Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Die Sprache. Von Karl Kraus

18. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Aus "Die Fackel", Sprache

DIE FACKEL


Nr. 885—887 ENDE DEZEMBER 1932 XXXIV. JAHR


Die Sprache

Der Versuch: der Sprache als Gestaltung, und der Versuch: ihr als Mitteilung den Wert des Wortes zu bestimmen — beide an der Materie durch das Mittel der Untersuchung beteiligt — scheinen sich in keinem Punkt einer gemeinsamen Erkenntnis zu begegnen. Denn wie viele Welten, die das Wort umfasst, haben nicht zwischen der Auskultation eines Verses und der Perkussion eines Sprachgebrauches Raum! Und doch ist es dieselbe Beziehung zum Organismus der Sprache, was da und dort Lebendiges und Totes unterscheidet; denn dieselbe Naturgesetzlichkeit ist es, die in jeder Region der Sprache, vom Psalm bis zum Lokalbericht, zum Lokalbericht, den Sinn dem Sinn vermittelt. Kein anderes Element durchdringt die  Norm, nach der eine Partikel das logische Ganze umschließt, und das Geheimnis, wie um eines noch Geringern willen ein Vers blüht oder welkt. Die neuere Sprachwissenschaft  mag so weit halten, eine schöpferische Notwendigkeit über der Regelhaftigkeit anzuerkennen: die Verbindung mit dem Sprachwesen hat sie jener nicht abgemerkt, und dieser so wenig wie die ältere, welche in der verdienstvollen Registrierung von Formen und Missformen die wesentliche Erkenntnis schuldig blieb. Ist das, was sie dichterische Freiheit  nennen, nur metrisch gebunden, oder verdankt sie sich einer tieferen Gesetzmäßigkeit? Ist es eine andere als die, die am Sprachgebrauch wirkt, bis sich ihm die Regel verdankt? Die Verantwortung der Wortwahl — die schwierigste, die es geben sollte, die leichteste, die es gibt —, nicht sie zu haben: das sei keinem Schreibenden zugemutet; doch sie zu erfassen, das ist  es, woran es auch jenen Sprachlehrern gebricht, die dem Bedarf womöglich eine psychologische Grammatik beschaffen möchten, aber so wenig wie die Schulgrammatiker imstande  sind, im psychischen Raum des Wortes logisch zu denken.

Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist. Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber  dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern  Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des  Gedankens Vater zu sein? Alles Sprechen und Schreiben von heute, auch das der Fachmänner, hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Wegwurf einer Zeit  gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung abnimmt. Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis  heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt. Und es ist, als  hätte das Fatum jene Menschheit, die deutsch zu sprechen glaubt, für den Segen gedankenreichster Sprache bestraft mit dem Fluch, außerhalb ihrer zu leben; zu denken, nachdem sie  sie gesprochen, zu handeln, ehe sie sie befragt hat. Von dem Vorzug dieser Sprache, aus allen Zweifeln zu bestehen, die zwischen ihren Wörtern Raum haben, machen ihre Sprecher  keinen Gebrauch. Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln, wenn der Deutsche keiner andern Ordonnanz gehorsamte als der der Sprache!

Nichts wäre törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der  tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen  Bodens bäumt sie sich dagegen auf. Sie ist schon in ihrer zugänglichsten Region wie eine Ahnung des höchsten Gipfels, den sie erreicht hat: Pandora; in unentwirrbarer Gesetzmäßigkeit seltsame Angleichung an das symbolträchtige Gefäß, dem die Luftgeburten entsteigen:

Und irdisch ausgestreckten Händen unerreichbar jene, steigend jetzt empor und jetzt gesenkt. Die Menge täuschten stets sie, die verfolgende. Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer  Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind — das wäre die pädagogische Aufgabe an  einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt sein — mehr durch die  Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen — ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an  einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. »Volk der Dichter und Denker«: seine Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst erschlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Außerhalb, das die Fülle entbehrten Glückes umfasst: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen!


 

 


Zur Sprachlehre. Von Karl Kraus

27. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Sprache

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR 1927 XXVIII. JAHR


S.37 -57

Zur Sprachlehre

Zu den Vorurteilen gegen mich, die wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein werden, gehört die Vermutung, dass ich die Zeitungen lese, »um etwas zu finden«, woran ich Anstoß nehmen könnte, während ich in Wahrheit im Blätterwalde so für mich hingehe und nichts zu suchen mein Sinn ist. Ja bereit, die Herren Journalisten zu bestechen, damit ich nur ja nichts zu finden brauche, was mich zur Wiederherstellung der Natur nötigt, komme ich mir wie der  Nestroysche Hausmeister vor, der lieber selber einer jeden Partei ein Sechserl schenken möchte, um nur seine Ruh’ zu haben. Oft denke ich mir auch, die Zeit, die sie mir rauben, würde ich gern daran wenden, ihnen rechtzeitig zu helfen, alles das zu unterlassen, was mich in Tätigkeit setzt. Denn ich bedarf doch wahrlich nicht ihrer Anstöße, um mir über die Gestalt, die sie der Welt gegeben haben, etwas einfallen zu lassen. Wenn sie nun gewillt wären, mir täglich ihre  Bürstenabzüge zur Korrektur zu schicken, so bin ich erbötig, bei voller Belassung der moralischen Eigenart, ihnen das Gröbste im Stilistischen und  Grammatikalischen abzutun und gerade dadurch ihre schlechten Absichten wirksamer herauszuarbeiten. Ich muss diese Arbeit ja oft genug an Zitaten  besorgen und manchen Formfehler beseitigen, um die Aufmerksamkeit nicht von dem Schwachsinn der Gedankenführung oder der Lumperei der Gesinnung  abzulenken. Sie wissen es nicht, merken es nicht und ich stiller Wohltäter mache kein Aufhebens davon. Aber natürlich wäre ich auch bereit, in  den Inhalt einzugreifen, zu zügeln, zu beleben, zu veredeln, kurz eine Textgestalt herzustellen, die vor meinem Witz sicher sein kann. Weiß Gott, es wäre gar  nicht übel, die Vorzensur, die sich im Krieg bloß auf die Unterdrückung von Artikeln beschränkt hat, die die Siegeszuversicht herabmindern konnten, in  meine Hände zu legen, welche doch für einen weit kulturvolleren Zweck tätig wären. Aber wie ich die Herren Journalisten kenne, werden sie diese Idee als  eine unerlaubte Zumutung an die Freiheit der Prostitution stolz von sich weisen, und was ich seit Jahrzehnten als Zensor ihrer Resultate leiste, hat, ach, nicht  einmal an der äußersten Oberfläche der Sprachkorrektur seinen erzieherischen Einfluss bewährt. Man kann es mit dem ihnen geläufigsten Worte sagen: sie haben »daran« vergessen, auch wenn es ihnen noch so oft eingetrichtert wurde; und wenn sie auch nichts wissen, sie »brauchen nicht lernen«. Aber vielleicht kommen wir einander ein wenig näher, wenn ich von Zeit zu Zeit die ärgsten sprachlichen Missbildungen förmlich ausstelle — ohne an bestimmte  Fälle anzuknüpfen, denn da täten sie’s justament! Um nur, was mir grade zur Hand liegt, zu erwähnen: »w i e s o  kommt es«, dass sie so schlechtes Deutsch  schreiben und dass diese Frage, die der Tandelmarkt frei hat an das Schicksal, immer wieder gestellt wird? Also man fragt: w i e   (oder         w o h e r ) kommt es (das  andere bedeutet etwas ganz anderes). »N a c h vorwärts« geht es in keinem Fall, sondern es sollte bloß »vorwärts« gehen. Dies gilt natürlich auch, wo es  »rückwärts geht«. Dagegen soll nie etwas »rückwärts sein«, sondern nur  h i n t e n. Völlig unmöglich aber ist es, die Fremden, die man nach Wien lockt und denen man solche Lokalismen als Sehenswürdigkeiten bietet, »Gäste  v o n  a u s w ä r t s« zu nennen, weil da zwei entgegengesetzte Richtungen  karambolieren. Die Herren Journalisten werden sagen: Wir »v e r b i e t e n  uns« diese Kontrolle. Aber was mich betrifft, ich kann weder ihnen noch mir ihr schlechtes Deutsch verbieten, ich kann es mir nur  v e r b i t t e n. Denn ich kann ihnen nicht gebieten, dass sie besser schreiben, ich kann sie nur darum  bitten. (Wenn ich’s erpressen könnte, würde ich es tun.) Imperfektum: nicht er »verbot sich etwas«, sondern er »verbat« es sich. Perfektum: nicht »er hat es  sich verboten«, sondern »verbeten«. Wie kommt das? Woher kommt das? Eben nicht von »bieten«, sondern von »bitten«. (Der Nestroysche Sprachwitz, in der  wienerischen Üblichkeit begründet, ist ein rein akustischer: »Ich werd’ mir das verbieten!« »Sich können Sie verbieten, was Sie wollen, aber mir nicht!«.  Wenn die Gegenfigur deutlich sagte: Ich werd’ mir das verbitten!, wäre der Witz nicht möglich.) Bei dieser Gelegenheit: Wenn ich einem etwas »geboten« habe, so kann das sowohl von »bieten« wie von »gebieten« kommen; nicht zu verwechseln mit: »gebeten«, das von »bitten« kommt und wieder nichts zu tun hat  mit »gebetet«, das von »beten« kommt. Die Sache ist nicht leicht, aber da wir zum Publikum sprechen, so müssen wir doch, nicht wahr, mit gutem Beispiel  vorangehen. Nun, ich  m u t e  ihnen zu, es sich zu merken, ohne dass ich ihnen diese Fähigkeit  z u t r a u e. Sie aber beklagen sich: ich »mute ihnen zu, es nicht  zu wissen« — was so viel bedeutet als: ich verlange von ihnen, dass sie es nicht wissen, während ich doch das gerade Gegenteil von ihnen verlange, wenngleich  nicht erwarte, es ihnen also nicht »zutraue«. Denn sie haben mich, wie sie sagen würden, nicht »allzu verwöhnt«. Eine arge Misere ist diese Verbindung von  »allzu« mit einem Zeitwort. Der gebildete Schmock schreibt, einer habe »allzu dominiert«. Nun wäre wohl seine »allzu dominante« Stellung denkbar, aber er  könnte natürlich nur »allzu  s e h r« dominieren. Etwas mag allzu lieb, selbst allzu geliebt sein (wenn das Partizip mehr als Adjektiv denn als Zeitwort gedacht  wird), aber man kann nur »allzu sehr« lieben. Einer kann allzu groß sein, aber nicht allzu gewachsen. Es wäre auch möglich, dass er »allzu verwöhnt ist«, aber er »wurde allzu sehr verwöhnt«. Komplizierter wird es, wenn der Schmock schreibt, man dürfe »einem nicht allzu Unrecht tun«. Man kann sich wohl »allzu  unrecht« (unrichtig) ausdrücken, aber man kann nur »allzu sehr Unrecht« tun (allzu großes Unrecht). Tue ich das? Es gibt kaum einen sprechenden oder  schreibenden Menschen in Wien, der sich nicht erlaubte, »bisschen« schlampig zu sein statt »e i n  bisschen« (das von einer sehr realen Sache, nämlich einem  kleinen Bissen stammt). Vollends mit dem »bis« wird aber verfahren, dass es schon nicht mehr schön ist und die Bedeutung auf dem Kopf steht: sie werden einem etwas sagen, »bis er kommt«. Aber sie meinen natürlich nicht, dass sie es ihm so lange sagen werden, bis er kommt, sondern erst sagen werden, w e n n    er kommt. In Wien geht der Krug erst dann zum Brunnen, wenn er bricht, weshalb er meistens zu spät kommt. Und wird »bis« schon einmal richtig statt für den Zeitpunkt für die Zeitstrecke verwendet, so kann man sicher sein, dass ein »nicht« seine Begleitung anbietet:

ein Gnadengesuch, mit dessen Erledigung so lange gewartet werden sollte, bis die Entscheidung des Oberlandesgerichts .. n i c h t  vorlag.

Fast alle diese Bildungen sind spezifisches Wiener Gewächs, dessen jüdische oder nichtjüdische Herkunft nicht mehr feststellbar ist. Wenn die Wiener heute » a m Land« sind, so ist es kaum mehr das alte: »aum« (auf’m) Land. Hier kann man jüdisch oder zur Not alldeutsch sprechen, deutsch keineswegs. Ein Franzose,  der schlecht französisch spricht, ist kaum vorstellbar, dagegen ist er stolz darauf, wenn er schön französisch spricht. Eine verstorbene Freundin, die für diese  Werte ein besseres Gefühl hatte als die ganze Kollektion, die Kürschners Literaturkalender umfasst, schilderte mir einmal, wie sie in einem kleinen Laden  einer Pariser Vorstadt nach etwas vergebens fragte, aber nicht von einem Klachel in einem undefinierbaren Dialekt angeschnauzt wurde, sondern freundlich  an einen Konkurrenten gewiesen, der die Ware bestimmt vorrätig habe: »U n d  außerdem spricht er ein so schönes Französisch!« Man versuche sich  vorzustellen, dass eine solche Auskunft bei uns, in Kauderwelschland, erteilt wird. Die Zusammenhänge mit dem Infanterieregiment Nr. 4 sind in Wien weit  lebendiger als die mit den Deutschmeistern. Die Perversion aber, dass die gedruckte Sprache auf einem noch tieferen Niveau angelangt ist als die gesprochene, ist das geistige Unikum, das diesem Klima vorbehalten blieb. Die öffentliche Meinung ist zur Wand eines Abtritts geworden, auf der nicht nur jede Büberei der  Gesinnung Platz hat, sondern auch jede Missetat an der Sprache. Setzt der jüdische Journalist die Wendung hin: »worauf man darauf folgern kann«, so antwortet der Arier: »wonach hervorgeht«. Die Lokalredakteure müssen als Volksschüler doch ein besseres Deutsch geschrieben haben; sonst wären sie es  noch heute. Kürzlich schrieb einer:

Die Anklage wird auf einen  w e i t e r e n   s i c h   g e s t e r n                           z u g e t r a g e n e n  Vorfall ausgedehnt.

Dem geschätzten Autor würde man natürlich auch nicht begreiflich machen können, dass er durch das Fehlen des Kommas nach »weiteren« ausgedrückt hat, die Anklage habe sich auf einen andern »sich gestern zugetragenen« Vorfall bezogen. Aber sie können nicht nur nicht die Wörter richtig zusammenstellen, nein, da liest man täglich auch solche, die es gar nicht gibt: »insbesonders« dieses. Der Dichter der ‚Wiener Stimmen‘, von dem man doch annehmen müsste,  dass er, wenn schon nichts anderes, so zum mindesten eine Muttersprache habe, beginnt ein Verslein mit dem Wörtlein: »zumindestens«, das sich ihm aus  dem Vorrat von »mindestens«, »zu mindest« und »zum mindesten« geballt hat; »zumeistens« würde er kaum riskieren. Einer, der trotz seinem  Mauscheldrang ein kerndeutscher Mann ist, prophezeite kürzlich, ein Jargonstück werde »durch Wochen lang« zugkräftig sein. Dem Grafen Keyserling, der  gewiss eine fatale Einstellung zur deutschen Sprache hat und viel geschwänzt haben muss, ehe er die Schule der Weisheit gründete, korrigierte er einen ausnahmsweise korrekten Satz. Die Strafe folgte auf dem Fuß:

Wenn ich nun einen Menschen .. fragte, worin also die Lehre des Grafen Keyserling  b e s t ü n d e, so würde ich ….

Der Konjunktiv ist sicherlich eine schwierige Angelegenheit der deutschen Sprache, die auch den besten Schriftstellern schon Kummer bereitet hat. Selbst  wenn jenes »fragte« ein inneres Imperfektum wäre — das es hier ja nicht sein kann —, ihm also »ich fragte« und nicht »ich frage« zugrundeläge, so müsste es  heißen: »worin die Lehre  b e s t e h e«. Der Konjunktiv des Imperfekts wäre nur dann richtig, wenn der Satz bedingt gedacht oder in eine Bedingung fortgesetzt würde: »bestünde, w e n n  …« Er wäre richtig, wenn der Satz nicht die Frage enthielte: »Worin besteht die Lehre?«, sondern: »Worin bestünde die Lehre?«.  (Dies wäre etwa möglich, wenn bereits alles, worin sie nicht besteht, dargestellt wäre und der Schluss übrig bliebe, dass sie in nichts besteht. Im Falle  Keyserling zwar denkbar, aber hier nicht beabsichtigt.) Immerhin ist es vielleicht das Bemühen um eine consecutio temporum, die im Deutschen so leicht  wider den Gedanken geht. Aber der Konjunktiv imperfecti ist an und für sich das Prunkstück der Bildung. Ein geräuschvoller Advokat, der sich auch in der Presse als Polemiker lästig macht, schrieb kürzlich:

Und er  f i n d e t, dass alles prächtig vorwärts  g i n g e.

Eine ausnahmsweise richtige Konstruktion — wenngleich durch andere Fehler wettgemacht — stand in der Neuen Freien Presse:

Der Inspektor erklärte, dass er die Angeklagte, t r o t z d e m   sie   i h m beschimpft habe, hätte laufen lassen, wenn sie nicht eine Beschwerde gegen ihn erstattet hätte.

»Ihm« ist der typische Setzfehler der Wiener Druckereien; vom  Schreiber, der vielleicht so spricht, ist zu vermuten, dass er »beschimpfen« doch mit dem  Akkusativ konstruiert. »Trotzdem« als führendes Bindewort des Konzessivsatzes (statt »obgleich«) mag als ein tief eingewurzelter Missbrauch hingehen. Aber der Satzbau ist in Ordnung. Hier ist das »hätte laufen lassen« richtig, weil ihm der Konditionalsatz folgt: »wenn sie nicht erstattet hätte«. Hätte sie aber die  Beschwerde  n i c h t   erstattet und  h ä t t e  er sie laufen lassen, wäre also der Sachverhalt das Gegenteil, so hätte die Zeitung wohl trotzdem geschrieben: »Der Inspektor erklärte, dass er die Angeklagte hätte laufen lassen«. Anstatt richtig zu schreiben:»Der Inspektor erklärte, dass er die Angeklagte laufen ließ« oder »er habe sie laufen lassen«. Der ‚Abend‘, der außer dem Namen seines Herausgebers kein Fremdwort in seinen Spalten duldet, der sich grundsätzlich nicht an  die Adresse, sondern an die »Anschrift« der Proletarier wendet und dessen Sätze zu neunzig »vom Hundert« nicht deutsch sind, stellte kurz und bündig fest:

Das Berliner Gesundheitsamt m e l d e t, die Krankenhäuser  w ä r e n  überfüllt.

Man erwartet etwa die Fortsetzung: wenn nicht schleunigst neue eröffnet worden wären. Richtig muss es heißen: »die Krankenhäuser seien überfüllt« oder  »dass die Krankenhäuser überfüllt sind«. »Sie wären überfüllt« würde geradezu bedeuten, dass das Blatt die Meldung des Berliner Gesundheitsamtes als Lüge  hinstellen will. Ein Zweifel an ihr wäre schon angedeutet durch den Konjunktiv präsentis: »dass sie überfüllt seien« (während »sie seien überfüllt« bloß den  Ersatz für den dass-Satz mit Indikativ vorstellt). Selbst wenn das regierende Verbum die Zeitform des Imperfektums oder Perfektums hätte: »das Amt  meldete« oder »hat gemeldet«, so wäre fortzusetzen: »dass die Krankenhäuser überfüllt sind« oder »sie seien überfüllt«. Dies, wenn der Inhalt des abhängigen  Satzes für den Berichtenden feststehen soll. Ohne diese Tendenz darf sich hier der »dass«-Satz mit dem Konjunktiv präsentis anschließen: »meldete, dass sie  überfüllt seien«. Der Konjunktiv imperfecti nur dort, wo der des Präsens nicht in Erscheinung tritt, z. B. »er versicherte, dass sie kommen m ü s s t e n« (statt  »müssen«). Sonst aber würde er immer den Zweifel an der Aussage bezeichnen. Sanders hat hier ein vorzügliches Beispiel aus Schiller, das, gleichfalls eine  Krankmeldung betreffend, nebeneinander die Vermutung der Lüge und die Behauptung der Wahrheit durch Modus wie Tempus ausdrückt:

Mir meldet er aus Linz, er  l ä g e krank,
doch hab’ ich sichre Nachricht, dass er sich
zu Frauenberg  v e r s t e c k t   beim Grafen Gallas.

Bedenklich dagegen ist die von Sanders angeführte und nicht ausdrücklich getadelte Wendung bei Goethe:

Da er hörte, dass ich viel zeichnete und Griechisch  k ö n n t e.

Wäre hier der Konjunktiv unerlässlich, so wäre »zeichnete« richtig, da »zeichne« als Konjunktiv nicht hervortritt; »könnte« ist nicht richtig und die gedankliche Diskrepanz hebt sich nur im Mitklang des Tempus auf. Immerhin regiert hier das Imperfektum. Unmöglich aber ist es, von einem Präsens das  Imperfektum des Konjunktivs abhängig zu machen, ohne damit die Aussage als unglaubwürdig oder als bedingt hinstellen zu wollen. Da hat eine Berlinerin  mit Rilke gesprochen:

Er erzählte, dass er im Wallis bei Sierre wohne, in einem kleinen, alten Schloss, ganz einsam, Jahr für Jahr, und nur selten, wenn es nicht mehr anders  g i n g e, einen kurzen Flug in die  Welt hinaus mache. Der Kanton Wallis sei das Landschaftsbild, welches ihm durch seine Romantik und Üppigkeit am nächsten  k ä m e, und  wa s  ihn außerdem so sehr an seinen  Aufenthalt in Spanien erinnere.

Wie man nur aus einem Gespräch mit einem deutschen Dichter so schlechtes Deutsch bewahren kann! Von dem »was« abgesehen — warum denn »ginge« und  käme«? warum dann nicht auch »wohnte«, »machte«, »wäre« und »erinnerte«? »Wenn es nicht mehr anders ginge«? Es ginge nicht mehr anders, wenn  —! Aber in der deutschen Presse geht es wirklich nicht mehr anders. Vor dem Konjunktiv wird alles, was Deutsch schreiben möchte, scheu. Freilich anders, als es »der Wustmann« meint, welcher es verkehrt meint, gerade in diesem Kapitel seinem Namen, der geradezu ein Symbol der Sprachverwirrung geworden ist,  Ehre macht und dem Titel seines berühmten Buches »Allerhand Sprachdummheiten« zu einem unbeabsichtigten Sinn verholfen hat. Auch er verwendet  zufällig das Beispiel einer Krankmeldung, aber freilich um jede Sprachsimulation zu erlauben. Es sei »ebenso gut möglich, zu sagen«: e r  s a g t, e r   w ä r e   krank, wie: er sagte, er sei krank, u. dgl. Aber das erste ist nur möglich, wenn der Krankmeldung das stärkste Misstrauen entgegengesetzt wird. Über den Bedeutungsunterschied der Formen macht er sich so wenig Gedanken, dass er schlicht erklärt, der Konjunktiv der Gegenwart werde von vielen »als das  Feinere« vorgezogen; »wenn sich aber jemand in allen Fällen lieber des Konjunktivs der Vergangenheit bedient«, so sei auch dagegen »nichts ernstliches  einzuwenden«. Gleich darauf beklagt er aber die »fortschreitende Abstumpfung unseres Sprachgefühls«, von der er selbst, ohne es zu ahnen, die lebendigsten  Beweise gibt. Der Mann, der die Verderbnis unserer Schriftsprache von dem Übel herleitet, dass man nicht schreibe, wie man spricht — wiewohl man es doch  längst tut, ja noch schlechter schreibt als man spricht —, bringt es zuwege, Wendungen, die natürlich und richtig sind, für »papieren« zu erklären und die  papiernen für natürlich und richtig. Eine der fixen Ideen dieses Wegweisers, der in Deutschland so beliebt ist, weil er einen flachen Ernst mit einem seichten  Humor verbindet, ist sein Kampf gegen das Relativpronomen »welcher«, welches man nicht schreiben dürfe, weil man es nicht spricht. Findet er es bei Goethe und Hölty, so ist es »nichts als ein langweiliges Versfüllsel, eine Strohblume in einem Rosenstrauß«. Aber wenn man bedenkt, dass so ziemlich aller Wert der  geschriebenen Wortschöpfung jenseits aller Sprechbarkeit besteht und dass kaum je ein Satz aus der »Pandora« zur Verständigung im täglichen Umgang  gedient haben dürfte, so kann man ermessen, auf welchem Niveau sich diese Sprachkritik bewegt. Um bei dem »welcher« zu bleiben: es ist natürlich nicht  nur, wie Wustmann großmütig einräumt, zur Not in einer Folge von abgestuften Relativsätzen, im Wechsel mit dem einzig konzessionierten Pronomen »der«  anwendbar, sondern es waltet da wohl ein Bedeutungsunterschied, der nicht nur dem Wustmann, sondern auch solchen Grammatikern fremd ist, die das  »welcher« ohne Angabe der Gründe tolerieren. Ich will das Gefühl für diesen Unterschied an einem der verbreitetsten Fehler zu wecken versuchen. In einem  Blatt, das zwar großdeutsch, aber nicht deutsch geschrieben ist, heißt es:

Die Art, wie das Gedenken um Rainer Maria Rilke .. zum Ausdruck kam, ist  sicher  eine  der besten und schönsten, die  für  einen solchen Anlass .. möglich   w a r.

Es muss natürlich heißen: … eine der besten Arten, die möglich w a r e n. Der Nonsens, den der Singular ergibt, hätte den folgenden Sinn: die Art ist eine der  besten und sie war denn auch für einen solchen Anlass möglich. Es würde also von der besten Art noch ein weiteres ausgesagt. Wäre dies der Sinn, so würde  ihm »welche« eher gerecht als »die«: eine der besten Arten, welche eben hier möglich war (welche = und eine, die). Um es an einem gegenständlicheren Beispiel zu erläutern: »Eines der besten Bücher, das ich gelesen habe«. So sprechen und schreiben die Leute, die sagen wollen: Eines der besten Bücher, d i e  i  c h  gelesen habe. Das heißt: von den Büchern, die ich gelesen habe, eines der besten. Es soll aber nicht von einem der besten Bücher die Rede sein, die als solche schon feststehen, nicht von einem unter ihnen, von dem extra noch gesagt wird, dass ich es gelesen habe. Wäre dies — also eine bloß beigeordnete  Aussage — beabsichtigt, so träte der Fall ein, wo das Relativpronomen »welches« vorzuziehen ist: »eines der besten Bücher« als eine für sich stehende  Charakteristik, »welches ich gelesen habe« als ein hinzutretender Umstand. (Also: eines der besten Bücher und eines, das ich gelesen habe.) Dagegen: »Eines  der besten Bücher, die ich gelesen habe« — hier hat der Relativsatz eine bestimmende Funktion. Es handelt sich nicht um die besten Bücher als solche, sondern um die besten von denen, die ich gelesen habe. Diese Aussage enthält das wesentliche Kennzeichen der Bücher, keinen bloß hinzutretenden  Umstand, denn es sind die von mir gelesenen besten Bücher, von deren einem ich spreche und über die ein anderer anders denken wird. Hier ist das Relativpronomen »die« zu setzen, nicht »welche«.  Zwischen  »der«  und  »welcher«  fühle  ich  einen  Unterschied, der   etwa   dem   einer                    d e t e r m i n a t i v e n   und  einer  a t t r i b u t i v e n  Beziehung gleichkommt. Der Relativsatz, den ich mir, ohne das Wesentliche der Vorstellung des Gegenstandes zu verletzen, auch  eliminiert denken könnte, ist eher mit »welcher« anzuschließen. Der Relativsatz, der diese Vorstellung erst bildet oder wesentlich ergänzt, nur mit »der«.  Diese Form (die im Genitiv »dessen« ohnehin die andere verschlungen hat) wird freilich beiden Bedeutungen gerecht, und innerhalb des gedanklichen Unterschieds werden Rücksichten des Wechsels, des Klanges und allerlei sonstiges Stilgeheimnis die Wahl bestimmen — keineswegs aber irgendwelche  geistleere Vorschrift. »Der schlechteste Sprachlehrer, den ich gekannt habe«: das ist nicht der schlechteste Sprachlehrer überhaupt, sondern der schlechteste von denen, die ich gekannt habe. Sage ich: »Der schlechteste Sprachlehrer, welchen ich gekannt habe«, so spreche ich von dem überhaupt schlechtesten oder von einem, der als solcher schon dargestellt ist, wozu ich nur noch bemerke, dass ich ihn gekannt habe. Das Relativpronomen kann eine schwierige  Unterscheidung erleichtern: »Eine der anmutigsten Frauen, die ich gesehen habe«: da wird der Relativsatz wohl vom Plural abhängen. »Eine der anmutigsten Frauen, welche ich gesehen habe«: hier wohl von der einen. Beim Maskulinum und beim Neutrum ist die Unterscheidung, ob Singular oder Plural, von selbst  gegeben. »Einer der reichsten Männer, der eine Zeitung subventioniert«: das dürfte der typische Fehler sein, den solche Zeitungen machen, und es ist wohl gemeint: einer der reichsten Männer, die eine Zeitung subventionieren. Nehmen wir aber den einfacheren Fall: »Der reichste Mann, der eine Zeitung  subventioniert« und »Der reichste Mann, welcher eine Zeitung subventioniert«. Dort ist von dem größten Zeitungskapitalisten die Rede: der Relativsatz gibt  das Wesen. Hier ist von dem größten Kapitalisten die Rede, von welchem auch gesagt wird, dass er Geld für eine Zeitung übrig hat: der Relativsatz fügt dem  Wesen etwas hinzu. Dass da ein weltenweiter Abstand der Relativbegriffe vorliegt, daran ist nicht zu zweifeln. Ob ich diesem Abstand durch meine Unterscheidung zwischen »welcher« und »der« gerecht werde, mag jeder beurteilen, der über diese Dinge nachdenkt. Es könnte sich ihm, gleich mir selbst,  ergeben, dass er manchmal einer andern, gar der gegenteiligen Entscheidung nahekommt, um dann doch, an den geeigneten Beispielen, der Gesetzlichkeit  des von mir gewiesenen Unterschiedes habhaft zu werden. Scheinbar kommt ja der Form »welcher« die stärkere Beziehungsfähigkeit zu, wie sie auch die
Fügung »derjenige, welcher« dartut. Aber diese deutlichere Relation spielt sich  e r s t   i n n e r h a l b   d e s   h i n z u t r e t e n d e n  U m s t a n d e s   ab, den ich die Form »welcher« bezeichnen lasse, und nachdem die allgemeine Begriffsbestimmung der Person oder Sache schon vollzogen ist. Dies ist gerade an Fällen nachweisbar, wo die attributive Beziehung in die determinative überzugehen scheint: wenn kontrastierende Gegenstände durch eine Aussage voneinander unterschieden werden sollen, die keineswegs ihrer wesentlichen Bestimmung dient. Wenn ich von zwei Leuten erzählen will, die ich getroffen und deren  einen ich gegrüßt habe, so sage ich: »Den einen, welchen ich gegrüßt habe, kenne ich seit langem ….« Ich will von ihm sagen, dass ich ihn seit langem kenne etc. Ich mache ihn in der Erzählung aber kenntlich durch den eingeschalteten Relativsatz, der ihn sofort von dem andern unterscheiden soll, welchen ich nicht gegrüßt habe. Dieser Relativsatz mit »welcher« könnte auch zwischen Gedankenstrichen oder in Klammern stehen, ja für den Hörer, der den Sachverhalt schon erfasst hat, sogar ganz entfallen. Eben in ihm ist das »derjenige, welcher« elliptisch enthalten. Dieses »welcher« hat die Gabe der Erläuterung oder der  Absonderung, es bezeichnet ein hinzutretendes, oft unterscheidendes Merkmal, es bestimmt aber keineswegs den Begriff der Person oder Sache als solcher, von der ich aussage. Es ist scheinbar determinativ, in Wahrheit attributiv. Schriebe ich nun: » Der eine, den ich  gegrüßt habe …«,  so  erhielte  der    »e i n e « leicht die stärkere Betonung als »gegrüßt«, es ergäbe zunächst den Sinn, dass ich beide gegrüßt habe und von jedem der beiden Gegrüßten etwas aussagen will. Wäre dies beabsichtigt, so könnte vor »den« sogar das Komma entfallen, denn es handelte sich um »den einen Gegrüßten«, nicht um »den einen, den Gegrüßten«. Bei »welcher«, welches die  Tonkraft  dem  eigenen  Prädikat  zuschiebt  (»welchen  ich     g e g r ü ß t  habe«) ist dem Relativsatz begriffliches Eigenleben erhalten; das schwächere »der« liefert es dem regierenden Satze aus. Dieses Prinzip wird man an allen Beispielen bestätigt finden, wiewohl die Verhextheit gerade dieser sprachlichen Region immer wieder zu neuen Zweifeln verführen mag.(*Fußnote folgt am Ende) Ist es aber nicht Resultat genug, sich verführen zu lassen? Die Grammatiker haben es nicht getan und Wustmann ist weit davon entfernt. Er macht sich wohl über allerhand Sprachdummheiten Gedanken, aber nicht ohne jene durch diese zu vermehren. Namentlich hat es ihm auch der Konjunktiv angetan, zu welchem ich darum gern zurückkehre. Er spricht von der  kläglichen  Hilflosigkeit unserer Papiersprache«, der er etwa die korrekte Wendung zuschreibt:

Es ist eine Lüge, wenn man behauptet, dass wir die Juden nur  a n g r e i f e n , weil sie Juden sind.

Es müsse »unbedingt« heißen: »a n g r i f f e n«, denn »es muss der Konjunktiv stehen, und das Präsens ‚angreifen‘ wird nicht als Konjunktiv gefühlt«. Das  zweite ist wahr, das erste ist falsch, denn es muss der Indikativ stehen. (»Angriffen« würde aber als der Indikativ imperfecti gefühlt werden.) Selbst wenn es schlechthin hieße: »es ist eine Lüge, wenn man behauptet, dass wir die Juden angreifen«, so wäre der Indikativ nicht unrichtig, wiewohl wir die Juden  tatsächlich nicht angreifen. Was vom Berichtenden hier als falsch hingestellt wird, ist zwar der Inhalt einer bestimmten Behauptung, jedoch einer, die eben in ihrer Bestimmtheit ausdrücklich schon als Lüge deklariert ist. »Mir meldet er aus Linz, er läge krank«: da wird der Inhalt der Meldung erst durch den  Konjunktiv angezweifelt. Nun heißt es aber vollends, es werde behauptet, dass wir die Juden »nur angreifen, weil sie Juden sind«. Es wird sogar der Inhalt der  Behauptung, dass wir die Juden angreifen, bestätigt und nur der Grund des Angriffs in Abrede gestellt. »Weil sie Juden sind«: das wollte Wustmann offenbar  nicht bezweifelt wissen; Wunder genug, dass er nicht trotzdem »seien« verlangt oder »wären« erlaubt hat. Hervorragend ist der Mangel an  Unterscheidungsfähigkeit, mit dem er seine Vorschriften erlässt. Er führt eine Reihe von Sätzen an, die nach seiner Meinung falsch sind, und setzt »das  richtige immer gleich in Klammern daneben«. Da findet sich denn:

Er hatte .. den Wunsch geäußert, die Soldaten mögen (möchten!) ..nicht zielen.

Richtig, aber nicht weil der Satz den Konjunktiv erfordert, sondern weil der Konjunktiv hier als Ersatz für das fehlende »dass« auch dann eintreten müsste,  wenn diesem der Indikativ folgte.

Es ist ein Irrtum, wenn behauptet wird, dass sich die Ziele .. von selbst ergeben (ergäben!).

Es ist ein Irrtum: hier ist kein Konjunktiv beabsichtigt.

Von dem Gedanken, dass in Lothringen ähnliche Verhältnisse vorliegen (vorlägen!) … muss ganz abgesehen werden.

Hier kann ein Konjunktiv beabsichtigt sein, darum wäre das
Imperfekt möglich.

Es wird mir vorgeworfen, dass ich die ursprüngliche Reihenfolge ohne zwingenden Grund verlassen habe (hätte!).

Verlassen hat er sie ja, vorgeworfen wird ihm nur die Grundlosigkeit, also ist der Indikativ richtig. Dagegen: »es wird mir (schlechthin) vorgeworfen, dass ich  sie verlassen  h ä t t e«; es ist nicht wahr, ich habe sie nicht verlassen. Aber es dürfte — wie oben bei dem Angriff auf die Juden — berichtigt werden: »es ist eine  Lüge, wenn mir vorgeworfen wird, dass ich sie verlassen  h a b e«. Die Unwahrheit des Vorwurfs kann ich durch den Konjunktiv charakterisieren, wenn ich  aber den Vorwurf eine Lüge nenne, so bedarf ich des Konjunktivs nicht mehr. Durch diesen würde ich meine eigene Aussage als zweifelhaft hinstellen.

H. Grimm geht von der Voraussetzung aus, dass ich den Unterricht bekrittelt habe (hätte!).

Hier hat Wustmann recht, denn es wird eine falsche Voraussetzung Grimms angenommen, die nicht anders als durch den Konjunktiv entwertet werden kann,  während oben die Behauptung, dass sich die Ziele ergeben, als solche feststehen mag, um eben als »Irrtum« entwurzelt zu werden. Aber er schließt  summarisch: »dass die Verfasser dieser Sätze den Indikativ  h ä t t e n  gebrauchen wollen, ist nicht anzunehmen; sie haben ohne Zweifel alle die Absicht  gehabt, einen Konjunktiv hinzuschreiben«; und sie hätten eben fälschlich den papierenen Konjunktiv präsentis oder perfecti erwischt, der als solcher nicht  erkennbar ist. Aber woher wusste Wustmann, dass sie, wenigstens zum Teil, nicht den Indikativ beabsichtigt haben? Und wie hätte er in diesem Falle  bewiesen, dass es fehlerhaft sei? Wustmann schreibt, es sei nicht anzunehmen, dass sie den Indikativ  h ä t t e n  gebrauchen wollen. Ich nehme an, dass selbst er hier den Indikativ hat gebrauchen wollen, also zu sagen gehabt hätte: »dass sie den Indikativ  h a b e n  gebrauchen wollen«. Sein eigener Zweifel ist ja durch die Negation im Hauptsatz (»nicht anzunehmen«) konsumiert und was er geradezu »nicht annimmt«, ist als Tatsache zu setzen. (Sonst würde er ja seine  eigene Nichtannahme bezweifeln.) Wenn ich nun soeben schrieb: »dass er zu sagen gehabt          h ä t t e«, so stellt dieser Konjunktiv den besonderen Fall einer  gedachten Bedingtheit vor, auf den ich schon hingewiesen habe. Auch in direkter Aussage würde es hier heißen: »er hätte zu sagen gehabt« (ergänze: während er gesagt hat). Er aber hätte vermutlich sogar das Folgende gesagt oder erlaubt: »Es ist nicht anzunehmen, dass die Verfasser behaupten würden, die Sätze, die  sie geschrieben   h ä t t e n, seien Indikativsätze.« Hier liegt der Fall vor (den Sanders richtig heraushebt), dass der Zwischensatz eine Bemerkung des  Aussagenden ist und nicht eine Bemerkung dessen, von dem ausgesagt wird, dass es also heißen muss: »… behaupten würden, die Sätze, die sie geschrieben  h a b e n, seien Indikativsätze«. Vielfache stilistische Rücksicht kann hier wie überall gegen die Vorschrift gelten. Aber doch umso mehr gegen eine Erlaubnis,  die von keinem Gedanken bezogen ist. Supra grammaticos wird immer die künstlerische Entscheidung stehen und ein scheinbarer Fehler dürfte manchmal  gegen alle Regel alles Recht von der gedanklichen Vollmacht seiner Umgebung erhalten. Eben solchem Wert kann sprachlogisches Bemühen, das Richtige  vom Unrichtigen zu unterscheiden, nur zugutekommen. Richtig gebaut ist zum Beispiel ein Satz in einer Erklärung, die ich in einer Polemik der Arbeiter-Zeitung zitiert finde und die eine Ausnahme vom Wiener Amtsdeutsch zu bilden scheint:

In den letzten Tagen ist in Versammlungen wiederholt behauptet worden, Vizekanzler Dr. Dinghofer  h a b e  sich gegenüber einer Abordnung des Reformverbandes der Hausbesitzer geäußert, die Hausbesitzer  k ö n n t e n  sich auf den vielumstrittenen Beschluss der steiermärkischen Landesmietenkommission auch ohne amtliche Kundmachung des Beschlusses berufen. Demgegenüber wird  f e s t g e s t e l l t, dass der Vizekanzler eine solche Erklärung nicht abgegeben h a t. Er hat nach den Ausführungen des Sprechers der Abordnung, der seine eigenen Ansichten vortrug, lediglich bemerkt   u.  s.  w.

Weit entfernt, aus dem richtigen Ausdruck des Sachlichen auf die sachliche Richtigkeit zu schließen, gehe ich zu der polemischen Antwort über. Sie enthält  eine kuriose Fügung, der man häufig bei einem Publizisten begegnet, dessen Fehler besser sind als die Vorzüge anderer Zeitungsleute:

Wonach es wohl so sein wird, dass Herr Dr. Dinghofer den Hausbesitzern das gesagt  h a b e, was sie hören wollten ….

Aber da es doch einem entgegengehalten wird, der seine Worte verleugnen möchte, so könnte es gar keinen indikativeren dass-Satz geben als diesen und er  müsste natürlich lauten: »dass er ihnen gesagt       h a t«. Hier hat wohl das »wohl« des regierenden Satzes den indikativen Charakter des abhängigen Satzes zu  Unrecht beeinflusst. Warum sollte denn ein Zweifel an der eigenen Deutung ausgedrückt sein? Es soll doch nur das vom andern Teil Gesagte entwertet  werden, nicht die Entgegnung, welche durch das »wohl« ja noch ironisch verstärkt wird. Nun, es ist wohl der Absprung einer jähen Feder, während die Willkür in modis und temporibus geradezu das System einer Tagesschriftstellerei ausmacht, die im falschen Modus gern ihre Bildung und im falschen Tempus deren  Imperfektheit zeigt. Was aber bedeuten selbst solche Formsünden in einer Sphäre, wo fast jedes Wort, das hervorkommt, Sünde wider den Geist ist, wo  überhaupt nur mehr gestottert wird, um den schäbigsten Sachverhalt an einen Leser heranzubringen, der es vielleicht doch etwas besser sagen könnte, wenn  er nicht täglich diesem verderblichen Einfluss ausgesetzt wäre, so dass er schließlich selber zum Journalisten taugt. Ein Theaterkritiker, dessen apodiktische Ödigkeit sich in kurzen Absätzen auslebt, die jeder für sich nur einen Satz, aber dafür einen schlechten bilden, beschwert sich über seinen Sitznachbarn:

… der junge Mensch vergnügte sich damit, die Schnur an  d a s  Aluminium des Feldstechers zu  r e i b e n, was ein kreischendes, kratzendes, Nerven erregendes Geräusch verursachte.

Kein Wunder, wenn »an etwas reiben« als Akkusativ konstruiert wird. Aber das Geräusch hört nicht auf, denn:

… er  w e t z t e  die Schnur ausschließlich dann an  d a s  Fernglas, wenn der Vorhang hochgegangen war.

»An etwas wetzen« als Akkusativ ist freilich auch eine rechte Störung im Theater. Damit man aber sieht, was so ein Sitznachbar imstande ist, fasst der Kritiker seine Eindrücke noch
einmal zusammen:

… Er  r i e b  und  w e t z t e   die verdammte Schnur an  d a s  verdammte Aluminium. Für meine Erfahrung war das eine neue Nuance.

Für meine auch. Es muss schrecklich sein, so empfindlich für alle Geräusche, aber so verlassen von allem Sprachgefühl im Theater zu sitzen. Offenbar  verwechselt man »reiben« und »wetzen« mit »rühren« und »stoßen«. In diesen Wörtern ist auch die Bewegung »an den« Gegenstand hin enthalten, »an dem«  sich der Vorgang abspielt, während dort nur dieser selbst ausgedrückt wird. Man stößt sich an dem oder an das (gegen die Sitte anstoßende) Benehmen des  Sitznachbarn, der aber die Schnur bloß an  d e m  Aluminium reiben oder wetzen kann. Freilich, in der Wiener Presse würde es heißen: »man s t o ß t  sich«, wie  man ja dort auch »l a u f t«. Aber das Analphabetyarentum ist geradezu erfinderisch in Ausbau und Vertiefung dessen, was als Zeitungsdeutsch schon  eingelebt ist. Dass in diesen Kreisen » n a c h d e m « längst auf die temporale Bedeutung zugunsten der kausalen verzichtet hat, ist bekannt. Bühnen-Ausflüge  fanden statt, nachdem der Wettergott ein Einsehen gehabt hatte: aber nicht »als«, sondern »weil«. Sie finden sogar statt, nachdem heute schönes Wetter »ist«.  Dass aber »nachdem« nebst dem Präsens-Charakter sogar einen futurischen sich zuziehen kann, bedeutet eine große Errungenschaft. Beides ist in dem  Folgenden geglückt:

Man wird sich überall in allen Theatern, die für Frau Roland in Betracht kommen, fragen, weshalb die Roland eigentlich aus dem Burgtheater weg musste,               n a c h d e m   Schauspieler und  Schauspielerinnen, die sich mit dieser Frau bei weitem nicht messen können, seit Jahren behaglich im Burgtheater  s i t z e n  und wahrscheinlich bis an ihr seliges Ende dort sitzen bleiben  w e r d e n.

Dieses »nachdem« bedeutet schon nicht mehr »weil«, sondern »während dagegen«. N a c h d e m   etwas geschehen  w i r d: einen temporellen Inhalt da  hineinzudenken, dürfte ohne Kongestion nicht möglich sein. Es gelänge auch nicht am Beispiel einer bequemeren Materie, etwa: Man wird sich überall  fragen, weshalb Herr Bekessy eigentlich von Wien weg musste, nachdem seine Redakteure in Wien schreiben und wahrscheinlich bis an ihr seliges Ende hier  weiter schreiben werden. (In Wien sitzen wird nicht einmal er.) Dass der Tandelmarktjargon druckreif geworden ist, ja dass es überhaupt keine andere  Schriftsprache mehr gibt als ihn, offenbart der flüchtigste Blick in ein Zeitungsblatt. Es ist bereits möglich geworden, dass eine Wendung in Druckerschwärze erscheint wie diese:

Nach und nach entdeckte sie, dass es ihm an  S a c h e n  fehle, w a s  jeder andere .. besitzt.

Oder diese:

weil sie mit ihm Nachtmahl essen war.

Man fragt sich nun, wie (nicht wieso) insbesondere (nicht insbesonders) solches möglich ist. Denn es versucht geradezu den Jargon konstruktiv einzurichten.  Schon die Wendung: »Ich war mit ihm essen« ist im Privatleben selten. Man hört gerade noch: »Ich war essen« und nur als
Antwort, nämlich durch die Verführung der Frage: Wo warst du? Man kann sich akustisch vorstellen, dass einer bekennt: »Ich war baden«, aber doch nur als  Antwort auf die Frage, was er unternommen habe. Fragt man einen, der sich nebenan im Badezimmer aufhält: Was tust du?, so könnte er natürlich nicht  antworten: Ich bin baden. Auf die Frage, was er tun werde, nicht antworten: Ich werde baden sein. Sondern nur: Ich bade, oder: Ich werde baden. Für die Vergangenheit geht es irgendwie vom Mund. Nie aber selbst von diesem innerhalb einer festen Fügung, mit dem nachgestellten Hilfszeitwort: weil ich baden  war, weil ich essen war, oder gar: »weil ich mit ihm Nachtmahl essen war«, also als richtiggehende Wortfolge. Hier ist Neuland des Jüdelns erobert. Außer bei  ganz wenigen einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens wie »essen«, »baden«, eventuell »tanzen«, »eislaufen«, also was man so zu tun hat — aber schon  nicht bei »schlafen«, welches doch nicht so kurz abgemacht wird — ist dieser entsetzliche Infinitiv mit diesem entsetzlichen »war« vorstellbar. Dem Leser, der das, was ihm im intimsten Kreis von der Lippe fließt, als kausale Konstruktion gedruckt findet, wird sogar noch das Mauscheln verhunzt. Er liest von einem  Mann, der einen Preis gewonnen hat (denn mit so etwas entschädigt jetzt die Zeitung ihre Opfer):

… ist nach einer halben Stunde noch so aufgeregt, dass er den Bleistift nicht führen kann, um sich  d i e   A d r e s s e  zu notieren, a n  d e r  er heute            p h o t o g r a p h i e r t  w e r d e n   s o l l.

Aber der Reporter kann die Feder führen. Ein anderer schäkert:

Schauen Sie sich den blauen Luftballon an, mit s e i n e n  s c h w e l l e n d e n  F o r m e n, der so hübsch  a n  d e r  zierlichen Hand Ihrer Nachbarin in die Höhe  r a g t.

Oder er plaudert im Metapherndrang über Orangenschalen:

Der Fuß  s t o l p e r t leicht über die  d i c k e  H a u t  des süßen Obstes.

Sonst rutscht man in solchem Falle nur aus; aber die Metapher bleibt insofern doch heil, als man von derlei Geistern eben sagen kann: Das stolpert über eine  Orangenschale! Wenn sie nur die Feder in die Hand nehmen, sehen sie schon nicht mehr das Ding, das sie beschreiben wollen, und verlieren noch die  Vorstellung, die sie nicht haben. Auf diese Art können aber sogar Zeichnungen entstehen. Im Analphabetyarenblatt ist eine erschienen: ein alter Mann steht  vor einer Wiege, in der ein Säugling schreit. Titel: »Breitner ist Vater geworden«. Text:

— Was, nur ein Mäderl? Bei  d e r  Steuerpolitik, da muss man Junge kriegen …

Versteht man, was da passiert ist? Der Analphabetyar, der die »Idee« gehabt hat, war der Meinung, dass die Redensart: »Da muss man Junge kriegen« den  Plural von »ein Junge« enthalte. Dass zu den Jungen, die man kriegt, gleichfalls ein Mäderl gehören kann, ahnte er nicht. »Ein Junges« (»das Junge«), Plural »Junge« (»die Jungen«) — »Ein Junge« (»der Junge«), Plural »Jungen« (»die Jungen«). Lässt man nun den Blödsinn zu, dass der Steuerpolitiker selbst »Junge  kriegt«, während die Verzweiflung, die in der Redensart ausgedrückt wird, doch der Zustand der Besteuerten ist, so hätte der »Witz« natürlich lauten müssen:  »Was, ein  K i n d? Ja, bei der Steuerpolitik, da muss man Junge kriegen!« Oder, dem Sachverhalt entsprechender: »Wie,  e r  ist Vater geworden? Und wir haben  geglaubt, dass w i r  Junge kriegen müssen!« So ist denn ein Zeichner das Opfer eines geworden, der nicht schreiben kann. Da heißt es immer, dass aller Anfang schwer sei; weit schwieriger ist alle Endung. Der Analphabetyar wird sich im Zweifelsfalle immer für die unrichtige entscheiden. Er spricht davon, dass die  Luxussteuer »für eine ganze Reihe von  A r t i k e l  aufgehoben« wurde. Gleich darauf wird aber »der erste der drei Gruft d e c k e l n  abgehoben«. So geht es auf  und ab, aber immer falsch. Ein sehr häufiges Wort in diesen Kreisen ist doch »Mädel«; also wäre als Mehrzahl zu merken: die Mädel, der Mädel, den Mädeln.  (Wozu gleich ein für allemal gesagt sei, dass der Genitiv von »Fräulein«: des Fräuleins, jedoch der Plural: die Fräulein heißt). Die Endung »-el« scheint in der  Wiener Presse geradezu panikartig zu wirken. Sie wissen nicht, dass die Mehrzahl des Neutrums wie des Maskulinums nur im Dialekt (oder dort wo die  stilistische Absicht diesen verlangt) das »n« verträgt. Also vielleicht »Mäderln«; keineswegs aber »Erdäpfeln«, dagegen »Kartoffeln«. Im Zentralblatt der  Bildung hat kürzlich einer geglaubt, dass eine Epistel sächlichen Geschlechtes sei und folgerichtig konstruiert: »E i n e s  dieser  E p i s t e l  lautet«. Vor dem  Fehler: »Eines dieser Episteln« hat er sich gehütet; doch vielleicht lernt er noch, dass »eine dieser Episteln« das Beste ist. Offenbar hat er gedacht, mit  »Epistel« sei das so wie mit »Kapitel«. Aber einer, der die Artikel verwechselt, sollte keine Artikel schreiben; höchstens Episteln. All dies und speziell »eine  ganze Reihe von Artikel« ist gewiss bloß aus der Einschüchterung durch mich zu erklären. Ich hatte den analphabetyarischen Plural »die Artikeln« ebenso  wie »die Titeln« gerügt, und da traute man sich halt nicht mehr. Es ist wohl eine der kulturell besondersten Tatsachen, dass der Beruf, dessen Aufgabe es ist,  Artikel zu schreiben und Titel darüber zu setzen, sogar an der Bezeichnung dessen strauchelt, was er nicht kann. Und weil sie das Wesentliche nicht wissen, so  wissen sie auch nicht, dass »ein Trottel« selbst in der Mehrzahl nur Trottel ergibt.

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*) Unheimlich ist aber auch der genaue Anschluss dieses Gedankenganges an die Untersuchung, die in dem Kapitel zur Sprachlehre durchgeführt ist: »Vom Bäumchen, das andere  Blätter hat gewollt« (Nr. 572—576, Juni 1921), welches ich vom Zeitpunkt seiner Drucklegung an bis zur Nacht nach dem Vortrag des neuen Kapitels nicht angesehen habe. Dort gelangt die Untersuchung, ausgehend von dem Problem der mit dem Artikel zusammengezogenen Präposition, zu eben derselben Unterscheidung der Relativbegriffe, nur dass noch nicht deren Besetzung mit »welcher« und »der« vorgenommen erscheint. Es wird zwischen dem koordinierten Relativsatz unterschieden und dem subordinierten, bei dem aber das  Verhältnis so fest sei, »dass der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr loslässt«. Hier eben sei die Zusammenziehung des Vorworts mit dem Artikel (vom, am, zum, im, beim) verfehlt. Ein Beispiel war: »Vom ältesten Wein, den ich gekostet habe« und »Von dem ältesten Wein, den ich gekostet habe«. Dem ersten Fall — wo ich sagen will,  dass ich den überhaupt ältesten Wein gekostet habe — wäre im Sinne der neuen Untersuchung »welchen« angemessen. Im zweiten Fall (»Von dem«) hat der Artikel hinweisenden  Charakter, kann also nicht mit »von« verschmolzen werden. Es ist unter den Weinen, die ich gekostet habe, der älteste, während dort von dem ältesten Wein als solchem die Rede ist, welcher noch überdies als derjenige, den ich gekostet habe, bezeichnet (identifiziert) ist. Der Unterschied zwischen einer attributiven und einer »definierenden« Bedeutung des Relativums wurde klar gemacht. Am klarsten an dem fehlerhaften Schillerwort »Zum Werke, das wir ernst bereiten«. Das »Zum« vertrüge nur die Fortsetzung: »welches wir (nämlich, übrigens, eben) ….« Zum Werke, n ä m l i c h  zu demjenigen, das wir …. = Zum Werke, welches wir …. Gedacht aber ist: Zu demjenigen Werke, das wir …. = Zu dem Werke, das wir …. (Artikel demonstrativen Inhalts.) Zu einem [solchen] Werke, das ernst getan wird, muss auch ernst gesprochen werden. Sehr wesentlich war ferner die Unterscheidung von dem  anderen klassischen Fehler: »Vom Rechte, das mit uns geboren ist«. In beiden Fällen enthält der Relativsatz kein bloß hinzutretendes Moment, sondern den vollen Begriff des  Gegenstandes. Im zweiten ist der Fehler größer, da hier mit dem dichterischen Gedanken auch dem äußern Sinn Abbruch geschieht. Im Schiller-Zitat spielt sich die Antithese von ernstem Tun und ernstem Reden ab, doch das »Werk« ist dasselbe. Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Gedanken des Hauptsatzes: der Forderung des ernsten Wortes, und dem des Relativsatzes: dem Moment des ernsten Bereitens, jener wird von diesem bedingt; doch die Vorstellung des Werkes ist gegeben. Bei  Goethe  ist die Antithese an die              v o r h e r  gesetzten »Rechte« geknüpft, die sich forterben; es wird nunmehr von einem ganz andern »Recht« gesprochen, demjenigen, das mit uns geboren ist. Folgerichtig würde das der Konstruktion »V o m  Rechte« entnommene Recht etwa das Jus bedeuten, von dem dann  sonderbarer Weise ausgesagt wäre, dass es mit uns geboren ist. Dazu und zu allem, was in jenem Kapitel enthalten ist, ergibt sich nun freilich etwas noch Schwierigeres, das den Fall zur  alle macht. Hier scheint die  d e t e r m i n a t i v e  Beziehung in die  a t t r i b u t i v e  überzugehen. Hier — in dem Fall einer Wesensbestimmung, wo die Anwendung von »welches« nicht möglich ist — fällt doch der Hauptton dem Prädikat des Relativsatzes anheim. Wie geht das zu? Im Blick auf das obige Beispiel: »Der eine, welchen ich gegrüßt habe …. der andere, welchen ich nicht gegrüßt habe« und das davon abgeleitete Betonungsmoment könnte man sich in ein Chaos versetzt fühlen. Da ich ein solches für äußerst tauglich halte, um zur Ordnung zu führen, will ich dem, der den Willen hat, den Weg weisen bis zu dem Punkt, wo der Unterschied klar wird. Es geht also um den Vergleich mit bereits charakterisierten Rechten, und nun gelangt man zunächst zu dem Ergebnis: Von dem Rechte, das mit uns geboren ist = Von dem  a n d e r n  Rechte, (nämlich) welches mit uns  g e b o r e n  ist. Das ist, wie sich zeigen wird, nur äußerlich richtig.Es ist nur scheinbar der Fall wie mit dem »einen, welchen ich  g e g r ü ß t  habe«. Denn darin kontrastieren zwei schon  v o r h a n d e n e  Begriffe, deren  Kontrast relativisch dargestellt wird. In der Goethezeile aber  e n t s t e h t  der    e i n e  Begriff erst durch die relative Bestimmung, um dann mit dem vorhandenen zu kontrastieren. Was hier geschieht, ist, dass der durch den Relativsatz gleichsam  e r w o r b e n e  Begriff des »gebornen Rechtes« dem Begriff der »sich forterbenden Rechte« entgegengestellt wird. Das Kontrastmoment erzwingt auch hier die Betonung wie in dem Fall jener rein attributiven Beziehung; aber man könnte hier weder »welches« setzen noch darf die Präposition mit dem Artikel verschmolzen werden, während man in jenem Fall sehr wohl sagen könnte: » v o m  einen, welchen ich gegrüßt habe ….« »Vom Rechte, welches« wäre nur möglich, wenn der Begriff dieses Rechtes (als Naturrecht, als Menschenrecht)  b e r e i t s   f e s t s t ü n d e. Selbst dann nur wäre auch möglich: »Von dem Rechte, welches« oder »Vom andern Rechte, welches«. Denn auch dieses wird erst durch das Moment des Mitgeborenseins definiert. Es kann, im  wohlerhalten  Goetheschen  Sinne,  nur »von d e m  –      j e n i g e n  Rechte, das« die Frage (oder leider nie die Frage) sein. Es ist allerdings ein »anderes« Recht als die bereits gesetzten, aber eines, das erst begrifflich bestimmt wird. Es ist das »mit uns  g e b o r n e  Recht«, auch »das andere, das mit uns geborne Recht« (welches aber ja nicht verwechselt werde mit dem »andern mit uns gebornen Recht«). Dagegen bedeutet, wie schon seinerzeit  ausgeführt, »v o m  Rechte, das« (welches): dass von einem absoluten Recht die Rede ist und nebenbei gesagt wird, dass es mit uns geboren ist. Also nicht, wie es richtig wäre: von dem mit uns  g e b o r n e n  Recht, sondern: von dem mit uns gebornen  R e c h t  (im Gegensatz zu anderen mit uns gebornen Dingen, etwa der Pflicht). Das »Recht« zieht eine ihm nicht gebührende Tonkraft an sich. Das ganze Problem löst sich in der Durchschauung des Artikels, der dem führenden Wort vorangeht. »Der Mann, den ich bekämpft habe«: wenn »Der« hinweisenden Charakter hat wie »Ein«, »Ein solcher«, »Derjenige«, so wird der Begriff des Mannes durch den Relativsatz mit »den« bestimmt. Ist es bloß der Artikel zu einem bereits begrifflich gesetzten »Mann«, so tritt nur ein Merkmal hinzu: »welchen ich bekämpft habe«. Die Verschmelzung der Präposition mit dem Artikel ist dort, wo er hinweisenden Charakter hat und ein bestimmender Relativsatz nachfolgt, unmöglich, denn die Beziehung hängt vom Artikel ab, dessen Kraft wieder so stark ist, dass sie das Komma aufzehren kann. Dagegen könnte dieses nicht fehlen, wo die Verschmelzung möglich ist und der Relativsatz nur eine absondernde Bedeutung hat. Um also zum ersten Beispiel zurückzukehren: »Von dem ältesten Wein(,) den ich gekostet habe« und »Vom ältesten Wein, welchen ich gekostet habe«. Hier ist es der älteste Wein überhaupt, dort der älteste unter  d e n e n, die  u.  s.  w. Hier ist die  Rede »vom ältesten, von mir gekosteten«, dort »von dem ältesten von mir gekosteten Wein«. Nun könnte in diesem schwierigsten aller Abenteuer der Sprache noch der Einwand auftauchen: Sollte bei richtiger Erfassung des Unterschieds nicht die verkehrte Anwendung der Pronomina statthaben? »Welcher« bezeichnet doch eher etwas wie die Kategorie, die Gattung, die Sorte, determiniert doch eher (als dass es bloß beifügt), siehe die Verbindung »derjenige, welcher« (welche ich für bedenklich halte). Richtig, aber erst innerhalb des hinzutretenden Umstandes, nach erfolgter Bestimmung des allgemeinen Begriffs. Das wird am deutlichsten, wenn dieser selbst eine Gattung bezeichnet: »Der Löwe, welcher der König der Tiere ist«  attributiv] und: »Der Löwe, der entsprungen ist«, also das Individuum Löwe, dessen Vorstellung ich erst durch diese Aussage bestimme [determinativ]. (Dagegen: »Der [eine] Löwe,  w e l c h e r  entsprungen ist« — im Vergleich mit einem andern Individuum Löwe, von welchem anderes ausgesagt wird [attributiv und nur scheinbar determinativ, da dem schon gesetzten Begriff bloß ein unterscheidendes Merkmal beigefügt wird].) In die Apposition gebracht: »Der Löwe, der König der Tiere (Komma!)« und »Der entsprungene Löwe«. (Im Vergleich: »Der Löwe, der entsprungene«.) Müsste sich nun nicht für »welcher« eine Rechtfertigung aus dem  f r a g e n d e n  »welcher« ergeben? Wie gelangen wir zu ihr? »Der Löwe,  welches Tier der König der Tiere ist« (und im Beispiel des Vergleichs: »Der Löwe,  welcher  Löwe  entsprungen ist«).  Hierin  ist  schon das  fragende »welcher«  enthalten.  D a s   b e z ü g l i c h e   F ü r w o r t      »w e l c h e r«    t r i t t    d o r t    e i n,  w o   i h m    b e i   v  o l l e r              E n t w i c k l u n g   d e s  S i n n e s  d e r  A u s s a g e   d a s   f r a g e n d e  »w e l c h e r «  e n t s p r i c h t. Also: Welches Tier ist der König der Tiere? Der Löwe. (Und im Vergleich der zwei Löwen: Welcher Löwe ist entsprungen? Der afrikanische.) Dagegen: »Der Löwe, der entsprungen ist, stammte aus Afrika« lässt keine a n a l o g e  Frage (mit »welcher«)  a u s  d e m  B e g r i f f  d e s    R e l a t i v s a t z e s  zu, nur aus dem des Hauptsatzes: Woher stammte er? Also auch:  Welchen Wein habe ich gekostet? Den ältesten. Im andern Falle (»Der älteste Wein, den ich gekostet habe ….«) nur aus dem Begriff des Hauptsatzes, etwa: Wie hat er geschmeckt? — Die  volle Bestätigung des dargelegten Unterschieds empfange man aus dem Vergleich von »was« (trotz dessen weiterer Bedeutung) und »das«. Sollte man ihn nicht erkennen, w a s   ich  bedauerlich fände, so würde ich das Axiom, d a s   ich aufgestellt habe, gleichwohl nicht zurückziehen. Doch dürfte die Unterscheidung schon so deutlich sein, dass sie auch den Fachleuten einleuchten wird, vielleicht sogar den Schriftstellern, welchen ich freilich die Befassung mit den Problemen des Wortes weder zumuten noch zutrauen darf.


Mein Widerspruch. Von Karl Kraus

01. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR 1927 XXVIII. JAHR


S.36

Mein Widerspruch

Wo Leben sie der Lüge unterjochten, war ich Revolutionär.

Wo gegen Natur sie auf Normen pochten, war ich Revolutionär.

Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.

 

Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten, war ich Reaktionär.

Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten, war ich Reaktionär.

Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.


Literatur ist … .Von Karl Kraus

25. September 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 294—295 ERSCHIENEN AM 4. FEBRUAR 1910 XI. JAHR  S. 37- 38

Eine Entschuldigung:*)

Literatur ist, wenn ein Gedachtes zugleich ein Gesehenes  und ein Gehörtes ist. Sie wird mit Aug’  und Ohr geschrieben. Aber Literatur muß gelesen sein, wenn ihre Elemente sich binden sollen. Nur dem Leser (und nur dem, der ein Leser ist) bleibt sie in der Hand. Er denkt, sieht und hört, und empfängt das Erlebnis in derselben Dreieinigkeit, in der der Künstler das Werk gegeben hat. Man muß lesen, nicht hören, was geschrieben steht. Zum Nachdenken des Gedachten hat der Hörer nicht Zeit, auch nicht, dem Gesehenen nachzusehen. Wohl aber könnte er das Gehörte überhören. Gewiß, der Leser hört auch besser als der Hörer. Diesem bleibt ein Schall. Möge der stark genug sein, ihn als Leser zu werben,damit er nachhole, was er als Hörer versäumt hat.

*) Als Einleitung des ersten und des zweiten Leseabends gesprochen.


Der Versuch. Von W.K. Nordenham

09. September 2011 | Kategorie: Sprache, Versuch

Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung  kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.

Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist.

K a r l    K r a u s

 

Der Versuch. Von W.K. Nordenham

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DIE FACKEL Nr. 404 5. DEZEMBER 1914 XVI. JAHR . Von Karl Kraus.

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In dieser großen Zeit

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muss das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!                                                                                                 ( Beginn der ersten Vorlesung im Kriege vom 19.11. 1914, veröffentlicht am 5.12.1914 in „Die Fackel“  )

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So sprach Karl Kraus zum Ausbruch  des 1. Weltkrieges im Jahre 1914, der ersten als groß wahrgenommenen Apokalypse, der zweiten Walpurgisnacht. Wie aktuell klingen seine Worte! Nach unzähligen weiteren großen und kleinen Apokalypsen an allen Ecken und Enden der Erde, mit weitaus mehr Toten als in  beiden Weltkriegen zusammen, angesichts  der Tatsache, dass es überall und immer genug Waffen für Hungerleider gibt, die mit diesen die Auspressung ihrer Mitmenschen planen, durch deren Elend oder Tod sodann die Bezahlung der Mordinstrumente erfolgen muss, deren Enderlös eine Bank irgendwo auf der Welt  als Gewinn für wen auch immer verbucht, angesichts dieser Tatsache muss laut geschwiegen werden.  Haben Krieg und Vernichtung von Menschen  aufgehört? Hat der heutige Leser an Karl Kraus Beurteilung Wesentliches zu ändern? Allenfalls eines, dass wir uns heute das, was noch gestern unmöglich schien, zehn Jahre nach dem 11.9.2001 vorstellen können,  weil es gerade wieder in Afghanistan, Irak, Somalia, in Syrien oder im Sudan und vor unserer Haustür geschieht, zu welchem verlogenen Zweck auch immer.

Der Zweck heiligt die Mittel nicht, der Sinn heiligt sie. Einhundertund- siebenunddreißig Jahre nach Karl Kraus´ Geburt und  fünfundsiebzig Jahre nach seinem Tod erneut ein Rotes Heft zu beginnen, erscheint so unmöglich wie notwendig. Die Unmöglichkeit ist beglaubigt durch das Vorbild Karl Kraus. Die Notwendigkeit dazu ersteht täglich neu aus der Wahrnehmung einer Zivilisation, die alle Erwartungen in ihr vollständiges Versagen erfüllt. Von Menschlichkeit führt der Weg über Humanität auf gerader Linie zur reinen Publizität. Öffentlich sei der Mensch, mediengläubig und manipulierbar. Je unüberschaubarer die Masse sinnentleerter Daten, je undurchdringlicher das Labyrinth von Information und Desinformation, desto sicherer verfällt der hominide Nachrichtenmüllschlucker dem Rattenfänger, welcher in Euro und Cent, an Hand von Umsätzen, Auflagen und Einschaltprozenten, den Gewinn misst, der mit der Zeit, dem Leben und Blut immer der anderen erlöst wird. Der Mensch und das Wort werden benutzt, wo sie  gebraucht würden, und das Benutzen hinterlässt die Fingerabdrücke ungezählter Medienwichte, die mit Wortnebel einhüllen, mit Sensationsbildern nichts wirklich zeigen und mit Schlagzeilen erschlagen. Im Bedeutungsrausch torkelnde Talker sondern Vacuumsätze ab und lassen in der Medienwelt herumgöbeln, dass man mit dem Entsorgen nicht nachkommt. Sie wähnen sich witzig, aber es ist nur der  Wahnwitz. Grundsätzlich Kritisches, ein wahrhaftes Infragestellen, welches nachhaltige Folgen schlimmstenfalls ins Sinnhafte haben könnte, findet schon deshalb nicht statt, weil es die Abschaffung der meisten Medienformate nach sich ziehen müsste. Der gelegentlich  gehobene Alibizeigefinger landet zuverlässig, weil ohne Rat und Richtung, als Geste für das, was sein sollte, aber nicht sein darf oder kann, zielsicher und verlegen, bestenfalls im Nasenloch.  Das soll diese Seite, seit 10 Jahren geplant, als Versuch ändern, wohl wissend, dass es nichts nützen wird. Denn im Zeitalter des Internet stellt sich durch dieses eine Vervielfältigung des Gemeinen ein, der nolens-volens nur in ihm begegnet werden kann. Ich bin mir bei aller Bemühung schmerzlich bewusst,dass ich aus der Not eine Tugend mache, und obwohl ich mich auch tugendhaft glaube,was den Sinn angeht, handele ich doch insofern aus Not, weil meine Mittel zu reinem Umgang mit der Sprache  nicht ausreichen, um Karl Kraus Genüge zu tun. Daher wird es vorkommen, dass  die Form den Inhalt  mehr bestimmt als sie ihm diente und sie nicht sie zusammengehören „wie Seele und Leib“.

Wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren, dann verlieren die Menschen ihre Freiheit, sagt Konfuzius. Angesichts einer vielstelligen Anzahl von Fernsehsendern und ungezählten bunten Blättern darf der Verlust der Freiheit für die Mehrzahl der Konsumenten bei maximaler Freizügigkeit als eingetretenes Phänomen betrachtet werden. Der Konsument ist  längst zum  Kon-Sumo mutiert, ein Vielfraß in jeder Beziehung. Wird dem Konsumenten noch eine scheinbare Wahl gelassen, greift der multimedial gleichgeschaltete Konsumo willig nach allem, was man ihm hinhält. Mit programmatisch eingetretenem Schädel lauscht er dem Singsang der Worthülsen, der schon deshalb keine Sphärenmusik sein kann, weil ihn jeder hört und zwar ununterbrochen und überall.  Eine Unterhaltungsindustrie, deren Zweck vor allem darin besteht, den Unterhalt der Eigner und weniger Nutznießer zu erhalten, martert selbst noch die dümmste Phrase zu Tode und opfert ohne Skrupel für eine “traumhafte” Einschaltquote den Anspruch auf  jeden messbaren Intelligenzquotienten. Die Massenakzeptanz mutiert zur Qualitätsgarantie, so als wollte man  Toilettenpapier zum  bedeutendsten Papiererzeugnis erklären. Mit einer Boulevardzeitung in der Hand wird der Vergleich zwar plausibel, aber man zieht das Toilettenpapier vor. Das Ergebnis für den Konsumo debilis ist nicht traumhaft sondern traumatisch. Das Wort aber gehörte in keinen Verfügungsraum. Es müsste freundlich mit ihm umgegangen werden, und Freunde benutzt man nicht. Fehlte uns die Sprache, verflachten wir seelisch wie weiland ein Kaspar Hauser, ohne aber dessen Empfindsamkeit bewahrt zu haben. Wer die Freude zum Jauchzen bringt, erlebt im Worte das Vergnügen, ebenso wie der, welcher der Not, der Verzweiflung und Trauer sogar Freude abzugewinnen vermag, wie Hölderlin im Epigramm „Sophokles“:

Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen, Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.

Und welche Kontemplation erlaubt eine Ruhe über den Gipfeln?  Wer solches Gedicht für banal hält, überstellt es dem Journalismus, der nur dem Tag huldigt, während  es doch  jener Ewigkeit entliehen ist, der die Sprache entstammt.

Das Abgenutzteste, Geschundenste dieser Wörter heißt “Verantwortung”, dessen Bedeutung sich in das Gegenteil verkehrt hat. Ein Rotes Heft übernahm vor einhundertundzwölf Jahren die Verantwortung für Inhalt, Absicht und Folgen. Heutzugtage  „tragen“ alle immer und überall Verantwortung,  ohne sie  im Ernstfall   übernehmen zu wollen. Sie haben sie nicht, sie tragen ja nur. Aber wohin? Wo wird Verantwortung von den Trägern abgelegt und entsorgt?  Auf die direkte Frage, wer sie habe,  findet sich niemand, der sie vor kurzem noch pfaulich herumtrug. Sie trägt sich halt so dekorativ. Politiker tragen sie am überzeugendsten und besonders gern für alles, wofür man sie nicht direkt belangen kann, Firmenchefs für Entlassungen nach Rekordgewinn und zur Sicherung immer wieder der Arbeitsplätze, die mobilen Geschäftemacher vom unehrlichen Makler bis zum Waffenhändler tragen sie für das, was sonst eben ein “Anderer” machen würde, und letztendlich tragen sie mordbrennende Fanatiker im Namen einer beliebigen Ideologie, die mit der Idee nichts gemein hat als nur den Anfangsbuchstaben und die Gemeinheit. Ohne Publizität fände ein bedeutender Teil dieser Schandtaten nicht statt, weil sie für die Publizität begangen werden, welche die ephemeren Medien  im ständigen Kreislauf   herstellen und damit  verursachen, worüber sie lediglich zu informieren vorgeben. Denn Angst vor Öffentlichkeit hindert eben jene nicht, die erst durch Öffentlichkeit zu ihrem jämmerlichen Leben erweckt werden, sei es für einen Monat, eine Woche oder nur für einen Tag. Die Prämissen der Umsatzintellektuellen verlangen den Rauch auch ohne Feuer. Die daraus resultierende Untergang des Geistigen wird von Boulevardpresse und Buntbildsendern als Possenspiel mit Kultstatus inszeniert. Jede Belanglosigkeit wird zur Schlagzeile aufgeblasen, mit der auf die sogenannten Konsumenten eingedroschen wird, bis die Schädeldecke allein zur Hohlraumversiegelung taugt. Dafür übernehmen Wirtschaft und Staat uneingeschränkt eine folgenlose Verantwortung; denn: Wer schränkte sie ein? Der mündliche, also laute Bürger bestenfalls, der demonstrativ die Freiheit einfordert, die ein Grundgesetz verspricht, welchem aus Staatsraison bei Bedarf der Gummiknüppel zugeordnet wird. Ob sich die Hüter der Ordnung dann noch als solche verstehen dürfen, wäre nicht die Frage, wenn – ja, wenn der Sinn die Mittel heiligte und nicht der Zweck.

Als sich der arbiter linguae Karl Kraus mit der Fackel aufmachte, um die Welt mit der Sprache zu erleuchten und der kollektiven Dummheit ein Licht aufzusetzen, war klar, dass es nicht darum gehen konnte die Welt zu verändern, sondern zu beschreiben, dass sie untergeht, wie Kjerkegard folgerte. Karl Kraus oft verzweifelte Trauer über den unausweichlich sich fortsetzenden freien Fall der Menschheit und seine kompromisslose Menschlichkeit  sichern ihm bis dato  den Status des glaubhaftesten Analytikers einer Zeit, die seine war und unsere ist. Er starb vor fünfundsiebzig Jahren und wird mit jedem Jahr lebendiger. Die hier vorliegende Internetseite hat die Absicht ein Forum für jene zu sein, denen die Flüchtigkeit so fern ist wie das Bleibende nah, mit jenem Rest an Hoffnung, der den Versuch rechtfertigt. Dabei werden vor allem etliche Texte aus “Die Fackel” erscheinen, welche durch die erneute Veröffentlichung ihre Aktualität nachweisen.

Sprache altert nicht. Die neue Rechtschreibung wird, soweit erkennbar nötig, übernommen. Fußnoten werden ggf. für zeitgenössische Leser hinzugefügt. Aber es werden auch andere Autoren zu Wort kommen, die  über die Zeit sprechen, über sie Zeit hinausreichen oder sie beschreiben, wenn sie sich des Wortes annehmen. Karl Kraus korrigierte immer bis auf den letzten Beistrich. Das wird mir nicht fehlerfrei gelingen, weshalb Korrekturempfehlungen erwünscht sind und laufend vorgenommen werden. Das Wort soll beim Wort genommen werden. Ich wohne nicht als Epigone im alten Haus der Sprache, aber ich suche den Weg dorthin, auf welchen weit, weit vorn die Fackel aufleuchtet. Walter Benjamin fand nichts trostloser als Kraus`Adepten. Das muss ich auf mich nehmen. Es ist weder Ziel noch Absicht, zu schreiben wie Karl Kraus, sondern nach Karl Kraus, weil jeder mir gelungen erscheinende Satz immer noch meilenweit  hinter seiner Vorgabe zurückbleiben muss. So kann ich nur versuchen, den seit seinem Tod täglich zunehmenden Leerraum in der Medienwelt durch das Echo seiner Zeilen, meiner Kommentare und hoffentlich bemerkenswerter Beiträge außerordentlicher Zeitgenossen, im Laufe der Zeit, wenn schon nicht kleiner, so doch bewusst zu machen. Aber einer musste anfangen, wenigstens das Pfand für das ungenießbare mediale Sprachleergut einzufordern. Der Name „Das Rote Heft“ formuliert zudem einen Anspruch, dem auch ein Besserer als ich nicht gewachsen wäre. Dem längst erhobenen Vorwurf  von Leuten – die Karl Kraus aus Selbstschutz oder Hybris nie zu lesen wagten -, das sei eine Nummer zu groß für mich, kann ich gelassen begegnen: Mindestens Zwei!  Deshalb werde ich die Fähigkeiten moderner Elektronik schamlos nutzen, um das Geschriebene zu überprüfen, zu korrigieren, zu ergänzen oder zu kürzen, damit ich vielleicht irgendwann so nahe an das Wort herankomme wie eben möglich.Vor der Unendlichkeit der Sprache wird an dieser Stelle von vornherein die Unzulänglichkeit sowohl vor ihr als auch vor Karl Kraus eingestanden. Beide bitte ich um Nachsicht.