liest von einem  Mann, der einen Preis gewonnen hat (denn mit so etwas entschädigt jetzt die Zeitung ihre Opfer):

… ist nach einer halben Stunde noch so aufgeregt, dass er den Bleistift nicht führen kann, um sich  d i e   A d r e s s e  zu notieren, a n  d e r  er heute            p h o t o g r a p h i e r t  w e r d e n   s o l l.

Aber der Reporter kann die Feder führen. Ein anderer schäkert:

Schauen Sie sich den blauen Luftballon an, mit s e i n e n  s c h w e l l e n d e n  F o r m e n, der so hübsch  a n  d e r  zierlichen Hand Ihrer Nachbarin in die Höhe  r a g t.

Oder er plaudert im Metapherndrang über Orangenschalen:

Der Fuß  s t o l p e r t leicht über die  d i c k e  H a u t  des süßen Obstes.

Sonst rutscht man in solchem Falle nur aus; aber die Metapher bleibt insofern doch heil, als man von derlei Geistern eben sagen kann: Das stolpert über eine  Orangenschale! Wenn sie nur die Feder in die Hand nehmen, sehen sie schon nicht mehr das Ding, das sie beschreiben wollen, und verlieren noch die  Vorstellung, die sie nicht haben. Auf diese Art können aber sogar Zeichnungen entstehen. Im Analphabetyarenblatt ist eine erschienen: ein alter Mann steht  vor einer Wiege, in der ein Säugling schreit. Titel: »Breitner ist Vater geworden«. Text:

— Was, nur ein Mäderl? Bei  d e r  Steuerpolitik, da muss man Junge kriegen …

Versteht man, was da passiert ist? Der Analphabetyar, der die »Idee« gehabt hat, war der Meinung, dass die Redensart: »Da muss man Junge kriegen« den  Plural von »ein Junge« enthalte. Dass zu den Jungen, die man kriegt, gleichfalls ein Mäderl gehören kann, ahnte er nicht. »Ein Junges« (»das Junge«), Plural »Junge« (»die Jungen«) — »Ein Junge« (»der Junge«), Plural »Jungen« (»die Jungen«). Lässt man nun den Blödsinn zu, dass der Steuerpolitiker selbst »Junge  kriegt«, während die Verzweiflung, die in der Redensart ausgedrückt wird, doch der Zustand der Besteuerten ist, so hätte der »Witz« natürlich lauten müssen:  »Was, ein  K i n d? Ja, bei der Steuerpolitik, da muss man Junge kriegen!« Oder, dem Sachverhalt entsprechender: »Wie,  e r  ist Vater geworden? Und wir haben  geglaubt, dass w i r  Junge kriegen müssen!« So ist denn ein Zeichner das Opfer eines geworden, der nicht schreiben kann. Da heißt es immer, dass aller Anfang schwer sei; weit schwieriger ist alle Endung. Der Analphabetyar wird sich im Zweifelsfalle immer für die unrichtige entscheiden. Er spricht davon, dass die  Luxussteuer »für eine ganze Reihe von  A r t i k e l  aufgehoben« wurde. Gleich darauf wird aber »der erste der drei Gruft d e c k e l n  abgehoben«. So geht es auf  und ab, aber immer falsch. Ein sehr häufiges Wort in diesen Kreisen ist doch »Mädel«; also wäre als Mehrzahl zu merken: die Mädel, der Mädel, den Mädeln.  (Wozu gleich ein für allemal gesagt sei, dass der Genitiv von »Fräulein«: des Fräuleins, jedoch der Plural: die Fräulein heißt). Die Endung »-el« scheint in der  Wiener Presse geradezu panikartig zu wirken. Sie wissen nicht, dass die Mehrzahl des Neutrums wie des Maskulinums nur im Dialekt (oder dort wo die  stilistische Absicht diesen verlangt) das »n« verträgt. Also vielleicht »Mäderln«; keineswegs aber »Erdäpfeln«, dagegen »Kartoffeln«. Im Zentralblatt der  Bildung hat kürzlich einer geglaubt, dass eine Epistel sächlichen Geschlechtes sei und folgerichtig konstruiert: »E i n e s  dieser  E p i s t e l  lautet«. Vor dem  Fehler: »Eines dieser Episteln« hat er sich gehütet; doch vielleicht lernt er noch, dass »eine dieser Episteln« das Beste ist. Offenbar hat er gedacht, mit  »Epistel« sei das so wie mit »Kapitel«. Aber einer, der die Artikel verwechselt, sollte keine Artikel schreiben; höchstens Episteln. All dies und speziell »eine  ganze Reihe von Artikel« ist gewiss bloß aus der Einschüchterung durch mich zu erklären. Ich hatte den analphabetyarischen Plural »die Artikeln« ebenso  wie »die Titeln« gerügt, und da traute man sich halt nicht mehr. Es ist wohl eine der kulturell besondersten Tatsachen, dass der Beruf, dessen Aufgabe es ist,  Artikel zu schreiben und Titel darüber zu setzen, sogar an der Bezeichnung dessen strauchelt, was er nicht kann. Und weil sie das Wesentliche nicht wissen, so  wissen sie auch nicht, dass »ein Trottel« selbst in der Mehrzahl nur Trottel ergibt.

—————–

*) Unheimlich ist aber auch der genaue Anschluss dieses Gedankenganges an die Untersuchung, die in dem Kapitel zur Sprachlehre durchgeführt ist: »Vom Bäumchen, das andere  Blätter hat gewollt« (Nr. 572—576, Juni 1921), welches ich vom Zeitpunkt seiner Drucklegung an bis zur Nacht nach dem Vortrag des neuen Kapitels nicht angesehen habe. Dort gelangt die Untersuchung, ausgehend von dem Problem der mit dem Artikel zusammengezogenen Präposition, zu eben derselben Unterscheidung der Relativbegriffe, nur dass noch nicht deren Besetzung mit »welcher« und »der« vorgenommen erscheint. Es wird zwischen dem koordinierten Relativsatz unterschieden und dem subordinierten, bei dem aber das  Verhältnis so fest sei, »dass der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr loslässt«. Hier eben sei die Zusammenziehung des Vorworts mit dem Artikel (vom, am, zum, im, beim) verfehlt. Ein Beispiel war: »Vom ältesten Wein, den ich gekostet habe« und »Von dem ältesten Wein, den ich gekostet habe«. Dem ersten Fall — wo ich sagen will,  dass ich den überhaupt ältesten Wein gekostet habe — wäre im Sinne der neuen Untersuchung »welchen« angemessen. Im zweiten Fall (»Von dem«) hat der Artikel hinweisenden  Charakter, kann also nicht mit »von« verschmolzen werden. Es ist unter den Weinen, die ich gekostet habe, der älteste, während dort von dem ältesten Wein als solchem die Rede ist, welcher noch überdies als derjenige, den ich gekostet habe, bezeichnet (identifiziert) ist. Der Unterschied zwischen einer attributiven und einer »definierenden« Bedeutung des Relativums wurde klar gemacht. Am klarsten an dem fehlerhaften Schillerwort »Zum Werke, das wir ernst bereiten«. Das »Zum« vertrüge nur die Fortsetzung: »welches wir (nämlich, übrigens, eben) ….« Zum Werke, n ä m l i c h  zu demjenigen, das wir …. = Zum Werke, welches wir …. Gedacht aber ist: Zu demjenigen Werke, das wir …. = Zu dem Werke, das wir …. (Artikel demonstrativen Inhalts.) Zu einem [solchen] Werke, das ernst getan wird, muss auch ernst gesprochen werden. Sehr wesentlich war ferner die Unterscheidung von dem  anderen klassischen Fehler: »Vom Rechte, das mit uns geboren ist«. In beiden Fällen enthält der Relativsatz kein bloß hinzutretendes Moment, sondern den vollen Begriff des  Gegenstandes. Im zweiten ist der Fehler größer, da hier mit dem dichterischen Gedanken auch dem äußern Sinn Abbruch geschieht. Im Schiller-Zitat spielt sich die Antithese von ernstem Tun und ernstem Reden ab, doch das »Werk« ist dasselbe. Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Gedanken des Hauptsatzes: der Forderung des ernsten Wortes, und dem des Relativsatzes: dem Moment des ernsten Bereitens, jener wird von diesem bedingt; doch die Vorstellung des Werkes ist gegeben. Bei  Goethe  ist die Antithese an die              v o r h e r  gesetzten »Rechte« geknüpft, die sich forterben; es wird nunmehr von einem ganz andern »Recht« gesprochen, demjenigen, das mit uns geboren ist. Folgerichtig würde das der Konstruktion »V o m  Rechte« entnommene Recht etwa das Jus bedeuten, von dem dann  sonderbarer Weise ausgesagt wäre, dass es mit uns geboren ist. Dazu und zu allem, was in jenem Kapitel enthalten ist, ergibt sich nun freilich etwas noch Schwierigeres, das den Fall zur  alle macht. Hier scheint die  d e t e r m i n a t i v e  Beziehung in die  a t t r i b u t i v e  überzugehen. Hier — in dem Fall einer Wesensbestimmung, wo die Anwendung von »welches« nicht möglich ist — fällt doch der Hauptton dem Prädikat des Relativsatzes anheim. Wie geht das zu? Im Blick auf das obige Beispiel: »Der eine, welchen ich gegrüßt habe …. der andere, welchen ich nicht gegrüßt habe« und das davon abgeleitete Betonungsmoment könnte man sich in ein Chaos versetzt fühlen. Da ich ein solches für äußerst tauglich halte, um zur Ordnung zu führen, will ich dem, der den Willen hat, den Weg weisen bis zu dem Punkt, wo der Unterschied klar wird. Es geht also um den Vergleich mit bereits charakterisierten Rechten, und nun gelangt man zunächst zu dem Ergebnis: Von dem Rechte, das mit uns geboren ist = Von dem  a n d e r n  Rechte, (nämlich) welches mit uns  g e b o r e n  ist. Das ist, wie sich zeigen wird, nur äußerlich richtig.Es ist nur scheinbar der Fall wie mit dem »einen, welchen ich  g e g r ü ß t  habe«. Denn darin kontrastieren zwei schon  v o r h a n d e n e  Begriffe, deren  Kontrast relativisch dargestellt wird. In der Goethezeile aber  e n t s t e h t  der    e i n e  Begriff erst durch die relative Bestimmung, um dann mit dem vorhandenen zu kontrastieren. Was hier geschieht, ist, dass der durch den Relativsatz gleichsam  e r w o r b e n e  Begriff des »gebornen Rechtes« dem Begriff der »sich forterbenden Rechte« entgegengestellt wird. Das Kontrastmoment erzwingt auch hier die Betonung wie in dem Fall jener rein attributiven Beziehung; aber man könnte hier weder »welches« setzen noch darf die Präposition mit dem Artikel verschmolzen werden, während man in jenem Fall sehr wohl sagen könnte: » v o m  einen, welchen ich gegrüßt habe ….« »Vom Rechte, welches« wäre nur möglich, wenn der Begriff dieses Rechtes (als Naturrecht, als Menschenrecht)  b e r e i t s   f e s t s t ü n d e. Selbst dann nur wäre auch möglich: »Von dem Rechte, welches« oder »Vom andern Rechte, welches«. Denn auch dieses wird erst durch das Moment des Mitgeborenseins definiert. Es kann, im  wohlerhalten  Goetheschen  Sinne,  nur »von d e m  –      j e n i g e n  Rechte, das« die Frage (oder leider nie die Frage) sein. Es ist allerdings ein »anderes« Recht als die bereits gesetzten, aber eines, das erst begrifflich bestimmt wird. Es ist das »mit uns  g e b o r n e  Recht«, auch »das andere, das mit uns geborne Recht« (welches aber ja nicht verwechselt werde mit dem »andern mit uns gebornen Recht«). Dagegen bedeutet, wie schon seinerzeit  ausgeführt, »v o m  Rechte, das« (welches): dass von einem absoluten Recht die Rede ist und nebenbei gesagt wird, dass es mit uns geboren ist. Also nicht, wie es richtig wäre: von dem mit uns  g e b o r n e n  Recht, sondern: von dem mit uns gebornen  R e c h t  (im Gegensatz zu anderen mit uns gebornen Dingen, etwa der Pflicht). Das »Recht« zieht eine ihm nicht gebührende Tonkraft an sich. Das ganze Problem löst sich in der Durchschauung des Artikels, der dem führenden Wort vorangeht. »Der Mann, den ich bekämpft habe«: wenn »Der« hinweisenden Charakter hat wie »Ein«, »Ein solcher«, »Derjenige«, so wird der Begriff des Mannes durch den Relativsatz mit »den« bestimmt. Ist es bloß der Artikel zu einem bereits begrifflich gesetzten »Mann«, so tritt nur ein Merkmal hinzu: »welchen ich bekämpft habe«. Die Verschmelzung der Präposition mit dem Artikel ist dort, wo er hinweisenden Charakter hat und ein bestimmender Relativsatz nachfolgt, unmöglich, denn die Beziehung hängt vom Artikel ab, dessen Kraft wieder so stark ist, dass sie das Komma aufzehren kann. Dagegen könnte dieses nicht fehlen, wo die Verschmelzung möglich ist und der Relativsatz nur eine absondernde Bedeutung hat. Um also zum ersten Beispiel zurückzukehren: »Von dem ältesten Wein(,) den ich gekostet habe« und »Vom ältesten Wein, welchen ich gekostet habe«. Hier ist es der älteste Wein überhaupt, dort der älteste unter  d e n e n, die  u.  s.  w. Hier ist die  Rede »vom ältesten, von mir gekosteten«, dort »von dem ältesten von mir gekosteten Wein«. Nun könnte in diesem schwierigsten aller Abenteuer der Sprache noch der Einwand auftauchen: Sollte bei richtiger Erfassung des Unterschieds nicht die verkehrte Anwendung der Pronomina statthaben? »Welcher« bezeichnet doch eher etwas wie die Kategorie, die Gattung, die Sorte, determiniert doch eher (als dass es bloß beifügt), siehe die Verbindung »derjenige, welcher« (welche ich für bedenklich halte). Richtig, aber erst innerhalb des hinzutretenden Umstandes, nach erfolgter Bestimmung des allgemeinen Begriffs. Das wird am deutlichsten, wenn dieser selbst eine Gattung bezeichnet: »Der Löwe, welcher der König der Tiere ist«  attributiv] und: »Der Löwe, der entsprungen ist«, also das Individuum Löwe, dessen Vorstellung ich erst durch diese Aussage bestimme [determinativ]. (Dagegen: »Der [eine] Löwe,  w e l c h e r  entsprungen ist« — im Vergleich mit einem andern Individuum Löwe, von welchem anderes ausgesagt wird [attributiv und nur scheinbar determinativ, da dem schon gesetzten Begriff bloß ein unterscheidendes Merkmal beigefügt wird].) In die Apposition gebracht: »Der Löwe, der König der Tiere (Komma!)« und »Der entsprungene Löwe«. (Im Vergleich: »Der Löwe, der entsprungene«.) Müsste sich nun nicht für »welcher« eine Rechtfertigung aus dem  f r a g e n d e n  »welcher« ergeben? Wie gelangen wir zu ihr? »Der Löwe,  welches Tier der König der Tiere ist« (und im Beispiel des Vergleichs: »Der Löwe,  welcher  Löwe  entsprungen ist«).  Hierin  ist  schon das  fragende »welcher«  enthalten.  D a s   b e z ü g l i c h e   F ü r w o r t      »w e l c h e r«    t r i t t    d o r t    e i n,  w o   i h m    b e i   v  o l l e r              E n t w i c k l u n g   d e s  S i n n e s  d e r  A u s s a g e   d a s   f r a g e n d e  »w e l c h e r «  e n t s p r i c h t. Also: Welches Tier ist der König der Tiere? Der Löwe. (Und im Vergleich der zwei Löwen: Welcher Löwe ist entsprungen? Der afrikanische.) Dagegen: »Der Löwe, der entsprungen ist, stammte aus Afrika« lässt keine a n a l o g e  Frage (mit »welcher«)  a u s  d e m  B e g r i f f  d e s    R e l a t i v s a t z e s  zu, nur aus dem des Hauptsatzes: Woher stammte er? Also auch:  Welchen Wein habe ich gekostet? Den ältesten. Im andern Falle (»Der älteste Wein, den ich gekostet habe ….«) nur aus dem Begriff des Hauptsatzes, etwa: Wie hat er geschmeckt? — Die  volle Bestätigung des dargelegten Unterschieds empfange man aus dem Vergleich von »was« (trotz dessen weiterer Bedeutung) und »das«. Sollte man ihn nicht erkennen, w a s   ich  bedauerlich fände, so würde ich das Axiom, d a s   ich aufgestellt habe, gleichwohl nicht zurückziehen. Doch dürfte die Unterscheidung schon so deutlich sein, dass sie auch den Fachleuten einleuchten wird, vielleicht sogar den Schriftstellern, welchen ich freilich die Befassung mit den Problemen des Wortes weder zumuten noch zutrauen darf.


Prominente Pupperln. Von Karl Kraus

15. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Prommis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Heut nennt man es „Prommis“. Anm. W.K.Nordenham

 

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR  1927  XXVIII. JAHR

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Glossen S. 116 -119

Prominente Pupperln

Damit glaube ich, ist mir die Paarung des Fürchterlichsten geglückt, was die Vorstellung eines Höllenbordells schon auf Erden verwirklicht, ein Schulter an Schulter der Nachkriegswelt, das alle Schrecken von damals begrifflich und terminologisch überbietet. Hatte die Möglichkeit der Bezeichnung »Göttergatte« oder von Ansprachen wie »Küss’ die Hände!« und »Noch nicht auf die Länder?« die Unvermeidlichkeit des Kriegsausbruches dargetan; war in der Pestluft der Glorie solche Unzucht einer librettoverseuchten Zentralmenschheit zur Orgie  aufgeschwollen, so lässt doch das seit dem Umsturz Gehörte und Geschaute in jenen Erscheinungen ein verlorenes Paradies zurückträumen. Pupperl! Gewiss, das war vor dem Krieg ein  Feinschmeckerwort, das einem den Magen umdrehen mochte. Jetzt ist es ein Titel, der Rechtens der Begleiterin des »Herrn Doktors« zukommt. Ich hörte einen Friseur nach getanem  Werk die Glätte einer Wange rühmen und als höchsten Ausdruck des Gelingens die Worte sprechen: »Da wird das Pupperl eine Freud’ haben!« Die Erde tat sich nicht auf, um Mann und  Klinge, Doktor und Pupperl zu verschlingen. Es gibt bekanntlich eine eigene Pupperlzeitung in Wien, die in ihrer Blütezeit die Pupperlinteressen sogar durch Bedrohung der Pupperlinhaber zu vertreten wusste, wobei freilich der Löwenanteil des Erfolges ihr selbst zufiel. Aber noch heute ist sie mit der Sphäre so vertraut, dass sie den Bericht über ein  Praterabenteuer folgendermaßen einleiten kann:

Der bulgarische Arzt Dr. ….

den sie natürlich mit vollem Namen nennt

ging an einem Sommerabend mit einem Pupperl in den
Praterauen spazieren ….

Nicht etwa in geringschätzigen Anführungszeichen, sondern als Berufsbezeichnung. Diese Selbstverständlichkeit ist nur bei uns möglich, und im Ausland hätte man die größten  Schwierigkeiten,  dergleichen zu verstehen. Aber ein Pupperl, das spazieren geht, ist auch hier etwas Seltenes. Zumeist wird es an ein Motorrad angehängt. Das Motorrad tönt und riecht wie die Zeit, aber der Unhold, in den sein Herr verkleidet ist, der sieht so aus wie die Zeit. Und nun bedenke man, dass der Nebensitz offiziell — in fachlichen Beschreibungen —  »Pupperlsitz« genannt wird und in jenem Volksmund, der nach dem Humor des ‚Götz‘ gewachsen ist, »Pupperlhutschen«. Man stelle sich das Seelenleben der Frau vor, die, sich munter  nach dem Spalier der Betrachter umguckend, darauf Platz nimmt, in dem Bewusstsein, dass sie von allen als das zugehörige Pupperl agnosziert wird, welches demgemäß auf der  Pupperlhutschen mittut. Die Bundesbrüder, mehr dem homosexuellen Ernst des Lebens zugeneigt, sprechen schlicht von einem »Soziussitz«. Den Begriff des Pupperls kennen sie nicht  — Puppchen, das ist nicht das Richtige, und Puppal zu sagen macht ihnen denn doch Schwierigkeit. Aber was dafür das »Prominente« betrifft, da kennen sie sich aus, da wissen sie  Bescheid. Das dürfte überhaupt von ihnen zu uns gekommen sein. Wie ist nun die Affenschande dieser Benennung zu erklären? Natürlich hat es das immer schon gegeben, es ist ein gutes  Fremdwort, das, solange es Seltenheitswert hatte und nur der Person verliehen wurde, der es zukam, durchaus nicht widerwärtig klang. Aber es wurde eigentlich nie gebraucht,  denn man begnügte sich,  jemand verdientermaßen »hervorragend« zu nennen. Nach der Befreiung der Sklaven war wie auf einen Zauberschlag das Wort »prominent« da, nunmehr  allem verliehen, was vordem keineswegs hervorgeragt hätte. Das ist sicherlich so zu erklären, dass in der Seele des Deutschen ein tiefes und nun obdachloses Kaiserbedürfnis wohnt, das  nun Superioritäten herstellen musste. Unter dem Szepter scharten sie sich zu Vereinen, in der Freiheit legen sie auf Unterscheidung Wert. Der einzige Prominente, der nebst der  natürlichen Überlegenheit des militärischen Würdenträgers auch ehedem schon in Erscheinung trat, war der »Ober«, auch der »Herr Ober« genannt. »Die Prominenten« — das  grausliche Substantiv bezeichnet keine Eigenschaft mehr, sondern eine Kategorie, eine Steuergruppe —: sie haben dem Deutschen nach den Wirren des Umsturzes den Glauben an  Ideale gerettet. Die Prominenten, das sind die Obertanen. Eine allgemeine Verkaiserung setzte ein, es wurde auf Teilung gespielt und natürlich begann es bei den Schauspielern.

Da sie nun zwar wie kein anderer organisierter Stand das Bedürfnis nach sozialer Absonderung von ihresgleichen fühlen, aber doch gerade sie es nicht wagen können, sich selbst  » hervorragend« zu nennen, so nannten sie sich eben »prominent« oder vielmehr: »die Prominenten«. Die Einführung dieses Begriffes in das Metier führte dahin, dass Theaterparias  heute für drei Mark täglich mit Zulage von Insulten roboten müssen, damit »die Prominenten« zwischen 300 und 3000 Mark verdienen können, und zwar zumeist solche, die Zufall,  Konjunktur oder Willkür der journalistischen Selbstherrscher (der Prominenten der Kritik) aus der Fülle der Untalente emporgehoben hat. So sicher nun Demokratien, in denen solche Dinge möglich sind, wenn sie nur nicht Kriege führen, den Vorzug vor Monarchien verdienen, so gewiss kann man sich des Wunsches nicht erwehren, dass sie gleichfalls der Teufel hole. Und was das Gehaben der Prominenten betrifft, die sich nunmehr schon in jedem Beruf entwickelt haben, einfach durch Selbsternennung da sind und durch Frechheit sich erhalten, so lässt sich nur Nestroy zitieren, der prophezeit hat, dass die Gleichheit »noch bittrer den Abstand zwischen arm und reich« machen werde:

Mit zehn Fürsten und Grafen red’t man leichter ganz g’wiss,
Als mit ei’m Flecksieder, der Millionär worden is.

Denn

Es sitzt keiner in ein’ Wirtshaus, der nicht in sein’ Hirn
Sich denkt, wie das schön wär’, wenn er tät regier’n.

»Schaut man d’ Gleichheit so an, sagt man« (mit Nestroy): »‚nein‘, da hört s’ auf, ein Vergnügen zu sein.« Und doch gab es nach 1848 bei weitem nicht so viel Prominente wie nach  1918.  Das Ekelwort wuchert hauptsächlich in den Spalten der Presse, die wenn’s finster wird erscheint, und dementsprechend im Maule der Neureichen. Es wird wirklich im Umgang  verwendet. Komödianten, Filmfritzen, Kabarettfatzken, Boxer, Fußballer,  Parlamentarier, Eintänzer, Damenfriseure, Literarhistoriker, Persönlichkeiten schlechtweg — alle können  prominent sein. Aber neulich hat man etwas ganz besonders Herziges gelesen. Nach dem Prozess, in dem die größte Bubentat des Pupperlblattes als »vernachlässigte Obsorge« gesühnt  wurde — und alle Erinnerung wieder da war an die Zeit, wo sie Vater Vater, leih’ mir ’n Revolver gespielt haben und hinterdrein keiner etwas getan,  gewusst, geahnt haben wollte —,  konnte man die Verwahrung lesen:

Die Annahme des Chefredakteurs Austerlitz, es habe sich um ein förmliches Komplott gehandelt, in das sämtliche prominenten Redakteure der ‚Stunde‘ verwickelt gewesen seien,  muss aber als eine den Tatsachen widersprechende Mutmaßung zurückgewiesen werden.

Das dürfte wohl die äußerste Möglichkeit von Prominenz bedeuten! Aber in Berlin gibt es dafür schon prominente Gegenstände, Waren, Artikel, Realitäten.  Im ‚Tageblatt‘,wo es freilich alles gibt, war ein Häuseranbot inseriert unter dem Titel:

P r o m i n e n t e   H ä u s e r

Derlei ist heute in Berlin so selbstverständlich wie bei uns das Pupperl. Vorläufig wird dieses noch auf der Hutschen mitgenommen und entschwindet dem Blick. Oder geht anonym  neben einem bulgarischen Arzt einher. Aber es kann nicht mehr lange dauern, schon macht sich eine Bewegung unter den Pupperln geltend, und bald wird man aus ihren Reihen die prominenten Pupperln hervortreten sehen.



Tagebuch I. Von Karl Kraus

13. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 251—52. 28. April 1908. X. Jahr.  S . 34-45


Tagebuch

Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören möchte.

*

Das Talent ist ein aufgeweckter Junge. Die Persönlichkeit schläft länger, erwacht von selbst und gedeiht darum besser.

*

Wenn ich sicher wüsste, dass ich mit gewissen Leuten die Unsterblichkeit zu teilen haben werde, so möchte ich doch eine separierte Vergessenheit vorziehen.

*

Ich bin jederzeit bereit, was ich einem Freunde unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitteile, zu veröffentlichen.

*

Geheimnisse vor Einzelnen müssen nicht Geheimnisse vor der Öffentlichkeit sein. Bei dieser sind sie besser aufgehoben, weil man hier selbst die Form der Mitteilung bestimmt. Wem die Form den Inhalt bedeutet, der gibt das Wort nicht aus der Hand. Er kann sich getrost Geheimniskrämerei oder äußerste Schamlosigkeit vorwerfen lassen, oder beides zugleich.

*

Ich kann mit Stolz sagen, dass ich Tage und Nächte daran gewendet habe, nichts zu lesen, und dass ich mit eiserner Energie jede freie Minute dazu benützte, mir nach und nach eine  enzyklopädische Unbildung anzueignen.

*

Sittlichkeit hilft immer. Ein diebisches Dienstmädchen droht, sie werde der Polizei erzählen, dass die Dame Herrenbesuche empfange, und entgeht der Anzeige. Die Moral ist ein  Einbruchswerkzeug, das den Vorzug hat, dass es nie am Tatort zurückgelassen wird.

*

Wenn Frauen, die sich schminken, minderwertig sind, dann sind Männer, die Phantasie haben, wertlos.

*

Kosmetik ist die Lehre vom Kosmos des Weibes.

*

Die Frauen haben wenigstens Toiletten. Aber womit decken die Männer ihre Leere?

*

Nacktheit ist wahrhaftig kein Erotikum, sondern Sache eines Anschauungsunterrichts. Je weniger eine an hat, umso weniger kann sie der kultivierten Sinnlichkeit anhaben.

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Kunstwerke sind überflüssig. Es ist zwar notwendig, sie zu schaffen, aber nicht sie zu zeigen. Wer Kunst in sich hat, braucht den stofflichen Anlass nicht. Wer sie nicht hat, sieht nur den  stofflichen Anlass. Dem einen drängt sich der Künstler auf, dem andern prostituiert er sich. In jedem Fall sollte er sich schämen.

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Auch mir wird manchmal Trost und Freude. Wenn mir nämlich einer schreibt, dass ich sie ihm bereitet habe.

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Preußen: Freizügigkeit mit Maulkorb. Österreich: Isolierzelle, in der man schreien darf.

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Die Ratten verlassen das sinkende Schiff und haben sich vorher am Speck den Magen verdorben. Das gilt vom Anhang und vom Stil eines deutschen Publizisten.

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Um Verwechslungen vorzubeugen, unterscheidet der Wiener: »isst« und »is«.

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Deutsche Literaten: Die Lorbeern, von denen der eine träumt, lassen den andern nicht schlafen. Ein anderer träumt, dass seine Lorbeern wieder einen andern nicht schlafen lassen, und  dieser schläft nicht, weil der andere von Lorbeern träumt.

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Die Schauspielkunst sollte sich wieder selbstständig machen. Der Darsteller ist nicht der Diener des Dramatikers, sondern der Dramatiker ist der Diener des Darstellers. Dazu ist freilich  Shakespeare zu gut. Wildenbruch würde genügen. Die Bühne gehört dem Schauspieler, und der Dramatiker liefere bloß die Gelegenheit. Tut er mehr, so nimmt er dem Schauspieler, was  des Schauspielers ist. Die Dichtung, der das Buch gehört, hat seit Jahrhunderten mit vollem Bewusstsein an der Szene schmarotzt. Sie hat sich vor der Phantasiearmut des Lesers  geflüchtet und spekuliert auf die des Zuschauers. Sie sollte sich endlich der populären Wirkungen schämen,  zu denen sie sich herbeilässt. Kein Theaterpublikum hat noch einen  Shakespeare-Gedanken erfasst,  sondern es hat sich stets nur vom Rhythmus, der auch Unsinn tragen könnte, oder vom stofflichen Gefallen betäuben lassen. »Des Lebens Unverstand  mit Wehmut zu genießen, ist Tugend und Begriff«: damit kann ein Tragöde so das Haus erschüttern, dass jeder glaubt, es sei von Sophokles und nicht von Wenzel Scholz. Heil Alexander Girardi, der in der Wahl unliterarischer Gelegenheiten seine schöpferische Selbstherrlichkeit betont!

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Auch der Maler ist auf der Bühne als eine dort nicht beschäftigte Person zu behandeln. Das literarische und malerische Theater ist ein amputierter Leichnam,  dem betrunkene  Mediziner den Arm eines Affen und das Bein eines Hundes angesetzt haben. Wenn auf der Bühne die Dichter und Maler hausen, dann bleibt nichts übrig, als Schauspielkunst in  Bibliotheken und Galerien zu suchen. Vielleicht haben sie die Hanswurste der Kultur dort inzwischen eingeführt.

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Endlich sollte einmal zu lesen sein: Die Ausstattung des neuen Stückes hat alles bisher Übertroffene geboten.

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Man gewöhne sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem  Gedanken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe ein Opfer; hier ein Akt der Feindseligkeit.

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Mit Frauen muss man, wenn sie lange fort waren, Feste des Nichtwiedererkennens feiern.

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Er hat sie mit Lustgas betäubt, um eine schwere Gedankenoperation an ihr vorzunehmen.

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Ihr Gatte erlaubt ihr, Theater zu spielen — die Bohème hätte ihr nicht erlaubt, verheiratet zu sein. Also ist in der Gesellschaft noch immer mehr Freiheit als in der Bohème, die ihre  unumstößlichen Gesetze hat.

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Zwei haben nicht geheiratet und leben seit damals in einer Art gegenseitiger Witwerschaft.

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Die Schätzung einer Frau kann nie gerecht sein; aber die Über- oder Unterschätzung geschieht immer nach Verdienst.

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Kann man aus der Büchse der Pandora auch eine Prise Schnupftabak nehmen? Wohl bekomm’s,  mein Freund!

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Hysterische soll man vorsichtshalber vor einer Operation, die an einem andern ausgeführt wird,  narkotisieren. Und um ihnen jeden Schmerz zu ersparen, auch vor einer Operation, die  an dem andern nicht ausgeführt wird.

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Was war doch der bayrische König, der allein im Theater saß, ein Freund der Geselligkeit! Ich würde auch selbst spielen.

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Ich sehe durch ein Fenster und der Horizont ist mir durch ein Laffengesicht verlegt. Das ist tragisch. Ich habe nichts dagegen, dass es abscheuliche Gesichter gibt. Aber warum hat es  die Natur mit den Gesetzen der Optik so eingerichtet, dass ein vorgehaltener Spazierstock einen Menschen und — was schlimmer ist — ein Mensch einen Hintergrund verdecken kann?  Wenn der optische Effekt eines Scheusals nur den Raum einnähme, den das Scheusal einnimmt, man könnte zufrieden sein. Aber er nimmt einen breiteren Raum ein. Das hat die Optik  schlecht gemacht. Die Lichtstrahlen dienen nur der Vermehrung des Menschenhasses.

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Höchster Überschwang der Gefühle: Wenn Du wüsstest, welche Freude Du mir mit Deinem Kommen bereitest — Du tätest es nicht, ich weiß, Du tätest es nicht!

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Ich stehe immer unter dem starken Eindruck dessen, was ich von einer Frau denke.

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Aller Spott über Schauspielereitelkeit, Applausbedürfnis und dergleichen ist philiströs. Die Theatermenschen brauchen den Beifall, um besser zu spielen;  und dazu genügt auch der  künstliche. Das Glücksgefühl, das mancher Darsteller zeigt, wenn ihm die applaudieren, die er dafür bezahlt hat, ist ein Beweis von Künstlerschaft. Kaum einer wäre ein großer Schauspieler geworden, wenn der Claquechef ohne Hände auf die Welt gekommen wäre.

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Talent haben — Talent sein: das wird immer verwechselt.

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Wenns die Religion gilt, so erzählt mir ein Orientreisender, gibts keinen Bakschisch. Im Abendland kann man das auch der liberalen Presse nachsagen.

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Nicht Jeder, der von einer Frau Geld nimmt, darf sich deshalb einbilden, ein Strizzi zu sein.

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Kein Zweifel, der Hund ist treu. Aber sollen wir uns deshalb ein Beispiel an ihm nehmen? Er ist doch dem Menschen treu und nicht dem Hund.

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Treu und Glauben im Geschlechtsverkehr ist eine Börsenusance.

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Im Dunstkreis des Geschmacks jüdischer Anekdoten war der Selbstmord eine unbekannte Pointe. Soll die gute Gesellschaft den Glauben an ihre Lustigmacher verlieren? Sie sagten, er  müsse die Tat in einem Anfall von Geistesgestörtheit begangen haben. Aber am Ende war sie in einem Anfall von geistiger Klarheit begangen. Die Lustigmacher überlegen sichs manchmal anders. In solch einem könnte so viel Leben gewesen sein, dass er das eine unbedenklich hingeben durfte. Das heißt gewiss, ihn überschätzen;  aber nicht jeder ist wert,  überschätzt zu werden. Selbstmord kann das Aderlassen einer Vollblutnatur bedeuten. Die gute Gesellschaft, die der Lederbranche näher steht als dieser Auffassung, dürfte der  ungünstigen Konjunktur die ganze Schuld geben. Ich habe ihn nur von fern gekannt, bin deshalb zum Urteil berufen. Sein Blick gefiel mir, denn der hatte nichts vom Krämer oder  Kunden. Ich glaube, es war Einer,  der dem Leben nichts herunterhandelt und dem es nichts herunterhandeln kann. Das schafft zu jeder Zeit glatte Rechnung. Es mag Lederhändler  geben,  die sentimentaler sind. Aber wenn es ein Ziel dieser schäbigen Tage ist, mit Ziegenhäuten Glück zu haben,  so könnte sich schon Einer, der kein Glück damit hatte, der  Betrachtung empfehlen. Und wer sich so ruhig den Mund von den Genüssen des Lebens abwischt, um ihn für immer zu verschließen, hebt sich von den Tafelgenossen ab; und wer sich  nur vom Gewimmel der Wohlhabenden unterschied, denen der Schneider die Kultur und der Sportlehrer die Persönlichkeit beibringt, den soll man sich merken. Überhaupt werde ich  den Verdacht nicht los, dass einer schon ein Kerl sein muss, wenn ihn das heutige Leben zu Fall bringen soll. Was Feuer hat und einen leichten Zug, verbrennt. Nur Männer ohne Mark  und Weiber mit Hirn sind der sozialen Ordnung gewachsen.

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Dass eine Frau bei näherer Betrachtung verliert, ist ein Vorzug, den sie mit jedem Kunstwerk gemein hat, an dem man nicht gerade Farbenlehre studieren will. Nur Frauen und Maler  dürfen sich untereinander mikroskopisch messen und ihre Technik prüfen. Wen die Nähe enttäuscht, der verdient es nicht besser. Solche Enttäuschungen lösen ihm die Rosenketten des Eros. Der Kenner aber versteht es, sie erst daraus zu flechten. Ihn enttäuscht nur die Frau,  die in der Entfernung verliert.

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Es kann aber eine Wohltat der Sinne sein, von Zeit zu Zeit einem komplizierten Räderwerk nahezustehen. Die Anderen sehen nur das Gehäuse mit dem schönen Ziffernblatt; und es ist  bequem, zu erfahren, wie viel’s geschlagen hat. Aber ich habe die Uhr aufgezogen.

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»Sich keine Illusionen mehr machen«: da beginnen sie erst.

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Den Inhalt einer Frau erfasst man bald. Aber bis man zur Oberfläche vordringt!

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Man muss das Temperament einer Schönen so halten, dass sich Laune nie als Falte festlegen kan. Das sind Geheimnisse der seelischen Kosmetik, deren Anwendung leider die Eifersucht verbietet.

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Künstler haben das Recht, bescheiden, und die Pflicht, eitel zu sein.

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Wenn der Dieb in der Anekdote stehlen geht, so hält ihm der Wächter das Licht. Eine solche Situation ist auch den Frauen nicht unerwünscht.

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Wer nicht will, hat schon. Wer nicht will, wird erst. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Mann und Weib.

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Ihre Brauen waren Gedankenstriche — manchmal wölbten sie sich zu Triumphbogen der Wollust.

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Unter Dankbarkeit versteht man gemeinhin die Bereitwilligkeit, lebenslänglich Salbe aufzuschmieren, weil man einmal einen Ausschlag gehabt hat.

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Die Schriftgelehrten können noch immer nur von rechts nach links lesen; so kommt es, dass sie Leben als Nebel sehen.

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Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.

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Es herrscht Not an Kommis. Alles drängt der Sozialdemokratie und der Journalistik zu.

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Der Zuhälter ist eine soziale Stütze der Frau. Verliert sie ihn, so kann es leicht geschehen, dass sie herunterkommt.

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Nervenpathologie: Wenn einem nichts fehlt, so heilt man ihn am besten von diesem Zustand, indem man ihm sagt, welche Krankheit er hat.

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»Der Besuch Sr. Majestät des Königs Friedrich August von Sachsen in der Leipziger Zementindustrie in Markranstädt.« Oder: »Dr. Peters verlässt das Gerichtsgebäude« oder »Präsident Roosevelt auf dem Wege ins Weiße Haus«. Was immer es vorstellen mag, die Leute sehen aus, als ob sie nach mehrmonatiger Bettlägerigkeit die ersten Gehversuche machten. Und der Adjutant sieht dem König vonSachsen dabei genau auf die Füße und sagt: Eins,  zwei, Majestät, eins, zwei, immer los, immer rin ins Vergniechen! Es wird schon gehen! (Er könnte auch
vade-mecum, vade-mecum sagen, wie einst der sächsische Justizrat, der die Villa der Louise umschlich.) Und das deutsche Volk freut sich an dem Schauspiel, das in Wahrheit auf einer  roben Fälschung beruht. Es mag ja interessant sein, zu sehen, wie die interessanten Leute gehen. Aber dann halte man sich an den Kinematographen. Ein einzelnes Momentbild zeigt nicht, wie der König von Sachsen geht, sondern bloß, dass sein Schuh eine Sohle hat. Das zu wissen, scheint freilich für das deutsche Volk auch wichtig zu sein.

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Wenn ein Priester plötzlich erklärt, dass er nicht an das Paradies glaube und dass er diese Erklärung niemals widerrufen werde, dann ist die liberale Presse begeistert, deren Redakteure sich bekanntlich auch nicht ihre Überzeugung nehmen lassen. Aber würde nicht doch ein Verlegerpapst seinen Angestellten sofort a divinis entheben, der sichs einfallen ließe, vor den  Lesern zu bekennen, er glaube an das Paradies? Es ist der widerlichste Anblick, den die Neuzeit bietet: ein vernunftbesessener Priester von Presskötern umheult, denen er Adams Rippe zuwirft.

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Die Modernisten sind die einzigen strenggläubigen Katholiken, die es noch gibt. Sie glauben sogar, dass die Kirche an die Lehren glaubt, die sie verkündet, und glauben, dass es auf den Glauben derer ankomme, die ihn zu verbreiten haben.

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Die Orthodoxie der Vernunft verdummt die Menschheit mehr als jede Religion. Solange wir uns ein Paradies vorstellen können, geht es uns immer noch besser, als wenn wir  ausschließlich in der Wirklichkeit einer Redaktion leben müssen. In ihr mögen wir die Überzeugung, dass der Mensch vom Affen abstammt, in Ehren halten. Aber um einen Wahn,  der ein Kunstwerk ist, wär’s schade.

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Kompilatoren sind Wissenschaftlhuber.

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Besser, es wird einem nichts gestohlen. Dann hat man wenigstens keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei.

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Ein Mann, dem in einem öffentlichen Lokal ein Winterrock abhanden kam, musste oft zur Behörde. Der Beamte sagte zu ihm: »Beschreiben Sie den Täter!« Hat man das notwendig?

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Das Wesen der Prostitution beruht nicht darauf, dass sie sichs gefallen lassen müssen, sondern dass sie sichs missfallen lassen können.

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Nur der liebt eine Frau wahrhaft, der auch eine Beziehung zu ihren Liebhabern gewinnt. Im Anfang bildet das immer die größte Sorge. Aber man gewöhnt sich an alles, und es kommt die Zeit, wo man eifersüchtig wird und es nicht verträgt, wenn ein Liebhaber untreu wird.

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Die Frau spürt die Schmerzen nicht, die der Mann ihr zufügt. Der Mann sogar die.

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Ein Dichter, der liest. Ein Anblick, wie ein Kellner, der speist.

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Er beherrscht die deutsche Sprache — das gilt vom Kommis. Der Künstler ist ein Diener am Wort.

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Zu seiner Belehrung sollte ein Schriftsteller mehr leben als lesen. Zu seiner Unterhaltung sollte ein Schriftsteller mehr schreiben als lesen. Dann können Bücher entstehen, die das  Publikum zur Belehrung und zur Unterhaltung liest.

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»Ich war gestern in Melk — das war a Wetter«, sagt einer plötzlich auf der Eisenbahn zu mir. »Der Eder soll g’storben sein, der kaiserliche Rat«, sagt einer plötzlich vom Nebentisch zu  mir. »Großer Mann geworden!« sagt einer in etwas anderm Tonfall plötzlich auf der Elektrischen zu mir und zeigt nach einem,  der soeben ausgestiegen und auf dessen Bekanntschaft er  offenbar stolz ist. Ich erfahre also,  ohne dass ich es verlangt habe, was im Innersten dieser Zeitgenossen vor sich geht. Dass ich ihre äußere Hässlichkeit schaue, genügt ihnen nicht. In  den fünf Minuten, die wir die Lebensstrecke miteinander gehen, soll ich auch darüber unterrichtet werden, was sie bewegt, beglückt, enttäuscht. Das, und nur das ist der Inhalt unserer  Kultur: die Rapidität, mit der uns die Dummheit in ihre Wirbel zieht. Auch wir sind von irgendetwas bewegt: aber hastdunichtgesehn sind wir in Melk, an der Bahre des Eder, in der Karriere des großen Mannes. Nie würde unsereinem eine ähnliche Wirkung auf den Nebenmenschen gelingen. Ich bleibe gebannt stehen, weil die Sonne blutrot untergeht wie noch nie,  und einer bittet mich um Feuer. Ich beschäftige mich gerade mit dem Problem der Gedankenübertragung, und hinter mir ruft’s: »Fia—ker!« Solange ein Heurigenwirt und ein Schuster Plakate bleiben, wäre das Leben erträglich. In Gottesnamen, prägen wir uns ihre Gesichter ein! Aber plötzlich stehen sie vor uns, legen die Hand auf unsere Schulter und wir brechen  zusammen wie Don Juan, wenn die Statue lebendig wird.

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Mein Wunsch, man möge meine Sachen zweimal lesen, hat große Erbitterung erregt. Mit Unrecht,  Der Wunsch ist bescheiden. Ich verlange ja nicht dass man sie einmal liest.

K a r l     K r a u s .


Warum die Fackel nicht erscheint. Anfang Januar bis 12. Februar 1934. Von Karl Kraus

12. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Die dritte Walpurisnacht ist angebrochen. Der Verleger der Fackel spricht über ein Schweigen von fast einem Jahr, dessen Echo nicht verhallen will und das in der schärfsten Anklage gipfelt:“ Zu Hitler fällt mir nichts ein.“

DIE FACKEL


Nr. 890—905 ENDE JULI 1934 XXXVI. JAHR


Warum die Fackel nicht erscheint

Anfang Januar bis 12. Februar 1934

Sehr geehrter Herr!

Als Verlag der Fackel bitten wir Sie, die folgende Erklärung entgegenzunehmen, von der wir fürchten, dass Sie sie noch weniger verstehen werden als das, was erklärt werden soll. Aber dann könnte man halt nichts machen, und es kommt doch nur darauf an, dass man alles versucht hat. Wir haben Ihnen also im Namen eines Schriftstellers, der der deutschen Literatur als Außenseiter angehörte, durch polemische Schriften Anteil an den Vorgängen der Umwelt zu nehmen schien und sich nun von deren Dummheit angegriffen, ja bis zur Erkenntnis seines Unvermögens überwältigt fühlt, das Folgende zu sagen:

Da der Herausgeber der Fackel und alleinige Verfasser ihres Textes — wie ihrer Umschlagsnotizen —  nun einmal, für das Sie hauptsächlich interessierende Thema, den Vorsatz ausgesprochen hat, stumm zu bleiben und auch nicht »warum« zu sagen; da aus diesem Grunde noch mehr gefragt wird und mithin vielleicht doch ein Hindernis im Weg stände, wenn er tun wollte, was ihm beliebt, nämlich zu den kleinen Themen im Gebiete des Geisteslebens übergehen; da es ihm schwer fällt, die unterbrochene Verbindung mit den Interessen der Sprache, der Kunst, der Menschheit höhern Ranges ohne ein vermittelndes Wort aufzunehmen, so schwer, wie ein solches zu sprechen, womit er eben keinem innern Gebot gehorchte gleich jenem, das die Vermeidung des eigentlichen Themas auf die Dauer seiner Aktualität erzwungen hat; da — aber der Satz würde so lang wie diese, während der Anfang einer begehrteren und gleich in medias res gehenden Abhandlung kurz gelautet hätte: »Mir fällt zu Hitler nichts ein.«

Wohl wäre die Erläuterung, die gerade dieser Notstand erfordert, umfänglich gewesen und von vielerlei Einfällen begleitet, die inzwischen als Kleingeld unter die Leute gekommen sind — geschöpft aus dem Bereich jenes lähmenden Zaubers, der zum ersten Mal der politischen Phrase die Tat, dem Schlagwort den Schlag entbunden hat und dem die Stirn zu bieten nicht mehr im Schutz der Metapher gewährt ist. Um diese wahrhaft geistesgeschichtliche Neuerung, um das Ereignis, dass die Faust aufs Auge passt, hätte sich alle Betrachtung gruppiert. Doch wie könnte solcher Erlebnisinhalt einer Generation, die durch den Bericht um das Erlebnis gebracht ist, nahe gehen? Und er hätte ihr doch so nahe zu gehen, dass sie ihn überhaupt nicht mehr als Lesestoff begehrte! Verstände sie, dass Erschütterung vor dem Unsäglichen den Verzicht erzwingen kann, es zu sagen? Dort ist eine Welt durch die Redensart, die man beim Wort nahm, zur Tat aufgebrochen; hier ist eine zurückgeblieben, die, kaum von Fall zu Fall erlebend, immer noch den Rückweg für gangbar hält, die von ihr verluderte Freiheit mit Worten beschwörend, als lebte sie nicht in der Wirklichkeit, die sie beschreibt, immer noch wähnend, die Tat lasse mit sich reden. Was sich die Zivilisation,  unwert ihrer  Erfolge, da eingebrockt hat, nimmt sie, wo die Kraft ihrer Lenden protestieren gegangen ist, als »Reaktion« zur Kenntnis, als politischen Rückschlag, den sie »Faschismus« nennt, pochend auf  Urväterhausrat einer politischen Opposition, die ein schönes Auskommen mit jener Tyrannei garantierte, deren Verkehrsformen von einem unwiederbringlichen kulturellen Inhalt bezogen waren. Glückliche Anlage einer Demokratie, die noch immer glaubt, sie sei dem Schutze des Publikums empfohlen, wenn nicht gar unter Denkmalschutz gestellt, welchem die deutsche Sozialdemokratie ihr Parteiarchiv vertraute, als Hannibal schon intra portas war. Und vollends die unsrige, die unverwüstliche komische Alte, die sich den Luxus leisten kann, gegen zwei Faschismen zugleich zu »kämpfen«, prinzipiell entschlossen, die Lebensrettung durch den sogenannten »Beelzebub« abzulehnen; dieser Glückspilz unter den Parteien, der nach jeglichem Unwetter phraseologisch gedeiht, von der Natur mit dem Talent ausgestattet, den Zusammenbruch als Unterpfand des Aufstiegs zu betrachten und noch am Grabe den »Wellenberg« aufzupflanzen, wenn man längst im Neandertal angelangt ist. Nein, sie machen keine Phrase, wenn sie sage: »Wir bleiben die Alten!«

Welche Entmutigung von diesen ungebrochenen Kampfscharen ausgeht zu einem, dem jetzt die Autorschaft der »Letzten Tage der Menschheit« nachgewiesen wird, und selbst dann ausginge, wenn er in der deutschen Katastrophe nicht die Wirklichkeit und Wirksamkeit erkennte, welche diejenigen nicht Wort haben wollen, die nur Worte haben — nicht einmal das lässt sich zur Sprache bringen. Doch was schiert es draufgängerische Leser, die, solange sie unbetroffen bleiben, mit dem angebornen oder erworbenen Mangel an Vorstellung für alles polemische Bedürfnis auskommen, indem sie, was geschehen ist, zwar wissen, aber nicht sehen, und was sie nicht erleben, wenigstens lesen möchten.

Denn selbst an die Grippe glaubt einer erst, wenn er sie hat — wenigstens seit der Erfindung des Mittels, das ihre Kenntnis verbreitet. Unerschrocken, weil vom papiernen Schrecken nicht berührt, vermissen sie an einer Prolongierung der letzten Tage der Menschheit, die sie ungefähr ahnen, den literarischen Nachtrag, welchen sie, immer auf die Fortsetzung gespannt, bis zum Hindernis des Giftgaskriegs in der Buchhandlung urgieren. »Wann erscheint endlich —?« »Warum erscheint nicht —?« »Warum schweigt er, wo doch gerade jetzt —?« »Er, der doch bekanntlich im Weltkrieg —«. Die einen geben die Hoffnung nicht auf; die andern stutzen und fangen an, ein »Mutproblem« zu erörtern; die sich lange genug der danklosen Mühsal des Verehrertums (mitunter glühend) unterworfen haben, benützen die Chance der Frechheit: Wanzen, die richtig vermuten, dass wegen größerer Gefahr nicht Licht gemacht  wird.

Derlei Anfechtungen — denn es sind Kampfnaturen und stechen, wenn sie vom Vorkämpfer im Stich gelassen sind —; derlei bis zur Sicherheit wachsender ethischer Zweifel aus  Regionen, mit denen es noch die Verbindung des Fußtritts gibt; derlei schamloser Versuch, unter Drohung mit Ausschluss aus einer »Gemeinschaft der Kämpfenden« (als ob man je zu  so was gehört hätte) eine Gehirnleistung zu erpressen, von der sie doch nichts als Stoff und Meinung kapieren würden — all das vermag nun eine Haltung und Enthaltung, eine  Untätigkeit (die nach Art, Maß, Grund und Ziel ihnen entrückt ist, wie nur das Werk selbst es wäre) wohl zu belästigen, keineswegs zu beeinflussen; zu stören, nicht zu hemmen. Ein geistiges Opfer muss nicht besser verstanden werden als eine geistige Tat, welche — wir verraten ein Redaktionsgeheimnis — gar keine wäre; und zu den tragischen Verlusten der Zeit,  von denen die »Kämpfer« die allergeringste Ahnung und die Mitschuldigen kein Gran Bewusstsein haben, wäre es hinzunehmen, wenn sich vollends erwiese, was schon in der  Friedenswelt den casus belli der Fackel gebildet hat: dass Leser den Ansprüchen, die sie ans Denken stellen, nicht gewachsen sind. Gleichwohl wurde ihr Wert und Beitrag niemals  unterschätzt: wenn die vielen, die nicht auf die Kosten der Lektüre kamen, ihr treu blieben, so erkannten sie wohl die mäzenatische Pflicht, sie den wenigen zu sichern, um deren  reinlicher Auswahl willen diese Klarstellung (welche ja gerade einem Verlag zusteht) erfolgen soll. Der Erhaltung einer publizistischen Möglichkeit für den Inhalt, auf den es ankommt,  wird keine Konzession gemacht werden. Fünfunddreißig Lebensjahre eines Werkes und sechzig seines Autors gestatten vielleicht, die Unerbittlichkeit seiner geistigen Entscheidung bis  zu dem Punkt der publizistischen Existenz zu führen, und Mäzenen, die Ansprüche stellen, könnte die Gelegenheit entzogen werden. Denn nun ist der Fall eingetreten, wo sie vermeinen, dass ihre Erwartung Inspiration, wenn nicht gar Auftrag sei, und ihre Enttäuschung hätte sich gewiss schon als Verzicht aufs Lesen geäußert, wenn sie nicht eben darin läge, dass die  Zwanglosigkeit des Erscheinens der Fackel ihren höchsten Grad erreicht hat. Dieser suchen sie jedoch mit einem Zwang entgegenzuwirken, dem eine Zensur, die nur auf die Unterdrückung des Veröffentlichten abzielt, kein Pendant zu bieten hat. Ihr Meinungsdruck wirkt herrischer, weil der Inquisition der Freiheit kein analoges Mittel zu Gebote steht,  indem es doch nicht einmal möglich ist, den Bezug einer Zeitschrift aufzugeben, die bloß dadurch Unzufriedenheit erregt, dass sie nicht erscheint. Es liegt aber der im Druckwesen gewiss  seltene Fall vor, dass Nachfrage ungünstig einwirkt, Ermunterung einschüchtert und es fast den Anschein hat, dass sich da mit Gewalt überhaupt nichts richten lassen wird. Pflichtartikel  einrückend zu machen — dieser Machtmöglichkeit hat sich die Freiheit begeben. So bleibt nichts übrig als das Schreiben von Mahnbriefen und im verschärften Fall deren Drucklegung, der publizistische Ausdruck der Beschwerde, der Enttäuschung, der Empörung darüber, dass im Gehirn eines Autors die Gedanken nicht reifen oder aus ihm nicht in Erscheinung treten wollen, die er pflichtgemäß haben müsste und an deren Identität mit den Gedanken der Erwartenden gar nicht zu zweifeln ist. Dass ihm zu Hitler nichts einfällt und gar aus dem Grunde,  weil ihnen schon alles eingefallen ist, das fällt ihnen nicht ein, und nicht einmal den Komplizierteren unter ihnen: dass gut Ding Weile braucht und durch Zuspruch aufgehalten wird; dass einer so grandiosen Konzeption zur Erneuerung der Menschheit, die sich selbst auf Jahrtausende bemessen hat, doch zumindest ein satirischer Fünfjahrplan angepasst wäre. Was sich  Leser und Schreiber unter schriftstellerischer Tätigkeit im Allgemeinen und der seinen im Besondern vorstellen, ist dem Autor der Fackel unbekannt. Bis zu seinem Schreibtisch sind sie noch nicht vorgedrungen, und das ist gut, weil sie sich dann vollends nicht auskennen würden. Er ist ja nicht faul gewesen, und es mag da vielleicht mehr versucht worden sein, als je an  solchem Platze vollbracht wurde. Aber wie enttäuscht wären sie doch von dem Bild eines Vorkämpfers, der sich in Protagonie gegen die Zeit befindet, und nur noch imstande, sich selbst den bessern Nachruf zu schreiben als die Dummköpfe, die es unternommen haben. Will man ihn trotzdem nicht in Ruhe lassen? »Welch ein Tosen! Welch ein Wühlen! .. Wildbewegte Wünsche stürzen aus den überdrängten Herzen, wälzen sich zu mir empor.« Freilich zumeist vom Papier her, zuweilen aus einem rührenden Kinderglauben an das »Wort«, der beschämt würde von der simpelsten Vergegenwärtigung des Sachverhalts wie des Verhältnisses der Kräfte, wenn die Phantasie zu ihr noch fähig wäre. Hie Waffe, hie Wort: mit  diesem schlichtsatirischen Hihi könnten wir uns eigentlich nach Hause schicken lassen; um, wenn wir fromm sind, zu beten, dass der Herr uns von dem Übel erlöse, und andernfalls, da  wir in der Mehrheit wohl Freidenker sind, auf den Ablauf der Natur zu warten.

Doch stattdessen auf Polemik dringen, dazukönnte einer Gedankenarmut entsprechen, die unter Umständen an eine Rohheit streift, die der innersten Beziehung zum Übel nicht entbehrt. Es gibt einen Punkt der Betrachtung, von dem aus nichts mehr links oder rechts, sondern alles nur dumm erscheint. Der Hohlkopf, der sich überhaupt nichts vorstellt, stellt sich doch  eine »Wirkung« vor, die etwas »umwirft«, etwas, dem er zufällig, meinungsmäßig, an der Oberfläche gefühlsmäßig widerstrebt, und womit er im tiefsten Grunde geistesverwandt ist. Als wäre es nicht ein Übel, von dem es leichter ist, umgeworfen zu werden! »Wollt ihr Macht? Der Mächt’ge hat sie.« Dem diente das »Wort« als der mitteilende Helfer der Tat und Untat.  Doch zu sich gebracht, in den Bereich seiner Natur zurückgeholt, dem Element wiedergegeben, aus dem sich das Sprachbild von Tat und Untat gestaltet — versagt es die zeitige  Gegenwirkung, die sein Teil nicht ist und nie gewesen; bewahrt sich, wenn noch so unmittelbar aus dem Tag erworben, als moralisches Erbe, verkümmert jedoch, bei aufgesparter Fülle,  am ungemäßen Anspruch. Dies war immer das Problem der vom Aktuellen bezogenen Satire, welche erst in der Entfernung vom Anlass wirksam, ja verständlich wird. Wie erst, wenn der Stoff als solcher ihre geistige Möglichkeit negiert, wenn der Gegenstand der Satire spottet und in der zeitlichen Konkurrenz, nach Wesen und Maß, über jeden Versuch triumphiert,  seiner habhaft zu werden! Über allem Erlebnis der Gewalt, der Lüge, des Irrsinns steht da, einzig gestaltbar, das Erlebnis des Inkommensurablen, der Unmöglichkeit diese Phänomene  zu gestalten — mindestens in der Gleichzeitigkeit des Wirkens —; das Gefühl des Hinschwindens aller Gestalt als publizistischer Erscheinung, vermöge des ungemäßen Anspruchs auf  Wirkung, des unerfüllbaren auf Bewältigung. »Sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!« Trost einer Phraseologie, die andere der Gewalt ausgeliefert hat; Zitat aus einem schlechten  Kampfgedicht, das unsereinem umso weniger sagt, als es dem Hingang einer Zeitung gewidmet war. Nicht weit entfernt von jenem unersetzlichen zerbrochenen Krug, mit dessen Eigenart ja alle Logik dieser Parteiwelten auskommt. Denn erstens töten sie den Geist vorbildlich, wenn er in Verkennung der Umstände sich unmittelbar manifestieren wollte; zweitens töten grade die Brüder den Geist, die ihn für sich reklamieren; drittens ist das, was sie so nennen, kein Geist, sondern bestenfalls Wahn, gemeinhin Betrug; und »letzten Endes« — zu welchem Begriff und Terminus sich die Gegner eben dann vereinigen — überlebt er beide, wenn er sich mit dem Geist, den sie begreifen, und mit der Freiheit, die sie meinen, in ihrer  Gegenwart überhaupt nicht abgibt, sondern sich auf sich selbst zurückzieht. Ein letztes polemisches Objekt gewährt ihm die Zeit, die am Ende ist: das Geistgesindel, das dieses Problem  nicht versteht, nicht wenigstens fühlt, sein Erleiden nicht ahnt, seiner Möglichkeit misstraut, und doch von den Brosamen fett wird eines Mahls, bei dem ein Schwelger fastet.

Aber bedarf es denn (wieder einmal und wohl  zum letzten Mal): vor dem beispiellosen Aufbruch der Problematik des Wortes; vor der Erledigung der Sprache im Namen der Nation, wogegen es doch keinen andern und wirksamern Protest als ihre Aufrichtung gäbe; vor der Vernichtung der Metapher, der das eigentliche Anschauen der Zeitdinge bestimmt wäre —  bedarf es der Klarstellung, dass das Wort in seiner Beziehungsfülle sich dichterisch allem verbindet, nur nicht dem, was die Meinenden gemeint haben? Hausväter-Unrat der Missdeutung: die Worte wären das Register der Sachen! Wenn sich nun die Sprache geflissentlich jenem Anspruch falscher Funktion entzieht, von dem die Gestaltung aus Farben und Klängen  verschont bleibt (wofern sie nicht als Plakat, als Gassenhauer zu wirken hat); wenn sie sich an den außerzeitlichen oder zweckfernen Inhalt vergibt — sich etwa im Sprachspiel Shakespearescher Sonette vergeudend —: so scheinen »ihre Gaben, ihre Töne mädchenhaft« gleich Elporens Anbot, und die Zweckhungrigen, die sich nicht abspeisen lassen, werden  ungebärdig, die Zeitstoffel werden rebellisch, die sich vorstellen, dass ein Satz aus nichts als ihrem Antrieb entsteht: das auszudrücken, was in ihnen vorgeht! Sind sie, denen dann der  Vorwurf des »Ästhetentums« einfällt, nicht die eigentlichen Ästheten, welchen in ihrer Politisiertheit nichts näher liegt als der Wunsch, dass man das Unwirksame, zur Unwirksamkeit  Verdammte, schöner als sie zum Ausdruck bringe? Es tritt der Moment ein, wo man nicht nur im akustischen Umkreis die beifällige Herabsetzung des satirischen Sprachwerks auf Ansicht und Anlass nicht mehr erträgt — älteste aller Beschwerden! —, nein, wo einem in jeglicher Verbindung die »eigenen Schriften« so unliebsam werden wie die Objekte, die  sie zufällig betrafen und die ihnen jeweils den Beifall errungen haben; und wie die Subjekte, die, den Sprachwert verschmähend, nur auf dem eigenen Niveau einem begegnen wollen. Weil es hier nichts Mechanisches und nichts Zufälliges gibt, so deckt sich die Unwegsamkeit des Stoffes ganz und gar mit der Verhinderung durch den Leser. Sein Verlangen beweist nicht, wie  sehr, sondern wie wenig er den Stoff erlebt hat. Er ist mit nichts als mit der Nervenspannung beteiligt, die den Kriminalaffären —  hier einer von weltgeschichtlichem Format — den publizistischen Erfolg sichert; und wie er sonst nichts spürt, so spürt er vor allem nicht, wie wenig solchem Interesse der Anteil des Autors gemäß ist. In nichts leidet der Leser mit ihm: weit entfernt von der Vorstellung, dass einer, den er sich als publizistischen Sammler gegebener Eindrücke wünscht, dem bestürzenden Erlebnis erliege, welches vielleicht als Antrieb  wirken könnte, sein Unmögliches zu gestalten, sicher aber als Hindernis aktueller Gegenwirkung.

Diese Lage, worin schließlich nach einem Bemühen, dessen Riesenmaß kein Tölpel ermisst, eine geistig-sittliche Rechenschaft entscheidet; worin Verantwortung den schmerzlichsten Verzicht auf den literarischen Effekt geringer achtet als das tragische Opfer des ärmsten, anonym verschollenen Menschenlebens — diese Lage, im allgemeinsten Erlebnis besonders durchlebt, sie könnte wahrlich weder durch die Enttäuschung einer törichten Anhängerschaft — auf die aus Offenbach gepfiffen sei! — noch durch die Schadenfreude der Lumperei alteriert werden. Hat diese oder jene Sorte denn eine Ahnung, wie sehr die anonyme Version, Herr Kraus habe »auch sonst Rücksicht zu nehmen«, den Nagel auf den Kopf trifft? Können sie vorstellungsmäßig ermessen, dass wenn der Satan, an dessen Greuelfähigkeit sie doch nicht zweifeln, eben deren Konsequenz betätigt, für polemische Taten, deren Nutzen nicht beweisbar wäre, um des Verdachtes der bloßen Anhängerschaft willen Menschenopfer fallen? Wissen sie, dass man ein Lump sein kann, wenn man durch seine verbotene Meinung, die man über die Grenze schmuggelt und die doch in Wort und Wirkung ein Mist bleibt, Proletarierleben in Gefahr bringt, und dass einer mehr Ehre aufhebt, wenn er einer zufällig nicht verbotenen Produktion den Markt freiwillig sperrt, damit Ahnungslose nicht noch die Opfer ihrer Bitte werden, sie »in geschlossenem Kuvert« zu erhalten? Weiß ein Lump, dass man auch einer sein kann, wenn man die Wahrheit sagt, sofern es sich um die Aussage über eine Pein handelt, die durch die Aussage vermehrt wird; und dass Samariter, sehend und wissend, sich vor dem Unabwendbaren entschlossen haben, zum Werkzeug des erpresserischen Willens zu werden, lieber zu schweigen und die Bitte um Schweigen zu verbreiten, als zu sagen, was ihnen das Herz beklemmt, und in ihren Traum die Vision einer Fortsetzung von Martern, vielleicht eines Verendens zu übernehmen? Sprechen ist Fortsetzung der Gewalt, Schweigen die der Erpressung: diese Notwahl ist ihre Gunst. Wer aber wagt, ohne Deckung durch die Gegenwaffe, die feldherrliche Entscheidung, dass zu größerem Nutzen Schaden zu bewirken sei — außer dem kämpferischen Pfuscher, der von seinem Meister alles, nur nicht das Gewissen stahl und der noch lügt, wenn er die Wahrheit sagt? Ahnt er, dass schon die Unmöglichkeit, solche Gedankengänge fortzusetzen — um den Zufall, der über Freiheit und Leben entscheidet, nicht in Plan zu wandeln —, eben den Inbegriff des Grauens, Problem und Inhalt des Ereignisses bildet? Nun haben sie, in die Umgebung ihrer Prominentenfreuden, glücklich die Sensation der Meldung eingebracht: »Das Schicksal« des besten Vertreters ihrer verlumpten Idee »besiegelt!«, nachdem sie durch Wochen ausposaunt hatten, Moskau (sonst nicht allzu rührig) rüste zu seinem festlichen Empfang und er werde vier Vorträge über Leipzig halten! (Vor einer Gefahr, gegen die Lindberghs es mit Lösegeld versucht hatten.) Zwischen Femina und Gyimes-Revue, wo sich alles Kulturgeschehen und alles Grauen der Menschheit einbettet, rufen sie das »Weltgewissen« auf — sanftestes Ruhekissen, das sich Herr Göring wünschen mag — und buchen die Opfer einer Dummheit, die den Triumph der Erbarmungslosigkeit herausfordert. Was spürt das Geistgesindel, das noch immer nicht weiß, was geschehen ist und wie viel und wie blutig es geschlagen hat, von dem Sinn eines  Verhängnisses, dessen Stoff es zur Not registriert und von dem doch kein Ausweg ans Licht führt, keine Hoffnung als die auf die Erschöpfung der Quäler, keine Aussicht als die, die der  große Mörder bei Shakespeare mit dem Wunsch bezeichnet, dass »der ganze Schatz der zeugenden Natur zusammentaumle, bis selbst Vernichtung matt wird«. Gewiss, auch wenn das Problem in den simplen Gehirnwindungen derer Platz hätte, die sich vom Erscheinen der Fackel den wirksamen Eingriff versprechen — auch dann wäre es klar, dass der »Aktivist«, der  en geformten Ausdruck seiner Erregung begehrt, eben der nichtsnutzige Ästhet ist, als den er den Zeitflüchtling zu demaskieren glaubt. »Wer zu denken versteht, wird das absolute Schweigen, mit dem er dieses Jahr schließt, voll erfassen; denn es ist eine gewaltige Anklage.« Beim Papst verstehen es die einen. »Von diesem Tage an ist er verstummt.« Bei Theodor Wolff würdigen es die andern. »Das Da-Sein des großen Schweigenden« — George — »bedeutete uns eine der stärkenden Gegebenheiten dieser in der Grundfeste schwankenden Epoche«, und »sein zu solcher Stunde so beredtes Schweigen sprach eindringlicher als tausend schwirrende Worte«. Vor allem solche Schwirrer konnten nicht fassen, dass eher vom Dichter des  siebenten Rings Stellung zum Dritten Reich zu erwarten und zu erlangen war — denn er hat sich ja schließlich doch zur »Ahnherrherrschaft« bekannt —, als von dem »Zeitkämpfer«, mit dessen Produktion die Namen Schober und Bekessy registerhaft verbunden sind. Doch sie sollen darum nicht glauben, dass er ein Werk so hoch schätzt wie sie, das so plumpen Missverstand ermöglicht hat!

Ganz und gar als Vertreter dieses Typus sprechen wir Sie, sehr geehrter Herr, an; des Typus, der seine Beschwerde in törichter Anfrage wie im publizistischen Angriff zum Ausdruck  gebracht hat; des Typus, von dem den Herausgeber der Fackel, welcher den Mut hat, vor pseudonymen Fechtern als Feigling dazustehn, geistig dasselbe Blutmeer trennt wie moralisch  von dessen Erzeugern. Eben von diesem Typus wünschen wir jenen, leider geringern, Teil der Leserschaft abgesondert, der auf die zehn Zeilen »Man frage nicht« mit Fühlen statt mit  Grinsen geantwortet hat. Wir haben — und koste es auch etliche tausend Anhängsel — durchaus den Wunsch, die Grinser dort liegen zu lassen, wo sie liegen: links; — ohne dass uns ein  anderer Gedanke als der der erkannten österreichischen Notwendigkeit mit rechts verbände. Wobei wir aber ganz und gar nicht die Gefahr scheuen, in politischen Verruf bei der  prinzipiellen Hirnverbranntheit zu kommen, die zur Zeit damit beschäftigt ist, das Einmaleins zu sabotieren, auf das unser aller Leben durch ihre Schuld herabgesetzt wurde, und einer politischen Sachlichkeit, der sie hoffentlich ihre Lebensrettung verdanken wird, phraseologisch entgegenzuwirken. Denn wir machen natürlich kein Hehl daraus, dass wir die  parlamentarische Inbrunst der Sozialdemokratie, nebst »Trutz« (mit dem man auf die Ringstraße geht), für keine respektwürdige Empfindung, sondern für groben Unfug halten; dass wir die tägliche Herabsetzung übermenschlicher Mühsal um leibliche Freiheit durch die Maulfreiheit »unerwünscht« finden, wie nur jenen deutschen Besuch, dem sie zu Hilfe kam, und dass  wir seit dem Gruß von Aspern, den die Sozialdiplomatie gerügt hat, im Gehirn des einen kleinen Retters aus großer Gefahr mehr Grütze vermuten, als vierzig Jahre österreichischer  Regierung und insbesondere österreichischer Opposition aufzuweisen hatten.
Viele Denkprobleme sind einem ja seit einer Wendung, die 1918 nicht abzusehen war, nicht geblieben, und der Kampf um die Bewahrung eines Landes vor der Pest verdient darunter  gewiss den Vorrang vor der Debatte, ob drei Pfeile, die nicht mehr treffen, nach oben, nach unten, nach vorn oder nach hinten zu tragen sind. (Das ist beileibe kein Spaß, sondern die  Erwägung fiel in eine Zeit, wo das Emblem dem armen deutschen Genossen, einstigen Oberpräsidenten von Schlesien, auf den Hosenboden genäht war und er, bei schwerer Lagerarbeit  ich bückend, es belustigten Schindern sichtbar machte.) Was wir selbst jedoch innerhalb der Lebensmöglichkeit, die durch eine Reduktion auf das Problem der Rettung und Fristung  hoffentlich gewährt bleibt, noch zu besorgen haben, das ist die Reinigung unserer spezifischen Sphäre von dem geistigen Mist, der trotz jahrelanger Abwehr immer wieder und nun  geradezu peremptorisch aus jener Gegend uns angeht, wo die, dass Gott erbarm, intellektuellen Urheber des Debakels sich mausig machen. Der Zudrang erregter und mitteilsamer  Dummköpfe, grundsätzlich und einzelweis verscheucht, er datiert von den »Letzten Tagen der Menschheit«, deren stoffliche Beurteilung als das gleiche Übel an den Verehrern wie an  den Verdammern erscheint und von denen jene eine Vertraulichkeit hergeleitet haben, die einem noch anklebt, wo das Werk von ihnen längst geplündert und infolgedessen auch als »überholt« bezeichnet ist. An der Quantität des Zeitstoffes, aber ohne Ahnung der geistigen Verschiedenheit, ist dieser Zudrang, den wir durch die Schäbigkeiten der »Linkspresse« abgeleitet glaubten, leider gewachsen, mit allem Gemisch aus Hass und Verehrung, das der Literatensorte eignet und seit der Erfindung der Psychoanalyse seine Norm gefunden hat. Dass  keine Fackel erscheint« — deren Verfasser doch auch etwas von der Problematik erleben dürfte, die solche Leser damit verknüpfen — scheint bereits, wenn nicht in Ordinationen,  o doch in Redaktionen, die Rolle eines »Trauma« zu spielen. Und dabei kann der Herausgeber nicht einmal behaupten, dass seine Enttäuschung an den Lesern größer sei als umgekehrt. Wäre er aber nur halb so »eitel«, wie sie vermuten, die Popularität, die er der nicht erscheinenden Fackel verdankt, könnte ihn in einen Rausch versetzen wie einst die Wirkung nach dem gestohlenen Biberpelz. Nur zur Leistung, welche sich doch auf solcher Basis besonders empfehlen würde, wäre er nicht zu bringen; und mag ihm inzwischen auch alles geistige Gut  gestohlen sein. Sie glauben, was einem scheinbar am Ruf zur Leidenschaft fehlt, durchs Stichwort ersetzen zu können. Gewissensmahnung nimmt exekutive Formen an, entartet zur  Leibespfändung an gedanklicher Habe; wie bei Nestroy packen sie einen, der zum Glück selten ausgeht, »völlig auf der Gassen um Kapitalien an«, und es ist mit Passanten schon passiert,  dass die Hoffnung, es werde bei der Bitte um Feuer sein Bewenden haben, durch die Frage nach der Fackel getäuscht wurde. So gebietet denn Notwehr den in Terrorzeiten möglichen  Aufschluss: dass eher das, was der Überzeugung entgegen ist, zu erzwingen wäre, als was ihr entspricht; und dass ein Autor, der, seitdem er wirkt und nicht wirkt, Art und Ablauf seiner Produktion selbst bestimmt, sich lieber von Diktatoren etwas verbieten als von Verehrern etwas diktieren ließe. Mit dieser rückhaltlosen Erklärung glaubt er sich hinreichend weit von Freiheitskämpfern, deren Gesinnung er natürlich irgendwo irgendwie aus innerstem Drang widerstrebend teilt, entfernt zu haben, so weit, dass sie ihn füglich in Ruhe lassen könnten,  welche noch immer eine weit größere Unruhe bedeutet, als auf sämtlichen Papierbarrikaden Platz hat. Er weiß, dass der einzige freie Geist der neudeutschen Welt, Frank Wedekind, so wenig durch sie wie durch ihre Antipoden eine Auferstehung zu erwarten hat; mit ihm bejaht er, ganz im Gegensatz zu ihnen und den andern Spießbürgern, jene weibliche Prostitutionsfähigkeit, bis zu deren sozialer Ächtung sie glücklich fortgeschritten sind. Er würde aber um keinen Preis der Welt ihr geistige Reize darbieten, von denen der Genießer früher als er weiß, dass sie zu »haben« sein werden. (Prostitution hier nicht als Begriff der Käuflichkeit, sondern der Verfügbarkeit gefasst.) Mit etwas, wofür er nicht zu »haben« ist, tritt  er auf Wunsch des Kunden nicht in Erscheinung! Er zieht es sogar vor, mit der Abweisung dieses Wunsches einen andern zu betrauen. Er hat eingewilligt, dass uns seine Geduld reiße.
Und zwar gegenüber dem Anspruch, der mit der Uhr in der Hand seine Fähigkeit überwacht, Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten, Einfälle zu haben und zu gestalten, zu schaudern oder zu spotten — Regungen, die doch im Nu ihre Kontrolle einbeziehen. Gegenüber dem Unterfangen, ihm, wenn ihm sein Widerwille, in dessen Tiefe er niemand Einblick schuldet, die Flucht aus der Zeitnahegelegt hat, schlechtgeschriebene Steckbriefe nachzusenden, als wäre die Flucht verdächtig und nicht die Zeit, die — nebst solchen Genossen! — sie verursacht hat. Beruf: Autor der »Letzten Tage der Menschheit«, besonderes Kennzeichen: »Mut«; und nun kann jede literarische Passkontrolle ihn dingfest machen. »Wer weiß etwas?« fragt im Briefkasten der anonyme Scherzbold, der an der Spitze des Blattes — Titel: »Wie sie uns fürchten« — verkündet, ein namentlich bezeichneter Proletarier sei mit 150 Exemplaren des Drecks über die Grenze gegangen und zu einer Zuchthausstrafe von 5 Jahren verurteilt worden:

Ruhm und Ehre den tapferen Kameraden, die für die Verbreitung der
Wahrheit selbstopfernd am Werk sind!

Wer etwas weiß? Der, der Rücksicht zu nehmen hat und, es ahnend, den armen Teufel an der Grenze zurückgehalten hätte, denn er weiß, dass an Prager Schreibtischen Schwachköpfe sitzen, die nicht einmal wissen, dass sie Lumpen sind. Bei aller Tauglichkeit zum Objekt Muss man ihnen selbst noch die Illusion nehmen, Stichwortbringer zu sein und die Antwort auf die Frage erzwungen zu haben, warum die Fackel nicht erscheint. Sie mögen die Adresse bilden, aber die Wohltat der Aufklärung verdanken sie doch anderen. Gerade solchen Lesern, denen für kein Briefpapier die Dummheit einfiele, die zu einem Druckpapier taugt. Da sich herausstellt, dass diese Gleichgestimmten zwar das nichtgesprochene Wort verstehen, aber den Zweifel der Phantasiearmut als Faktor mitleidig werten und den Zweifel der Frechheit für abweisungswürdig halten; dass sie vielleicht selbst — benommen von der Schwierigkeit, die zwischen den Neigungen des Gehirns und den Ansprüchen der Zeit eklatiert hat — ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Lage aus ihr nicht herausfinden, oder doch meinen, andere, die guten Glaubens sind, würden aus ihr nicht herausfinden; da sich vor allem herausstellt, dass sie, zwischen den Belangen der Geistigkeit und denen der Wirklichkeit zwar unterscheidend, dennoch die unmittelbare Befassung mit Werten scheuen, deren Erlebnis Trost, deren Erkenntnis Protest wäre — so haben wir, der Verlag der Fackel, uns entschlossen, demjenigen das  Heft aus der Hand zu nehmen, der sich so lange bedenkt, es herauszugeben, und der nun einmal zu einem Satz so viel Zeit braucht wie andere (und er selbst) zu einem Buch.

Wir sprechen in Vertretung eines Autors, dessen Meinung wir zu kennen glauben und dessen Stil wir uns durch langjährigen Vertrieb der Fackel mindestens so gut angeeignet haben,  wie durch deren Lektüre die Polemiker, die heute nicht nur seinen Mut besitzen, sondern auch wegen seiner Zurückhaltung frech werden. So leicht wie diesen würde es uns natürlich nicht gelingen, die Expedition einer Meinung vorzunehmen, die jener nun einmal nicht äußert. Umso schwerer, an seiner Stelle die Begründung für sein »Versagen« (transitiv und  intransitiv) zu finden, weil sie ja doch — wie sagen wir’s nur — das Sagen einbedingt. Aber hier ist, wenn schon keine geistige Notwendigkeit, so doch eine geistige Möglichkeit gegeben,  die gewünschte stoffliche Konfrontierung herbeizuführen. Und zwar mit aller sittlichen Förderung durch eine Selbstzensur, während dem unmittelbaren Sagen doch nur jene  Schrankenlosigkeit ziemte, die — solange das Thema lebt und der Polemiker zu leben wünscht, ja vielleicht bei Lebzeiten von Lesern — der gänzlichen »Selbstkonfiskation« zu weichen hat. Großmann, alte Liebe, die nicht rostet, hat es erraten, und weit gebracht der Herausgeber der Fackel, welcher von ihm — der nicht ahnen mag, wie viele anständige Juden seinem Pressewalten zum Opfer fielen — auf einer Regung des Schwachmuts, gleichsam in flagranti der Unterlassung, ertappt werden muss. (Beneidenswert aber jene ingeniöse Erfinderin des  »Mausi« — an dem wie an der »Journaille« die Fackel nur das Verdienst der Verbreitung hat —, wenn ihr das ausgewachsenste Exemplar unterkommt und sie es auch bei einem  Monolog belauschen kann:

.. und ich murmele zuweilen die Verse des größten deutschen Emigranten vor mich hin:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Bin ich um meinen Schlaf gebracht.

Zum Glück habe ich den Boden Österreichs nie ganz unter meinen Füßen verloren ….

Auch der Boden weiß es sich zu schätzen, denn Großmann ist eigentlich Heimkehrer, während echte Emigranten uns versichern, dass sie die Schlaflosigkeit, die ihnen der Gedanke an Deutschland verursacht, durch Lektüre der Artikel überwinden konnten, die Großmann über ihre Lage veröffentlicht hat.) Der Herausgeber der Fackel, der sich ja alles selbst  zuzuschreiben hat, darf sich nicht wundern, dass jetzt vieles, was da sonst vor ihm kreucht oder fleucht, standhaft wird und am Ende noch Haas und Swinegl zu kontrollieren anfangen,  wie er ans Ziel kommt.

Die Gestaltung, zu der wir uns da vorwagen — und im Grunde schon das Wesentliche beigetragen haben —, gewinnt dem Hindernis allen Reiz ab und verdankt selbst der Unlust, die das Gebot des Lesers erzeugt, jenen Anstoß, der in Bewegung setzt. Sie erscheint etwa als Motivenbericht zu dem Diktum des Komikers Valentin, dessen gedankliche Elision immer die  Ausfüllung der Zeitlogik bedeutet: »Ich sag gar nix. Das wird man doch noch sagen dürfen«. Hauptsächlich kommt aber der Widerstand als Anreiz zur Geltung, alles zu sagen, was gegen  das letzte polemische Objekt zu sagen ist, das die Zeit gewährt: gegen eine Anhängerschaft, die sich lange genug als das aliquid bewährt hat, das semper haeret, aber nun endlich doch  erkennen dürfte, dass die Freiheit, die sie meint, nicht so sehr die ihre ist, als die von ihr. Gegen den fordernden und enttäuschten Unverstand, der außerhalb der Wirklichkeit und darum nicht über sie hinaus denkt. Wurde der angebornen Farbe der Entschließung (die man wohl nicht von seinen Kopisten borgen Muss) die Blässe des Gedankens angekränkelt, so war es  doch einer, den sie bisher noch nicht gestohlen haben: dass die Tat des Wortes ungemäß, weil unwirksam ist, und nicht verlockend, weil von Zuschauern gewünscht. Blieb sie eher wegen  des Wunsches ungeschehen, als dass sie auf Wunsch geschehen könnte — so wird nun das »Versagen« (im Doppelsinn) zum Antrieb und zum Ausdruck. Die Materialverarbeitung ist hier  ein Spiel neben dem Zwang, den, täglich wechselnd, das große Panorama brachte; die Erfassung und Verknüpfung der gedanklichen Motive schwieriger und darum reizvoller. Nicht  mehr »Stellung zu nehmen« gilt es, sondern Klarstellung: welches Minus an Vorstellung dem Verlangen zugrundeliegt, und wie kongruent vom geistigen Punkt her alle Beschaffenheit  papiernen Denkens wird, der sowohl das Übel erwuchs wie der Wunsch, dass das Wort von ihm erlöse. Als hätte es die Macht, die wir Gott und der Natur zutrauen wollen, oder die jener  Gegengewalt, die wir uns nicht vorzustellen wagen und die — unsägliches Dilemma — wissend, dass ihr Heilmittel verderblicher sei als die Krankheit, sich bis zur Selbstvernichtung den  Gebrauch versagt.

So sei denn die Forderung, die von kühnen Lesern gestellt wird, zwar nicht mehr mit Schweigen und dem Ausdruck des Schweigens beantwortet, sondern mit der ausdrücklichen  Weigerung:  Erscheinungen, die durch eine exorbitante Mischung von Blut und Boden, Persönlichkeit und Volkstümlichkeit dem Menschenmaß und menschlichem Urteil entrückt sind,  Männern wie Hitler, Göring und Göbbels mit Geist, Mut, beziehungsweise Wahrheitsliebe entgegenzutreten. Wir sind, ganz im Sinne unseres Herausgebers, überzeugt, dass die Entfaltung  dieser Eigenschaften, die ihm bisher einigen Ruf und große Unbeliebtheit errungen haben, dem Begriff des Ereignisses nicht gemäß wäre — weder für die Aussicht im sogenannten »Kampf«, den starkmutige, aber schwachsinnige Anhänger fordern, noch zur Selbsterhaltung, deren Notwendigkeit sie vielleicht einsehen: indem ein solcher Versuch der Bewährung,  wenn er geistig überhaupt möglich wäre, weder hinreichenden Schutz des Kämpfers ermöglichte, noch, worauf es doch gewiss ankommen soll, Hilfe für die Bedrohten; im Gegenteil eher Vermehrung aller einschlägigen Gefahr. Das Wesentliche der Begebenheit erschöpft sich ja geradezu in dem Zwang, den sie dem Betrachter auferlegt; und eigentlich bleibt kein anderer  Weg, ihre akute Wirksamkeit einzudämmen, als der der geistigen Entfernung: um nur ja nicht an den Zufall zu stoßen, der als der wahre Führer im Chaos über Geister und Leiber raubvogelartig plant und richtet. Da hat die Phantasie des Menschenfreundes es mit der des Erpressers aufzunehmen und tatsächlich eine »Rücksicht« zu entwickeln, die etwa uns, als Vertriebsstelle der Fackel, eben alles vermeiden und versagen lässt, was den (ahnungslosen und ausgesetzten) deutschen Leser zum Merkziel der Betrachtung machen könnte. Schon dass hier ein Verlust — zunächst freiwillig — bewirkt ist, der das Dasein einer Zeitschrift verlagsmäßig gefährdet, stellt sich der Reklamierende nicht vor, und der radikale Lump ahnt nichts  von dem radikalen Unterschied zwischen ihm — aus dessen »Kampf« sich die Vorstellung, die er selbst nicht hat: von Geisel und Geißel, zu furchtbarer Fernwirkung verwirklicht — und dem Autor der Letzten Tage der Menschheit, der zwar Mut genug hatte, sich der legitimen Gefahr der Kriegsgewalt zu stellen, aber zu feige ist, den andern, den Unschuldigen, den  Unbekannten dem nämlichen Grauen auszuliefern, dessen Gestaltung er ihm vorerst zur Lektüre überlässt. Was ist denn der Gräuel größtes: eine Menschheit, die sie begeht; eine, die sie  nicht glaubt, weil sie sie nicht sieht; oder eine, die sie nur glaubt, während sie sie meldet, und der Konsequenz ihrer Vermehrung geistig nicht gewachsen ist? Sonst könnte sie dem Blut, das aus Papier aufbrach, nicht mit eben diesem zu imponieren glauben. Sonst würde sie sich mit der nützlichen und unerlässlichen Funktion, Tatsachen zu sammeln, begnügen, nicht  aber gegen Tod und Teufel unzulänglich polemisieren und dem, der seinem Vorrang nicht Wert noch Wirkung zuschreibt, nicht mit einer durch keine Katastrophe zu erschütternden Frechheit und Flachheit begegnen. Sonst würde sie verstehen, dass sein Rückzug moralische und gedankliche Motive hat, die nicht hinter, sondern über ihrer dürftigen Front walten; dass  er vermeintliche Mitkämpfer, der zwar nicht »beim Heraufziehen des Gewitters Offenbachlibrettos vorgelesen« hat, der Zeit seine tiefere Verachtung bewiese, wenn er mitten drin  ihren Stoff im Hohn einer Geniemusik auflöste, als wenn er in diesem grässlichen Dschungel von Pressalien und Repressalien, an der überwältigenden Unmittelbarkeit des heillosesten  Stoffes die Sprache ihre Ohnmacht erleiden lässt. Dass er, dem das Wort entschlief, bis dahin und dann noch im Traum mehr Einfälle zur täglichen Wirklichkeit hatte, als alle Marodeure ihm in dieser Lage stehlen könnten, dürfte doch wohl glaubhaft sein. Aber so hart die Vorenthaltung des Gedruckten sein mag und so unerwünscht der Zwang, zur Aktualität nur alte Wendungen der Fackel und eben jener Letzten Tage der Menschheit zu gebrauchen, deren pazifistisches Arsenal bald ausgeplündert sein wird — der Entschluss zu schweigen ist unumstößlich: sofern er den Verzicht auf den »Frontalangriff« Schulter an Schulter mit jenen bedeutet, deren Mut in der Unverantwortlichkeit besteht. Er entspricht der Erkenntnis,  dass ein Werk unmöglich wäre, das ihrer Forderung genügte, weil es bloß besser sein könnte als alles, was sie selbst leisten und was — Ehre dem Ehre gebührt — um des Minus willen wirksamer ist. Die ermüdende Dummheit eines Postulats, das gleichermaßen von der Unterschätzung des Übels wie von der Überschätzung des Polemikers eingegeben ist, kommt sich  besonders zugkräftig vor, wenn sie die »Haltung von heute« zu der Mutentfaltung von dazumal kontrastiert, und fast würde es ihr gelingen, dem Leser, den man leicht so blöd machen  kann, wie der Schreiber schon ist, mangels jeder andern Vorstellung zu der Illusion zu verhelfen, dass der Autor der Letzten Tage der Menschheit einen Sturmangriff gegen Armeen  unternommen habe, während er in Wahrheit bloß mit Zensoren zu ringen hatte, die nicht nur im Vergleich mit den Geisteswächtern des Dritten Reichs, sondern auch mit den Freiheitlern, die ein Nichterscheinen unterdrücken wollen, Kulturmenschen waren. Sie waren nicht ganz ohne Verständnis für die geistige Muthandlung, für das Verdienst, das darin bestand, dass einer als erster und allein gegen den Feind Vaterland kämpfte — denn erst jetzt führt es den »heiligen Verteidigungskrieg«! — und vor allem gegen eine Armee von Kriegsbarden, die später Revolutionäre wurden und ihn  heute in die Front gegen ein Unheil optieren oder pressen möchten, das, jedenfalls als Kampfthema, mit dem damaligen gar  nicht zu vergleichen ist; an dessen Einbruch sie mitschuldig sind und das mit dem Wort zu besiegen höchstens der Phantasie des Hohlkopfs gelingen könnte. Der Krieg gegen den  Kriegsgeist war ein Kinderspiel, verglichen mit der Aktion gegen ein Wesen, das, wäre es selbst nicht mit solcher Fragwürdigkeit einer Kampfgenossenschaft verbunden, in seiner  totalen oder totalitären Einfalt hundertmal abgründiger ist als alles, was zwischen Wahnschaffes und Schwarz-Gelbers sich damals angeknüpft hat, um heute aufzubrechen.

Nichts bleibt von dem Unsäglichen, als es nicht zu sagen und höchstens, wenn es gelänge: dies zu sagen. Das ist viel. Denn nichts gibt es, was im Umkreis des Primitiven — das Leben ist  auf die Formel seiner Rettung gebracht — nicht problematisch geworden wäre, und so einfach wie es sich die Gegentröpfe vorstellen, ist nicht einmal ihr Fall selbst. So mag, was sich  hier mit gebührendem Respekt vor einem Naturereignis indirekt ausspricht, gleich auch durch die mittelbare Form zu denken geben, deren Wahl zu weltgeschichtlichem Anlass und für  weltanschauliche Dinge die Vorstellung des Kämpfers vorweg ernüchtern soll, der sein notorisches Ich zurückzieht und hinter dem bequemen Wir verbirgt, welches aber nicht die Majestät der öffentlichen Meinung, sondern nur den Verlag der Fackel vorstellt. Denn ihr Herausgeber hat, da ihm die Weltgeschichte zu dumm wurde — wie der Wunsch, sie zu  meistern —, es einfach uns überlassen, mit den gesinnungsmäßigen Ansprüchen einer Zeit fertig zu werden, die sich noch immer nicht als Frist erkennen will; mit dem Plunder einer  Freiheit, durch deren Gunst das Leben so wohlfeil wurde wie das Denken. Unsere Aufgabe ist umso schwerer, als sie dem Wesen einer Administration widerstrebt, und nur weil diese  wegen des Nichterscheinens der Fackel unbeschäftigt ist, konnten wir jene übernehmen. Der Autor will sie besorgt haben, bevor er sich seiner Passion zuwendet, das zu tun, wovon  andere durch andere Sorgen abgelenkt sind: im Spiegel der Sprache zu fechten; in ihm die Schuldigen zu erkennen, an der Missform und dem Verrat der Schöpfung, der sie verrät, in  einem Abbild der Untergründe, worin Rechts und Links sich nicht mehr sondern. Denn wenn dem Ereignis überhaupt ein Sinn innewohnt, so ist es, meint er, nicht der der Hoffnung, dass  auf der tabula rasa die neue Schrift erstehe. Nur der: Vorwort zum Nichts zu sein, welchem ein Geisteswesen zustrebt, das sich mit unreiner Intelligenz eingelassen hat. Kein unreiner Tor wird es erretten — meint er —, der mit ihren eigensten Mitteln von Technik und Tinte zur Herrschaft kam. Was immer für Ideale den Lebensgeschäften da und dort vorgewandt sein mögen, vom Humanitären bis zum Heroischen, von der Freiheit des Büros der zweiten Internationale bis zu einem Nationsbegriff, mit dem man im Käfig das Hirn des Kanarienvogels  füttern könnte — es wird letzten Endes (bis dieses eintritt) darauf ankommen, auf der Flucht aus der Zeit den Steckbrief gegen die Verfolger zu erlassen, den die Sprache selbst diktiert  und der ihnen darum unverständlich bleibt. Denn solange die ultima ratio des Teufels, die Natur zu vergiften, noch abwendbar ist, hat das Denken nicht aufgehört; nur soweit es den  Teufel selbst betrifft, meint er. Wenn auf dem Fußbreit Leben, zwischen Phrasen und Gasen, statt des freien Entschlusses zur Selbstverblödung noch etwas satirische Laune Spielraum  hat, so möchte sie sich wohl gleichermaßen dem Phänomen hingeben, wie die geschlagene Freiheit den Verlust der Freiheit ertrug, und die sieghafte Nation das Opfer der Sprache. Er weiß nicht, ob dies und das zu den kleinen Themen gehört, die der Fackel ihr Lebtag zum Vorwurf gereicht haben und zu denen die Erwartung kontrastiert, deren Schmeichelgift sie nun widersteht. Was immer aber an diesem Punkte der Entwicklung geleistet werden kann, wird den Ansprüchen gegenüber, die so späte Überschätzung behauptet, als der Entschluss  wirken, beim Weltuntergang zu privatisieren. Und doch bleibt es ein Gegenstand, noch späterer Schätzung vorbehalten: der große Vorwurf, der der Zeit zu machen war und den sie sich durch leidenschaftliche Gewöhnung an die Presse wie kraft gänzlicher Unwirksamkeit der Fackel verdient hat.

Das alles verstehen Sie natürlich nicht, und auch nicht, wenn es Ihnen einfach damit erklärt würde, dass Gewalt kein Objekt der Polemik, Irrsinn kein Gegenstand der Satire sei und dass  Ihr Zeitkämpfer, den Sie sich ganz anders vorgestellt haben und der nun vor der Beweiskraft der Bombe resigniert, bloß noch gegenüber einem Missvergnügen Anhang Mut gewinnt,  indem er Satire gegen Dummheit und Polemik gegen Frechheit aufbietet, und selbst dies nicht von Mann zu Mann. Dies wäre ja schon darum schwierig, weil die Widersacher, die das  Mutproblem aufrollen, unter Spitznamen wirken — wobei sie sich vielleicht auf den Sinn eines »nom de guerre« berufen können —, wie zum Beispiel jener »Arnold«, der sichtlich von  einem Winkelried zurückgeblieben ist, so dass die Gasse der Freiheit schon etwas Anrüchiges bekam; und der im gerichtlichen Ernstfall sich von einer verantwortlichen Dame vertreten  ließ. Was hätte unsereins auf solcher Barrikade, die zur Not als Verkehrshindernis in Betracht kommt, zu suchen? Doch vor allem trägt man ja, zaghaft wie man ist, Bedenken, sich  persönlich auf ein Niveau der Debatte zu begeben, auf dem so ein er, sie oder es sich bewegt, ja man verleugnet überhaupt nicht einen gewissen Widerwillen vor der Nötigung einer  Rechenschaft in geistigen und zugleich so persönlichen Dingen, vor der Zumutung, das Einmaleins mit einer Zeit- und Raumgenossenschaft abzuhandeln, die man doch lieber noch für  die Vergangenheit kündigen als für die Gegenwart beziehen möchte. Der »ehemalige Redakteur der Fackel« kann sich zwar nie hinter ein Pseudonym zurückziehen, wohl aber hinter den Paravent, der ihm seit jeher eine starke satirische Aktivität ermöglicht hat, die er bei solcher Gelegenheit und gegen solchen Partner sonst nicht aufbrächte. Er kommt sich, wenn er so  den Geschäftsträger vorschiebt, wie jene »Frau von Schimmerglanz« bei Nestroy vor, die auf die Frage des Holzhackers: »Gehn Euer Gnaden vielleicht um a Holz?« die Antwort erteilen läßt: »Sage er ihm: Nein!«. (»Nein, wir nehmen’s vom Greisler«, versetzt der Bediente mit  analoger Herablassung, und damit ist die Sache erledigt, nur dass wir es noch ausführlich begründen.) Gewiss, groß ist die Enttäuschung, dass die Sprache, die einer nach alter Überlieferung und Anerkennung durch Analphabeten »beherrscht« (weshalb er geschwind ausdrücken soll, was sie sich denken), kein Bollwerk mehr sei, sondern bloß ein Asyl. Es stellt  ich heraus, dass sie die »Abenteuer der Arbeit« für Zeitvertreib gehalten haben und deren Opfer für einen Journalisten. Doch können wir ihnen (Ihnen) versichern, dass »in  sprachzerfallnen Zeiten im sichern Satzbau wohnen« auch keine Zuflucht mehr gewährt, seit eben dort die Schlieferl eingezogen sind und sich als Aftermieter selbständig gemacht  haben — davon zu schweigen, dass sie noch dann das »Wort« reklamieren, um es zu verhunzen.

Und man soll ihnen zusammenfassend das sagen, was sie einem inzwischen vorabgeschrieben haben. Daraus wird nichts! Ja bei allem Vorrat zeitgemäßer und zeitgegnerischer  Gedanken, mit dem eine Generation von Dieben zu versorgen wäre, reichte die psychische Lust nicht einmal zur Absage — wenn es nicht noch im Untergang Normen und Formen gäbe.  Staunen Sie nur über den heitern Hochmut, mit dem einer selbst in dieses Stadium der Entwicklung die Ironie der Distanz einlässt. Hinreichend verdächtig durch den Umstand, dass er  dem Scheiterhaufen entgangen ist — wiewohl es gewiss manches für sich hat, nicht mit Tucholsky verbrannt zu werden —, lässt er den Inquisitoren der Freiheit durch den Verlag der Fackel bekennen, dass er auch anders kann, als sie möchten. Das Moment der Stellvertretung — wie immer es zu deuten wäre, das heißt: wer hier wessen Stelle vertritt —, es entspricht  ganz dem polemischen Maß, das uns der Herausgeber der Fackel stets auferlegt hat, sooft er es sich aufzuerlegen wünschte und sobald ihm das Objekt die Vorsicht empfahl, sich hinter  uns zu verschanzen. Er ist trotz seinem Renommee eines Angreifers weder in der Lage, es mit dem ‚Angriff‘ noch mit dem ‚Gegenangriff‘ persönlich aufzunehmen. Immer, wenn ihm  etwas zu dumm wird, schiebt er uns vor und überlässt uns so den Stolz, auf eine Sammlung von Satiren zurückzublicken, die er neidlos für ungleich wertvoller hält als alles, was er in der  Ich-Form geschrieben hat, in der er sich überhaupt nicht so wohl fühlt wie diejenigen vermuten, die auf seine Eitelkeit bauen. Mit weit mehr Recht könnten sie ihn, der so sein Ich versteckt, für feige halten, für gleißnerisch, tückisch oder auch kindisch, weil er zwar selbst in dieser Form von sich spricht, aber per »er«. Dieser ungünstige Eindruck wird jedoch  durch unsere beglaubigte Unterschrift ein wenig verwischt, und auch was den Inhalt betrifft übernehmen wir die volle Verantwortung, die er trägt. Indem die Trennung der Ressorts bei der Fackel (welche so lange schon a non lucendo so heißt) ganz anders durchgeführt ist als bei anderen Druckschriften, mögen Sie überzeugt sein, dass wir, die im Besitze jedes  Redaktionsgeheimnisses sind — während der Herausgeber noch niemals in unsere Administration Einblick genommen hat —, alles sagen können, was wir über seine Beweggründe  wissen. Wir hoffen es so zu sagen, dass Sie am Ende schwören werden, dieses Schreiben sei in Vertretung des Verlags der Fackel von deren Herausgeber verfasst. War es nicht bisher  schon unverständlich genug? Wir können aber auch plaudern, und ausplaudern, dass schon so mancher Zusender an dieser Art der Abweisung Ärgernis genommen hat, ja einmal hat einer sogar gefunden, dass sie seiner geraden Natur widerstrebe, nach der er gewohnt sei, jedem ins Auge zu schauen — gewiss ein Vorzug vor dem Herausgeber der Fackel, der zwar vor  tausenden kein Lampenfieber kennt, aber immer noch verzagt wurde, sobald er einem einzigen Shakespeareübersetzer ins Auge schauen sollte. Außerdem wäre zu bedenken, dass es  manch ein Inkognito gibt, das selbst nach erfolgter Lüftung ein solches bliebe, während dem Autor der Fackel keine »Tarnung« hilft. Ferner wäre der Vorsprung kaum zu übersehen,  den mancher Kämpfer schon vermöge seiner Nase hat, die ihn geradezu zwingt, mit offenem Visier zu kämpfen. Der Herausgeber der Fackel, als Haudegen überwertet, verschmäht  solches gerade in Fällen, wo er der üblen Nachrede, ihm fehle es gegenüber der akuten Gefahr an Mut, satirisch entgegenkommen will, indem er darin ein Motiv der künstlerischen  Gestaltung erblickt. Denn nichts geht ihm über diese und indem er noch auf der Flucht um sie besorgt ist, ist ihm tatsächlich selbst ein Komma wichtiger als der »Kampf«, ja als die  Ehrensache einer Stellung zum »Mutproblem«, dem er keineswegs ausweichen, aber sowohl das Rauhe wie insbesondere das Heikle nehmen möchte, welches doch immer der  Diskussion anhaftet, wenn man persönlich darüber aussagen soll, ob man ein Feigling ist oder nicht. Warum sollte da nicht der schon so oft ins geistige Vordertreffen gesandte Verlag der Fackel eingreifen, der den Fall doch kennt; der die Frage: »Wann erscheint —?« unmittelbar empfängt; und dessen Intervention in allen Lagen nun einmal als ein Genre beglaubigt  ist, mit dem sich die künftige Literaturforschung, falls es eine geben sollte, wird befassen müssen und worin auch für den Kulturforscher die vorzügliche Hochachtung zum Ausdruck  kommen wird, die dem angebrochenen Jahrhundert gebührt hat, mit welchem man sonst nichts anzufangen wüsste. Schließlich, ja letzten Endes wird sich in dieser Abschiedsformel das  Bestreben nach äußerster Verfeinerung einer Verkehrsform ausgesprochen haben, die bei der Nation im Schwange war und deren Ausdruck ihr — im Gegensatz zum »Lebt wohl!«  (Iphigenie) — als die einzige Willenserklärung ihres größten Dichters vorgeschwebt hat, die übrigens auch nicht direkt, sondern durch eine Mittelsperson bestellt wird. Selbst nun auf die Gefahr hin, dass Sie, sehr geehrter Herr, an solcher Beziehung Anstoß nehmen könnten, welche keineswegs eine persönliche Spitze hat, kann der Satiriker — dem es ja von der Natur  noch weit mehr gegeben ist, über die Dummheit zu lachen, als die Schlechtigkeit anzuklagen — doch nicht umhin, auch diesmal, wo es nicht die Kalamität einer ‚Literarischen Welt‘,  sondern die Katastrophe der Welt betrifft und der Adressat in der Gasse der Freiheit wohnt, zwischen ihn und sich unsere Firma einzuschieben, da es sich ihm in dieser Form leichter  konversiert und umso mehr, als er stumm zu bleiben wünscht. Es ist ein Spiel der Einkreisung des Gegners und seiner ganzen Sphäre, das der direkten Aussprache, die immer etwas Brutales hat, vorzuziehen ist und schon von Eduard VII. gegenüber den Mittelmächten angewandt wurde. Es ist — bis man sich wieder mit Kleinigkeiten wie Shakespeare, Einfassung des
deutschen Verses in die Offenbach’sche Musik und so Dingen der Sprache abgeben kann — eine Art, um die Winkelriedforderung (Arnold) herumzukommen und vor den Spießruten der  Dummheit zu lustwandeln.

Aber wenn man sonst gern in kleinem Druck beigab — der als solcher schon die Lust nährt, mit der Welt Verstecken zu spielen (es ist noch nicht aller Glossen Abend!) —, so muss doch diesmal, wo Schweigen wieder einer großen Zeit antwortet, auch dem Auge gedient sein. Wir wären ja keineswegs so unbescheiden, den »Kampf« als solchen für den Herausgeber der  Fackel zu übernehmen, wiewohl er sich schon durch dieses Wort außer Gefecht gesetzt fühlt. Wir wollen Ihnen nicht einmal die entmutigende Wirkung beschreiben, die jener »Kampf«  auf ihn hervorgebracht hat, der seit dem Weltkriegssterben, durch die sogenannte Revolution hindurch, und besonders seit der endgültigen Niederlage, von der freiheitlichen Publizistik geführt wird, indem zwar der Wilde schon an den Mauern tobt, aber der Dumme noch in den Redaktionen. Wir können Ihnen höchstens verraten, dass ihm nicht nur die  Vergeudung von Papier, die solcher Zeitvertreib erfordert, sondern insbesondere die Vorstellung dessen, was mangels eben dieser von ihm selbst verlangt wird — denn er soll »vorkämpfen« —, beinahe das schwere Magenleiden zugezogen hätte, das vielfach als Erklärung seiner Passivität angenommen wird, weil man sich das Rätsel ja sonst gar nicht erklären  könnte. Diese wohlwollende Deutung — denn dass er vor akustischen Gespenstern davonlief, würde niemand glauben — musste schließlich oder letzten Endes zu Gerüchten führen, auf  Grund deren die Presse in aufopfernder Erfüllung ihrer traurigen Berufspflicht sich entschloss, Personen, die dem Verschollenen nahestehen und bei denen offenbar Details zu haben  waren, mit der telefonischen Erforschung seines Ablebens aus dem Schlaf zu wecken, was gewiss nicht geschehen wäre, wenn man bloß plötzlich eingetretene Feigheit als Ursache des  Verstummens vermutet hätte. Das begann in einer Nacht von Sonn- auf Montag, »in solcher Nacht«, wo der Chroniqueur auf Ehebrüche, Attentate, Lustmorde an Mitgeboten,  Zwietracht in Staat und Familie lauert und zur Not mit dem Hingang eines stadtbekannten Satirikers vorlieb nähme, der sich ausgeschrieben hat. Der Verstorbene selbst wurde aus Furcht vor einem Lebenszeichen nicht geweckt; bloß sein Hausbesorger, der aber nicht informiert und mit Recht grob war.

Doch selbst wenn der Optimismus der Presse durch den Fall Nahrung fände, für den sie bereit ist, ihr Totschweigen zu brechen, würde der Herausgeber der Fackel uns nicht letztwillig mit seiner Stellung zu Göring belasten, die so lebhaft, und vielleicht gerade von seinen Todfeinden, begehrt wird, und von der wir nur sagen können, dass er sie lieber als  Redaktionsgeheimnis mitnähme in das Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, ehe er einen Leser verleiten wollte, sie dorthin zu bringen, wo es gleichfalls passieren kann. Die  Sehnsucht nach dem kräftigeren Ausdruck dessen, was jeder und vermutlich Göring selbst schon weiß, ist auf jenen schmeichelhaften Drang zurückzuführen, der nun einmal der lokalen Menschennatur innewohnt, welche sich nur schwer die Gefahren der Nachbarschaft vorstellt, nicht glaubt, was sie nicht vor Augen hat, und selbst wenn sie’s sähe, wahrscheinlich dächte, es werde schon nicht so arg sein. Das ist nun einmal die Spielart, die sich einzelweis für die Ausnahme und vom Zufall protegiert hält; sie will zugleich hören und sich die Ohren zuhalten; in dem Staatsmann, der ausnahmsweise tut, was andere mit dem Maul besorgen, erkennt sie nicht den Lebensretter, sondern den Feind der Redefreiheit, und zum Weltuntergang, wiewohl er in der Fackel sattsam erörtert war, braucht sie halt deren Erscheinen. Es ist ein  Interesse, von dem kaum verwunderlich wäre, dass es jene Eitelkeit genährt hätte, die dieselbe Kundschaft noch lieber in Erscheinung treten sieht; das aber in Wahrheit überhaupt  nichts nährt als Grausen und die Erkenntnis eben der Phantasiearmut, die dem Verderben die Bahn gebrochen hat und den Zug des Unheils beschleunigt. Wie sollte denn, wenn das  Objekt schon den »Kampf« ermöglichte, der Anreiz entstehen, sich als Kämpfer für ein Milieu zu opfern, das alle Sorge und Sachlichkeit herabsetzt, »Mut«, der im Staatsleben am Platz ist und so sichtbar wird, dass die Maultrommler endlich verstummen müssten, verkleinert und dem Todfeind mit der Erwartung entgegentritt, er werde auf Gallert beißen! Zum großen Thema des Aufbruchs der Hölle versagt mit leidenschaftlicher Feigheit der, dessen Werk vergebens getan war: den Teufel an die Wand zu malen.

Ende Seite 33. Fortsetzung folgt.

 


Mein Widerspruch. Von Karl Kraus

01. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR 1927 XXVIII. JAHR


S.36

Mein Widerspruch

Wo Leben sie der Lüge unterjochten, war ich Revolutionär.

Wo gegen Natur sie auf Normen pochten, war ich Revolutionär.

Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.

 

Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten, war ich Reaktionär.

Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten, war ich Reaktionär.

Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.


Kaiser Wilhelm II. „Der Weltmord war ein Trunkenheitsdelikt.“ Von Karl Kraus

29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Wilhelm II

Karl Kraus verlas in Innsbruck schier unglaubliche Augenzeugenberichte über Wilhelm II. Kaiser von Deutschland, den Mitinitiator des ersten Weltkrieges. Er ging nach dem Krieg ins Exil nach Holland, tat so, als wäre nichts gewesen, und niemand zog ihn je zur Rechenschaft.

Die Zeitung schreibt: Große Skandale bei einer Karl Kraus-Vorlesung in Innsbruck.

Der Korrespondenz Herzog wird aus Innsbruck telegraphiert: Bei einer Vorlesung, die der Schriftsteller Karl Kraus gestern Abend hier hielt, kam es zu einem ungeheuren Skandal. Als Kraus aus seiner Schrift »Die Letzten Tage der Menschheit« einige Kapitel vorlas, kam es bei der Verlesung des Vortrages »Kaiser Wilhelm mit seinen Generalen« zu furchtbaren Lärmszenen. Von der Galerie herab ertönten Pfuirufe  …

Fakt ist,  dass die vorhergehende Meldung  bis auf die Tatsache der Vorlesung frei erfunden war, vielmehr waren die Zuhörer sprachlos von dem Gehörten. Das hätte die Presse, das hätten die Unbelehrbaren gern anders gehabt. Man lese im Folgenden selbst.

Die folgende „Würdigung“ sollte in die Geschichtsbücher, denn bei zu vielen ist die Botschaft über diesen Versager auf dem Kaiserthron noch nicht angekommen. Die  Hervorhebungen wurden hier aus drucktechnischen Gründen  etwa wie in „Die Fackel“, aber „fett“ abgedruckt. Die unten erwähnte  Szene „Wilheln und die Generale“, wurde in „Die letzten Tage der Menschheit“ veröffentlicht.

DIE FACKEL

Nr. 531—543 APRIL 1920 XXII. JAHR S. 196 -306

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…Ich habe ihnen gesagt, dass ich den Berichten entsetzter Augen- und Ohrenzeugen manche Anregung zu der Szene »Wilhelm und die Generale« verdanke. So die widerwärtige Frage an den einen Flügeladjutanten, seinen erotischen Geschmack betreffend, die in Donau-Eschingen gesprochen ward und für die nicht Wilhelm, sondern ich ein Pornograph genannt wurde; sie war, als Eingriff in eine eheliche Intimität, noch weit abscheulicher als die an einen erfundenen Namen geknüpfte Wendung. Ferner jenen scherzhaften Fußtritt für den andern Flügeladjutanten, der sich in Schönbrunn ereignet hat, und zwar im Beisein Franz Josefs, des Prinzregenten und von allem was dazu gehört, auf der Szene des höchsten Zeremoniells, das sich die untertane Phantasie ausmalt, vor den verblüfften Vertretern aller Höfe. Ich habe nichts als den Schauplatz dieser Grässlichkeiten verändert, ihn ins deutsche Hauptquartier verlegt und die Rüpelszene mit dem Bombast der Gottesaufmachung kontrasthaft verbunden. Das Material zu dem eigenartigen Unfug, den ich den gekrönten Tollhäusler mit seiner Generalität treiben lasse — die heute kaum die Unbefangenheit aufbringen wird, als das letzte, was ihr geblieben ist, ausgerechnet die Ehre vorzuweisen — entstammt dem Werk »Der Seekrieg« von Kontreadmiral Persius (Verlag der Weltbühne, Charlottenburg 1919), aus dem ich hiermit die folgenden Stellen zitiere:

— — Die schon vorliegenden Veröffentlichungen und die sicherlich noch zahllosen nachfolgenden über Wilhelm den Zweiten werden auch Dem, dessen Blick bisher byzantinisch verschleiert war, klar machen, dass von Pflichttreue, ernster Auffassung seiner Stellung und dergleichen nicht die Rede sein kann. Krasser Materialismus war die Triebfeder für fast jede Handlung des Exkaisers. — —

— — Der Gedanke, dass Wilhelm der Zweite, einer seiner Söhne oder sein Bruder Heinrich ernste Arbeit leisten könnten, ist einfach absurd. — —

— — Die guten Eigenschaften der meisten Mitglieder des Seeoffiziercorps wurden durch den übeln Einfluss Wilhelms des Zweiten vielfach ertötet. Kriecherei nach oben, Fußtreten nach unten, ungesundes Strebertum, Genusssucht, Bombastereien wurden durch ihn großgezogen, und dem Material hat er durch sein Dreinreden in die Kriegsschiffkonstruktion unendlich geschadet. Unter dem Motto: »Mehr scheinen als sein« entstand so mancher Kriegsschiffbau. Es war im Königlichen Schloss zu Berlin, am 25. Februar 1905: ich war aus Ostasien in die Heimat zurückgekehrt und hatte Wilhelm dem Zweiten die Abgabe meines Kommandos zu melden. Ich erzählte ihm, dass die Chinesen mein Schiff mit geringschätzigen Augen betrachtet hätten, weil es nur Einen Schornstein führte. Schiffe mit mehreren Schloten, auch wenn sie schwächer armiert waren, hätten sich der Achtung dieser Kinder in weit höherm Maße erfreut. »Nein, nein, so ists überall, nicht nur in China«, wurde ich unterbrochen. »Die Menschen wollen Sand in die Augen gestreut bekommen. Klappern gehört zum Handwerk, das sage ich Tirpitz immer. Powerful, powerful muss solch ein Kasten ausschauen. Das ist die Hauptsache.« — —

Im Kreise des Personals der Marine erfreute sich Wilhelm der Zweite keiner Sympathien. Die Offiziere der »Hohenzollern« — die Garde — und ähnliche Günstlinge unterdrückten selbstverständlich jede Kritik, aber sonst wurde offen über den Kaiser geschimpft. Man nahm ihn nicht ernst, wusste, dass er ein Scharlatan war.

Dem Korrespondenten der ‚Daily Chronicle‘ hat Wilhelm der Zweite erklärt, dass seine Generale ohne seine Zustimmung gemacht hätten, was sie wollten. Das taten sie, und das taten mehr oder minder alle Offiziere bereits im Frieden. Die zahllosen Allerhöchsten Kabinettsordres wurden mit einem Lächeln gelesen und beiseite gelegt. Niemand richtete sich danach. »Je mehr Luxus und Wohlleben um sich greifen, umso mehr hat der Offizier die Pflicht …« Wer kennt sie nicht, alle die leeren Worte! Luxus und Wohlleben wurden im Offiziercorps durch Wilhelm den Zweiten großgezogen.

Wilhelm der Zweite hat — wenn auch nur »mit dem Munde« — unsre Flotte geschaffen, leider, denn sie war der ureigenste Grund des Krieges und unsrer Niederlage. Ohne unsre Flotte hätte sich Großbritannien niemals unsern Feinden gesellt. Aber was tat nun Wilhelm der Zweite im Kriege für die Flotte? Er erschien oft in Kiel und Wilhelmshaven und hielt Ansprachen. Nach der Schlacht vor dem Skagerrak sagte er, am fünften Juni an Bord des Flotten-Flaggschiffs in Wilhelmshaven, zu der Abordnung der Mannschaften sämtlicher Schiffe: »Die englische Flotte wurde geschlagen. Der erste gewaltige Hammerschlag wurde getan, der Nimbus der englischen Weltherrschaft ist geschwunden. Ein neues Kapitel der Weltgeschichte ist von euch aufgeschlagen. Der Herr der Heerscharen hat eure Arme gestählt, hat euch die Augen klar gehalten. Kinder, was ihr getan habt, das habt ihr getan für unser Vaterland, damit es in alle Zukunft auf allen Meeren freie Bahn habe für seine Arbeit und seine Tatkraft …«Ein sehr loyaler, äußerst königstreuer alter Seeoffizier, der die Schlacht mitgemacht hatte und bei der Rede anwesend war, sprach bald darauf die folgenden Worte: »Wir lagen mit unsern arg zusammengeschossenen Schiffen am Bollwerk. Die vielen Toten und Verwundeten wurden an Land geschafft. An den Kais standen die schwarz gekleideten Angehörigen, Frauen und Kinder weinten herzzerbrechend. Uns war gar nicht siegestrunken zu Mut. Wir wussten, dass dies die erste und letzte Schlacht gewesen war, die wir schlagen konnten. Unerhörtes Glück hatten wir gehabt, undenkbar, dass es noch einmal so gut für uns abgehen würde. Da kam der Kaiser an Bord, sehr aufgekratzt, übersät mit Orden, umgeben von seinem großen Gefolge, das lachend gnädigst rechts und links Händedrücke und Glückwünsche austeilte. Die bombastische Ansprache des Kaisers, der ganze Zauber war mir so widerwärtig, dass ich mich schüttelte. Ich ziehe die Uniform aus, sobald es möglich ist.«

So also war die Wirkung »kaiserlichen« Gebarens! Überall verscherzte sich Wilhelm die Sympathien; von Keinem, der sich ein bisschen Rückgrat bewahrt hatte, konnte er geachtet werden.

In einem norwegischen Hafen wars. Wilhelm kehrte an Bord zurück. Wir Offiziere standen am Fallreep zur Begrüßung. Wilhelm stieg »high spirits«(d.h. betrunken. Anm. d. Red.) die Treppe herauf. Er schwankte ein wenig. Wir konnten ein despektierliches Lächeln nicht unterdrücken. Wilhelm bemerkte es und rief mit einer drastischen Handbewegung:
»Was, Ihr verf… Kerls, wollt Ihr euern Obersten Kriegsherrn auslachen? Ich werde euch …«

Ein Kreuzer hielt Schießübungen ab. Wilhelm an Bord. Heiterer Sonnenschein, warmes schönes Wetter. Wilhelm war in bester Laune. Hier und dort, wie er das bei solchen
Gelegenheiten liebte, teilte er mit seiner starken rechten Hand Schläge aus an — Bevorzugte, ulkte überall herum. Sein Leibmedicus, der
Generalarzt … stand auf der rechten Seite der Kommandobrücke, am hintern Geländer. Dem alten Herrn war das lange Stehen wohl beschwerlich. Traumverloren schaute er,
hintenüber gelehnt, aufs glitzernde Meer, in den blauen Himmel und ließ sich wohlig von der warmen Sonne bescheinen.
Da sprang Wilhelm auf ihn zu, griff ihm mit der rechten Hand zwischen beide … und rief ihm einige Worte zu, die ich, weil ich einige Schritte entfernt stand, nicht genau hören konnte. Der arme Generalarzt taumelte vor wahnsinnigem Schmerz und krampfte sich an das Geländer, um nicht niederzusinken. Kreidebleich war er geworden. Wilhelm war anfangs in ein tolles Gelächter ausgebrochen, wandte sich aber, als er die Wirkung seines Zugriffs sah, stumm ab und ging auf die andre Seite der Brücke. Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es war ein höchst übler Scherz und ein unanständiger, besonders zu verurteilen, weil das Signalpersonal und verschiedene Matrosen den Vorfall mit ansahen.

Auf einem Schiff, mit dem Prinz Heinrich längere Zeit auf der ostasiatischen Station geweilt hatte, gab es bei der Heimkehr in Kiel Inspizierung durch Wilhelm. Es war im März
und das Linoleum auf der Kommandobrücke schwitzte bei der feuchten Witterung viele dicke Tropfen aus. Wilhelm war in übermütigster Laune und Riss einen Witz nach dem andern. Sein Flügeladjutant Admiral … stand vor ihm, mit dem Rücken zu ihm. Plötzlich sauste die rechte Hand Wilhelms mit aller Wucht auf des Admirals hintere Front nieder, so dass dieser sich vor Schmerzen krümmte. »Sind Sie verrückt geworden? P…. Sie mir doch nicht immer auf die Stiebeln«, schrie Wilhelm ihn an. Die breite große Kommandobrücke des Panzerkreuzers war voll von Offizieren, Unteroffizieren und Matrosen, die das Schauspiel grinsend mit ansahen. Kann Jemand ermessen, was solch ein Gebaren Wilhelms für einen Offizier bedeutete, der mit heißer Liebe an seinem Beruf hing, der loyal seine Kräfte in den Dienst seines Obersten Kriegsherrn zu stellen bemüht war? Nur Der kanns, der sich in ähnlicher Situation befand. Der weiß, wie einem der Ekel in den Hals stieg, wie man Jenen, der einem alle Begeisterung vernichtete, hätte anspeien mögen. Mir war an dem Tage die Freude über das Wiedersehen mit der Heimat geraubt. Als wir Offiziere am Schluss der Inspizierung, bevor Wilhelm von Bord ging, zusammen mit ihm für die ‚Woche‘ photographiert wurden, barg ich meinen Kopf hinter den Rücken eines Kameraden — ich wollte nicht mit S. M. auf einem Bild erscheinen. Und solche Fälle waren keineswegs Ausnahmen. Wie häufig machte man sich im engern Kameradenkreis Luft mit Worten wie: »Dieser Idiot!« oder: »Den Kerl kann ja kein Mensch ernst nehmen.« Und obgleich nur Eine Stimme über Wilhelm herrschte, obgleich alle ältern Seeoffiziere darin einig waren, dass er die Flotte und das ganze deutsche Volk dem Verderben zuführe, fand sich Niemand, konnte sich unter den obwaltenden Verhältnissen Niemand finden, der den Mut zur rettenden Tat aufgebracht hätte. Erst die Tragödie des viereinhalbjährigen Krieges führte zur Katharsis.

Wer mir vorwirft, ich hätte hier übertrieben, dem empfehle ich das köstliche Porträt Wilhelms des Zweiten von Johannes Fischart, das in der ‚Weltbühne‘ erschienen ist. Und wie ein andrer Seeoffizier — Admiral Foß — über seinen Obersten Kriegsherrn denkt, das entnehme man einigen Stichproben aus seinen »Enthüllungen über den Zusammenbruch«. »Wilhelm der Zweite war von vorn herein von der Überzeugung durchdrungen, dass ein durch Gottes Gnade an die Spitze eines Volkes gestellter Fürst Alles könne. Daraus entwickelte sich, geschürt durch eine grade bei seiner Veranlagung besonders verderbliche Vergötterung seitens seiner Umgebung eine schließlich krankhaft gewordene Eitelkeit, die dahin führte, dass er glaubte, die Fähigkeiten zu besitzen, sein eigner Kanzler und Generalstabschef sein zu können. Er duldete keine Einwendungen gegen seine Ansichten und Befehle. Wer sich zu Vorstellungen für verpflichtet hielt, wurde entfernt. So ist es gekommen, dass es schließlich keine aufrechten Männer mehr um ihn gab. Und wenn seine Verteidiger manche der Unbegreiflichkeiten seiner Handlungen seinen Beratern zur Last legen wollen, so muss darauf erwidert werden, dass er selbst daran schuld war, wenn diese nichts taugten. Es fehlte Wilhelm an Charakter. Es ist entschieden irrig, wenn von ihm als einem pflichtgetreuen Mann gesprochen wird. Sein ganzes Tun war nur von persönlichen Launen und Neigungen bestimmt. Überall wollte er mitreden, auch in Sachen, von denen er schon deswegen nichts verstehen konnte, weil er sich ein Urteil nur auf Grund von Studien hätte bilden können, zu denen ihm die dazu erforderliche Zeit und der dazu nötige Fleiß fehlten. Sein Wissen war ganz oberflächlicher Art. Es gab kein Gebiet, in das er sich versenkt hätte. Weder taktisch noch strategisch kam er als Führer in Betracht, weil dazu neben andrer Begabung Nerven gehören, und die besaß er nicht. Alles trieb er in oberflächlicher, spielerischer, dilettantischer Art, ließ eine Sache fallen, die er zuerst mit Feuer aufgenommen hatte, da sie nach kurzer Zeit das Interesse für ihn verlor, oder kümmerte sich nicht mehr um sie, wenn er auf nicht ohne weiteres zu überwindende Hindernisse stieß. Seine Überzeugung, alles zu verstehen, ging so weit, dass er sich sogar an einem vom Reichsmarineamt ausgeschriebenen Wettbewerb betreffend den Entwurf von Plänen für den Bau zu einem Panzerkreuzer beteiligte. Natürlich fehlte ihm dazu die erforderliche technische Bildung, und so wurde ihm ein Techniker als Mitarbeiter und Handlanger zur Verfügung gestellt. Das Unglück wollte aber, dass dieser lange der Praxis entrückte Herr seiner Aufgabe ebenso wenig gewachsen war, und so erklärt es sich, dass, wie bei der Prüfung festgestellt wurde, der kaiserliche Kreuzer umgefallen sein würde, wenn er ausgeführt und zu Wasser gebracht worden wäre. Wilhelm duldete keinen aufrechten Mann in seiner Umgebung. Schon seine krankhafte Eitelkeit erlaubte nicht, dass sich in seiner Nähe ein geistig hochstehender Mann sehen ließ. Er dachte nur an sich und sein Vergnügen. Ein sehr kluger und hoher Seeoffizier sagte im Sommer 1918: ‚Wehe dem Lande, an dessen Spitze ein solcher Feigling steht‘!«

Genügt das? Man erkennt, dass Admiral Foß weit schärfer spricht, als ich es getan. Danach brauch’ ich wohl nichts mehr von der andern Seite hierherzusetzen, von der Partei des Grafen Schulenburg, der »die liebe starke Hand unter Tränen zum letzten Mal küsste«, bevor Wilhelm als Deserteur über die holländische Grenze floh.

Der Admiral Foß ist ein Alldeutscher. Eine Stelle aus dem »Porträt«, auf das Persius verweist, betrifft die von mir verwertete Kaviar-Episode und lautet:

Der Kaiser war, am ersten Juli 1901, auf dem kleinen Kreuzer »Nymphe«, um in der Lübecker Bucht einem Torpedo-Versuchsschießen im Anschluss an die Kieler Woche beizuwohnen. Ein großes Gefolge war an Bord. In den Zwischenpausen der Anläufe kam Wilhelm ins Kartenhaus und erledigte hier Unterschriften. Tirpitz legte ihm die Schriftstücke vor. Als es ihm zu langweilig wurde, blickte er zu dem Offizier neben sich auf:

»Schrecklich, dieser Tirpitz mit seiner Tinte! Ein Glas Sekt wär’ mir lieber.« »Zu Befehl«, schnarrte der Offizier, sprang hinaus nach einer Ordonnanz und ließ eine Flasche besten Heidsieck kommen. (Für den Kaiser musste freilich der französische Champagner mit dem Etikett »Burgeff-Grün« versehen werden, weil er zu glauben wünschte, dass er vorzüglichen deutschen Sekt vor sich habe.) Der Kaiser trank das Glas bis auf einen kleinen Rest aus, ging, impulsiv, auf die Kommandobrücke, rief auf das Verdeck, wo sich das ganze Gefolge in Gala aufgestellt hatte: »Ha — Hahnke, Sie möchten wohl auch Sekt«, und schwippte den Rest auf das Gefolge. »Zu gnädig, Euer Majestät«, stammelten die Herren da unten und verbeugten sich tief. Der Kaiser kam belustigt ins Kartenhaus zurück und verlangte etwas zu essen. Man reichte ihm geröstete Kaviarschnitten. Er schmierte von einer mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Kaviar und die Butter herunter, strich sie sich in den Mund, trat wieder hinaus auf die Kommandobrücke, rief hinunter: »Ha — Hahnke, möchten wohl auch Kaviar haben …!« und warf das leere Stück Brot unter die Hahnke und Konsorten. Ein neues: »Zu gnädig, Euer Majestät« war die devoteste Antwort. Dann erkundigte Majestät sich ganz leise bei dem Offizier nach der Geschwindigkeit dieses Kreuzers und fragte, belehrt, hinunter: »Ha — Hahnke, wieviel Knoten fährt das Schiff in der Stunde?« Und als der Generaloberst stammelnd seine Unkenntnis zugestand: »Ha — Hahnke, wissen auch garnichts. Einundzwanzig Knoten, und Sie sind der zweiundzwanzigste.« »Zu gnädig, Euer Majestät.«

Dies, mit dem Herrn der Heerschaaren im Lästermaul, ist die Gestalt, die die Menschheit regiert und in den Tod geführt hat. Wie? ich habe, als ich sie vorführte, nicht diese, sondern mich in meiner »wahren Gestalt gezeigt«? Sie sahen in Innsbruck »die Mache eines eitlen Menschen, der klug genug war, sich den Anschein eines Gottesstreiters zu geben und so die Besten zu täuschen«? Vielleicht sehen sie sie jetzt! Sie erkannten »die namenlose Geschmacklosigkeit, den Wehrlosen zu treten«, sie wurden sich »mit einem Schlage bewusst«, hier sei einer »ohne Maske«? Ja, wer vermöchte sich denn auch dem Eindruck dieser Szenen an Bord, da eine animierte Majestät handgemein wird, zu entziehen, wer erlebte nicht schaudernd »die ekelerregende Minute der Offenbarung solcher Niedrigkeit«? Welche Enthüllung! Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Millionen starben und dieser Kaiser machte sich einen Jux. Der Weltmord war ein Trunkenheitsdelikt. Aber er war sich dennoch der Tat bewusst. Soweit bewusst: »die Früchte seiner Kälte einzuheimsen, die ihm freilich jede innere Anteilnahme verbot, und seine Eitelkeit damit zu füttern«. Wer sähe es nicht endlich! »Und wer sein von ekelhafter Eitelkeit gesättigtes Gesicht sah, als die Bravorufe seiner Getreuen die Empörung Ehrlicher niederschrieen, wer auf diesem Gesicht, deutlichst für alle, nur die Befriedigung las, dass um ihn da unten gerauft werde«, da unten, wo die Millionen starben, »der wusste alles von ihm«! Ich wusste es, vielleicht wissen sie es jetzt auch. »Wäre es ihm auch nur eine Sekunde ernst gewesen um das, was er mit tönenden Worten am Ende vortrug«, noch am Ende, »er hätte sich nie — niemals so lächelnd, so befriedigt zeigen können. Der blaue Mantel fiel, aber es war kein Erz darunter, nur ein Komödiant«. So ist es, so muss, wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, es endlich erkennen; denn Donner und Blitze eines, der als Gott aus der Kriegsmaschine zu der Menschheit sprach, sie waren nur »die Gemeinheit und letzte Aussage einer Verworfenheit, die, den eigenen Hass auszuspeien und eine Eitelkeit des Umstrittenseins zu befriedigen, selbst die Tragik —denn Tragik ist es doch! — nicht respektiert«. Merken die Innsbrucker, dass ich noch immer vom Weltkrieg spreche, »der längst zu Ende ist«? Haben sie mich nicht mit dem Wilhelm verwechselt, den ich ihnen vorführte, und den Wilhelm mit mir?

Es kann nicht anders sein! Sie haben Gestalt und Gestalter verwechselt. Daher der Lärm! Sie haben in Innsbruck gegen die Zumutung getobt, dass ein solcher Ausbund Kaiser aller Deutschen gewesen sein will, und es mich entgelten lassen. Merken sie schon, wie sie’s gemeint haben, und dass ich liebe, wenn ich hasse? Sie liebe ich nicht und von ihnen würde ich die Liebe nicht lernen. Es sind viele Schieber unter ihnen; doch die andern sind unehrlicher. Sie werden mir kein Denkmal errichten. Es wird mir jenes genügen müssen, das ich ihnen errichtet habe. Und noch ein solches sollte ihnen zu denken geben. Ich habe an der Küste eines norwegischen Fjords vor vielen Sommern einen Leichenstein gesehen, der dem Andenken eines dort plötzlich verstorbenen deutschen Offiziers errichtet ist, der gleichfalls Hahnke geheißen hat, aber nur Leutnant war. Einheimische waren zu einer Auskunft erbötig. Der Leutnant Hahnke hatte einen jener Späße, die die Majestät, wie gewohnt, an Bord trieb und den er als Angriff auf seine Menschenehre empfand, mit einer leiblichen Berührung seines Kaisers beantwortet und aus dem hierdurch entstandenen Konflikt mit der Offiziersehre augenblicklich den Weg in den Selbstmord gefunden. Ehre seinem Andenken! Er war der einzige Deutsche, der mit Wilhelm II. die Sprache gesprochen hat, die Wilhelm verstand. Hätten sich zwanzig Jahre später so mutige Männer gefunden, der größte Leichenstein, der je einen Planeten überragt hat, wäre dem unsern erspart geblieben.

Nachdem er aber errichtet war, erhob sich der Prinz Joachim von Hohenzollern von seinem Tische im Hotel Adlon, ließ »Deutschland, Deutschland über alles« spielen und befahl einem Amerikaner, der auf Krücken ging, sich zu erheben. Er befahl es auch einem Holländer, und als es auch die Franzosen nicht tun wollten, warf er mit deutschen Sektflaschen nach ihnen. In dieser großen Zeit brachten die illustrierten Blätter Bilder, auf denen der deutsche Soldat, von dem auslieferungsgierigen Feind am Arm gehalten, von der deutschen Mutter Abschied nimmt; es war jener, der ein Kind in den Armen der Mutter getötet hatte. Und der deutsche Offizier nahm herzbewegenden Abschied von dem deutschen Mädchen; es war jener, der nachhause geschrieben hatte: »Und dann gibt es hier junge Mädchen, die hübsch zu entjungfern sind«. Dass ein harter Sieger, der in fünf Jahren deutsch gelernt hatte, die Macht zur Sühne des Unrechts missbrauchen wollte, schrie zum Himmel, nicht unser Tun. Eine Woche nach dem Durchbruch bei Adlon feierte Berlin Seelenaufschwung und in Deutschland gab es zehntausend Tote. Wenn diese tiefe Unbelehrbarkeit, die aus dem Schaden so wenig klug ward, dass sie ihn wieder erleiden möchte, vor nichts ihrer Weltunmöglichkeit inne wird, so sollte sie sich doch fragen, ob sie damals, als sie trunken in die große Nacht dieser Bluthochzeit taumelte, darauf gefasst war, dass ihr einmal der Bezirksrichter dies Todesurteil schreiben würde: dass jedem Diebstahl ein Milderungsgrund zuteilwird gemäß der »nach dem Kriege allgemein erfolgten Herabsetzung der Moral«. Und ob der nicht wahr gesprochen hat, der ihnen prophezeite, dass sie so viel Glorie erwerben werden, um so viel Dreck zu behalten! Sie, die uns die Zukunft gemordet haben, wollen, dass ihre Vergangenheit begraben sei? Nichts ist lebendiger als die Vergangenheit, nichts haben sie außer ihr! Das von Mordlust und Raubgier gezeichnete Gesicht, das die Lüge ihnen verklärt hatte, die Totenmaske dieses Zeitalters, hält durch!


Halbschlaf. Von Karl Kraus

29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL.

NR. 484—498 OKTOBER 1918 XX. JAHR   S. 81

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Halbschlaf

Bevor ich war und wenn ich nicht mehr bin,
wie war ich da, wie werde ich da sein?
Zuweilen dringen Duft und Rausch und Schein
vom Ende her und von dem Anbeginn.

Hab’ ich geschlafen? Eben schlaf’ ich ein,
und nun verwaltet mich ein andrer Sinn,
noch bin ich außerhalb, schon bin ich drin,
noch weiß ich es, und füge mich schon drein.

Dies Ding dort ruft, als hätt’ ich’s oft geschaut,
und dies da blickt wie ein vertrauter Ton,
und an den Wänden wird es bunt und laut.

Dort wartet lang’ mein ungeborner Sohn,
hier stellt sich vor die vorbestimmte Braut,
und was ich damals war, das bin ich schon.


Du bist so sonderbar in eins gefügt. Von Karl Kraus

29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 640—648 MITTE JANUAR 1924 XXV. JAHR S. 63

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Du bist so sonderbar in eins gefügt

Du bist so sonderbar in eins gefügt
aus allem, was an allen mir behagte.
Du hast etwas von einer, die belügt,
und von der andern, die die Wahrheit sagte.

Du hast den Blick, der mir zum Glück genügt,
die Stimme, die es fühlte und nicht sagte;
begrenzt wie die, an die der Wunsch sich wagte,
unendlich an Erfüllung angeschmiegt.

Die Züge der Besiegten, die besiegt,
sind Spiegel aller Wonne, die mich plagte,
und allen Zwistes, der am Herzen nagte,

und daß ich mich vergnügte und verzagte,
und wie ich im Gewinn Verlust beklagte
von Federleichtem, das ein Leben wiegt.