Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Tagebuch III. Von Karl Kraus

18. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Tagebuch

DIE FACKEL

Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr.  S. 15 – 32


Tagebuch

Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen.

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Wie souverän doch ein Dummkopf die Zeit behandelt! Er vertreibt sie sich oder schlägt sie tot. Und sie lässt sich das gefallen. Denn man hat noch nie gehört, dass die Zeit sich einen Dummkopf vertrieben oder totgeschlagen hat.

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Seitdem faule Apfel einmal in der deutschen Dramatik zur Anregung gedient haben, fürchtet das Publikum, sie zum Gegenteil zu verwenden.

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»Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu unbekannten fliehn«. Ich verstehe aber nicht, wie die Rechtfertigung der monarchischen Staatsform bis zur Begeisterung gehen kann.

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Ein Liebesverhältnis, das nicht ohne Folgen blieb. Er schenkte der Welt ein Buch.

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Der Balkan liegt da wie das große Hindernis »Kultur«, das unsere christliche Zeit vor einem Rückfall in heidnische Sitten bewahrt. Wer das Land der Griechen mit der Seele sucht, bekommt Läuse.

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Liebe soll Gedanken zeugen. In der Sprache der Gesellschaftsordnung sagt die Frau: Was werden Sie von mir denken!

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Die Treue wäre kein leerer Wahn, wenns keine Schlafwagenkondukteure gäbe.

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Nun, ein so besonderes Vergnügen ist die Enthaltung vom Weibe auch nicht, das muss ich schon sagen.

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Es gibt keinen Ort, der eine größere Öffentlichkeit bedeutet, als ein Lift, in dem man angesprochen wird.

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Ein schönes Kind hört an der Wand eines Schlafzimmers ein scharrendes Geräusch. Sie fürchtet, es seien Mäuse, und ist erst beruhigt, da man ihr sagt, daneben sei ein Stall und ein Pferd rühre sich. »Ist es ein Hengst?« fragt sie und schläft ein. Der Traum von einem Leutnant ist gesellschaftsfähiger. Etwa auch die Frage: Mama, was ist das ein Hengst? … Auch gebe ich zu, dass Wildbäche in Privatwohnungen unbequem sind. Aber man sollte sich doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, sie zu bewundern.

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Dasselbe Mädchen sagte einmal von einem, der ihr nachgegangen war: »Er hatte einen Mund, der küsste von selbst.« Wäre je einem jungwiener Dichter solch ein Satz gelungen, ich hätte ihn in mein Herz geschlossen.

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Seit vielen Jahren schon versäume ich den Frühling. Aber dafür habe ich ihn zu jeder Jahreszeit, sobald ich die Stimmung eines Tags der Kindheit mir hervorhole, mit dem jähen Übergang vom Einmaleins zu einem Gartenduft von Rittersporn und Raupen. Da ich vermute, dass es dergleichen nicht mehr gibt, halte ich persönliche Erfahrungen in diesem Punkt geflissentlich von mir fern.

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Es war eine Flucht durch die Jahrtausende, als sie in der kältesten Winternacht von einem Theaterball halbnackt auf die Straße lief, in den tiefsten Prater hinein, Kellner, Kavaliere und Kutscher hinter ihr her. Eine tödliche Lungenentzündung brachte sie in unser Jahrhundert zurück.

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Ich stelle mir ihn nicht unrichtig vor. Wenn er anders ist, so beweist das nichts gegen meine Vorstellung: der Mann ist unrichtig.

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Wenn ich einschlafe, spüre ich so deutlich, wie die Bewußtseinsklappe zufällt, dass sie für einen Augenblick wieder offensteht. Aber es ist nur die Vergewisserung, dass das Bewusstsein aufhört. Gleichsam das Imprimatur des Einschlafens.

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Wer schlafen will und nicht kann, der ist ohnmächtiger als wer schlafen muss und nicht will. Dieser hat die Ausrede des Naturgebots, dem man freilich mit schwarzem Kaffee trotzen kann. Jener lässt sich ein gutes Gewissen, hilft’s nicht, einen deutschen Roman, schließlich Morphium verordnen. Würdig sind solche Mittel nicht. Die menschliche Natur wird vom Schlaf überwältigt; da sie den Schlaf nicht überwältigen kann, lerne sie es, ihn zu überlisten. Man zeichne die Figuren in die Luft, die er am liebsten hat; ohne das absurdeste Spielzeug steigt er nicht ins Bett: Ein Kalb mit acht Füßen, ein Gesicht, dem die Zunge bei der Stirn heraushängt, oder der Erlkönig mit Kron’ und Schweif. Man stelle die Unordnung her, die der Schlaf braucht, ehe er sich überhaupt mit einem einlässt. Man ahnt gar nicht, welche Menge von Bändern, Kaninchen und sonstigen Dingen, die nicht zur Sache gehören, man bei einiger Geschicklichkeit aus dem Zauberhut des Unbewusstseins hervorholen kann. Nichts imponiert dem Schlaf mehr. Schließlich glaubt er daran, und der Zauberer ist unter allem Tand verschwunden. Ich habe das Experiment oft mit wachstem Bewusstsein unternommen, und es gelang so vollständig, dass ich mir das Gelingen nicht mehr bestätigen konnte.

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Moralische Verantwortung ist, was dem Mann fehlt, wenn er es von der Frau verlangt.

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Wenn der Wert der Frauen absolut messbar ist, so ist er es gewiss eher nach der Fähigkeit, zu spenden, als nach dem Wert der Objekte, an die sie spenden. Nicht einmal dem Blitz, der statt in die Eiche in einen Holzschuppen einschlägt, darf man einen moralischen Vorwurf machen. Und dennoch ist kein Zweifel, dass hier die Schönheit des Schauspiels wesentlich von der Würdigkeit des Objektes abhängt, während die Blitze der Sinnlichkeit bei größerer Distanz umso heller leuchten. Nur wenn die Eiche vergebens bettelt, dass der Blitz sie erhöre, dann treffe den Blitz die Verdammnis.

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Der Vorsatz des jungen Jean Paul war, »Bücher zu schreiben, um Bücher kaufen zu können«. Der Vorsatz der meisten jungen Schriftsteller ist, Bücher zu kaufen, um Bücher schreiben zu können.

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Es gibt eine medizinische Richtung, welche die Fachausdrücke der Chirurgie auf Seelisches anwendet. Sie ist wie jede gedankliche Verähnlichung scheinbar entlegener Sphären ein Witz und wahrscheinlich der beste, dessen der Materialismus fähig ist. Wenn jetzt der Arzt das Unterbewusstsein einer Patientin auskratzen will oder wenn Gefühlsabszesse ausgeschnitten werden, so basieren solche Versuche auf einem höchst witzigen Einfall, und auf einem, der seiner Unwiderstehlichkeit umso sicherer sein muss, als die operativen Eingriffe des Seelenarztes ohne die Narkose der Suggestion erfolgen. Ich denke indes, dass es besser wäre, den echten Wert jener ingeniösen Erkenntnis der Ursachen seelischer Erkrankungen, die ihrem Finder zum Ruhme gereicht, nicht durch eine schrullenhafte Methode der Behandlung zu mindern. Der Ehrgeiz eines Meteorologen, schönes Wetter zu machen, gehört nicht zum Fach. Wäre eine seelische Analyse ähnlich ohne die Mitwirkung des Patienten durchführbar wie die seines Harns, der Versuch könnte nicht schaden, wenn er nicht nützte. Das  Verfahren jedoch, bei dem der Kranke zum Konsiliarius wird, schafft ihm ein Selbstbewusstsein des Unbewusstseins, das zwar erhebend, aber nicht eben aussichtsvoll ist. Statt ihn vom Herd seines Übels zu jagen, wird er verhalten, sich daran zu rösten, statt Ablenkung wird eine Vertraulichkeit mit seinen Leiden, eine Art Symptomenstolz erzeugt, der den Kranken  schließlich in den Stand setzt, an Anderen seelische Analysen vorzunehmen, der aber ihm selbst noch nicht geholfen hat. Alles in allem eine Methode, die augenscheinlich schneller  einen Laien zum Sachverständigen, als einen Kranken gesund macht. Auch eine Mechanisierung der seelischen Vorgänge verträgt den Versuch nicht, als Heilfaktor die Selbstbeobachtung der Symptome einer Krankheit zu setzen, zu deren Symptomen die Selbstbeobachtung gehört. Ich weiß nicht, ob man einen Beinbruch durch seelische Einwirkung heilen kann. Sicherlich eher, als ein seelisches Gebrechen durch Amputation. Der transzendentale Wunderglaube hatte den Vorzug, dass er dekorativ war. Den rationalistischen Wundern fehlt der Glaube.

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Der Psychiater verhält sich zum Psychologen wie der Astrolog zum Astronomen. In der psychiatrischen Wissenschaft hat das astrologische Moment seit jeher eine Rolle gespielt. Zuerst waren unsere Handlungen von der Stellung der Himmelskörper determiniert. Dann waren in unserer Brust unseres Schicksals Sterne. Dann kam die Vererbungstheorie. Und jetzt ist es gar maßgebend, ob dem Säugling seine Amme gefällt, in welchem Falle er die Schicksalssterne an ihrer Brust findet. Die sexuellen Kindheitseindrücke sind gewiss nicht zu unterschätzen, und Ehre dem Forscher, der mit dem Glauben aufgeräumt hat, dass die Sexualität mit der Ablegung der Maturitätsprüfung beginnt. Aber man soll nichts übertreiben. Wenn auch die Zeiten vorüber sind, da die Wissenschaft die Enthaltsamkeit von Erkenntnissen übte, so sollte man sich dem Genuss der Geschlechtsforschung darum nicht hemmungslos hingeben. »Mein Vater«, höhnt Glosters Bastard, »ward mit meiner Mutter einig unterm Drachenschwanz und meine Geburtsstunde fiel unter ursa major, und so folgt denn, ich muss rauh und verbuhlt sein.« Und doch war es schöner, von Sonne, Mond und Sternen abzuhängen, als von den Schicksalsmächten des Rationalismus!

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Nervenärzten, die uns das Genie verpathologisieren, soll man mit dessen gesammelten Werken die Schädeldecke einschlagen. Nicht anders soll man mit den Vertretern der Humanität  verfahren, die die Vivisektion der Meerschweinchen beklagen und die Benützung der Künstler zu Versuchszwecken geschehen lassen. Wer immer sich zum Nachweis erbötig macht, dass die Unsterblichkeit auf Paranoia zurückzuführen sei, allen rationellen Tröstern des Normalmenschentums, die es darüber beruhigen, dass es zu Werken des Witzes und der Phantasie nicht inkliniere, trete man mit dem Schuhabsatz ins Gesicht, wo man ihrer habhaft wird! Aber die anderen, die modernen Psychiatraliker, die uns die Werke der Großen bloß auf die  Sexualität hin prüfen, lache man bloß aus. Mir hat einmal einer den »Zauberlehrling« als einen handgreiflichen Beweis für die masturbatorischen Neigungen seines Schöpfers gedeutet. Ich war sittlich entrüstet, nicht wegen des Inhalts, aber wegen der unsäglichen Ärmlichkeit der Zumutung. Ich fühlte, wie sich zum legitimen Schwachsinn der literarhistorischen Kommentatoren allmählich ein neuer Wahnsinn geselle. Die wissenschaftlich fundierte Stimmung eines Herrenabends reklamiert den Besen des Zauberlehrlings — »oben sei ein Kopf« — für ihre besonderen Zwecke, aber sie würde gegebenenfalls auch nicht davor zurückschrecken, uns den »Mond« ebenso zu deuten, von dem es in dem wundervollen Gedicht doch heißt, dass er »wieder Busch und Tal füllt«. »Was fällt Ihnen dazu ein?« lautet die Frage des psychischen Analytikers. Aber wir haben ein Recht, sie in empörtem Ton zurückzugeben: Was  Ihnen nicht einfällt! … Man beruhigte mich mit der Versicherung, dass hier bloß eine Mitwirkung des »Unbewussten« bei Goethe angenommen werde. Dieses Unbewusste eines Dichters ist  nun freilich ein Gebiet, in dem das Bewusstsein eines Mediziners volle Bewegungsfreiheit hat. Das ist tief bedauerlich. Denn die psychischen Analysen, die an einem Privatpatienten  vorgenommen werden, sind eine Privatsache zwischen den beiden vertragschließenden Teilen, aber Kunstwerke sollten dem Untersucher schon wegen ihrer Wehrlosigkeit Respekt  einflößen. Goethe — irrsinnig? In Gottes Namen, daraus können wir uns noch etwas herausfetzen! Vielleicht sinkt die Menschheit auf die Knie und fleht, vor ihrer Gesundheit bang, den Schöpfer um mehr Irrsinn! Aber die Verurteilung zur Masturbation lässt ein Gefühl der Leere zurück; verzweifelnd empfängt man die Erkenntnis, dass selbst wenn alle Welt masturbierte, dennoch kein »Zauberlehrling« entstehen müsste. Und trostlos ist auch der Gedanke, dass er, Goethe, es nicht gewusst, nicht einmal nachträglich bemerkt hat. Er schrieb den Zauberlehrling und wusste nicht, was er bedeute. Und man hatte doch geglaubt, dass das Unbewusste eines Goethe noch immer bewusster sei als das Bewussteste eines Sexualpsychologen!

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Die alte Wissenschaft versagte dem Geschlechtstrieb bei Erwachsenen ihre Anerkennung. Die neue räumt ein, dass der Säugling beim Stuhlgang schon Wollust spüre. Die alte Auffassung war besser. Denn ihr widersprachen wenigstens bestimmte Aussagen der Beteiligten.

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Ich weiß euch eine solidere Deutung des »Zauberlehrlings«. »Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben.« In Abwesenheit eines verdienstvollen Lehrers und Finders sexualpsychologischer Erkenntnisse, versucht einer seiner Schüler die Methode selbst anzuwenden. »Seine Wort’ und Werke merkt’ ich, und den Brauch, und mit Geistesstärke tu’ ich Wunder auch.« Und er vergreift sich an einem Goetheschen Gedicht. Die Kommentierung wächst ihm jedoch über den Kopf.  »Wie sich jede Schale voll mit Wasser füllt.« Zu spät erkennt er das Unheil. »Wärst du doch der alte Besen!« Nämlich ein Besen und nicht etwas anderes, das er skrupellos dafür gesetzt  hat. Aber da nützt keine Reue, die Kommentierung wächst ins Uferlose. Kein Klassikerwort, das einen greifbaren Gegenstand bedeutet — sei’s der letzte Pfeil, den Tell im Köcher hat,  sei’s ein goldener Vogel oder Ammonshorn, wie es der Wanderer findet auf den Bergen —, ist mehr vor Deutung sicher. »Welch entsetzliches Gewässer!« Endlich kommt der Professor  Freud zurück. »Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.« Der Professor sieht, wie die Schüler die Lehre kompromittieren, und beschließt, dem groben Unfug ein Ende zu machen. Es war die höchste  Zeit. In die Ecke mit allem, was wie ein Besen aussah und etwas anderes bedeuten sollte! Seid’s gewesen, Denn als Geister Ruft euch nur,  zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister.

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Es ist mir rätselhaft, wie ein Theolog darob gepriesen werden kann, dass er sich dazu durchgerungen habe, an die Dogmen nicht zu glauben. Wahre Anerkennung wie eine Heldentat  schien mir immer die Leistung jener zu verdienen, die sich dazu durchgerungen haben, an die Dogmen zu glauben.

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Eine Stadt, in der die Männer von der Jungfrau, die es nicht mehr ist, den Ausdruck gebrauchen, sie habe »es hergegeben«, verdient dem Erdboden gleichgemacht zu werden.

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Wer ist das: Sie ist blind vor dem Recht, sie schielt vor der Macht, und kriegt vor der Moral die Basedow’sche Krankheit. Und um der schönen Augen dieses Frauenzimmers willen  opfern wir unsere Freiheit!

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Die skurrilste Form, in der sich die Menschenwürde auftut: Das empörte Gesicht eines Kellners, der auf ein Klopfen endlich herbeikommt, nachdem man vergebens gerufen hat.

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Die Plattform des Humors: Die Passagiere eines Omnibus lächeln, wenn einer beim Aufsteigen ausrutscht. Dieser lächelt, wenns ihm dennoch gelungen ist.

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Wer die Menschenverachtung an der Quelle studieren will, setze sich in ein Restaurant, das in der Nähe eines Theaters ist, und betrachte die Gesichter der einströmenden Scharen. Wie  die Spannung, die noch auf den Zügen der Dummheit liegt, allmählich nachlässt und die Zufriedenheit ein neues Ziel findet. Das Klatschen wird zum Schmatzen sublimiert. Und jeder wäre einzeln befangen und ist nur im Chorus glücklich.

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Wo beginnt denn eigentlich die Unappetitlichkeit und wo hört sie auf? Verdauungssäle gibt es nicht. Aber warum gibts keine Essklosetts? Öffentlich essen und heimlich verdauen, das  passt so den Herrschaften! Und doch geht nichts über die Schamlosigkeit einer Table d’ hôte.

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Der Deutsche sagt: Bis ich mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Und meint, dass es ihm so lange gut gehe, solange er mit der Arbeit beschäftigt ist. Der Österreicher sagt: Bis ich mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Und meint, dass es ihm erst gut gehen werde, wenn er mit der Arbeit fertig sei. Diese Anwendung des »bis« lässt beim Osterreicher auf einen grenzenlosen Optimismus schließen. Er setzt den Anfang für ein Ende. Will er aber ausdrücken, was der Deutsche meint, so hilft er sich mit einem eingeschobenen »nicht«. Er sagt: Bis ich nicht mit  der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Er bequemt sich also nicht ohne Widerstreben zu dieser Auffassung. Er ist einer, der sichs gut gehen lassen will und mit der Arbeit nicht fertig wird.

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Es gibt kein unglücklicheres Wesen unter der Sonne, als einen Fetischisten, der sich nach einem Frauenschuh sehnt und mit einem ganzen Weib vorlieb nehmen muss.

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Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun.

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In der Sprachkunst nennt man es eine Metapher, wenn etwas »nicht im eigentlichen Sinne gebraucht wird«. Also sind Metaphern die Perversitäten der Sprache oder Perversitäten die  Metaphern der Liebe.

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In der Erotik gibt es diese Rangordnung: Der Täter. Der Zuschauer. Der Wisser.

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Ein Gast des Bey von Tunis wollte eine Bastonade sehen. Sogleich wurde ein Kerl von der Straße herbeigeschleppt und geprügelt. Den Gast überkam die Humanität, denn er hatte  geglaubt, die grausame Strafe werde einen Schuldigen treffen. Der Bey von Tunis meinte: »Er wird schon was angestellt haben!« …. Es stünde auch der zivilisierten Justiz wahrlich besser an, wenn sie nicht dort bastonierte, wo einer etwas angestellt hat, sondern dort, wo einer schon etwas angestellt haben wird. Die Justizmorde wären seltener.

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Wenn ein Fürst besonders geehrt werden soll, werden die Schulen geschlossen, die Arbeit eingestellt und der Verkehr unterbunden.

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In dieser Stadt gibt es Menschen und Einrichtungen, Kutscher, Wirtshäuser und dergleichen, von denen man nicht versteht, warum sie eigentlich so beliebt sind. Nach einigem  Nachdenken kommt man aber darauf, dass sie ihre Beliebtheit ihrer Popularität verdanken.

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Wenn man vom Raseur geschnitten wird, ist man immer selbst schuld. Ich zum Beispiel zucke zusammen, wenn der Raseur von Politik spricht, und die Anderen werden ungeduldig,  wenn er nicht von Politik spricht. In keinem Falle trifft den Raseur die Schuld, wenn man geschnitten wird.

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Wie abwechslungsvoll muss das Dasein eines Menschen sein, der durch zwanzig Jahre täglich auf demselben Sessel eines Wirtshauses gesessen hat!

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Sie ist mit einer Lüge in die Ehe getreten. Sie war eine Jungfrau und hat es ihm verheimlicht.

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Ich kenne keine schwerere Lektüre, als die leichte. Die Phantasie stößt an die Gegenständlichkeiten und ermüdet zu bald, um auch nur selbsttätig weiterzuarbeiten. Man durchfliegt die  Zeilen, in denen eine Gartenmauer beschrieben wird, und der Geist weilt inzwischen auf einem Ozean. Wie genussvoll wäre die freiwillige Fahrt, wenn nicht gerade zur Unzeit das steuerlose Schiff wieder an der Gartenmauer zerschellte. Die schwere Lektüre bietet Gefahren, die man übersehen kann. Sie spannt die Kraft an, während die andere die Kraft frei macht und sich selbst überlässt. Schwere Lektüre kann eine Gefahr für schwache Kraft sein. Leichter Lektüre ist starke Kraft die Gefahr. Jener muss der Geist gewachsen sein. Diese ist dem Geist nicht gewachsen.

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Wenn Heine über den Diplomaten Eulenburg geschrieben hätte: »es fehlte ihm an Sitzfleisch und Ernst«, so hätte er hinzugefügt: natürlich nicht in jedem Sinne der Worte. Es wäre eine niedrige Pointe gewesen, im Stil jener Äußerungen über Platen, von denen man kaum begreifen kann, dass sie den literarischen Ruhm ihres Urhebers nicht erstickt haben. Heine hätte den Witz gemacht oder er hätte wenigstens sofort gemerkt, dass der ernstgemeinte Satz ein Witz sei, was auf das nämliche schöpferische Verdienst hinausläuft. Dem vollständig  humorlosen Harden fehlt die Fähigkeit, einen Witz zu beabsichtigen oder sich eines witzigen Sinnes bewusst zu werden. Nun gibt es aber nichts, was das schriftstellerische Können empfindlicher bloßstellt, als im Leser Vorstellungen zu erzeugen, die man nicht beabsichtigt hat. Lieber nicht zum Ausdruck bringen, was man meint, als zum Ausdruck bringen, was  man nicht meint. Der Schriftsteller muss sämtliche Gedankengänge kennen, die sein Wort eröffnen könnte, und sich jenen aussuchen, der ihm passt. Er muss wissen, was mit seinem Wort geschieht. Je mehr Beziehungen dieses eingeht, umso größer die Kunst; aber es darf nicht Beziehungen eingehen, die seinem Künstler verborgen bleiben. Wer den Diplomaten Eulenburg  in eine Beziehung zu »Sitzfleisch und Ernst« bringt und nicht merkt, dass er einen Witz gemacht hat, ist kein Schriftsteller. Wer freilich den witzigen Sinn der Wendung  herstellt, flößt mir nicht gerade Respekt ein. Ich hätte es damit so gehalten: Die ernste Bemerkung unterdrückt, weil ihr witziger Nebensinn mir aufgegangen wäre, und wäre sie mir als Witz eingefallen, sie gerade deshalb nicht geschrieben.

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Gewiss ist die Erwerbung von Persönlichkeit innerhalb einer Partei nicht denkbar. Steht man aber auch außerhalb aller Parteien, so kann man doch manchmal der Notwendigkeit nicht  entgehen, eine Farbe zu bekennen, die zufällig eine Parteifarbe ist. Das ist fatal, aber als Schriftsteller hat man einen ehrenvollen Ausweg. Für die anderen mag die Meinung die Hauptsache sein, aber wichtiger ist der Tonfall, in dem man eine Meinung sagt. Der Berliner Journalist, der jahrzehntelang der Lebensanschauung des Adels hofiert hat, fühlt sich im Rechtsstreit mit einem Adeligen verkürzt und ruft: »Ob der Kläger Moltke oder Cohn heißt, ist einerlei; denn vor Gesetz oder Gericht sind alle Bürger gleich.« Das ist wahr. Aber es ist mit tierischem Ernst gesagt, so, als ob das ganze Gedankenleben des Sagenden in dieser Forderung kulminierte. Ich würde in ähnlicher Lage dieselbe Forderung stellen, aber ich glaube,  dass mich beim stärksten Nachdruck, mit dem ich’s täte, noch immer eine Kluft von den Verfechtern der Menschenrechte trennte, und zwar so, dass das Gericht zur Einsicht von seiner  Ungerechtigkeit käme und die Demokratie um meinetwillen Aufhebung der Gleichheit vor dem Gesetz verlangte. Wenn ich eine liberale Forderung stellen muss, so stelle ich sie so, dass  die Reaktion pariert und der Liberalismus mich verleugnet. Auf den Tonfall der Meinung kommt es an und auf die Distanz, in der man sie ausspricht. Es ist ein Zeichen literarischer  Unbegabung, alles in gleichem Tonfall und in gleicher Distanz zu sagen.

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Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die  Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht  wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt  mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten  Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache  schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist,  als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben  keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der  grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar  nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz  eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem  ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire  über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt  noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am  besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.

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Lebensüberdrüssig sein, weil man in seiner Arbeit einen Fehler gefunden hat, den kein anderer findet; sich erst beruhigen, wenn man noch einen zweiten findet, weil dann den Fleck auf der Ehre die Erkenntnis der Unvollkommenheit menschlichen Bemühens zudeckt: durch solches Talent zur Qual scheint mir die Kunst vom Handwerk unterschieden zu sein. Flachköpfe könnten diesen Zug für Pedanterie halten; aber sie ahnen nicht, aus welcher Freiheit solcher Zwang geboren wird und zu  welcher Leichtigkeit der Produktion solche Selbstbeschwerung leitet. Nichts wäre verfehlter, als von   Formtüftelei zu sprechen, wo Form nicht das Kleid des Gedankens vorstellt, sondern seinen Körper. Diese Jagd nach den letzten Ausdrucksmöglichkeiten führt ins Innerste der Sprache. Nur so wird jenes Ineinander geschaffen, bei dem die Grenze des Was und des Wie nachträglich nicht mehr feststellbar ist, und in welchem gewiss oft vor dem Gedanken der Ausdruck war, bis er unter der Feile den Funken ergab. Die Dilettanten arbeiten sicher und leben zufrieden. Ich habe oft schon um eines Wortes willen, das die Zentigrammwage meines stilististischen Empfindens ablehnte, die Druckmaschine aufgehalten und das Gedruckte vernichten lassen. Eine unvermeidliche Torheit ist es ferner, zu glauben, das Fehlen eines nachgebornen Einfalls werde der Leser merken. Dieser Leser ist man selbst; der andere merkt auch die Einfälle nicht, die da sind. Und gegenüber einem Schreiben, das seine Unvollkommenheiten so blutig bereut, hält dieser seine am Journalismus entartete Lesefähigkeit für vollkommen. Er hat für ein paar Groschen ein Recht auf Oberflächlichkeit erworben: käme er denn auf seine Kosten, wenn er auf die literarische Arbeit eingehen müsste? Es stünde vielleicht besser, wenn die deutschen Schriftsteller den zehnten Teil der Sorgfalt an ihre Manuskripte wenden wollten, die ich an meine Artikel wende, nachdem sie erschienen sind. Ich bin mit einer Arbeit erst fertig, wenn ich an eine andere gehe; so lange dauert meine Autorkorrektur. Ein Freund, der mir manchmal als Wehmutter beistand, staunte, wie leicht meine Geburten seien und wie lange mein Wochenbett … Freilich geht aus all dem hervor, dass ich kein geselliger Charakter bin; ich könnte höchstens die Leute fragen, ob ihnen diese oder jene Wortfolge besser klingt.

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Die wahren Agitatoren für eine Sache sind die, denen die Form wichtiger ist. Kunst hindert die unmittelbare Wirkung zu Gunsten einer höhern. Freilich sind ihre Produkte nicht marktgängig. Sie fänden nicht einmal dann reißenden Absatz, wenn die Kolporteure riefen: »Sensationelle Enthüllungen aus dem deutschen Sprachschatz!«

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Eine kunstlose Wahrheit über ein Übel, über eine Gemeinheit, ist ein Übel, eine Gemeinheit. Sie muss durch sich selbst wertvoll sein: dann gleicht sie das Übel aus, versöhnt mit der Kränkung, die der Angegriffene erleidet, und mit dem Schmerz darüber, dass es Übel gibt.

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Den Leuten ein X für ein U vormachen — wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugäbe?

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Nach Ägypten wär’s nicht so weit. Aber bis man zum Südbahnhof kommt!

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Die Polizei sieht jetzt scharf darauf, dass sich nur das Alter und die Hässlichkeit dem Laster ergeben. Im Bordell findet nur eine solche Frau Aufnahme, deren Verdorbenheit noch aus einer früheren Polizeiära datiert und deren Tugend etwa mit den Linienwällen fiel. Es muss eine Emeretrix sein … Die Invaliden singen: Uns hab’ns g’halten!

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Die Leute verstehen nicht deutsch; und auf journalistisch kann ich’s ihnen nicht sagen.

Karl Kraus.


Notizen zur Zeit. Niederschlagen erlaubt.

14. Juli 2012 | Kategorie: Notizen aus Medienland, Notizen zur Zeit

Kölner Stadtanzeiger  14.7.2012

84-Jährigen beraubt und geschlagen

Ein Räuber hat am Donnerstag einen Senioren überfallen und zwei wertlose Gegenstände gestohlen. Kurz vor Mitternacht schlug der Täter den 84-Jährigen auf der Diepenbeekallee zu Boden. Jedoch trug dieser keine Wertgegenstände bei sich – nur einen Roman und einen Regenschirm. Mit    d e m   D i e b s t a h l   d i e s e r   D i n g e   hat sich der gesuchte T ä t e r  s t r a f b a r   g e m a c h t . Die Polizei bittet nun Zeugen, die Hinweise zur Tat und zum Täter machen können, sich unter der Telefonnummer 0221/2290 zu melden.

Hätte der Täter nur zugeschlagen, hätte man nachsichtig sein können, weil ein Niederschlag schon mal passieren kann, wofür man ja den Regenschrirm mit sich führte, aber bei samt Roman gestohlenem Regenschirm gibt es offenbar kein Pardon mehr oder habe ich da etwas missverstanden?


Geld oder Leben (2). Von W.K. Nordenham

14. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Geld oder Leben, Justiz, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist

Hier geht es ums Leben:

Hannoversche Allgemeine 22.05.2012

Hohe Strafe für Missbrauch der Tochter

Das Landgericht Hannover hat am Montag einen 38-Jährigen zu  s e c h s   J a h r e n   u n d   n e u n   M o n a t e n Haft verurteilt, weil er sich 56-mal an seiner eigenen Tochter vergangen hat. Das Gericht befand ihn des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 49 Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs in sieben Fällen für schuldig. Beim ersten Vorfall war das Kind gerade s i e b e n   J a h r e    a  l t .

Kölner Stadtanzeiger 09.07.2012

Hohe Haftstrafe für Kinderschänder

Klaus  W.  (Name geändert)   aus  Bergisch    Gladbach  muss für    f ü n f   J a h r e   u n d   s e c h s   M o n a t e  hinter Gitter. Der Vorsitzende Richter der Zweiten Großen Strafkammer am Kölner Landgericht verurteilte den Rentner wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung in mindestens 28 Fällen zu der mehrjährigen Freiheitsstrafe.

Begonnen hatte der Missbrauch an den Kindern seiner Verlobten im Oktober 2009. Rund zwei Jahre verging sich Klaus W. immer wieder an den zum Zeitpunkt der ersten Taten n e u n  und  z w ö l f  Jahre alten Mädchen. Laut der Staatsanwaltschaft wurden die Taten meist unter Alkoholeinfluss begangen. (…)  St r a f v e r s c h ä r f e n d   war nach Ansicht von Staatsanwaltschaft und Richter, dass der Missbrauch an den beiden Mädchen u n g e s c h ü t z t  verlief.

Das G e s t ä n d n i s   w i r k t e   s i c h   s t r a f m i l d e r n d  auf das Urteil aus, ersparte es den Kindern doch die belastende Aussage vor Gericht. „ Die  Mädchen  befinden  s i c h   i n    p s y c h i a t r i s c h e r    B e h a n d l u n g , haben in der Schule nachgelassen, klagen über Schlafstörungen und Albträume“, sagte die S t a a t s a n w ä l t i n  in ihrem Plädoyer. „Eines der Mädchen leidet unter nächtlichen Essattacken, ihre Schwester hat sich zurückgezogen und ist sozial isoliert“, berichtete die Vertreterin der Anklage weiter. (…) Verteidiger Bode hatte ein ähnliches Strafmaß erwartet: „Ein angemessenes Urteil für eine schlimme Tat.“

Hier geht es um  Geld:

Frankfurter Rundschau 27.06.2012

Gerhard Gribkowsky Bayern LB Ex-Top-Banker muss hinter Gitter

Das Landgericht München hat den früheren BayernLB-Vorstand Gribkowsky zu acht Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Vorsitzende Richter sprach ihn der Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung und Untreue schuldig. Der ehemalige Landesbanker Gerhard Gribkowsky muss für a c h t e i n h a l b  Jahre ins Gefängnis. Er habe keinen Zweifel, dass sich der 53-jährige mit hoher krimineller Energie der Bestechlichkeit, Untreue und Steuerhinterziehung jeweils gewaltiger Millionensummen schuldig gemacht hat, sagte Richter Peter Noll bei seinem Urteilsspruch am Landgericht München. Als Höchststrafe wären 15 Jahre möglich gewesen. Die Staatsanwaltschaft hatte z e h n e i n h a l b Jahre Haft gefordert.

Herr Gribowski hat akzeptiert.Fünfzehn Jahre hätten es sein können für jenen Herrn, so wird getönt, der sich doch nur der  Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung und Untreue schuldig gemacht hat. Menschen hat er insoweit nicht geschadet, außer sich selbst möglicherweise. Das Leben der Kinder, die missbraucht wurden, ist zerstört, der Seelenmord vollendet. Doch machen weder Strafen nichts auch nur annähernd gut, noch nützt Vergebung, und so kommt es regelmäßig zu Urteilen, die das unversehrte Leben dem Recht auf Besitz strafgemildert nachordnen. Oben hält daher ein Verteidiger die Strafe für angemessen. An welcher Stelle des Urteils im zweiten Fall nicht verwendete Präservative sich strafverschärfend auswirkten, habe ich trotz intensiven Nachdenkens nicht herauszufinden vermocht. Wer sollte hier wovor zusätzlich geschützt werden, wo doch Schutzlosigkeit Bedingung für die Schandtat war? Da hier eine Staatsanwältin von Amts wegen tätig war und keine Hodenträger, die Anklage und Urteil zu vertreten hatten, muss ich mich korrigieren, der ich ausschließlich die Hodenträger verdächtigte, den Missbrauch der Kinder gegenüber dem Vergehen am Gelde zu mild zu beurteilen. Offensichtlich ist diese Haltung Programm. Vor Jahren las ich einen kurzen Artikel in der Ärztezeitung, dass drei Viertel der drogenabhängigen Frauen einen Missbrauch hinter sich haben. Der Artikel erlitt selbstverständlich das Schicksal jeder Randnotiz. Er wurde überlesen und vergessen – nicht von mir.


Der Fortschritt. Von Karl Kraus

10. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Fortschritt

Die Fackel Nr. 275—276. 22. März 1909 S. 33 – 40 (Zuerst in: „Simplicissimus“ 1909 erschienen)

Ich habe mir eine Zeitungsphrase einfallen lassen, die eine lebendige Vorstellung gibt. Sie lautet: Wir stehen im Zeichen des Fortschritts. Jetzt erst erkenne ich den Fortschritt als das, was er ist — als eine Wandeldekoration. Wir bleiben vorwärts und schreiten auf demselben Fleck. Der Fortschritt ist ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus. Nur manchmal krümmt sich wirklich etwas vor meinen Augen: das ist ein Drache, der einen goldenen Hort bewacht. Oder es bewegt sich nachts durch die Straßen: das ist die Kehrichtwalze, die den Staub des Tages aufwirbelt, damit er sich an anderer Stelle wieder senke. Wo immer ich ging, ich müsste ihr begegnen. Ging ich zurück, so kam sie mir von der anderen Seite entgegen, und ich erkannte, dass eine Politik gegen den Fortschritt nutzlos sei, denn er ist die unentrinnbare Entwicklung des Staubes. Das Schicksal schwebt in einer Wolke, und der Fortschritt, der dich einholt, wenn du ihm auszuweichen wähnst, kommt als Gott aus der Maschine daher. Er schleicht und erreicht den flüchtigen Fuß und nimmt dabei so viel Staub von deinem Weg, als zur Verbreitung notwendig ist, auf dass alle Lungen seiner teilhaft werden; denn die Maschine dient der großen fortschrittlichen Idee der Verbreitung des Staubes. Vollends aber ging mir der Sinn des Fortschritts auf, als es regnete. Es regnete unaufhörlich und die Menschheit dürstete nach Staub. Es gab keinen, und die Walze konnte ihn nicht aufwirbeln. Aber hinter ihr ging ein radikaler Spritzwagen einher, der sich durch den Regen nicht abhalten ließ, den Staub zu verhindern, der sich nicht entwickeln konnte. Das war der Fortschritt.

Wie enthüllt er sich dem Tageslicht? In welcher Gestalt zeigt er sich, wenn wir ihn uns als einen flinkeren Diener der Zeit denken? Denn wir haben uns zu solcher Vorstellung verpflichtet, wir möchten des Fortschritts inne werden, und es fehlt uns bloß die Wahrnehmung von etwas, wovon wir überzeugt sind. Wir sehen von allem, was da geht und läuft und fährt, nur Füße, Hufe, Räder. Die Spuren verwischen sich. Hier lief ein Börsengalopin, dort jagte ein apokalyptischer Reiter. Vergebens … Wir können von Schmockwitz nach Schweifwedel telefonisch sprechen, wir wissen aber noch nicht, wie der Fortschritt aussieht. Wir wissen bloß, dass er auf die Qualität der Ferngespräche keinen Einfluss genommen hat, und wenn wir einmal so weit halten werden, dass man zwischen Wien und Berlin Gedanken übertragen wird, so wird es nur an den Gedanken liegen, wenn wir diese Einrichtung nicht in ihrer Vollkommenheit werden bewundern können. Die Menschheit wirtschaftet drauflos; sie braucht ihr geistiges Kapital für ihre Erfindungen auf und behält nichts für deren Betrieb. Der Fortschritt aber ist schon deshalb eine der sinnreichsten Erfindungen, die ihr je gelungen sind, weil zu seinem Betrieb nur der Glaube notwendig ist, und so haben jene Vertreter des Fortschritts gewonnenes Spiel, die einen unbeschränkten Kredit in Anspruch nehmen.

Besehen wir das Weltbild im Spiegel der Zeitung, so erweist sich der Fortschritt als die Methode, uns auf raschestem Wege alle Rückständigkeiten erfahren zu lassen, die in der weiten Welt vor sich gehen. Was mir jedoch den größten Respekt abnötigt, ist die Möglichkeit, bedeutende zeitgeschichtliche Tatsachen auf photographischem Wege dem Gedächtnis jener Nachwelt zu überliefern, die am Morgen des folgenden Tages beginnt und am Abend zu Ende ist. Der Fortschritt ist ein Momentphotograph. Ohne ihn wäre jener Augenblick unwiederbringlich verloren, da der König von Sachsen vom Besuche einer Sodawasserfabrik sich zu seinem Wagen begab. Wie sieht das aus? fragte man sich. Wie macht er das? Wie geht der König? Er setzt einen Fuß vor den andern, und der Momentphotograph hat es festgehalten. Aber dieser vermag vom Schreiten nur den Schritt zu erhaschen, darum wird das Gehen zum Gehversuch, und der Adjutant, der auf die Füße des Königs sieht, scheint die Schritte zu zählen, damit keiner ausgelassen wird: Eins, zwei, eins, zwei … So weiß man immerhin, wie die Sohle des Königs von Sachsen beschaffen ist; aber auch das mag dem Untertan genügen. Mehr bietet die Momentphotographie, wenn sie sich »in den Dienst des Sports stellt«, und ohne sie wäre der Sport am Ende gar kein Vergnügen. Eine Schlittenfahrt — hei, das macht Spaß! »Prinz Eitel Friedrich bremst.« Und was tut Prinz August Wilhelm? »Prinz August Wilhelm hilft als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten.« Ist das Bild das offizielle Dementi eines Gerüchtes, dass Prinz August Wilhelm ungalant sei und bei Schlittenfahrten seine Gemahlin von allein aussteigen lasse? Hatte sich solcher Argwohn im Gefühlsleben des deutschen Volkes eingenistet? Nein, das deutsche Volk liebt es zu hören, dass Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten helfe, auch wenn es nie daran gezweifelt hat und das Gegenteil nicht behauptet wurde. Wäre das Gegenteil behauptet worden, so könnte man sagen, es sei kleinlich, solche Gerüchte zu widerlegen; das deutsche Volk glaubt sie ohnedies nicht. Es glaubt nur, was es sieht. Darum glaubt es an die Galanterie des Prinzen August Wilhelm, sobald es eine Probe zu sehen bekommt. Und es will sehen, wie sich dieser Prinz benimmt, wenn er mit seiner Gemahlin aus dem Schlitten steigt. Da es nun unmöglich ist, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zur Besichtigung des Vorgangs, wie Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten hilft, zuzulassen und die Versicherung der Berichterstatter, dass er als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten half, nicht genügt, so stellt sich eben die Momentphotographie in den Dienst des Sports. Quälend wäre aber auch die Ungewissheit, ob der Badische Finanzminister anders geht, wenn er das Reichsschatzamt verlässt, als der Hessische Minister der Finanzen, wenn er desgleichen tut, oder ob Taft, die Grüße der Volksmenge erwidernd, den Mund weiter öffnet, als Roosevelt im gleichen Falle gewohnt war. Das eben ist der Fortschritt, dass solches Interesse heute schnellere Befriedigung findet als ehedem, ja dass sogar die schnellere Befriedigung solches Interesse heute erzeugen kann. Einst war der Geist auf Bücher angewiesen und der Atem auf Wälder. Wo sollen wir heute in Ruhe unsere Zeitung lesen? Die Papierindustrie blüht, aber sie gibt keinen Schatten. Und die Rotationsmaschine schleicht nachts durch die Straßen und wirbelt den Staub des Tages auf, um ihn für den kommenden Tag wieder abzusetzen.

Als ich ein Knabe war, sah ich den Fortschritt in der Gestalt eines deutsch-fortschrittlichen Abgeordneten. Er vertrat die Freiheit, er vertrat die böhmischen Landgemeinden, er vertrat die Stiefelabsätze. Was wollte ich mehr? Ich hörte zum ersten Mal, die Deutschen in Österreich seien von den Tschechen »vergewaltigt« worden. Ich verstand kein Wort davon, aber ich weinte vor Erregung. Es war eine Phrase, die mir einen Lebensinhalt offenbarte. Später, als die Vergewaltigung in eine Keilerei ausartete, sah ich selbst in dieser keine Äußerung natürlicher Kräfte, sondern die Folge einer Phrase. Da die Politik nicht mehr mein Gefühl ansprach, erkannte ich, dass sie nicht zu meinem Verstande spreche. Politik ist Teilnahme, ohne zu wissen wofür. Wenn sie aber nicht einmal das mehr ist, so kann es leicht geschehen, dass sich uns der Fortschritt als die Weltanschauung des Obmannes der freiwilligen Feuerwehr von Pardubitz enthüllt. Aus solcher Enttäuschung gewöhnte ich mich, das Prinzip der kulturellen Entwicklung nur noch in jenen Regionen des Lebens zu suchen, die dem Sprachenstreit entrückt sind. Ich fand den Fortschritt in allen, ohne in einer einzigen seine Physiognomie zu finden. Ich glaubte, ich sei in eine Maskenleihanstalt geraten. Jetzt war er ein Ausgleicher im sozialen Bankrott, jetzt ein Schaffner an jenem Zug des Herzens, der Hoheiten talwärts führt; bald Wahlagitator, bald Kuppler; hier Nervenarzt, hier Kolporteur. Rechts von mir sagte einer, der keine gerade Nase hatte: Ich sitze mit vier Reichsrittern, drei Markgrafen, zwei Fürsten und einem Herzog im Verwaltungsrat der Konservenfabrik … Das war der Fortschritt. Links von mir sagte eine Dame, die Boutons trug: Man kann die Neunte Symphonie am billigsten im Arbeiterkonzert hören, aber man muss sich dazu schäbig anziehen … Das war der Fortschritt.

Dann sah ich ihn als Ingenieur am Werke. Wir verdanken ihm, dass wir schneller vorwärts kommen. Aber wohin kommen wir? Ich selbst begnügte mich, es als das dringendste Bedürfnis zu empfinden, zu mir zu kommen. Darum lobte ich den Fortschritt und wollte in einer Stadt nicht fürder leben, in der mir Hindernisse und Sehenswürdigkeiten den Weg zum Innenleben verstellen. Eines Tages begann ich aber neuen Mut zu schöpfen, weil das Gerücht zu mir drang, in Wien sei eine Automobildroschke zu sehen gewesen. Die wird wohl schwer zu haben sein, dachte ich, aber wenn ich sie doch einmal erwische, so wird es ein anderes Leben werden! Im Sausewind an den Individualitäten vorbei, die mich an jeder Straßenecke belästigen, — das allein ist schon ein anregendes Erlebnis. Ich machte mich auf, den Fortschritt zu suchen: und fand ihn auf dem Standplatz. Die Automobildroschke stand da als eine Verlockung zu einem Leben ohne Hindernisse, der jeder Wiener aus dem Wege ging. Aber wenn ein solcher geahnt hätte, dass auch sie ihm allen Reiz des Umständlichen bieten konnte, den zu entbehren ihm so schwer fallt, er hätte eine Fahrt riskiert, umso mehr als der Chauffeur durch die Frage: »Fahr’n m’r Euer Gnaden?« das sympathische Bestreben verriet, an die Tradition anzuknüpfen und über den Mangel an Pferden taktvoll hinwegzutäuschen. Ich, ein Freund des Fortschritts, ließ mich nicht lange bitten, und ich kann heute sagen, dass jeder Wiener es bedauern kann, meinem Beispiel nicht gefolgt zu sein. Alle Befürchtungen, es könnte am Ende glatt gehen, sind überflüssig und getrost darf man sich dem neuen Fuhrwerk anvertrauen. Vor allem gab es viel zu sehen. Denn zehn unbeschäftigte Kutscher halfen dem Chauffeur, den Wagen flott zu machen, und hier zeigte es sich, dass unser Fortschritt keineswegs durch die Feindschaft des Alten gehemmt wird, sondern im Gegenteil durch dessen Unterstützung. Ein Wasserer eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er will nach alter Gewohnheit den Wagen waschen, ehe man fahrt. Aber als er dann auch den Pferden den Futtersack reichen wollte, stellte es sich heraus, dass keine da waren. Man konnte sie also nicht einmal abdecken und, schlimmer als das, man hatte nichts bei der Hand, um den Taxameter zuzudecken. Nachdem sich der Wasserer, der die Welt nicht mehr verstand, kopfschüttelnd entfernt hatte, setzte sich trotz alledem wie durch ein Wunder das Automobil in Bewegung, nicht ohne dass es mir aufgefallen war, wie der Chauffeur mit einem fremden Manne geheimnisvoll einige Worte wechselte. Als ich am Ziel ausstieg, sah ich denselben Mann wieder mit dem Chauffeur sprechen. Er war vorausgegangen und hatte das Automobil erwartet. Ich beruhigte mich bei dem Gedanken, dass es ein Vertreter der Firma sein könnte, die es erzeugt hatte, und fand nun Gefallen an der Vorstellung, dass ich als Vertreter des Fortschritts ausersehen war, die Probefahrt zu bestehen. Den Ovationen der Menge, die sich inzwischen angesammelt hatte, entzog ich mich, indem ich zu dem benachbarten Standplatz ging, um die Rückfahrt im Einspänner anzutreten. Der Standplatz war aber leer, weil sämtliche Kutscher zu dem Automobil geeilt waren. Nur einer war auf seinem Bock, der aber schlief, und als ihm ein Polizist, den ich schon aufgeweckt hatte, dieses Benehmen verwies, murmelte er aus dem Schlaf die Worte: »Jetzt könnts mi alle mitananda —« Er meinte hauptsächlich den Fortschritt.

Nun erst war ich begierig, diesen kennen zu lernen. Ich reiste, und wirklich, ich habe ihn oft genug in jener Tätigkeit gesehen, zu der er sich hierzulande nun einmal nicht schicken wollte: als Förderer des Fremdenverkehrs. Ich kam schneller vorwärts, aber zumeist auf falschem Wege, und so wurde ich in der Vermutung bestärkt, der Fortschritt sei ein Hotelportier. Und überall schien um seines Ehrgeizes willen jedes bessere Streben der Menschheit zu stocken. Es war, als ob nicht ein Ziel die Eile der Welt geboten, sondern die Eile das Ziel der Welt bedeutet hätte. Die Füße waren weit voran, doch der Kopf blieb zurück und das Herz ermattete. Weil aber so der Fortschritt vor sich selbst anlangte und schließlich auf Erden nicht mehr ein noch aus wusste, legte er sich eine neue Dimension bei. Er begann Luftschiffe zu bauen; doch an Garantien der Festigkeit konnte er es mit jenen, die bloß Luftschlösser bauen, nicht aufnehmen. Denn die haben die Phantasie, mit der sie selbst dann noch wirtschaften können, wenn alles schief geht. Was immer aber der Fortschritt weiter beginnen mag, ich glaube, er wird sich bei den Katastrophen des Menschengeistes nicht anstelliger zeigen, als ein Geolog beim Erdbeben. Er wird uns, wie hoch er sich auch versteige, keine Himmelsleiter errichten. Wenn er jedoch als Roter Radler Briefe befördert, könnte er immerhin von den Dienstmännern als Satan verschrien werden. Auch mag er dazu helfen, dass die Eifersucht der Weltstädte wachse und sie zu Kraftleistungen sporne. Etwa so: Berlin hat heute schon fünfhundert Messerstecher, Wien ist ein Krähwinkel dagegen; wenn man hier wirklich einmal einen braucht, ist keiner da! … Schließlich überlebt sich auch diese Mode. Nur der Tod stirbt nicht aus. Denn der Fortschritt ist erfinderisch, und dank ihm bedeutet das Leben keine Kerkerhaft mehr, sondern Hinrichtung mit Elektrizität. Wer es aber nicht erst darauf ankommen lassen will, den ganzen Komfort der Neuzeit zu erproben, der hat rechtzeitig Gelegenheit, von jener primitiven Erfindung Gebrauch zu machen, die ihm die erbarmungsvolle Natur an die Hand gegeben hat: von der Schnur, mit der der Mensch auf die Welt kommt!


Die Transvestiten. Von Karl Kraus

10. Juli 2012 | Kategorie: Artikel

Die Fackel Nr. 324-25, XIII. Jahr  2. Juni 1911.

Die Transvestiten

sind Leute, deren Geschlecht sich in der Tracht des andern Geschlechtes wohl fühlt. Ein Berliner Arzt, dessen Spezialität es ist, die lebenden Minderwertigkeiten durch die historischen Genies zu entschuldigen und zu dessen ständigen Patienten Michelangelo, Shakespeare und Friedrich der Große gehören, hat ein Buch über die Transvestiten geschrieben. Was wird nun vollends aus dieser Wissenschaft, wenn sie in die Hände der Feuilletonisten gerät? Da gerät einer in meine Hände, der sich in der ‚Zeit‘ bemüht, sich mit fremden Kompilationen zu schmücken, und dem es richtig gelingt, die Geschlechter durcheinanderzubringen. Die Wissenschaft ist ihrer Popularisatoren würdig; sie gehören in eine Miszelle. Was ist ein Transvestit? Einer, der Frauenkleider anzieht, also ein Homosexueller. Der erfreute Betrachter dieser Verwandlung aber ist kein Homosexueller und jedenfalls kein Transvestit. So wenig, wie der Besucher eines Strichmädchens ein Prostituierter ist.« Von Nero ist es bekannt«, schreibt der Feuilletonist, der es gestern gelesen hat, »dass er seinen Lieblingssklaven Sporus als Kaiserin verkleiden ließ und ihn erst dann liebte. Das ist nun einer jener transvestitischen Wünsche..« Vermutlich hält auch die Wissenschaft, aus der der Feuilletonist schöpft, Neros Wunsch für einen Beweis des Tranvestitentums. Tatsächlich ist er die denkbar stärkste Betonung des eigenen Geschlechts, der männlichste Ausdruck geistiger Verantwortlichkeit, die nicht sich zum Weib macht, sondern den Mann zum Weib, die die Zone der Männlichkeit erweitert, indem sie die Grenzen des Weibseins erstreckt. Die Psychiatrie aber exkulpiert die nicht anders Könnenden mit Hilfe der alles Könnenden, die sie freilich, soweit sie nicht historische Beispiele sind, erbarmungslos der Kriminalität überläßt. Aber so seicht kann diese Wissenschaft gar nicht sein, dass sie nicht immer noch vom Journalismus mißverstanden werden könnte, und für manche zierliche Wendung, die in jenem Feuilleton steht, ist der Gelehrte gewiß nicht haftbar zu machen. »Es ist wohl ganz klar, dass Menschen, die die Neigung haben, weibliche Kleider anzuziehen, eine starke feminine Komponente haben müssen. Viele von ihnen führen ein ganz merkwürdig wüstes und romantisches Abenteurerleben; es sind Frauen darunter, die als Matrosen unzählige Male ausgemustert wurden, als Heizer und Stewards durch die Meere fuhren. Es sind Männer darunter, die jahrelang als Kammermädchen lebten.« Wenn unter jenen, die die Neigung haben, weibliche Kleider anzuziehen, Frauen sind, so ist der Fall von Transvestitentum nicht besonders krass. Dagegen ist es kein Zweifel, dass unter jenen, die die Neigung haben, Hosen anzuziehen, Feuilletonisten vorkommen.

 

 


Notizen zur Zeit. Was ein Mensch wert ist (2). W.K. Nordenham

03. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Justiz, Was ein Mensch wert ist

Kölner Stadtanzeiger 29.06.2012

Versuchter Totschlag  – Sechs Jahre Haft für Recep K.

Besinnungslos stach Recep K. auf seine Ex-Frau ein, bis die Klinge sich verbog. Nun wurde er vor dem Kölner Landgericht wegen versuchten Totschlags zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.

Seine Ex-Frau lag schon bewusstlos vor ihm, da zog Recep K. sie hoch und wollte noch einmal zustechen. Die K l i n g e   w a r   j e d o c h   s c h o n   s o   v e r b o g e n , dass es dem 26-Jährigen nicht gelang, sie an ihrem Hals anzusetzen. „S i e   h a b e n   z u m   G l ü c k   v e r s a g t “, sagte der Anwalt der Ex-Frau am Montag vor dem Landgericht. Die 25-Jährige überlebte den Angriff mit insgesamt zehn Messerstichen. (…) Recep K. wurde vor allem von seiner Verzweiflung getrieben. Er wollte die Trennung von seiner Frau nicht akzeptieren – trotz Scheidung. Das Paar näherte sich immer wieder an, die 25-Jährige verweigerte ihm aber das Besuchsrecht für die beiden Töchter (fünf und sechs Jahre), zog sich schließlich zurück. „Er war durch dieses Hin und Her in einem Wechselbad der Gefühle“, sagte sein Verteidiger. Vor den Augen der Töchter schlug Recep K. seiner Ex-Frau zwei Tage vor der Tat im Dezember 2011 so heftig ins Gesicht, dass ihr Nasenbein brach. Am 5. Dezember wollte er sich laut eigener Aussage bei ihr entschuldigen. Es kam zum Streit, sie lief weg, er verfolgte sie und stach schließlich „blindwütig“ zu,wie der Staatsanwalt sagte. Er sieht ein „h o h e s  M a ß   a n  V e r r o h u n g“ darin, dass Recep K. ihr offenbar die Kehle durchschneiden wollte – „wie einem Tier“. Die  25-Jährige hat ein  sc h w e-  r e s   T r a u m a   e r l i t t e n  u n d   i s t   i n   p s y c h o l o g i s c h e r   B e h a n d l u n g. Auch  eine  Zeugin,  eine  44 –  jährige Imbissbesitzerin, ist traumatisiert .

Kölner Stadtzeiger 29.06.2012

Recep K. (26) ist nach Überzeugung des Bonner Psychiaters und Neurologen Wolf Gerlich (64) strafrechtlich voll verantwortlich für seine Tat. (…)

Der Gutachter machte in seinen Ausführungen keinen Hehl aus seiner Überzeugung, d a s s  d e r  b i s h e r i g e   U m g a n g   d e r   J u s t i z  mit den z a h l r e i c h e n   G e w  a l t t a t e n  d e s   A n g e k l a g t e n  „n i c h t   n a c h v o l l z i e h b a r “   s e i . In dessen Vorstrafenregister sind zehn Eintragungen mit einschlägigen Delikten aufgelistet. So habe der Angeklagte „nie gelernt, mit seinen Aggressionen umzugehen“. Der Psychiater nannte als Beispiel eine „merkwürdige Sozialprognose“ des Landgerichts aus dem Jahr 2004, die von einem positiven Zukunftsverhalten des Angeklagten ausging. Diese Begründung hatte die Strafkammer damals in der Berufungsinstanz dazu bewogen, K. noch einmal Bewährung zu geben. Obwohl das Amtsgericht in vorangegangener Instanz eine einjährige Haftstrafe für angemessen hielt. Der Angeklagte hatte damals erklärt, er habe sich in der Türkei verlobt. Mit der Frau, mit der er in Deutschland zwei Kinder hat und einen jahrelangen Rosenkrieg führte, der in den beinahe tödlichen Messerstichen im Dezember 2011 gipfelte.

Ich habe ein gestörtes Verhältnis zur  Gewalt. Ich kann sie einfach nicht ertragen und noch weniger ertragen kann ich ein Verständnis, welches  den Täter verstehen möchte auf Kosten des Opfers und in dem Tötungsversuch mit zehn Messerstichen einen versuchten Totschlag erkennt, den das Opfer nur dank verbogener Klinge überlebt. Wenn der Anwalt der Frau folgert, der Täter habe  „zum Glück versagt“, so fragt man sich: Zu wessen Glück? Dass die Frau nicht tot ist oder dass der Täter mit zwei Jahren mehr hätte rechnen müssen? „Ein hohes Maß an Verrohung“ erkenne auch ich, allerdings im Umgang der Justiz bei Körperverletzung. Dass aus bagatellisierter Gewalt in unserer Zeit eine Aufforderung zur Tat erwächst, die sich einer gewisser Toleranz sicher sein darf  und zum Amüsement der Täter über die Justiz geführt hat, scheint noch nicht bis zu den Stühlen der Richter vorgedrungen zu sein, deren sie sich zum Teil in ihren Urteilen zu entledigen scheinen. W. K. Nordenham