01. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Künstler, Menschenwürde
Die Fackel
Heft 250 – 251 1908 S. 30 -33
Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde in seine Hand gegeben oder es fasst ihn ihr ganzer Jammer an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. Ich habe mich viel und eingehend mit der Menschenwürde beschäftigt, habe in meinem Laboratorium die verschiedensten Untersuchungen darüber angestellt und muss bekennen, dass die Versuche in den meisten Fällen schon wegen der Schwierigkeit der Beschaffung des Materials kläglich verlaufen sind. Die Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer dort zu scheinen, wo sie nicht ist. Der Fähigkeit gewisser Tiere, die Gestalt lebloser Körper oder Pflanzen anzunehmen, welche man Mimikry nennt und die die Natur erfunden hat, damit sie ihre Verfolger zum Narren halten können, entspricht beim Menschen die sogenannte Würde. Er zieht ein Kleid an und stellt sich in Positur. Der Hauptmann von Köpenick aber war es, der dieser unterhaltlichen Schutzvorrichtung selbst wieder einen Possen gespielt und die menschliche Mimikry entlarvt hat; als er mit Würde daherkam, ergab sich die Würde, als er mit Trommeln und Pfeifen einzog, ging die Autorität flöten, und darum ist es begreiflich, dass er jetzt in einem Zuchthaus an der Schwindsucht sterben muss. Man sagt, er habe sich bloß den Scherz einer Verkleidung erlaubt; aber in Wahrheit hat er mehr getan, er hat die Verkleidung eines Ernstes enthüllt. Wenn ein Shakespearescher König wahnsinnig wird, so benützt er die Gelegenheit, um Weisheiten auszusprechen, die man ihm sonst übelnähme; man würde ihn für verrückt halten. Auch der Narr ihm zur Seite genießt die Vorteile seiner Stellung: nähme man ihn ernst, man ließe sich von ihm auch nicht die kleinste Wahrheit gefallen. Er darf seinen König einen Narren nennen, der König darf die Behauptung wagen, dass man »dem Hund im Amt gehorcht«, und der Schuster in der Uniform kann beweisen, dass der Hund im Amt dem Schuster in der Uniform gehorcht. Einem Mann, der lange Zeit im Kostüm eines persischen Generals die höchsten Kreise einer Residenzstadt zu seinem eigenen Besten gehalten hatte, kam man endlich darauf, dass er eigentlich gar kein persischer General oder, wenn er einer sei, dass er noch avancieren müsste, um den Rang eines europäischen Korporals zu erreichen. Jener wahnsinnige König hat sofort die Wahrheit erkannt; denn er sagte: »Euch, Herr, halte ich als einen meiner Hundert; nur gefällt mir der Schnitt eures Habits nicht. Ihr werdet sagen, es sei persische Tracht; aber lasst ihn ändern.« Wenn er ihn nun ändern lässt und sich etwa zur Uniform des Schweizer Admirals aus »Pariser Leben« entschließen sollte, wird er darum nicht weniger beliebt sein. Die Menschenwürde, mag sie selbst als Takowa-Orden verliehen oder als päpstliche Jubiläumsmedaille um den Hals gehängt werden, sie gewährt in allen Formen Schutz vor Verfolgung und bringt den Respekt jener ein, die noch nicht auf die Idee verfallen sind, sie sich zu verschaffen. Die Würde, die das wahre Verdienst einst um den Vermittlungspreis bekam, ist jetzt unter dem Herstellungspreis zu haben. Vorbei die Zeiten, da ein Gregers Werle mit der idealen Forderung umherging, die Medaillen, die die Bahnhofportiers auf der Brust tragen, müssten revidiert werden. Heute schafft der Besitz die Berechtigung. Früher hatten die Hochstapler von der Dummheit gelebt; jetzt bereichert sich die Dummheit auf Kosten der Hochstapler und beutet sie in der rücksichtslosesten Weise aus. Denn die Menschenwürde verleitet zur Erzeugung falscher Ehrenzeichen und wenn der Schwindler eine Zumutung zurückweist, dem Dummen gelingt es stets noch, ihn zu überlisten. Vor allem aber wollen die Leute einen Titel hören, unter dem sie sich nichts vorstellen können. Man kann dem hochmütigsten Beamten den Fuß auf den Nacken setzen, wenn man ihm sagt: »Ich bitte mir diesen Ton aus, Sie scheinen nicht zu wissen, dass ich Exhibitionist bin!« Die Menschenwürde hat die Eigenschaft, sich selbst so zu imponieren, dass sie sofort nachgibt, wenn sie aufbegehrt. Ich kenne eine Stadt, in der sie an jeder Straßenecke solche Siege feiert. Auch dort hat jetzt Gottseidank ein Kutscher die gleichen politischen Rechte wie ein Baron, aber wenn er ihn zum Wahllokal befördert hat, so sagt er zu ihm: »Küss die Hand, Euer Gnaden!« Als der Staatswagen dahintorkelte, Riss das Volk die Tür auf. Aber es stellte sich heraus, dass es nur Wagentürl-Aufmacher waren. Man fragte sie, was sie wollten, und sie sagten: »Euer Gnaden, wissen eh!« Sie wollten ein Trinkgeld, man gab ihnen die Menschenwürde, und sie brummten: »So a notiger Herr! …« Ich habe eine wahre Hochachtung vor dem Menschenrechte der Freiheit, so sehr, dass ich der Freiheit das volle Recht auf die Menschen zuerkenne, die sie verdient. Ich habe eine unbegrenzte Ehrfurcht vor den politischen Rechten; wenn aber der Absolutismus des Trinkgelds nicht abgeschafft ist, so glaubt das Volk, ein Achtundvierziger sei die Rufnummer eines Fiakers, und ein Unnummerierter ist doch mehr. Ich kenne einen Hoflieferanten, der sich ins Privatleben zurückgezogen hat, nicht ohne dass ihm der Verkehr mit den hohen Herrschaften, die er bedient hatte, zu Kopf gestiegen wäre. Er benimmt sich noch heute in jeder Lebenslage so, als ob er eine Lieferung für die Königin von Hannover zu effektuieren hätte. Die geheimsten Wünsche und Beschwerden des Bürgerherzens kommen ans Tageslicht, und als er einmal in einem öffentlichen Lokal eines leibhaftigen Aristokraten ansichtig wurde, verbeugte er sich und rief: »Zu Füßen des Herrn Grafen, zu Füßen!« Es war mir wie die Vision eines unblutig niedergeworfenen Aufstandes. Ein radikales Gemüt kann wieder auf Lebenszeit von einer Leitartikelphrase verwirrt werden. Ich glaube, dass die Politik immer entweder daran krankt, dass die Ideen aus kleinen Köpfen in kleinere Herzen oder aus kleinen Herzen in kleinere Köpfe übergehen. Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, dann bekommt er die Masern, dann die Würde, und mit der weiß er schon gar nichts anzufangen. Ausgenommen, wenn er Kartellträger wird. Das ist nämlich die einzige Situation, in der der Philister herumgeht, als ob er der Mandatar der Vorsehung wäre. Weh dem, der ihn in dieser Würde nicht ernst nimmt, er erhebt sich mit einem »Pardon, dann hab ich hier nichts mehr zu suchen!«, und das Protokoll, die Reinschrift der Würde, ist fertig. Wenn nicht hin und wieder ein Kommis fixiert würde, wir wüssten nichts von den ehernen Gesetzen, die uns an das Schicksal binden. »Würde« ist die konditionale Form von dem, was einer ist. Wenn aber Würde nicht wäre, gäbs keine Würdelosigkeit. Sie provoziert die Gaffer, und wo Gaffer sind, stockt der Verkehr. Die Überwindung der Menschenwürde ist die Voraussetzung des Fortschritts. Ich habe sie in allen Situationen gesehen. Sie glaubte sich unbeobachtet, und ich sah, wie ein Kellner vor einem Trinkgeld, das ein Gast auf dem Tisch zurückgelassen hatte, sich verbeugte und »Ich danke vielmals« sagte. Ein anderes Mal bemerkte ich, wie er sich bückte, um eines Kreuzers, der in einen Spucknapf gefallen war, habhaft zu werden. In einem doppelten Symbol fasste mich der Menschheit ganzer Jammer an. Wo ist die Menschenwürde? fragte ich. Jener verstand schlecht, glaubte, ich verlange eine abgegriffene illustrierte Zeitung, und sagte: Bedaure, sie ist in der Hand!
10. Oktober 2012 | Kategorie: Artikel, Menschenwürde, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Bernhard Diehl wollte Arzt werden, aber bekam nicht sofort einen Studienplatz. So ging er 1968 als Krankenpflegehelfer für die Malteser nach Vietnam, um das Elend der Menschen zu lindern und arbeitete in einem Hospital, das jeden Monat mehreren tausend Verletzten, Zivilisten wie Soldaten, kostenlos medizinische Hilfe leistete. Aber irgendwie war Bernhard Diehl für den Vietcong trotz des roten Kreuzes auf der „anderen Seite“. In den Wirren des Krieges wurde er vom Helfer mit Malteserkreuz zum Gefangenen und vier lange Jahre festgehalten. Von den fünf gefangenen deutschen Helfern überleben nur zwei. In der Gefängniseinzelzelle entsteht u.a. das Lied/Gedicht eines Schuldlosen, der wie ein Mörder gehalten wird. Damals war er 23 Jahre alt. Hier klingt der Schrei all derer an, die auch heute schuldlos in den Gefängnissen der Welt sitzen, von Guantanamo bis Baghram, von Minsk und bis Pjöngjang. Es ist der Schrei, den ein Munch gemalt hat, ein Schrei, der im Universum nicht verstummen wird, solange irgendwo auf der Welt der Unschuldige leidet. Der Text ist entnommen dem Band:
Gedichte und Liedertexte
Dr. med. Bernhard J. M. Diehl
August von Goethe Literaturverlag
179 S. TB 2009 (erhältlich über amazon)
Seht da den Mörder … (Bekenntnis eines Schuldlosen)
Wenn nachts die Ketten rasseln, wach ich auf aus meinem Schlaf,
Denn ich weiß, ein neuer Mörder wird gebracht.
Und dann hör ich Leute lachen, hör Befehle laut und scharf,
und ich denk daran, dass man auch mich verlacht.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Die Gitterstäbe rosten, der Putz fällt von der Wand,
Und morgens modern Ratten vor der Tür.
Ich sitz´ auf meinem Holzbett, hab´ Ketten um die Hand,
Nur Brot und Wasser, sonst gibt´s hier nichts mehr.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Zweimal am Tage waschen, mal morgens früh um sechs
und dann noch einmal nachmittags um zwei.
Ich fasse einmal Essen und esse wie verhext,
Und dann ist so ein Zellentag vorbei.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Hier gibt es keine Butter und kein weiches Ei,
Und Wurst hat diese Zelle nie geseh´n.
Ich sammle meine Kippen, mal zwei oder auch drei
Und kann dann aus dem Rest ´ne neue dreh´n.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Die Decken sind vermottet, die Seife rationiert,
und in dem Holzbett sitzen Wanzen drin.
Mein Pisspott hat zwei Löcher und wenn ich urinier,
Dann stinkt die ganze Bude nach Urin.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Warum bin ich gefangen? Was hab ich denn getan?
Wann lasst ihr mich denn endlich mal nach Haus?
Ich schreie diese Fragen, doch keiner stört sich dran… .
Wer hier mal sitzt, kommt nicht so schnell heraus.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
01. Oktober 2012 | Kategorie: Menschenwürde, Notizen zur Zeit, Randnotizen
Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted.
Es sollen weder übermäßige Kautionen verlangt noch übermäßige Bußgelder verhängt noch grausame und ungewöhnliche Bestrafungen angewendet werden.
Los Angeles – Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international hat scharfe Kritik an den Zuständen in kalifornischen Gefängnissen geäußert. Rund 3000 Häftlinge seien in Gefängnissen des US-Bundesstaats in fensterlosen Isolationszellen inhaftiert ohne Zugang zu Arbeit, Mithäftlingen oder Rehabilitierungsprogrammen, erklärte Amnesty am Donnerstag. 78 Häftlinge seien bereits mehr als zwei Jahrzehnte in derartigen Zellen eingesperrt.(…)Laut Amnesty sind die Isolationszellen eigentlich für besonders gefährliche Häftlinge wie Gang-Mitglieder vorgesehen, doch viele der Insassen litten unter Geistes- und Verhaltensstörungen oder würden für wiederholte kleinere Vergehen bestraft. Wright erklärte, Amnesty erkenne zwar die Notwendigkeit an, im Falle von Bandenkriminalität einzelne Häftlinge zu isolieren. Doch sollte Isolationshaft nur in außergewöhnlichen Fällen und nur für kurze Zeit eingesetzt werden. (APA, 27.9.2012)
Focus 28.09.2012,San Francisco
Amnesty: «Grausame» Haftbedingungen in Kalifornien
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat scharfe Kritik an den Zuständen in kalifornischen Haftanstalten geübt. (…) Die kalifornische Gefängnisverwaltung wehrte sich gegen die Vorwürfe. Die Haftanstalten würden der « n a t i o n a l e n N o r m » entsprechen, sagte die Beamtin Terri McDonald der «Los Angeles Times». « S i e s i n d s a u b e r . S i e s i n d s i c h e r .» (dpa)
Wenn das also die n a t i o n a l e N o r m ist, wir uns über S a u b e r k e i t u n d S i c h e r h e i t keine Sorgen machen müssen, dann haben wir gleichzeitig eine Erklärung dafür bekommen, warum die Befürworter der Foltermethode des sogenannten Waterboarding aus der Zeit der Regierung des George W. Bush nicht zur Verantwortung gezogen werden. Man hielt eine Simulation des Ertrinkens vermutlich auch für im Rahmen der N o r m , da durch den Gebrauch von Wasser die S a u b e r k e i t u n d S i c h e r h e i t nicht gefährdet wurde, wohl aber die Verfassung, der 8. Z u s a t z a r t i k e l d e r a m e r i k a n i s c h e n Ve r f a s s u n g b e s c h m u t z t w u r d e u n d w e i t e r h i n w i r d , weil Haftbedingungen, wie die oben beschriebenen, zur N o r m erklärt werden können, und stattdessen eine öffentliche Erklärung hinreicht, dass alles s a u b e r u n d s i c h e r ist. Wo gehobelt wird, da fallen späne, weiß der Volksmund, seinen es auch Späne vom Stammholz der einer Verfassung. Amnesty irrt daher, wenn man ausführt, dies würde allein internationale Richtlinien verletzen. Ein Blick in die amerikanische Verfassung genügt. Ich fühle mich hier, in der zugegeben intellektuellen Diaspora des vor 250 Jahren aufgeklärten Europa, aber keinesfalls sicher und auch nicht sauber, wenn ich an Haftanstalten hierzulande denke, in denen nach Grundgesetz Artikel 1 die Würde des Menschen unantastbar zu sein hat, sie zu achten und zu schützen die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Aber vermutlich handelt sich da bei mir um ein Missverständnis. „Würde“ scheint dem Konjunktiv des Verbs „sein“ entlehnt und zwar grammatikalisch im Imperfekt – Vergangenheit also. „Würde“ sei also Konjunktiv Imperfekt von „sein“, und auf einmal wird alles wieder stimmig. Das klingt dann ebenfalls sauber und sicher und bewegt sich absolut im Rahmen der Norm.
07. Mai 2012 | Kategorie: Artikel, Justiz, Menschenwürde, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist
Spiegel-online 12.3.2012
Kind für Missbrauch gezeugt – Langjährige Haftstrafen für Paar aus NRW
Die Vorwürfe waren ungeheuerlich: Melanie R. und Benjamin P. sollen ein Kind gezeugt haben, nur um es später sexuell zu missbrauchen. Das tat der Vater dann auch, als das Baby fünf Wochen alt war. Jetzt muss das Paar ins Gefängnis.
Essen.- Der Plan war so entsetzlich, die Umsetzung so grausam, dass die Tat „außerhalb des Bereichs unserer Vorstellung“ liege, betonte Staatsanwalt Gabriel Wais am Landgericht Essen. Melanie R., 26, und Benjamin P., 27, sollen ein Kind gezeugt haben – aus einem einzigen Grund: Sie wollten es sexuell missbrauchen.
Am Montag wurde das Urteil in dem Fall gesprochen. Der 27-jährige Angeklagte aus Gelsenkirchen wurde zu a c h t , seine ein Jahr jüngere Partnerin zu f ü n f J a h r e n Haft wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt. D i e R i c h t e r b l i e b e n m i t d e m S t r a f m a ß für Benjamin P. u n t e r d e n von Staatsanwalt Wais g e f o r d e r t e n z e h n J a h r e n . Ein Gutachter hatte beide Angeklagten für v o l l s c h u l d f ä h i g erklärt.(…)
„Die Angeklagten haben einen schutzlosen Säugling zum bloßen Objekt ihrer sexuellen Begierde degradiert und seine M e n s c h e n- w ü r d e m i t F ü ß e n g e t r e t e n „, sagte der Vorsitzende Richter Heinz – Günter Busold in der Urteilsbegründung. Die Richter hätten im Verlauf des Prozesses in Abgründe menschlichen Handelns und Denkens geblickt, die sie “ f a s s u n g s l o s und b e t r o f f e n machen“, so der Vorsitzende.(…)
Wenn irgendjemand Zweifel an Sinn und Zweck der Frage gehabt hat, zu was eine human sich nennende Spezies nicht nur fähig, sondern auch imstande sei, welche Schandtat sie nie und nimmer begehen würde und was ihr unbedingt zuzutrauen sei, hier wird ihm Antwort zuteil. Das schlimmste Vorstellbare greift zu kurz, der Schrecken trifft mitten ins Herz. Sei es der schriftstellerische Auswurf des kranksten Gehirns oder seien es die Phantasieauswürfe psychopathischer Filmemacher, nichts, aber auch gar nichts, vermag die Ungeheuerlichkeit zu einzuholen, die durch die obige Mitteilung belegt wird und vor der noch der ärgste Alptraum kapitulieren muss. Der Artikel geht ins Detail. Ich sehe mich nicht in der Lage mehr von dem wiederzugeben, was niemand wissen will und keiner sich vorstellen kann. Lange habe ich gezögert überhaupt zu schreiben, da mir das Wort fehlte während der Zorn wuchs. Es gibt Ereignisse, die den Geist lähmen, in Lethargie verfallen lassen, wo man den Aufschrei der geschundenen Weltseele zu hören glaubt und sich das Bewusstsein aus Selbstschutz der Mitteilung verweigern will. Beim Ausbruch des 1.Weltkrieges, des großen aus einer Sektlaune begonnenen Völkermordens und als die Zeit durch die Nazis 1933 in Blut getaucht wurde, da wieder niemand Einhalt geboten hatte, gab es diese Momente für Karl Kraus. Das große Grauen beschreibt auf alle Zeit Auschwitz. Aber im scheinbar menschlich Kleinen, welches eben darum für groß zu gelten hat, wiederholt sich der tägliche Schrecken oder vielmehr, er setzt sich fort.
Die abgenutzte Metapher vom menschlichen Abgrund kann im vorliegenden Fall in ihrer Bedeutung vollendet und dem Wortsinn getreu erfahren werden, weil erst das Adjektiv „menschlich“ den Abstieg in die tiefsten Tiefen des Ekels und der Widerwärtigkeit beglaubigt und man allein deshalb dem Abgrund die Bodenlosigkeit zutraut, in die ein Tier sich nie je verirren würde. Kein noch so abgründiges Höllenwerk scheint der Unnatur des Menschen wesensfremd, eben gerade weil sie menschlich ist. Das ewig Menschliche zieht nicht hinan, sondern hinab. Die dünne Schicht kultureller Errungenschaften, welche die humane Unzulänglichkeit als Zivilisation ausgibt, kaschiert notdürftig, was dem Tier an Natur verloren ging, als es Mensch ward. Ohne das Menschsein je erlangt zu haben, gedachte dieser Missgriff der Schöpfung das scheinbar Animalische von sich abwerfen zu dürfen ohne sich über die Folgen Rechenschaft zu geben, die bloßes Menschsein nach sich ziehen würde. Nichts einfacher und daher unnützer als mit dem Kulturmäntelchen zudecken zu wollen, was selbst durch ein Zaubergewand nur unsichtbar, aber niemals ungeschehen gemacht werden könnte. Sophokles Wort aus Antigone – “ Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“- habe ich immer so verstanden, dass im Ungeheuer Mensch nicht nur Ungeheures sondern vor allem Ungeheuerliches angelegt ist.
Der Abscheu wird verstärkt durch die Tatsache, dass die Justiz selbst dieses unfassbare Delikt nicht des Höchstmaßes der Strafe für würdig erachtete, sondern Gründe fand, die offenbar Gelegenheit zu Milde boten. Die Würde des schutzlosen Säuglings sei „mit Füßen getreten“ worden, so der Richter. Selten klang eine Phrase so dümmlich und deplaziert. Wenn doch nur dieses geschehen wäre! Und zwischen den sodann aufgebotenen Befindlichkeitsadjektiven „fassungslos und betroffen“ scheint mir sehr wohl ein wertiger Unterschied, wobei man auf die Reihenfolge achte, welche die Floskel zuverlässig von echter Empfindung scheidet und den Mangel an Tiefe aufdeckt. Es ist das Urteil des Gerichtes, das die Würde des Kindes nochmals missachtete, als es die Tat der Höchststrafe für unwürdig befand. Schon lange – spätestens seit dem Versagen der belgischen Justiz im Falle Dutroux – bedrängt mich eine perfide Ahnung, als ob nämlich ein Hodenträger dem anderen aus unbewusstem Skrotalkonformismus nolens-volens etwas nachzusehen hätte, wenn es um Missbrauch geht, der ja durchweg von Männern ausgeführt wird oder wurden schon einmal vermehrt weibliche Päderasten entdeckt, die sich an Kindern oder gar Säuglingen vergingen? Vergewaltigen Frauen reihenweise Jungen und Mädchen oder hat auch hier die Riege der Hodenträger inklusive der per ordre Vaticano Depravierten die absolute Hoheit? Viel zu oft habe ich noch nach Jahrzehnten den Schmerz der Opfer miterleben müssen, als sie mir davon sprachen, wie wenn es gestern gewesen wäre, da man ihre Seele mordete. Im Talmud und später im Koran heißt es, dass wenn jemand einen Menschen tötet, so solle es sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet. Es ist an der Zeit, dass sich die Hodenträger aus der Gesetzgebung für männliche Sexualtäter heraushalten und bei der Aburteilung dieser Taten vom Richteramt wegen Befangenheit zurücktreten, vielmehr dies Frauen überlassen, in der zugegeben vagen Hoffnung, dass Würde nicht noch mehr beschädigt und der Seelenmord, den jede dieser Taten unstrittig zur Folge hat, als solcher wahrgenommen wird und strafrechtlich im Sinne des Opfers wahrhaft gewürdigt.