Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Neonazis + Hitler = „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott.“ Konrad Heiden

22. August 2022 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Da schon wieder oder immer noch die geistige Schwäche, diesmal sogar in Form einer deutschen Parlamentspartei, auf angebliche nazi-onale Größe sich beruft und über einen ihrer Vordenker auf Vogelschiss sich herausreden wollte, wird hier für ewig Gestrige eine historische Abrechnung aus dem Jahre 1935  exhumiert, die keineswegs als nachträgliches braunes Sakrament daherkommt, sondern der Klärung der geistigen Exkremente ewig Gestriger dient.

Karl Kraus beschrieb bereits 1933 in „Dritte Walpurgisnacht“  die Terrorwelt im dritten Reich. Er hatte als Quelle nur die jedermann zugänglichen Berichte aus Zeitungen. Sie beschrieben das Grauen im NS-Staat, als jeder Gegner nicht nur sprichwörtlich wie Freiwild zum Abschuss freigegeben wurde. „Wir haben es nicht gewusst…“, dabei musste man nur die Zeitungen in Nazideutschland aufschlagen. Auschwitz begann 1933. 

Zwei Jahre danach veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine Biographie des aus Österreich stammenden Führers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an Versager oder Verbrecher waren, also schon lange vor der sog. Machtergreifung und es auch blieben. „Nationalsozialismus: Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“.  So 1935 Konrad Heiden und ich möchte hinzufügen: Tat ohne Moral.

Konrad Heidens Hitlerbiographie wird hier in wesentlichen Auszügen vorgelegt zur Standortbestimmung gegen pseudonational Verwirrte für alle Zukunft. Für die im Denken Kurzen leider etwas länger als besagter Vogelschiss, aber es lohnt der Klarheit wegen.

Der geistige Ziehvater der neuen Rechten, Adolf Hitler, war ein kompletter Versager im bürgerlichen Leben, wie sehr viele seiner damaligen Mit- und heutigen Nachläufer auch. Er war ein nichtsnutziges Rednertalent, körperlich schwach und überaus faul, deshalb begrenzt gebildet, ausgestattet mit den darwinistischen Instinkten des Obdachlosenasyls, ohne Moral und Anstand, persönlich feige, ein Menschenverächter aus Überheblichkeit und Neid, als Mensch untauglich, ein notorischer Lügner für seinen Vorteil, skrupellos gegen Andersdenkende bis zum vielfachen Mord in den eigenen Reihen schon 1934. So machte er sich auf dem Weg zur Entfesselung des Weltenbrandes, in Begleitung des Abschaums der Gesellschaft und den zu allen Zeiten bereiten, korrupten Karrieristen.  Mehr war das nicht mit diesem Hitler und bedauerlicherweise nicht weniger, allen ähnlich gearteten Epigonen zum Trotz.

 Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte Flachköpfe sie immer aufs Neue mit dem Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den jene mit der Verrichtung ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen.  Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes. Man muss nicht von dieser grausigen Ausgeburt sprechen, aber man soll und man muss von ihren Opfern sprechen.  Diese Albtraumspottfigur ist es nicht wert, außer man liest Konrad Heiden. Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden. Und: Es gibt nichts wirklich Neues über den Verführer nach Konrad Heiden. Das trifft auf alle Biographien Hitlers der folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu.

Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte Heiden die Rückführung des „Phänomens“ Hitler auf die banale Wirklichkeit. Man erinnert Hannah Arendts Wort von der Banalität des Bösen.

Eine Neuauflage erschien dankenswerterweise 2011  im Europaverlag Zürich. Erhältlich ist sie bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage und lohnt mehr als alle anderen postmortalen telegenen Erklärungsversuche des großen Verderbers.

Konrad Heiden, *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im allerbesten Sinne.

„Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.“

KONRAD HEIDEN

ADOLF  HITLER

DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT

    EINE BIOGRAPHIE          EUROPAVERLAG  ZÜRICH 1936

Am Furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe; ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, dass der hellere Teil der Menschheit sie als Betrogene oder Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen.

Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zwanzigstes Buch

Vorwort

Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Bedürfnis auszusprechen, was ist. In Deutschland ist das heute unmöglich, weil dort die Interessen des Staates der objektiven Erforschung der Wahrheit entgegenstehen. Außerhalb Deutschlands erschweren es zunächst jene natürlichen Irrtümer, die aus Fremdheit und Entfernung entspringen. Ein System schließlich, dass mit soviel Intelligenz und Leidenschaft über seine Grenzen hinauswirkt und das andererseits wie mit magnetischer Kraft soviel Intelligenz und Leidenschaft feindlich gegen sich sammelt, ist durch das bloße Bestehen eine ernste Gefahr für den Wahrheitssinn in der ganzen Welt. Die Hingabe von Kämpfern an hohe Ziele kann ebenso wie der niedrige Einfluss von Interessen das reine Gefühl für die Wahrheit trüben.

Die Lüge ist wie der Krieg ein Unheil, das einseitig entfesselt werden kann, aber dann alle verdirbt. Wahrheit ist auf die Dauer die schärfste Waffe, und das Erz, aus dem sie geschmiedet wird, heißt Tatsache. Das vorliegende Buch basiert auf fünfzehnjähriger  Beschäftigung mit dem Thema, auf Beobachtung aus der Nähe, schon in der frühesten Stunde; auf Durchsicht aller erreichbaren Quellen, offener und vertraulicher; schließlich auf  Auskünften mancher eingeweihter Personen, von denen heute noch einige in der Nähe Hitlers an wichtiger Stelle tätig sind. Die aller Welt bekannten Umstände machen es leider unmöglich, diese Gewährsmänner zu nennen; ich muss mich mit der Hoffnung zufrieden geben, dass die belegten Teile des Buches ausreichendes Vertrauen  auch für die notgedrungenerweise  nicht belegten  erwecken werden.

Auf Grund dieses Materials habe ich in meiner „Geschichte des Nationalsozialismus“ den Aufbau der Hitlerbewegung, in „Geburt des dritten Reiches“  den Aufbau des Hitlerstaates darzustellen versucht. Die Schilderung der Hauptperson musste dabei zu kurz kommen; das Menschliche, Private, vieles Anekdotische wegfallen. In diesem Buche versuche ich es zu geben. Ich halte das für gerechtfertigt. „Adolf Hitler ist Deutschland“ wurde von maßgebender Stelle verkündet, nun, so versuche ich, in Adolf Hitler dies heutige Deutschland zu erklären. Der „Held“ dieses Buches ist weder ein Übermensch noch ein Popanz, sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse  und, zahlenmäßig betrachtet, der größte Massenerschütterer der Weltgeschichte. Man hat mich früher wegen der Überschätzung dieses Gegners getadelt; ich muss heute solche Tadler von ehemals vor Überschätzung warnen. Es scheint an dem eigentümlichen Magnetismus dieser Persönlichkeit zu liegen, dass sie die Urteile nach oben oder nach unten  verrückt. Ob ich grade getroffen habe mag der Leser entscheiden. Wenn man einen Abgrund zuschütten will, muss man seine Tiefe kennen.

Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.

Zürich, 20. August 1935  Konrad Heiden

Vorwort zum 18. Bis 20. Tausend

Nach dem Erscheinen des Buches gingen mir, wie zu erwarten war, von vielen Seiten  Mitteilungen zu, die dem Bilde Adolf Hitlers weitere Einzelzüge hinzufügen wollten. Ändern konnten sie es nicht. Lücken oder gar Irrtümer, mit denen eine zeitgenössische Darstellung rechnen muss, berichtigt zum Teil die Geschichte, indem sie die Figuren von den Plätzen stößt und Verborgenes bloßlegt; völlige Klarheit bleibt das unerreichte Ziel  jeder Geschichtsschreibung. Künftige Forscher werden vieles sehen, was uns heute noch entzogen ist; manches werden sie aus ihrer Ferne kaum glauben, was die Gegenwart breit erlebt, aber selten lang bewahrt. Dies rechtfertigt den Versuch zeitgenössischer Geschichtsschreibung.

Die Notwenigkeit fortwährenden Neudrucks legte den Gedanken nahe, eine der Auflagen  zur Einfügung des sich ansammelnden zusätzlichen Materials zu benutzen. Das ist hiermit geschehen. Der Leser wird dabei allerlei bisher unbekanntes Detail finden, und ich hoffe, dass das Buch an Farbe und Spannung gewonnen hat. Vom Ganzen her gesehen handelt es sich  freilich um  Neuigkeiten, doch um nichts Neues. Die Familien- und Jugendgeschichte wurde ausgeforscht und mit Daten belegt; die Schauer des 30.Juni mussten, wie sie mir  mit neuen Tatsachen mitgeteilt und verbürgt wurden, berichtet werden. Aber wirklich abgeändert werden musste die Darstellung nur in einem Punkt. Der Tod Angela Raubals, der Nichte Adolf Hitlers, erscheint mir  heute nicht mehr als Selbstmord.

Die Zusätze haben den Umfang des Buches erweitert. Sie hätten es noch mehr getan, wenn nicht einige Striche anekdotisches Nebenwerk, gelegentlich Wiederholungen und Längen beseitigt hätten.

*

In Tagen des Bangens um Europa werden diese Zeilen geschrieben. Die Zeit hat ein furchtbares Tempo angenommen, und die Schrecken von gestern weichen schier der rasch  wachsenden Angst vor dem Morgen. Aber gerade deshalb hat dieses Buch seinen guten Sinn. Es sucht zu schildern, wie eine Welt unterging, weil sie der eigenen Kraft nicht mehr vertraute, an die volle Ruchlosigkeit des Gegners nicht glaubte, mit der Treulosigkeit Verträge und mit der Vernichtung Frieden schloss. Diese tödlichen Irrtümer aber waren kein Zufall. Sie entsprangen dem Egoismus der einzelnen Teilhaber an jener versinkenden Welt. Ihnen fehlten Kraft und Klammer eines gemeinsamen, durch Willen lebendigen Gedankens, für den sie die Existenz in den Kampf geworfen hätten.

Auch Europa wird in den kommenden Kampf – in welcher Form er immer ausgefochten werde –  nicht bestehen, wenn ihn nur die verbündete Selbstsucht einzelner Völker führt. Nicht das Sicherheitsverlangen  ängstlicher  Nationen, sondern das neue Hochgefühl einer stolzen europäischen Zukunft, weit alle beschränkten nationalen Zielsetzungen überflügelnd, wird die Gefahren von heute bannen. Und diese Hegemonien und Imperien  würden, eins nach dem andern, wiederum an dem inneren Widerspruch ihrer Zielsetzung zugrunde gehen, die eine hoffnungslose Völkerwelt des Eroberns und Zerstörens, Fressens und Gefressenwerdens nicht überwindet, sondern verewigt.

Es gibt geschichtliche Notwendigkeiten, deren Strom tief unter dem Wellenschlag der Tagesereignisse dahinzieht. Die Europäisierung der Nationen wird der große geschichtliche Prozess der nächsten Jahrzehnte sein. Aus ihm wird ein Europa hervorgehen, das nicht mehr auf den Berechnungen der Staatsmänner, sondern auf dem Willen der Völker gründet. Denn an den Willen, nicht den Glauben, geht der neue Auftrag der Geschichte: das Europa des neuen Menschen zu schaffen. Deutschland wird in ihm nicht mehr der Schrecken, sondern eine Hoffnung der Welt sein. Das ist ein deutsches Ziel.

Zürich 10.Mai  1936  Konrad Heiden

Erster Teil

ZUM MENSCHEN UNTAUGLICH

1. Heimat und Herkunft

Die Vorfahren

Adolf Hitlers Vater ist der uneheliche Sohn einer armen Bauernmagd. Die merkwürdigen Familienverhältnisse Hitler mag die nebenstehende Stammtafel (fehlt hier. Anm. d. Red.), die sich auch zum Teil auf die  Forschungen des Wiener Genealogen Karl Friedrich von Frank, aber auch auf sonstige Nachforschungen in Kirchenbüchern stützt, etwas verdeutlichen. Dieses Bruchstück einer Ahnentafel zeigt, wie die heutige Namensform Hitler aus einem Sammelsurium verschiedener Klänge und Schreibungen erst sehr spät herauswächst. Es gibt erwiesenermaßen viele jüdische Hitlers, und die Ähnlichkeit des sonst seltenen Namens hat zur Suche nach einem jüdischen Einschlag in der Familiengeschichte verleitet. Es ist ein Irrtum.(…)

Merkwürdige Familie

Das „Waldviertel“ (…) ist eine ernste, abseitige, nicht eben reiche Landschaft; wie viele solcher Gegenden hat sie keinen Mangel an Aberglauben und Spukgeschichten. Die Ahnen scheinen arme Bauersleute gewesen zu sein; „Kleinhäusler“ steht öfters in den Kirchenbüchern. Von der Unruhe der Hitlerschen, der Beständigkeit der Pölzlschen Linie, die in Adolf Hitlers Elternpaar aufeinandertreffen, wurde schon gesprochen. (…) Bemerkenswert ist in der väterlichen Linie die Vitalität. Die Zahl von Alois Hitlers ehelichen Kindern ist sieben, doch schon bei Georg Hiedler lassen die spärlichen  Daten alle Vermutungen zu. Dreimal hat Alois Hitler geheiratet, 52 Jahre war er alt, als sein Sohn Adolf geboren wurde, mit 57 Jahren kann das letzte Kind. Das auffallende Kindersterben in der dritten Ehe deutet auf eine Schwächeanlage, die offenbar aus dem Blute der Mutter stammt; das Bild zeigt ein junge Frau von zartem Typus. Merkwürdig wie dieselbe Krankheit durch die ganze Familie schleicht: Alois Hitlers erste und zweite Frau sterben an Schwindsucht, auch er erliegt einem Lungenleiden.

Ist erbliche Belastung zu erkennen? Eine Tante Adolf Hitlers mütterlicherseits wird von einer Hausgenossin als „arbeitsscheu und nicht ganz normal“ bezeichnet, doch reicht dies Zeugnis natürlich nicht aus. Ein Sohn aus Alois Hitlers zweiter Ehe geriet auf die schiefe Bahn, doch gerade dessen Vollschwester  Angela wird als tüchtiger, normaler Charakter mit sympathischen Zügen geschildert.  Absonderlichkeiten weist die Familiengeschichte genug auf; dennoch reichen sie wohl nur eben hin, das bereits bekannte Bild Adolf Hitlers ein wenig schärfer zu beleuchten. Mit Adolf Hitler ist die Familiengeschichte in die Politik gekommen. Darum steht die seine hier.

2. Ein früh gescheiterter

Erste Daten

(…) Die nächste offizielle Nachricht  über den Lebensgang dieses Kindes liefert das Jahr 1895. Am 2. April dieses Jahres kommt es in die Volksschule von Fischlham bei Hafeld. Zwei Jahre darauf Übergang in die Klosterschule des Stifts Lambach; ein Lehrer erinnert sich, dass er diesen Schüler wegen Rauchens im Klostergarten entlassen habe. Das letzte Volksschuljahr verbringt er in Leonding; es muss vermerkt werden, dass in seinen Zeugnissen aus dieser Zeit nur die Note 1 steht, gelegentlich mit Ausnahme von Gesang, Zeichnen und Turnen. Umso auffallender ist der Rückschlag, als er im September 1900 in die Staatsrealschule in Linz eintritt. Im ersten Schuljahr sind dort die Leistungen derart, dass er sitzen bleibt und die Klasse wiederholen muss. Dann bessern sich die Leistungen zeitweise; in Geschichte sind sie mehrmals vorzüglich, in Mathematik genügend oder nicht genügend, ebenso Französisch; meistens genügend oder allenfalls befriedigend auch in Deutsch, vorzüglich in Freihandzeichnen und in Turnen. Der Fleiß wird als ungleichmäßig oder allenfalls hinreichend bezeichnet. Ein Jahr nach dem Tode des Vaters geht er von Linz fort nach Steyr in Oberösterreich(…) und besucht die dortige Staatsrealschule.

Kindheit und Schule

Was sagt Hitler selbst über seinen Bildungsgang? Vater will ihn studieren lassen. Er soll höherer Staatsbeamter werden. Adolf will nicht: „Mir wurde gähnend übel bei dem Gedanken  als unfreier Mann in einem Büro sitzen zu dürfen, nicht Herr sein zu können der eigene Zeit, sondern in auszufüllende Formulare den Inhalt eines ganzen Lebens füllen zu müssen.“ Die Scheu vor geregelter Arbeit ist ihm geblieben. Er wagt dem Vater aber nicht offen zu widersprechen: „Ich konnte meine inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügt mein eigener fester Entschluss, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen.“ Ein kleiner Duckmäuser also.

„Wie es nun kam, weiß ich heute selber nicht, aber eines Tages war mir klar, dass ich Maler werden würde, Kunstmaler.“ Härteste Opposition des Vaters: „ Kunstmaler, nein, solange ich lebe niemals!“ Darauf passive Resistenz des Sohnes: „ Ich ging einen Schritt weiter und erklärte, dass ich dann überhaupt nicht mehr lernen wollte. Da ich nun natürlich doch mit solchen Erklärungen den Kürzeren zog, insoferne der alte Herr jetzt seine Autorität rücksichtslos durchzusetzen sich anschickte, schwieg ich künftig“ – der Widerstand duckt sich abermals vor dem väterlichen Stock – „setzte meine Drohung aber in die Wirklichkeit um. Ich glaubte, dass, wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben mich doch meinem erträumten Glück würde zugehen  lassen.“

Mit anderen Worten: Der Schüler Adolf Hitler wird aus Kunstbegeisterung faul: „Sicher war zunächst mein  ersichtlicher Misserfolg in der Schule.  Was mich freute, lernte ich, vor allem auch alles, was ich meiner Meinung nach später als Maler brauchen würde. Was mir in dieser Hinsicht bedeutungslos erschien oder mich auch sonst nicht so anzog, sabotierte ich vollkommen. Meine Zeugnisse in dieser Zeit stellen, je nach dem Gegenstande und seiner Weinschätzung, immer Extreme dar. Neben „lobenswert“ und „vorzüglich“  „genügend“ oder  auch  „nicht genügend“. Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in Weltgeschichte.“ Das ist ein sehr verklärendes Rückerinnern. In Wahrheit blickt aus diesen Schulzeugnissen ein gewecktes Kind mit lebhafter Phantasie und wenig Disziplin heraus, das sich für die bunten und leicht fasslichen Fächer interessierte und die anstrengenden vernachlässigte.

Es gibt genug Berichte von Lehrern und Mitschülern, Hausgenossen und Nachbarn, die den Buben von damals ziemlich übereinstimmend schildern: ein großer Indianerhäuptling, Raufbold und Anführer,  stimm- und wortbegabt,  plant mit den Kameraden eine Weltreise, bringt Mordinstrumente wie „Bowie-Messer“ und „Tomahawk“  mit in die Schule und liest unter der Bank Karl May. Wenn er Prügel bekommt,  darf er sich beim Vater nicht beklagen, sondern muss sich selber helfen. Das alles gibt kein unsympathisches Knabenbild; nur sollte in Verständiger, groß geworden, nicht mehr daraus machen, als dran ist.

Ungenügende Schulleistungen sagen gewiss nichts gegen einen Menschen; selbst ungenügende Leistungen in Deutsch brauchen  einen künftigen Redner und Schriftsteller noch nicht bloßzustellen. Aber Hitler selbst  ist es, der diese Dinge ungeheuer ernst nimmt, indem sie weit über ihr natürliches Gewicht hinaus das Gemüt belasten. Den mangelhaften Schulleistungen schreibt er den Fehlschlag seiner bürgerlichen Laufbahn zu; und was er – im Gegensatz zu tausenden anderen Autodidakten –  im Leben an Bildung nie erwirbt, soll nach seiner Meinung immer noch die Folge dieser Jahre in Linz und Steyr sein. Diese Selbstbemitleidung wird von den Schulzeugnissen auf ihr richtiges Maß zurückgeführt. Schnelligkeit des Begreifens und Unlust zur Arbeit – diese Eigenschaften  kennzeichnen den Knaben und prägen bis in die feinste Verästelung die intellektuelle Seite eines ganzen Menschenlebens.

Inzwischen werden sein Leistungen in der Schule immer schlechter, der Konflikt mit dem Vater immer härter. Alois Hitler erleidet einen Schlaganfall, als sein Sohn zwölf Jahre alt ist. „Was er am Meisten ersehnte, seinem Kinde die Existenz mitzuschaffen, um es so vor dem eigenen bitteren Werdegang zu bewahren, schien ihm damals wohl nicht gelungen zu sein.“ Alois Hitler starb, an der Wohlgeratenheit seines Sohnes zweifelnd.

Kunst und Krankheit

Die Mutter lässt ihn weiter auf die Schule gehen. Aber: „In eben dem Maße nun, in dem die Mittelschule sich in Ausbildung  und Lehrstoff von meinem Ideale entfernte, wurde ich innerlich gleichgültiger. Da kam mir plötzlich eine Krankheit zu Hilfe.“ Diese Krankheit ist ein Lungenleiden, das ihn auch zum Militärdienst untauglich macht, das später unter der Wirkung einer Gasvergiftung wieder hervortritt, seine Stimme zeitweise schwächt, dann eine Weile wieder schläft und in der Mitte des fünften Lebensjahrzehnts anscheinend abermals ausbricht.

In den Jahren nach des Vaters Tode war Adolf Hitler öfters mit der Mutter und der jüngsten Schwester Paula in Spital, also in der Heimat der Mutter. Dort verbrachte er bei der Tante Therese Schmidt seine Ferien. Er wird aus jener Zeit als großer, bleicher und hagerer Junge geschildert. In Spital scheint ihn das Leiden besonders gepackt zuhaben. Er war in Behandlung bei dem Arzt Dr. Karl Keiß in Weitra. Dieser sagte zu der Tante Therese: „Von dieser Krankheit wird der Adolf nicht mehr gesund.“ (…) Zu seiner Tante Therese sagt er beim Abschied im Jahre 1908: er werde nicht früher wieder nach Spital kommen, als bis er etwas geworden sei.

Was er werden will, ist immer noch Maler. Der Schulbesuch wird einfach abgebrochen. Ohne Abschluss und Reifzeugnis und zumindest auch ohne zwingenden materiellen Grund  verlässt er die Schule im Jahre 1905 endgültig. (…) Was Adolf Hitler in den letzten Jahren bis zum Tode seiner Mutter tat und wo er sich aufgehalten hat, darüber geht er in seiner Lebensbeschreibung mit dunklen Worten hinweg. Es scheint fast, dass er damals zum ersten Male für ein paar Monate in Deutschland gewesen ist. Ehemalige Schüler der privaten Malschule des Professors Gröber in der Blütenstraße in München erinnern sich an einen Mitschüler namens Hitler. Es gibt auch zwei Photographien; sie zeigen im Kreise von Kolleginnen und Kollegen einen Jüngling, dessen Ähnlichkeit mit etwas späteren Bildern nicht gering ist. Er soll nach Schilderungen im Allgemeinen ruhig und zurückhaltend, fast schüchtern gewesen sein; gelegentlich konnte er dann stark ausbrechen und viel Lärm und Betrieb machen. Er sprach stark mit den Händen, und seine kurzen, eckigen, brüsken Kopfbewegungen fielen auf – Merkmale, die ein paar Jahre später auch in Wien von Kameraden beobachtet wurden. Ein Schulkollege aus dieser Münchner Zeit sagte viele Jahre später zu einer Mitschülerin, die ihn an den ehemaligen Kameraden erinnerte: „ Was, unser schüchterner Jüngling soll jetzt der Hitler sein?“

Durchgefallen

Seit Oktober 1907 lebt er, von der Mutter oder anderen Verwandten unterstützt, in Wien, sich auf die Malakademie vorbereitend und im übrigen die große Stadt auf knabenhafte Weise genießend: Theater, Museen, Parlament. Bald bezeichnet er sich als Student, bald als Maler, denn er ist überzeugt, dass er demnächst Schüler der Malschule in der Akademie der bildenden Künste sein wird. Er wird es nicht sein.(…) „Die Probezeichnung machten mit ungenügendem Erfolg oder wurden nicht zur Probe zugelassen, die Herren: … Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…  ungenügend.“

Also abgelehnt. Zu Hause scheint er von diesem Misserfolg nichts erzählt zu haben und in seiner Lebensbeschreibung verschweigt er ihn völlig. Er bleibt in Wien (…) und nimmt sich vor, es im nächsten Herbst nochmals zu versuchen. Das Ergebnis ist noch niederschmetternder, denn diesmal heißt es in der Klassifikationsliste einfach:

„Die Probezeichnungen machten mit ungenügendem Erfolg oder waren nicht zum Probezeichnen zugelassen die Herren: …. 24.  Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…Nicht zur Probe zugelassen.“ Das bedeutet, die von ihm mitgebrachten Zeichnungen waren derart, dass die Prüfenden eine Probe nicht mehr für notwendig hielten. (…)

Gebrochen fährt er nach Hause zurück, ans Krankenbett der Mutter. Entschlusslose Monate folgen. Es ist schon zu sehen, dass ihn die Mutter demnächst verlassen wird, bei der er seit des Vaters Tode – nach seinen eigenen Ausdrücken – als „Muttersöhnchen“ in „weichen Daunen“ und der „Hohlheit gemächlichen Lebens“ herumgelegen hat. Ein verspieltes, verträumtes Jugenddasein geht dem Ende zu. Klara Hitler stirbt am 21. Dezember 1908. Adolf Hitler, ein verwöhnter Junge von 19 Jahren, der nichts gelernt hat, nichts erreicht hat und nichts kann, steht vor dem Nichts.

Das Arbeitererlebnis

Dieses Nichts bedeutet vier Jahre Elend in Wien. Er selbst erzählt, er habe sich in dieser ersten Wiener Zeit durch Handarbeit sein Brot erworben, namentlich als Handlanger  und Steinträger  auf dem Bau. Sein Bericht über diese Lebensperiode ist so kennzeichnend für ihn, dass er trotz aller Bedenken hier stehen möge: „Meine Kleidung war noch etwas in Ordnung, meine Sprache gepflegt und mein Wesen zurückhaltend. Ich suchte nur Arbeit, um nicht zu verhungern, um damit die Möglichkeit einer, wenn auch noch so langsamen Weiterbildung zu erhalten.  Ich würde mich um meine neue Umgebung überhaupt nicht gekümmert haben“  – wenn sie sich nicht um ihn gekümmert hätte.

Die Arbeiterkollegen verlangen seinen Eintritt in  die Gewerkschaft. Er antwortet, er lasse sich zu nichts zwingen. Stumm und erbittert sitzt der Jüngling  mit  den besseren Kleidern und dem gepflegten Wesen abseits, trinkt ein Flasche Milch und macht lange Ohren, wenn die Kollegen politisieren. (…) Diese unglückseligen Wiener Arbeiter  „lehnen alles“ ab,  wie Hitler findet.(…) Er versucht zu widersprechen und macht eine unangenehme Entdeckung: Die Arbeiter wissen mehr als er. Sie führen ihn vor: „Da musste ich allerdings erkennen, dass der Widerspruch solange vollkommen aussichtslos war, solange ich nicht wenigstens bestimmte Kenntnisse über die nun einmal umstrittenen Punkte besaß.“

Darum beginnt er zu lesen – „Buch um Buch, Broschüre um Broschüre“: wie eben ein intelligenter junger Mensch wissen saugt. Über die Kunst des Lesens hat Hitler gescheite, aber verräterische Sätze geschrieben. Er verhöhnt die Vielleser, die keine Registratur für ihr angelesenes Wissen im Gehirn haben und darum zwecklosen Ballast aus der Lektüre mitschleppen; die sich mit jedem neuen Zuwachs ihrer Art von Bildung sich immer mehr der Welt entfremden, bis sie entweder in einem Sanatorium oder als Politiker in einem  Parlament enden. Anders Hitler: Ihn macht das Gefühl beim Studium jedes Buches, jeder Zeitschrift oder Broschüre  „augenblicklich auf all das aufmerksam, was seiner Meinung nach  für ihn zur dauernden Festhaltung geeignet, weil  es entweder zweckmäßig oder allgemein wissenswert ist.“ Das Gelesene findet so „seine sinngemäße Eingliederung in das  immer schon irgendwie vorhandene Bild, das sich die Vorstellung von dieser oder jener Sache geschaffen hat.“ Dort wird es „entweder korrigierend oder ergänzend wirken, es wird „die Richtigkeit oder Deutlichkeit desselben erhöhen.“ Nur solches Lesen habe Sinn, denn – „ein Redner zum Beispiel, der nicht auf solche Weise seinem Verstande die nötigen Unterlagen liefert, wird nie in der Lage sein, bei Widerspruch zwingend sein Ansichten zu vertreten. Bei jeder Diskussion wird ihn das Gedächtnis schnöde im Stich lassen.“

Gescheite Sätze, zumal für einen Redner. Aber auch verräterische, zumal für einen Propheten. Es ist vielleicht das Aufhellendste, was Hitler jemals über sich geschrieben hat. Das führt tiefer als bloß hinter die Tricks eines Streithammels, der nach Zitaten jagt, um am Stammtisch oder vor dem Volke Gegner abzutrumpfen. Das ist der fanatische Wille zur Borniertheit, der nur lernen will, was er schon weiß; der den Schmerz der Erkenntnis scheut und nur das Wohlgefühl des Rechthabens sucht. Und nun stelle man sich vor, wie ein Mensch mit solchem Hang zum Vorurteil später fremde Völker und Rassen nach den einseitigen Jugendeindrücken Wiens beurteilen, verkennen und verleumden musste!

Was Hitler eigentlich gelesen hat, verschweigt er sorgfältig. Sein ganzes Reden und Schreiben aber setzt es außer Zweifel, dass er niemals eine wesentliche Schrift von Marx gelesen, geschweige denn sich kritisch mit ihr auseinandergesetzt  hat, niemals führt er einen marxistischen Gedankengang an, auch nur um ihn zu widerlegen. Hat doch selbst später der wirtschaftliche Theoretiker des Nationalsozialismus, Gottfried Feder, einem Bekannten auf energisches Drängen zugegeben, er habe niemals das Kapital von Marx (ein übrigens nicht sonderlich schwer zu lesendes Werk), sondern nur das kritische Buch von Eugen Böhm-Bawerk gelesen. Hitler dürfte es nicht einmal bis zu Böhm–Bawerk gebracht haben. Wie er den Marxismus studierte, muss man im Wortlaut genießen:

„So begann ich nun, mich mit den Begründern dieser Lehre vertraut zu machen, um so die Grundlagen der Bewegung zu studieren.“ Er las also die dicken Bücher in wochenlanger Arbeit durch? Nun… „Dass ich hier schneller zum Ziele kam, als ich vielleicht erst selber zu denken wagte, hatte ich allein meiner nun gewonnenen, wenn auch damals noch wenig vertieften Kenntnis der Judenfrage zu danken. Sie allein ermöglichte mir den praktischen Vergleich der Wirklichkeit mit dem theoretischen Geflunker der Gründungsapostel der Sozialdemokratie…“- so redlich bemüht studierte das gelehrte junge Haupt die Gesetze vom Mehrwert und das Gesetz der fallenden Profitrate – „da sie mich die Sprache des jüdischen Volkes gelehrt hatte, das redet, um die Gedanken zu verbergen oder mindestens so zu verschleiern…“-  lohnt sich also gar nicht zu lesen!- und sein wirkliches Ziel ist mithin „nicht in den Zeilen zu finden, sondern schlummert wohlverborgen zwischen ihnen“, er klappt das Buch spätestens auf Seite 50 wieder zu.

Gerüstet mit den Argumenten aus antisemitischen Traktätchen und Broschüren, aus dem „Deutschen Volksblatt“, diskutiert er nun mit den Kollegen. Er zerrt ihre Ideale herunter, so wie sie es mit den seinen getan haben; beleidigt und reizt sie derart, dass sie ihn, wie er angibt, vor die Wahl stellen: den Bauplatz sofort zu verlassen oder vom Gerüst zu herunter zu fliegen. Nicht seine Weigerung, in die Gewerkschaft einzutreten, war Ursache dieser ersten schlechten Erfahrung mit den Arbeitern.

Obdachlosenasyl Meidling

So endet Adolf Hitlers erste Berührung mit der Arbeiterwelt, wenn wir seinem Bericht glauben dürfen. Aber dürfen wir es? Menschen, die ihn um jene Zeit gut kannten – Hausgenossen, Geschäftsfreunde, Bilderhändler -, behaupten, Hitler sei damals für körperliche Arbeit viel zu schwach gewesen, zumal für Arbeit auf dem Bau, bei der nur die robustesten Kerle eingestellt worden seien. Auch habe er damals nie etwas von dieser Bauarbeit erzählt. Diese Zweifel genügen nicht, um seine eigene Darstellung ganz zu wiederlegen; aber ausgeschmückt mag sie wohl sein. In einem Schriftchen, betitelt „Mein politisches Erwachen“, hat der eigentliche Gründer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, der Werkzeugschlosser Anton Drexler, ebenfalls erzählt, wie er wegen seiner Feindseligkeit gegen die Gewerkschaften durch die Arbeitskollegen von der Baustelle vertrieben worden sei; auch er sagt, damals sei in ihm der Hass gegen sie Sozialdemokratie entstanden – kurz, der Bericht Drexlers und Hitlers ähneln sich so auffallend, als ob einer vom andern abgeschrieben sei. Nur erschien „Mein politisches Erwachen“ 1920, „Mein Kampf“ aber 1925.

Seinen Quartiergebern erklärte Hitler damals, er „bilde sich zum Schriftsteller aus“. Sicher ist, dass er weder Geld noch Arbeit hatte und wirklich ins bitterste Elend geriet. Seine letzte Wohnung muss er im November 1909 verlassen. Ein paar Nächte irrt er obdachlos umher, schläft erst in Kaffeehäusern und dann in der Herbstkälte auf den Bänken in den Parkanlagen, von wo die Wachleute ihn wegjagen. (…)

Dieser Weg des bereits Einundzwanzigjährigen nach abwärts endet Anfang November 1909 im Obdachlosenasyl von Meidling. Auf harter Drahtpritsche, eine dünne Decke, als Kopfkissen die eigenen Kleider, die Schuhe unter den Bettfüßen festgeklemmt, damit sie nicht gestohlen werden, links und rechts die Genossen des gleichen Elends – so verbringt Adolf Hitler die nächsten Monate. Im Kloster in der Gumpendorferstraße  isst er täglich morgens die Armensuppe; abends schenken ihm die Kameraden im Asyl ein Stück Pferdewurst  oder eine Bissen Brot. Als der erste Schnee fällt, humpelt er, schwächlich und mit wunden Füßen, ein paarmal zum Schneeschaufeln an der Pilgrambrücke, aber er hält diese harte Arbeit bei Winterkälte, in einem abgeschabten blauen Röckchen und ohne Mantel, nicht lange aus. Dann stapft er mit den Kameraden durch den Schnee nach Erdberg, von da nach Favoriten; sie klopfen die Wärmestuben ab, wo die Obdachlosen vor Kälte Zuflucht finden und Suppe und ein Stück Brot bekommen. Diese Wärmestuben sind eine Stiftung des Barons Königswarter, eines Mannes jüdischer Abstammung; übrigens war auch  das Meidlinger Asyl aus jüdischen Mitteln gestiftet.

Gelegentlich steht Hitler am Westbahnhof  und trägt den Reisenden für ein paar Kreuzer die Koffer. Dann will er sich zu Erdarbeiten melden, die in der Gegend von Favoriten ausgeschreiben sind; aber ein neugewonnener Freund sagt ihm, er solle das nicht tun; habe er erst einmal mit schwerer Handarbeit angefangen, dann sei der Weg hinauf sehr schwer. Hitler folgt dem Rat.

Männerheim Brigittenau

Der Freund, der sich durch diese lebenskluge Warnung kennzeichnend einführt, ist der spätere Zeichner Reinhold Hanisch; etwas älter als Hitler, damals im gleichen Elend wie er, mit dem auf und ab des Lebens sehr vertraut. Hanisch hat vom Herbst 1909  bis in den Sommer 1910 acht Monate  lang mit Hitler in enger Freundschaft, Duzbrüderschaft und geschäftlicher Sozietät zusammen gelebt, Gutes und Böses mit ihm geteilt und über diese Zeit einen lebendigen und reizvollen Bericht geschrieben, dem hier ein paar Züge entnommen sind.

Bis etwa zum Jahresende bleiben die beiden im Obdachlosenasyl in Meidling. Während Hanisch nach allerlei Gelegenheitsarbeit läuft, sitzt Hitler brütend und untätig herum, so dass der neue Freund ihn einmal fragt, worauf er eigentlich warte? Er wisse es auch nicht recht, ist die Antwort. Gegen Weihnachten schickt die Schwester aus Linz ihm 50 Kronen  von der väterlichen Pension. Damit beginnt eine Art sozialer Aufstieg. Hitler zieht aus dem Obdachlosenasyl ins Männerheim in der Meldemannstraße im XX. Bezirk. Gegen das Asyl ist das schon ein guter Abstand; in Wahrheit freilich bleibt es ein dürftiges und trostloses Quartier. „Nur Tagediebe, Trinker und Dergleichen sind  längere Zeit im Männerheim zu finden“, meint Hanisch, der ebenfalls ein halbes Jahr mit Hitler dort gewohnt hat.

Hitler hat Hanisch erzählt, er sei akademischer Maler. Daraufhin rät ihm der geschäftstüchtige Freund, mit seiner Kunst etwas anzufangen und Ansichtskarten zu malen. Hitler antwortet, er wolle sich nach den vergangenen Strapazen erst einmal acht Tage ausruhen.(…) Er drängt Hitler zur Arbeit, nimmt ihm die Malereien ab und verkauft sie in den Gastwirtschaften. Später malt Hitler nach Vorlagen kleine Bildchen, die von Möbelhändlern und Rahmentischlern für ein paar Kronen gekauft werden. Damals wurden in die Rückenlehnen von Sofas solche Bilder eingelassen. (…)

Es sind durchweg steife, aber exakte Zeichnungen nach gedruckten oder lithographierten Vorlagen, und zwar Stadtansichten und Architekturstücke; menschliche Figuren, die allenfalls als winzige Staffage vorkommen, sind ganz missraten und wirken wie gestopfte Säcke. Hanisch wollte den Freund einmal bewegen, eine Kirche im Freien nach der Natur zu zeichnen; aber das misslang völlig, und Hitler entschuldigte sich: es sei zu kalt, er habe steife Finger. Eine groteske Malerei hat sich gefunden, in unverkennbarer Handschrift signiert: A. Hitler. Es ist ein Reklameplakat, offenbar von einem Krämer oder Drogisten bestellt, der ein Erzeugnis namens „Teddy-Schweißpuder“ feilbot. (…)

Zu diesen missglückten Reklamezeichnungen wurde Hitler durch einen anderen Freund aus dem Männerheim angeregt, einen ungarischen Juden namens Neumann. Dieser Neumann, der meist ein klein wenig Bargeld bei sich hatte, half Hitler oft aus seiner ärgsten Not, schenkte ihm Hemden und andere Kleidungsstücke; so einen >Kaiserrock< (Gehrock), den er dann jahrelang getragen hat. Hitler schwärmte von diesem Neumann und nannte ihn gegenüber Hanisch öfters einen der anständigsten Menschen, die er kenne. 1910 wanderte Neumann nach Deutschland  und redete Hitler zu, mit ihm zu gehen. Hitler schwankte, entschloss sich dann aber zum Bleiben. So ist die Weltgeschichte um das Schauspiel gekommen, das Adolf Hitler an der Seite eines ungarischen Juden seinen Einzug in Deutschland gehalten hat.(…)

Von all dem ist in „Mein Kampf“ nichts zu lesen. Das Männerheim findet sich dort nicht, die Reklamezeichnungen nicht, der Freund Hanisch nicht und selbstverständlich der jüdische Freund Neumann nicht. Nur die Atmosphäre jener Zeit und jener Verhältnisse blieb und hat sich in der Erinnerung an dem Gift verdichtet, das die ganze Schilderung seines Wiener Aufenthaltes durchtränkt.  (…)

Die Lebensschule der Entartung

Im Männerheim kommen die Klassen auf eine eigentümliche und verderbte Art zusammen. Da gibt es Grafen, Professoren, Großindustrielle, Kaufleute, Maler, Facharbeiter, Handlanger und Ausgeher – nur alles  a. D. oder z. D. oder, wie man im Milieu sagt, „Verkrachte“. Die Klasse in entarteter  Form. Aber das Klassenbewusstsein entartet nicht; der „verkrachte“ Graf bleibt in seiner Gesinnung Graf, der Prolet Prolet, und was sie alle wollen, ist: dorthin zurück, von wo sie gekommen sind. Das Elend schafft gewiss Kameradschaft; gemeinsamer Absturz kann  zu gemeinsamem Streben zusammenführen, aber die Ziele bleiben verschieden, in dieser gemischten Tiefe verschiedener als irgendwo sonst; aus diesem Abgrund späht jeder nach seinen eigenen Sternen –  der Mangel an Solidarität ist das große Hauptmerkmal der großen Klasse der Deklassierten, die Adolf Hitler hier zum ersten Male kennenlernt und die für seine spätere Laufbahn noch so wichtig werden wird. Gemeinsam nach den Gegensätzen streben, ist die Losung dieser entarteten Volksgemeinschaft, einander hochzuhelfen, um dann einander wieder hinabzustoßen, zusammenhalten, um sich zuletzt zu betrügen. In diesem furchtbaren Milieu stellt Hitler sich zum erstenmal die schwere Frage nach der Möglichkeit einer Verwirklichung seiner in der Linzer Realschule empfangenen Träume; nach den Mitteln aus dem Stoff, aus denen eine deutsche Einheit, eine deutsche Weltherrschaft geformt werden könnten. Das heißt: der Begriff der Politik tritt ihm hier zum erstenmal nahe, hier, unter den Verkommenen des Weiner Männerasyls. In diesem Abfall lernt er das Volk als Objekt der Politik kennen; an dieser Spreu bildet ein Altkluger sich für ein ganzes Leben seine Vorstellungen vom Wert der Menschen, vom  Unverstand  der Masse. Vergessen wir nicht, dass dieser Begriff ihm zuerst von oben eingetrichtert wurde, im Geschichtsunterricht  deutscher Schulen  gibt es immer erleuchtete Fürsten und törichte Völker, und „plebs“ heißt das niedere Volk. Im Wiener Männerheim aber lernt man, wie recht der Professor zu Hause hatte.(…)

„Hungerkünstler“

Dieser früh Gescheiterte denkt nicht daran, sich mit der  Gründung von Reklameinstituten oder dem Erfinden von Mitteln gegen gefrorene Fensterscheiben zufrieden zu geben. Er sieht eines Tages einen Film in dem ein Volksredner eine Masse aufwiegelt. Jetzt will er eine neue Arbeiterpartei gründen, also eine Partei seiner Objekte. Die Organisation müsse man von den Sozialdemokraten lernen und die besten Schlagworte von den Parteien übernehmen, denn im übrigen heilige der Zweck die Mittel. Während Hanisch draußen herumläuft und Hitlers Zeichnungen zu verkaufen sucht, sitzt dieser im Lesesaal des Männerheims und hält Vorträge. Oder er beugt sich über eine Zeitung, zwei andere links und rechts unter die Arme geklemmt. Wenn er wirklich einmal zeichnet oder jemand eine neue Zeitung mitbringt, lässt er sofort  die Arbeit liegen und stürzt sich auf das Blatt. Oft nimmt ihm Hanisch, wenn er abends nach Hause kommt, die Reißschiene aus der Hand, die Hitler wild über dem Kopfe schwingt, während er auf die Umsitzenden losdonnert; drückt ihn auf die Bank und sagt: „Arbeite endlich!“ Die anderen rufen: „Arbeiten, Hitler, Dein Chef kommt!“ Manchmal ist Hitler freilich auch sehr niedergedrückt; er hat mit seinen Reden keinen Eindruck gemacht, man hat ihn ausgelacht, einmal ihm ein Spottplakat auf den Rücken geklebt, und Hanisch muss abends das weinende Menschenkind trösten.

Die lauten Debatten im Männerheim steigern sich oft zu wilden Lärmszenen. Dann rast der Verwalter herauf, um Ruhe zu gebieten – und schon sieht man Hitler mit angezogenen Armen am Tisch sitzen, bescheiden und musterhaft über seine Zeichnung geduckt. Einmal haben Hanisch, Hitler und ein Dritter aus dem Männerheim beschlossen, einem verhassten Wachmann im Prater einen Streich zu spielen: Hanisch will ihm heimlich ein Plakat auf den Rücken kleben, die beiden anderen sollen den Wachtmann indessen von vorne beschäftigen. Hanisch kommt von hinten an den Wachtmann heran und berührt ihn; in diesem Augenblick ist auf der anderen Seite Hitler der Erste, der erschrocken davon läuft. Der Ängstlichkeit Hitlers schreibt es Hanisch auch zu, dass er bei den Frauen kein Glück gehabt habe. Dagegen konnte Hitler mit leuchtenden Augen von den Bauernraufereien in seiner oberösterreichischen Heimat erzählen; ein älterer Freund habe ihm einmal im Gerichtsgebäude in Ried eine Sammlung von Mordinstrumenten gezeigt, die raufenden Bauern abgenommen worden waren; das sei für ihn als Knaben ein glücklicher Tag gewesen. Hanisch, der diesen Zug berichtet, fügt bieder hinzu: „Ob derartige Instinkte im späteren Alter verschwinden, weiß ich nicht. Ich bringe einfach als Erzähler meine Erfahrungen und Erlebnisse mit Hitler, so wie ich alles von ihm selbst gehört habe.“

Das Freundschafts- und Arbeitsverhältnis zwischen beiden zerbröckelt langsam. Hanisch bringt von Bilderhändlern und Privaten Bestellungen, Hitler aber liest Zeitungen und ist nicht zum pünktlichen Arbeiten zu bewegen. Auch glaubt er nicht, dass seine Erzeugnisse nur bescheidene Qualität haben, sondern hält sich für einen großen Künstler – vor allem betont er, ein Künstler brauche Inspiration und könne doch nicht arbeiten wie ein Kuli. Hanisch antwortet aufgebracht: “Künstler – höchstens Hungerkünstler“, im Übrigen sei er ein Schmierant, daneben ein Faulpelz, der auch mit dem Geld nicht hauszuhalten wisse. Wenn er ein paar Kronen verdient hat, rührt er keine Arbeit an, sitzt tagelang in einem billigen Volkscafe und isst vier bis fünf Schaumrollen hintereinander; allerdings gibt er fast kein Geld für Alkohol und gar keins für Tabak aus.

Abschied von Wien

Drei Jahre hat Hitler im Männerheim verbracht, „die schwerste, wenn auch  gründlichste Schule meines Lebens“; doppelt hart und bitter nach der zugestandenen sorgenfreien Jugend in Linz und Steyr. In diesen Jahren ist er nach seiner Behauptung „ernst und still“ geworden. Er ist in der Tat jetzt oft deprimiert und in sich gekehrt. Ein fast schöner Künstlerkopf mit ekstatisch brennenden Augen, mit breitem, buschigem Schnurrbart; zarte Gestalt, hastiger, springender Gang. Führt oft Selbstgespräche. Ein Sonderling. Ein künftiger Künstler. Das innere Erlebnis der politischen Berufung ist noch nicht da, wenn er auch schon vom Parteigründen gesprochen hat. Junge Menschen wollen gelegentlich alles. Was treibt ihn von Wien fort? Nun, das Elende im Asyl konnte ihn gewiss nicht halten. Den unmittelbaren Anstoß, der ihn wegbrachte, nennt er nicht. Er schreibt in den Wiener Jahren folgendes Testament:

„Meine innere Abneigung dem habsburgischen Staat gegenüber wuchs in dieser Zeit immer mehr an. Meine Überzeugung gewann an Boden, dass dies Staatgebilde nur zum Unglück des deutschen Volkstums werden müsste. Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt beherrschte; widerwärtig dies ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben, Kroaten usw.; zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz  der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien die Riesenstadt als Verkörperung der Blutschande.“

Mit dieser erotisch getönten Hasserklärung schließt Adolf Hitler die Darstellung seiner Wiener Zeit. Ohne dass Einzelheiten greifbar werden, sagt er zwischen den Zeilen über die Ursache seines Weggangs viel. Und dazwischen spricht das Gewissen immer: Hättest Du Deine Schule nicht verbummelt, dann wärst Du heute ein fertiger Architekt, ein geachteter Bürger und ein gemachter Mann – Du Vagabund!

3. Der Krieg als Erlöser

Das Münchner Sofa

Im Frühsommer 1913 mietete ein junger Student der Technik aus Wien im Bahnhofsviertel in München ein Zimmer. Die Vermieterin sagte ihm,  den bisherigen Mieter müsse sie hinaussetzen, weil  er seine Miete seit längerer Zeit nicht mehr bezahlen könne. Während dieser Unterhaltung kommt der arme Hinausgesetzte hinzu; dies ist merkwürdigerweise auch ein  junger Österreicher. Er fasst sich ein Herz und bittet den Landsmann um Erlaubnis, doch wenigstens noch eine Nacht bei ihm auf dem Sofa schlafen zu dürfen. Der Neue ist ein gutherziger Mensch, nimmt den armen Teufel zum Bier mit, und sie verabreden, dass er in Gottes Namen vorerst umsonst da wohnen und auf dem Sofa schlafen solle, bis er Geld habe, um seinen Teil an dem Zimmer zu bezahlen. Dabei bleibt es, die beiden sind über ein Jahr lang Stubenkameraden: der junge Ingenieur aus Wien und sein Gast auf dem Sofa, der Reklamezeichner Adolf Hitler aus Linz. (…) In München ging es ihm nicht viel besser (als in Wien. Anm. d. Red.); hier zeichnete er Plakatentwürfe für Firmen. Das Dasein ist äußerlich noch einsamer als in Wien,…(…) . Am liebsten sitzt er mit den wenigen Bekannten, die er hat, abends in der Schwemme des Hofbräuhauses, isst mit Vorliebe Weißwürste aus der Suppenschüssel, was dem österreichischen Freunde ein Gräuel ist; wenn es ein anderer zahlt, trinkt er auch ein Bier. Weiblichen Verkehr meidet er ganz.(…) Aber vielleicht noch bezeichnender für den Charakter des jungen Mannes ist es: Auch hier gewinnt er keinen nahen persönlichen Freund; so wenig wie in Wien. Immer mehr gerät er in Distanz zu Menschen; sichtlich nicht aus Stolz, sondern aus Angst; nicht aus Hochmut, sondern aus Unvermögen.

Seine politischen Ansichten sind damals zum mindesten in der Richtung schon sehr entschieden. Man durfte in keine sozialdemokratische Versammlung mit ihm gehen, weil er sich dort vor Zwischenrufen nicht halten konnte. Sobald das Gespräch auf Politik kam, begann er zu schreien und endlose Reden zu halten, dabei fiel eine gewisse Präzision und Klarheit seiner Darstellung auf. Er liebte es, zu prophezeien und politische Entwicklungen vorherzusagen. Und wieder macht der österreichische Freund die traurige Beobachtung, die Hanischs alte Klagen bestätigen: sobald von Politik die Rede war, ließ Hitler jede Arbeit stehen und liegen, mochte sie auch noch so dringend sein. Dann setzte er sich in die Hofbräuschwemme, politisierte mit allen und hatte viele Zuhörer.

Dank für den Weltkrieg

Sonderliches Vorwärtskommen kann man dies nicht nennen. Noch immer kriecht der gescheiterte Realschüler tief unter der Stufe herum, die der Vater für ihn erträumte; von den eigenen hochfliegenden Künstlerplänen gar nicht zu reden. Grau liegt ein kleines, langweiliges Leben vor ihm; da greift der Himmel ein und lässt für ihn und so viele andere ausweglose Existenzen den Weltkrieg ausbrechen. Wie Hitler diese Katastrophe erlebt, das ist fast ein Gleichnis:

„Der Kampf des Jahres 1914 wurde den Massen, wahrhaftiger Gott, nicht aufgezwungen, sondern vom gesamten Volke selbst begehrt.“ Vom gesamten Volke begehrt? Nein, aber von einer Schicht, die man Hitler-Schicht nennen könnte: „Mir selbst kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jungen vor. Ich schäme  mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie sank und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte…“. (…)

Dabei ist er dem Militärdienst bisher sonderbarerweise ziemlich erfolgreich aus dem Wege gegangen. Bei den vorgeschriebenen Stellungen in Österreich war er weder 1910 noch 1911 noch 1912 erschienen. In der Stellungsliste wurde er als „illegal“ bezeichnet, 1913 als „uneruierbar“. Am 5. Februar meldete er sich dann von München aus zur Nachstellung im nächsten österreichischen Grenzort, nämlich in Salzburg. Dort ergab die ärztliche Untersuchung das Urteil: „zum Waffen- und Hilfsdienst untauglich, zu schwach“; der Beschluss lautete auf „waffenunfähig“.Der Krieg ändert natürlich vieles. Auf dem österreichischen Konsulat  stellt er sich. Aber irgendetwas passt ihm dort nicht. Mit sprunghaftem Entschluss meldet er sich bei den Bayern als Freiwilliger. ( zum Regiment List. Anm. d.Red.)

Das eiserne Krauz

Über seine Kriegserlebnisse ist Hitler wieder wortkarg.(…) Dabei macht er sich des falschen Berichtes schuldig; vielleicht harmlos, aber nicht ganz unwichtig. Vom ersten Kampftag sagt er:„Aus der Ferne aber klangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und  kamen immer näher und näher, sprangen über Kompagnie zu Kompagnie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“

Der Herausgeber der „Geschichte des Regiments List“, Dr. Friedrich Solleder, sagt dazu: „Seit 1915 kehrt in fast allen Veröffentlichungen die Nachricht wieder, das die Lister beim Sturm auf Ypern das Deutschlandlied sangen. Das ist ein geschichtlicher Irrtum. Die Lister sangen das alte deutsche Trutzlied „Die Wacht am Rhein.“ Auch ein Beitrag zur Psychologie  der Zeugenaussage – zumal wenn der Zeuge Adolf Hitler heißt.

Hitler war Gefechtsordonanz beim  Regimentsstab, gehört also nicht zur Grabenbesatzung. Er selbst erwähnt diese Art der Verwendung nicht. Der Regimentsstab des Regimentes List hat nach der eben zitierten offiziellen Quelle im Kriege nur einen Angehörigen verloren, nämlich den Obersten List,  und zwar in den allerersten Kämpfen.  Der Dienst im Regimentsstab mag also im Ganzen weniger gefährlich  gewesen sein. Hitlers Regimentsoberst von  Baligand hat ihm bezeugt, dass er sich „ der schweren Pflicht eines Meldegängers jederzeit nicht nur willig, sondern mit Auszeichnung unterzogen hat.“ Die Auszeichnungen sind laut Militärpass ein Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit, das Militärverdienstkreuz  Dritter Klasse, das schwarze Verwundetenabzeichen (er wurde 1916  durch einen Granatsplitter verwundet) und das Eiserne Kreuz Erster Klasse, verliehen am 4. August 1918. (…) Freiherr von Tubeuf, der die Kämpfe bei Montdidier  in der Geschichte des Regiment List persönlich schildert, erwähnt diese auffallende Tat nicht; andere Schilderungen verlegen die Tat um drei Jahre zurück. Sie wäre jedenfalls so bemerkenswert, dass die Regimentsgeschichte sie nicht gut übersehen könnte. Aber sie tut es. (…)

Dabei nimmt sie  durchaus Notiz von ihm; bringt einmal eine Photographie, wie er in Gefechtsausrüstung, Pickelhaube, Gewehr umgehängt durch die Straße einer Ortschaft stürmt; sie erwähnt, dass er im schwersten Feuer den Kommandeur mit dem Leibe gedeckt und in ein schützendes Erdloch  zurück-gedrängt habe; (…) Aber nichts von fünfzehn gefangenen Franzosen. Zusammengefasst: die Verleihung des Eisernen Kreuzes 1. Klasse an Hitler sollte man nicht bezweifeln. Die fünfzehn Franzosen sehen stark nach Legende aus.  (…)

Der unerkannte Führer

Bei seinen Kameraden ist unbeliebt wegen seiner, wie es ihnen scheint, streberhaften Willigkeit gegen die Vorgesetzten. Wenn er vor den Kommandeur springt und ihn bittet, sein Leben zu schonen, „das Regiment davor zu bewahren, in so kürzer Zeit ein zweiten Mal seinen Kommandeur zu verlieren“, so hat das einen leisen Hauch von vaterländischem Schullesebuch. “Ich habe“, berichtet ein späterer Nationalsozialist, „aus Hitlers Munde nie ein Murren oder Klagen gehört über den sogenannten Schwindel. Wir alle schimpften auf ihn und fanden es unerträglich, dass wir einen weißen Raben unter uns hatten, der nicht auch mit einstimmte in die Schimpfkanonade.“ Er war ihnen unerträglich.

Auf den Photos in Gesellschaft der Kameraden sieht man ihn mit starrem Blick abseits stehen oder sitzen. “Bescheiden und schon deshalb nicht auffallend“, sagt ein Vorgesetzter. Wenn an seiner Auszeichnung, seiner Hingabe und Dienstwilligkeit nicht zu zweifeln ist, so erhebt sich die gewichtige Frage: Warum ist dieser „Führer“ viereinhalb Kriegsjahre lang ewig  nur Gefreiter geblieben? Es war ein Mangel an Unteroffizieren; trotzdem sagte dein Kompagnieführer: „Diesen Hysteriker mache ich niemals zum Unteroffizier!“

Hitlers weltgeschichtlicher Irrtum

Hier unter den Soldaten erlebt er zum zweiten Male die Volksgemeinschaft, die er bereits im Männerheim in verdorbener Art kennenglernt hat. Und wieder ist es ihm unmöglich, sich von Mensch zu Mensch mitzuteilen, als einzelner mit einzelnen zu sprechen und sie zu überzeugen. “Von mir werdet ihr noch viel hören,“ sagt er dann aufgebracht. „Wir lachten damals drüber,“ sagt der nationalsozialistische Gewährsmann. Sein Misserfolg im persönlichen Umgang verführt ihn immer mehr zur Menschenverachtung; sie steigert sich, je mehr er die Lenksamkeit dieser Menschen durch simple Tricks kennenlernt. Er beobachtet die Wirkung von Flugblättern, die der Feind bei der deutschen Truppe einschmuggelt; die gleichzeitige Unwirksamkeit der eigenen Propaganda bei den eigenen Leuten, das Verpuffen des „vaterländischen Unterrichts“ kann ihm nicht entgehen. Es ist damals viel gehörte Phrase, dass Propaganda im Kriege so wichtig  sei wie Munition; aber wie man Propaganda macht, weiß an Deutschlands verantwortlichen Stellen niemand. Diese Herren kennen das Volk nicht, das begreift der mit dem ganzen Spülwasser des Wiener Männerheims gewaschene Adolf Hitler blitzschnell.(…) Hitler vergleicht die ausgezeichnete politische Führung des Krieges auf der Gegenseite mit der Stümperei der eigenen; während die ganze Welt rot sieht vor Hass auf die Deutschen, die in Belgien angeblich  Kindern die Hände abgehackt haben sollen, tatsächlich leider nur zwei Zivilisten als  Geiseln  getötet haben, spinnen deutsche Annexionisten den Plan, einen Prinzen aus Schwabenland als Herzog über ein großes Österreich zu setzen.  Und mit solchen „Schnapsideen“ will man beim Volk und gar bei fremden Völkern moralische Eroberungen machen!

Adolf Hitler hat ein wichtiges inneres Erlebnis. Er sieht, dass er Wesentliches besser weiß als seine Führer, zu denen er aufzublicken gewohnt war. Es handelt sich nicht um Meinungsverschiedenheiten in der Sache, nicht um Gegensätze aus Weltanschauung. Es handelt sich nur  darum, dass er sich seinen  anerkannten Oberen überlegen fühlt. Aus einem Gehorsamen wird ein Besserwisser, aus einem Befehlsempfänger ein Besserkönner. Das arbeitet noch Jahre in ihm, aber hier fängt es an. (…)

Er beginnt die Mechanik der Demokratie zu verstehen, die Zauberwirkung der großen weltumspannenden Ideen, die in Deutschland niemand erfasst hat, nicht einmal die Sozialdemokratie völlig. Aber dieser stets an der Außen- und Unterseite des Volkes  herumgekrochene Mensch versteht  das innere Wesen der Demokratie nicht: die Kraft, die in der Freiheit wohnt, die dem einzelnen Verantwortungsgefühl einprägt, die in ganzes Volk sicherer führt, als irgendein Heldenkaiser oder Marschall-Präsident. Er glaubt große Führer zu sehen, wo große Systeme sind, die ihre Repräsentanten aus sich heraus schaffen: in normalen Zeiten Normale, in großen Zeiten Große. Er lernt die Kniffe der Demokratie, ohne ihren Geist zu begreifen; dieser Irrtum ist der tragische Gewinn, den der wunderliche Kamerad aus dem Schützengraben mit nach Hause bringt. Unter den Kameraden, deren Schwächen er mit dem feinen Instinkt  des Bösen wittert, ohne ihre wertvollen Seiten  zu schätzen, hochmütig und zugleich scheu, wächst seiner künftigen Bestimmung entgegen: eine gewaltige Figur der Demokratie zu werden, ohne  Demokrat zu sein.

Flucht in die Legende

4. Umkehr in die Sackgasse

Nichtsnutziges Talent

Eine Vorkriegsjugend ist zu Ende. In ihrer Ereignisarmut ist sie ein Rätsel, dessen Sinn weit über das Persönliche hinausreicht. Das Rätsel dieser Jugend ist:  wie kommt es, dass dem Mann, der heute wohl der berühmteste Mensch auf der Erde ist, bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr auch nicht der bescheidenste Erfolg geglückt ist? Warum blieb dieser Menschenbezwinger im bürgerlichen Leben Bettler und im Krieg ein unbedeutender grauer Soldat? (…)

Illusionen gegen Interessen

Wenn man fragt, wie es möglich war, dass alle diese Parteien, die doch reale >Interessen< vertraten, einer einzigen, in ihren Interessenverbindungen sehr unklaren Partei unterliegen konnten, so darf man sich nicht mit der Antwort begnügen, die alten Parteien hätten die Interessen ihre Anhänger nicht gut genug vertreten. Gewiss macht die Krise es jeder einzelnen Gruppe schwierig, für sich und die ihren noch ein gleich großes Stück wie früher aus dem kleiner gewordenen Kuchen herauszuschneiden. Aber die Frage reicht tiefer. In großen modernen Massen Parteien, an ihrer Spitze die faschistischen, haben eine alte geschichtliche Wahrheit wiederentdeckt, die lange verschüttet schien: dass die Menschen oft  nicht und die Massen fast nie ihren  Interessen dienen, sondern ihren Illusionen. Diese Tatsache ist etwas Gewaltigeres als Torheit und Blendung; sie beruht der tiefen Lust des Menschen an Hingabe und dem Selbstopfer, die in der Geschichte eine ebenso große Rolle spielt wie Hunger und Liebe. Hitler lügt nicht, wenn er stolz erklärt, dass er von seinen Anhängern immer nur Opfer verlangt habe. Man verkleinert die Bedeutung dieses ebenso großartigen wie verderblichen Hanges der Menschenseele nicht durch den Hinweis, dass bei der Opferbereitschaft der SA natürlich die Eitelkeit auch ihre Rolle spielte.

Das Versagen der Revolution

Die Revolution von 1919 hatte nur (…) zum Teil soziale Ursachen und entsprang in der Hauptsache der Sehnsucht nach Frieden. Sie war eine pazifistische Volksbewegung, keine sozialistische. Freilich hätte sie immer noch Raum und Gelegenheit genug für die Initiative wirklicher Führer geboten. Solche Führer haben sich unter den „Volksbeauftragten“ von 1919 nicht gefunden; der spätere Reichspräsident Ebert hatte nicht den Mut zum revolutionären Handeln, sondern nur zu einer Handlung, die –  bei subjektiv vielleicht bester Absicht – hart an Verrat grenzt. Er führte seine Genossen hinters Licht, ließ eine geheime Telefonleitung von seinem Schreibtisch in das der Revolution feindliche Große Hauptquartier des Generalfeldmarschalls von Hindenburg legen und stellte im Bunde mit diesem  durch seinen Parteigenosse Noske aus beschäftigungslosen Offizieren und Soldaten Freicorps auf. Diese schlugen verschiedene Erhebungen der radikalen Arbeiter nieder. Die radikalen Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden von  Offizieren ermordet. Den schwersten Schlag führten Ebert und Noske zusammen mit den alten Generälen gegen die sozialistische bayrische Räterepublik in München am 2. Mai 1919. Unmittelbar nach diesen Kämpfen taucht an dieser Stelle Adolf Hitler zum ersten Mal in der Politik auf.

Er findet ein Feld vor, reif  zum Mähen: dies zu sehen freilich ist schon eine politische Leistung. Die Arbeiterführer haben sich in dieser kurzen Periode durch ihre Ziellosigkeit entsetzlich  kompromittiert. Die Generäle haben scheinbar wieder ein Stück Macht in die Hand bekommen, aber diese Macht ist nichts; sie ist nur der negative Abdruck der vollkommenen Machtlosigkeit und Unfähigkeit der sozialdemokratischen Minister. Das Volk hat weder zu den Generälen noch zu den Arbeiterführern Vertrauen. Friedrich Ebert, der hier erwähnte sozialdemokratische Führer, wurde 1919 zum Reichspräsidenten gewählt. Er hielt es für seine Pflicht, auch weiterhin sich auf die alten Mächte in Staat und Gesellschaft zu stützen. Sie dankten es ihm nicht, aber er ließ sich nicht beirren.

Bei einem Diner saß er neben der Gräfin Holtzendorff, der Frau des sächsischen Gesandten in Berlin. Die Gräfin erzählte, wie sie auf einem Ausflug einmal absichtlich in der Eisenbahn vierter  Klasse gefahren sei: sie hielt das für eine köstliches Abenteuer. Ebert fragte:“ Nun, Frau Gräfin, wie kamen sie sich denn in der vierten Klasse unter den einfachen Leuten vor?“ – Die Gräfin:“ Herr Ebert, genauso wie Sie im Salonwagen!“ Das proletarische Reichsoberhaupt steckte die Frechheit ein.

Die Autorität liegt auf der Straße. Wer sie aufhebt, hat die Macht.

                                   Adolf Hitler hebt sie auf. Das Ergebnis ist bekannt.


Wie wäre es, gebildet zu sein? Von Peter Bieri

11. Februar 2020 | Kategorie: Bildung, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Der 1944 in Bern geborene Peter Bieri ist  einer der profiliertesten Denker unserer Zeit und  war bis 2007  Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er hatte den Lehrstuhl für «Sprachphilosophie und Analytische Philosophie» inne und veröffentlichte «Das Handwerk der Freiheit» (2001).  Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat er unter anderem den Roman «Nachtzug nach Lissabon» (2004) veröffentlicht.

Wie wäre es, gebildet zu sein?

Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Wie kann man sie beschreiben?

Bildung als Weltorientierung

Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt. Sie kann in ganz verschiedene Richtungen gehen: hinauf zu den Gestirnen und hinunter zu den Atomen und Quanten; hinaus zu der Vielfalt der natürlichen Arten und hinein in die phantastische Komplexität eines menschlichen Organismus; zurück in die Geschichte von Weltall, Erde und menschlicher Gesellschaft, und nach vorn zu der Frage, wie es mit unserem Planeten, unseren Lebensformen und Selbstbildern weitergehen könnte. Stets geht es um zweierlei: zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist.

Die Menge von dem, was es zu wissen und zu verstehen gibt, ist gigantisch, und sie wächst mit jedem Tag. Sich zu bilden, kann nicht heißen, außer Atem hinter allem herzulaufen. Die Lösung ist, sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen.

Dabei entstehen zwei Dinge, die gleichermaßen wichtig sind. Das eine ist ein Sinn für die Proportionen. Man braucht, um gebildet zu sein, nicht die genaue Anzahl der Sprachen zu kennen, die es auf der Erde gibt. Aber man sollte wissen, dass es eher 4000 sind als 40. China ist das bevölkerungsreichste, aber bei weitem nicht das größte Land. Es gibt nicht Hunderte von chemischen Elementen. Die Lichtgeschwindigkeit ist weder 10 noch 1 Million Kilometer pro Sekunde. Das Universum ist nicht Millionen, sondern Milliarden von Jahren alt. Das Mittelalter begann nicht mit Jesu Geburt und die Neuzeit nicht vor 100 Jahren. Auch die Bedeutung von Menschen und ihren Leistungen gilt es richtig zu gewichten. Louis Pasteur war für die Menschheit wichtiger als Pelé, die Erfindung des Buchdrucks und der Glühbirne folgenreicher als diejenige des Rasierapparats und des Lippenstifts.

Das Zweite, was im Zuge der Weltorientierung entsteht, ist ein Sinn für Genauigkeit: ein Verständnis davon, was es heißt, etwas genau zu kennen und zu verstehen: ein Gestein, ein Gedicht, eine Krankheit, eine Symphonie, ein Rechtssystem, eine politische Bewegung, ein Spiel. Es gibt niemanden, der mehr als nur einen winzigen Ausschnitt der Welt genau kennt. Doch das verlangt die Idee der Bildung auch nicht. Aber der Gebildete ist einer, der eine Vorstellung davon hat, was Genauigkeit ist und dass sie in verschiedenen Provinzen des Wissens ganz Unterschiedliches bedeutet.

Bildung als Aufklärung

Der  Gebildete ist also  einer, der sich in der Welt  zu orientieren weiß. Was ist diese Orientierung wert? «Wissen ist Macht.» Was die Idee der Bildung anbelangt, kann das nicht heißen: mit seinem Wissen über andere zu herrschen. Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, dass man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid Weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen, in Politik oder Werbung etwa. Orientierung in der Welt ist nicht die einzige Orientierung, auf die es ankommt. Gebildet zu sein, heißt auch, sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen und was deren Grenzen sind. Es heißt, sich die Frage vorzulegen: Was Weiß und verstehe ich wirklich? Es heißt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu machen. Dazu gehören Fragen wie diese: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verlässlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei? Das Wissen, um das es hier geht, ist Wissen zweiter Ordnung. Es unterscheidet den naiven vom gebildeten Wissenschaftler und den ernstzunehmenden vom einfältigen Journalisten, der noch nie etwas von Quellenkritik gehört hat. Wissen zweiter Ordnung bewahrt uns davor, das Opfer von Aberglauben zu werden. Wann macht ein Ereignis ein anderes wahrscheinlich? Was ist ein Gesetz im Unterschied zu einer zufälligen Korrelation? Was unterscheidet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung? Das müssen wir wissen, wenn wir ein Risiko abschätzen und uns ein Urteil über all die Vorhersagen bilden wollen, mit denen wir bombardiert werden. Jemand, der in diesen Dingen wach ist, wird skeptische Distanz wahren, nicht nur gegenüber esoterischer Literatur, sondern auch gegenüber wirtschaftlichen Prognosen, Wahlkampfargumenten, psychotherapeutischen  Versprechungen und dreisten Anmaßungen der Gehirnforschung. Und er wird gereizt, wenn er hört, wie andere Wissenschaftsformeln nur nachplappern. Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloß rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken zu unterscheiden. Er kann das, weil ihm zwei Fragen zur zweiten Natur geworden sind: «Was genau heißt das?» und: «Woher wissen wir, dass es so ist?» Das immer wieder zu fragen, macht resistent gegenüber rhetorischem Drill, Gehirnwäsche und Sektenzugehörigkeit, und es schärft die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens, gegenüber modischen Trends und jeder Form von Mitläufertum. Man kann nicht mehr geblufft und überrumpelt werden, Schwätzer, Gurus und anmaßende Journalisten haben keine Chance. Das ist ein hohes Gut, und sein Name ist: gedankliche Unbestechlichkeit.

Bildung als historisches Bewusstsein

Das aufgeklärte Bewusstsein des Gebildeten ist nicht nur kritisches Bewusstsein. Es ist auch geprägt von historischer Neugierde: Wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, fühlen, reden und leben? Und auf dem Grund dieser Neugierde liegt der Gedanke: Es hätte alles auch anders kommen können, es liegt in unserer Kultur keine metaphysische  Zwangsläufigkeit. Das aufgeklärte Bewusstsein ist also ein Bewusstsein der historischen Zufälligkeit. Es drückt sich aus in der Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und ihr gegenüber eine ironische und spielerische Einstellung einzunehmen. Das heißt nicht: sich nicht zu der eigenen Lebensform zu bekennen. Es heißt nur, von dem naiven und arroganten Gedanken abzurücken, die eigene Lebensform sei einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung, die zur Essenz eines jeden Imperialismus und einer jeden Missionierung gehört, ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung.

Das historische Bewusstsein führt zu dem Bedürfnis, sich die Kultur, in die man zufällig hineingewachsen ist, noch einmal neu anzueignen. Das hat viel mit Nachdenken über Sprache zu tun. Die Geschichte von uns als Teilnehmern an einer bestimmten Kultur zu beleuchten, heißt vor allem, sich die Geschichte unserer Wörter zu vergegenwärtigen, denn wir sind sprechende Tiere, und nichts trägt mehr zu unserer kulturellen Identität bei als die Wörter, mit denen wir unser Verhältnis zur Natur, zu den anderen Menschen und zu uns selbst gestalten. Menschliche Lebensformen werden durch Sprachen geprägt, in denen sich Weltanschauungen zu Wort melden. Wie wir die Welt sehen, zeigt sich in den zentralen Kategorien, um die herum eine Sprache gruppiert ist. Wie sind diese Kategorien entstanden, wie haben sie sich gewandelt? Schnell fallen einem Kategorien ein wie «Geist», «Seele», «Bewusstsein» und «Vernunft» – also diejenigen Wörter, die dazu dienen, das Besondere am Menschen, seine besondere Dignität, zu bezeichnen. Der historische Wandel ist hier dramatisch und hat gedankliche Unsicherheit hinterlassen, die zu kennen zur Bildung gehört. Ähnliches gilt für die Ideen von Gut und Böse, Schuld und Sühne, Achtung und Würde, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Wortgeschichten zeigen, wie viel Unterschiedliches, Diffuses und Fragmentarisches sich unter der glatten Oberfläche verbirgt. Wörter wie «Grausamkeit » und «Leiden», «Glück» und «Gelassenheit» sind Beispiele dafür, wie sich in wenigen Wörtern kulturelle Selbstbilder kristallisieren. In der Sprache der Gefühle kommt zum Ausdruck, wie die Teilnehmer einer Kultur sich sehen. Lebensformen und ihre Bewertungen kommen oft in prägenden Metaphern zum Ausdruck, und man ist in einer Kultur erst richtig angekommen, wenn man die Sprache der Zärtlichkeit beherrscht, die Schimpfwörter und Obszönitäten, wenn man weiß, was für sprachliche Tabus es gibt.

Eine Kultur zu verstehen, heißt, sich mit ihren Vorstellungen von moralischer Integrität auszukennen. Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir atmen sie ein mit der Luft des Elternhauses, der Straße, der Filme und Bücher, die uns erschüttern und prägen – sie machen unsere moralische Identität aus und bestimmen unsere moralischen Empfindungen wie Entrüstung, Groll und schlechtes Gewissen. Zuerst – das gehört zur Ernsthaftigkeit der Moral – setzen wir diese Dinge absolut, wir lernen sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen. Der Bildungsprozess dann besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass man in anderen Teilen der Erde, in anderen Gesellschaften und Lebens- formen, über Gut und Böse anders denkt und empfindet; dass auch unsere moralische Identität kontingent ist, ein historischer Zufall; dass sich etwa die Vorstellungen von Sünde und Demut außerhalb der monotheistischen Religionen so nicht finden lassen; dass Rache und Vergeltung nicht überall als verwerflich gelten; dass man über Leiden, Tod und Glück auch ganz anders denken kann; und dass man anderswo mit den physischen und moralischen Übeln in der Welt auch ohne den Gedanken fertig wird, dass sie nicht das letzte Wort sind und dass dereinst noch einmal abgerechnet wird.

Für den Gläubigen kann Bildung Erschütterung bedeuten. Zu erfahren, dass Milliarden von Menschen offenbar nicht den richtigen Glauben haben: Das muss ein Schock sein. Und entsprechend schwer ist die Anerkennung des Offensichtlichen: dass es geographischer und gesellschaftlicher Zufall ist, was ich glaube, welcher Liturgie ich folge – und eben auch, wie meine Moral aussieht. Denn es gehört zum Inhalt religiösen Glaubens, dass er nicht auf einer historischen Zufälligkeit beruhen darf. Das drohte den Glauben zu entwerten, Religion erschiene plötzlich als Spielball kultureller Zufälligkeit. Bildung ist deshalb subversiv, was Weltanschauung angeht. Sie bringt die Relativität einer jeden Lebensform zu Bewusstsein. Totalitäre Ideologien, auch die Kirche, versuchen, diesen Aspekt der Bildung systematisch zu ersticken, daher die Bücher- und Reiseverbote. Im Islam steht auf Apostasie die Todesstrafe. Bildung löst totalitäre Metaphysik auf und versteht Religion als Ausdruck einer Form und Fassung, die Menschen ihrem Leben geben wollen. Religion, so der Gedanke, hat nicht mit metaphysischer Wahrheit zu tun, sondern mit Identitätsbildung, mit der Frage, wie wir leben wollen. Die Kenntnis der Alternativen nimmt ihr nur scheinbar ihren Wert; der Wert kann sogar als größer erlebt werden, weil wir es jetzt nicht mehr mit einem unverfügbaren Schicksal, sondern mit einer freien Wahl zu tun haben. Man könnte sagen: Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden. Man hat die Verantwortung für das eigene Leben noch nicht vollständig übernommen, solange man sich von einer fremden Instanz vorschreiben lässt, wie man zu denken hat über Liebe und Tod, Moral und Glück.

Das Bewusstsein historischer Zufälligkeit schließt noch viele andere Dinge ein: einmal ein Wissen um unterschiedliche Staatsformen und Rechtssysteme, aber auch Dinge wie: Vorstellungen von Intimität; was Anlass zu Scham ist; das Verhältnis zum Körper; Formen der Höflichkeit und Würde; wie man feiert und sich anzieht; das Verhältnis zu Drogen; Formen der Ausgelassenheit und Zärtlichkeit; wann man weint und lacht; Ausprägungen  von Humor; Ausdruck von Trauer; Beerdigungsrituale; was beleidigend ist; wie man isst; was man  verachtet; wie sich Mann und Frau einander nähern; Formen des Flirts. Auch hier heißt gebildet sein: Wissen um die Vielfalt, Respekt vor dem Fremden, Zurücknahme von anfänglicher Überheblichkeit.

Wenn ich in diesem Sinne gebildet bin, habe ich eine bestimmte Art von Neugierde: wissen zu wollen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Sprache, Gegend und Zeit, auch in einem anderen Klima aufzuwachsen. Wie es wäre, in einem anderen Beruf, einer anderen sozialen Schicht zu Hause zu sein. Ich habe das Bedürfnis nach wachem Reisen, um meine inneren Grenzen zu erweitern. Bildung macht süchtig nach Dokumentarfilmen.

Bisher habe ich Bildung als Weltorientierung, Aufklärung und historisches Bewusstsein definiert. Jetzt füge ich eine Definition hinzu, die mir die liebste ist: Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.

Bildung als Artikuliertheit

Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt – so paradox es klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß  Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern. «Schützt Humanismus denn vor gar nichts?», fragte Alfred Andersch mit Blick auf Heinrich Himmler, der aus einer Familie des humanistisch gebildeten Bürgertums stammte. Die Antwort ist: Er schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher. Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung: dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird. Das gilt nicht nur, wenn es um moralisch bedeutsame Dinge geht. Der Gebildete wird auch durch Poesie ein anderer. Das unterscheidet ihn vom Bildungsbürger und Bildungsspießer.

Der Leser von  Sachbüchern hat einen  Chor von Stimmen im  Kopf, wenn er nach dem richtigen Urteil in einer Sache sucht. Er ist nicht mehr allein. Und es geschieht etwas mit ihm, wenn er Voltaire, Freud, Bultmann oder Darwin liest. Er sieht die Welt danach anders,  kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen.

Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er  lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire, grösser geworden ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.

Jetzt haben wir eine weitere Definition von Bildung: Der Gebildete ist einer, der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind. Seine Fähigkeit, sich besser zu artikulieren, erlaubt ihm, sein Selbstverständnis immer weiter zu vertiefen und fortzuspinnen, wissend, dass das nie aufhört, weil es kein Ankommen bei einer Essenz des Selbst gibt.

Bildung als Selbsterkenntnis

Es kennzeichnet Personen, dass sie sich, was ihre Meinungen, Wünsche und Emotionen anbelangt, zum Problem werden und sich um sich selbst kümmern können. Bildung ist etwas, das an diese Fähigkeit anknüpft. Es mag einer noch so gut ausgebildet sein und eine noch so große Orientierung haben, so dass er in der Welt erfolgreich navigieren kann – wenn er sich nicht auf diese Weise gegenüberzutreten und an sich zu arbeiten Weiß, verfügt er nicht über Bildung in einem vollen, reichen Sinn des Ausdrucks.

Es kann sich dabei um Bildung als Selbsterkenntnis handeln: Statt dass ich nur bestimmte Dinge glaube, wünsche und fühle, kann ich mich fragen, woher sie kommen: welchen Ursprung sie haben und auf welchen Gründen sie beruhen. Im Falle des Denkens und Meinens entsteht dadurch Wissen zweiter Ordnung, von dem schon die Rede war. Doch nun werde ich auch reflektierter, was meinen Willen und meine Emotionen betrifft: Wie bin ich zu ihnen gekommen? Was hat sie angeschoben, und wie gut sind sie begründet? Es geht darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen, statt diese Dinge nur geschehen zu lassen. Es geht um die Interpretation meiner Vergangenheit und das Durchleuchten meiner Entwürfe für die Zukunft, kurz: um das Schaffen und Fortschreiben von Selbstbildern. Und der Gebildete ist auch darin reflektiert, dass er Fragen wie diese stellt: Woher weiß ich, dass ein Selbstbild kein Trugbild ist? Haben wir einen privilegierten Zugang zu uns selbst? Sind Selbstbilder gefunden oder erfunden?

Der Gebildete – so lautet meine nächste Definition – ist einer, der über sich Bescheid weiß und Bescheid weiß über die Schwierigkeiten dieses Wissens. Er ist einer, dessen Selbstbild mit skeptischer Wachheit in der Schwebe gehalten werden kann. Einer, der um die brüchige Vielfalt in seinem Inneren weiß und keine soziale Identität für bare Münze nimmt.

Bildung als Selbstbestimmung

Im Prozess der Bildung geht es nicht nur darum, die Erkenntnis über sich selbst zu vergrößern. Es geht auch darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu bewerten, sich mit einem Teil zu identifizieren und sich vom Rest zu distanzieren. Darin besteht  das Schaffen einer seelischen Identität. So meißeln wir eine seelische Skulptur für uns selbst.

Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draußen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, dass Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann. Ich erfahre, was es heißt, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu werden. Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, dass ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über bloße Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei.

Selbstbestimmung in diesem Sinne geschieht nicht von einem inneren Hochsitz herunter, von dem aus ich über mein seelisches Geschehen Regie führen könnte. Ich – das ist nichts anderes als dieses seelische Geschehen selbst. Dass ich über mich selbst bestimme, kann nur heißen: Es findet ein unaufhörliches Knüpfen, Auflösen und Neuknüpfen des Netzes aus seelischen Episoden, Zuständen und Dispositionen statt, das ich bin, ein Entwerfen, Verwerfen und Umbauen meines Selbstbilds, an dem ich messe, was mir innerlich zustößt. Der Gebildete ist einer, der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er einen stetigen Prozess erneuter Selbstbewertung zulässt und die damit verbundene Unsicherheit aushält. Dadurch wird er im emphatischen Sinne ein Subjekt.

Bildung als moralische Sensibilität

Education sentimentale, Herzensbildung, kann noch etwas anderes bedeuten: Entwicklung von moralischer Sensibilität. Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität entsteht Toleranz – kein förmliches Dulden des Fremden, sondern echter und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten, zu leben. Nicht, dass das immer leicht wäre. Besonders schwierig ist es dann, wenn das Fremde die eigenen moralischen Erwartungen verletzt. Was machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des Lebens ist? Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten: Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.

Wir  hatten  gesehen: Je besser  jemand die  Sprache des  Erlebens  beherrscht, desto differenzierter empfindet er. Das hat zur Folge, dass auch seine Beziehungen zu den anderen reicher werden. Das gilt vor allem für die Fähigkeit, die wir Einfühlungsvermögen nennen. Sie ist ein Gradmesser für Bildung: Je gebildeter jemand ist, desto besser ist er darin, sich in die Lage anderer zu versetzen. Bildung macht präzise soziale Phantasie möglich. Sie ist es, die verschleierte Formen der Unterdrückung sichtbar macht und Licht wirft auf Grausamkeiten, die man begangen hat, ohne es zu merken. In dieser Form ist Bildung tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit. Um zu tun, was Himmler tat, muss man an unvorstellbarer Phantasielosigkeit leiden.

Bildung als poetische Erfahrung

Ausbildung ist stets an einem Nutzen orientiert: Man erwirbt ein Know-how, um etwas zu erreichen. Dagegen ist die Bildung, von der hier die Rede ist, ein Wert in sich, wie die Liebe. Es wäre falsch, zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu sein, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Und es ist natürlich auch nicht so, dass es ohne Bildung kein Glück gibt. Aber es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs Engste mit den besprochenen Facetten der Bildung verknüpft sind: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abschütteln zu können; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; die Faszination durch einen Film, der zeigt, wie ganz  anders das Leben anderswo ist; die beglückende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen; die freudige Überraschung, wenn man sich mit einem Mal besser versteht; die Erlösung, wenn es einem gelingt, eingefahrene Geleise des Erlebens zu verlassen und so mehr Selbstbestimmung zu erfahren; die überraschende Erfahrung, dass sich mit dem Anwachsen der moralischen Sensibilität der innere Radius vergrößert.

Und Bildung erschließt eine weitere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, das wir Kultur nennen. Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns «fit für die Zukunft» zu machen.

Leidenschaftliche Bildung

Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, was Bildung verhindert. Die Reaktionen sind heftig, denn es geht um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten Hindernissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit. Boulevardblätter, die aus purer Profitgier alles zerstören, wovon ich gesprochen habe, können nur den heftigsten Ekel hervorrufen. Überhaupt ist der Gebildete einer, der vor bestimmten Dingen Ekel empfindet: vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemismen und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums, wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der Bildung halten. Der Gebildete sieht jede Kleinigkeit als Beispiel für ein großes Übel, und seine Heftigkeit steigert sich bei jedem Versuch der Verharmlosung. Denn wie gesagt: Es geht um alles.

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Festrede von Peter Bieri an der Pädagogischen Hochschule Bern über Bildung vom 4. November 2005

Der Abdruck folgt  dem Manuskript bei http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Bieri

Der 1944 in Bern geborene Peter Bieri ist  einer der profiliertesten Denker unserer Zeit und  war von 1993 bis 2007 Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin.Unter diesem Namen erschien von ihm «Das Handwerk der Freiheit» (2001).

Peter Bieri studierte klassische Philologie, Indologie und Philosophie in London und Heidelberg. Er ist Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes «Kognition und Gehirn» bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Er hatte den Lehrstuhl für «Sprachphilosophie und Analytische Philosophie» inne. Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat er drei Romane veröffentlicht:

«Perlmanns Schweigen» (1995),

«Der Klavierstimmer» (1998)

«Nachtzug nach Lissabon» (2004)  und

die Novelle « Lea» (2007) .


Allons enfants ! Freiheit und Gleichheit. von W.K. Nordenham

21. Juli 2018 | Kategorie: Artikel, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Es ist schwer das Folgende hinzuschreiben, weil die Gefahr besteht, dass die gefühlig Wohlmeinenden in jedem Fall das Falsche herauslesen.  Wie sagte einst Wolfgang Neuss: “ Ich bin viel zu sehr Mensch, um Humanist sein zu können.“ Das ist sehr wahr. Was aber tun, wenn beides bedroht ist?  Die Länder Europas haben Teile ihrer Individualität an die Gemeinschaft der Staaten abgetreten in der Hoffnung auf eine gemeinsame Identität. Aber herausgekommen ist eine gemeinsame europäische, politische Naivität, naiv bis zur Handlungsunfähigkeit, z.  B. Ukraine in die Nato. Auf der Krim liegt der Hafen für die russische Schwarzmeerflotte. Dachte man, Putin guckt bei der Enteignung einfach zu?  Die einzig wirksame außenpolitische Aktion davor war das Eingreifen Europas in Libyen. Ein nachhaltiges Desaster! Dann kam der Flüchtlingspakt als Notgeburt. Wer nimmt Europa überhaupt noch Ernst?  Erdogan z.B. sicherlich nicht. Die eigentliche Frage ist also: Kann die Naivität der Europäer in Bezug auf Außenpolitik, Flüchtlingspolitik, allen voran die der Kanzlerin Frau Merkel, noch übertroffen werden? Das ist m. E. nicht ausgemacht. Der Flüchtlingsschub aus Syrien war zwei Jahre vorhergesagt worden, Vorbereitung darauf gleich null. Viele kamen schon vorher. Wenn man z. B. durch Bad Godesberg geht, trifft man vermehrt auf schwarzvermummte Frauen, die durch einen schmalen Sehschlitz die Umwelt wahrnehmen. Waren nicht Jahrhunderte der Aufklärung, des demokratischen Diskurses notwendig, um Gleichberechtigung für Frauen zu erzielen, wie sie heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist? Nun kehrt mit einem mittelalterlichen Verständnis des Islam, der so nicht zu Deutschland gehört, eine religiöse Abart der Leibeigenschaft von Frauen unter dem wortwörtlich schwarzen Deckmantel einer postulierten Religionsfreiheit zurück, die eben gerade Freiheit und Gleichheit für ihre weibliche Bevölkerung konsequent ablehnt.  Es sind nur wenige?  Ja, noch. Rückschritt als Fortschritt? Das kann und darf nicht nur im Hinblick auf den Artikel des Grundgesetzes nicht geduldet werden. Da geht es um die freiheitliche Lebensordnung im öffentlichen Raum. Das Argument, die islamischen Frauen müssten das tun, zieht schon deshalb nicht, schon weil es im Qur`an nirgends steht. Nichtsdestotrotz werden Kritiker offensiver Verhüllung von den alles verstehenden Toleranzlern rechter Gesinnung verdächtigt. Kurzfristig sieht eine großzügige Toleranz natürlich immer sehr gut aus, vor allem dann, wenn nicht man selbst, sondern erst die nachfolgenden Generationen die Folgen zu tragen haben. Auf demselben Blatt steht Kanzlerin Merkels einsame Entscheidung zu ungehemmter Flüchtlingsaufnahme ohne Konsultation oder sogar gegen den Willen der europäischen Nachbarn. Wie Integration aus unterschiedlichen Kulturkreisen verläuft oder eben nicht verläuft, kann man sich in England und in Frankreich ansehen. Italiener, Spanier, Griechen, Portugiesen oder Russen sind in der zweiten, spätestens in der dritten Generation in jedem Land Europas angekommen. Zuzügler aus der islamischen Kultur haben auch nach fast sechzig Jahren wesentlich mehr Schwierigkeiten sich an eine freie Gesellschaft zu gewöhnen.  Die deutschen Erdoganisten bei den kürzlichen Türkei- Wahlen legen dafür Zeugnis ab.

Wenn wir uns den islamischen Raum vor der Tür in Nahost und Nordafrika anschauen und weiter nach Afghanistan und Pakistan blicken, dann erschreckt seit Jahrzehnten die weitgehende Unfähigkeit zur Anpassung an ein modernes Zeitalter, an Änderung überhaupt. Gern wird alles auf die Kolonialzeit geschoben, die mindestens halbes bis ein Jahrhundert zurückliegt. Hat es in der Zeit irgendwo einen angemessenen wirtschaftlichen Aufstieg gegeben? Ja, aber nur dort, wo Ölgeld vorhanden war und in der Türkei dank Atatürk, solange das Land frei war. Gab es oder gibt es irgendwo eine arabische, pakistanische, afghanische, offene, demokratische oder gar pluralistische Gesellschaft? Es gab und es gibt nur Despoten oder Stammesfürsten. Man kann das nachlesen. Selbst die alles kolonisierenden Engländer haben z.B. Afghanistan konsequent gemieden. Zu Pluralität scheint der ganze Raum vollkommen unfähig, nicht zuletzt der Religion wegen.  Nun, Tunesien versucht es aktuell.  Ansonsten herrscht nach unsinniger Vertreibung der Diktatoren mit europäischer und amerikanischer Hilfe das komplette Chaos, und dank weiterhin irrationaler Politik des Westens ist ein Ende nicht abzusehen. Durchweg ist alles viel schlimmer als zu Zeiten der Saddams und Ghaddafis. Die Bevölkerungen leiden mehr als vorher. Warum? Weil der europäisch-amerikanische Glaube daran, dass der Mensch doch gut und demokratisch sein müsse, wenn es von ihm verlangt wird, eben nur ein Glaube ist, der in muslimischen Ländern so nicht zählt. Deutschland hat die Lektion in zwei Kriegen gelernt und musste erst ganz am Boden liegen um zu begreifen. Das teuer bezahlte demokratische Gut verschleudert europäische, explizit deutsche Politik momentan mit bemerkenswerter Leichtigkeit. Ja, ich weiß, dass es auch genügend gute Beispiele für Integration gibt. Ich kenne selbst viele.  Aber das dauert manchmal und kann nur in demokratisch-demografischer Dosis gelingen, millionenfach und auf einmal nie. Wir helfen uns und jenen nicht mit unhaltbaren Erwartungen und Versprechungen. Zudem erleben wir im Moment einen Glabenskrieg der Muslime untereinander analog den Auseinandersetzungen in Europa im 30 jährigen Krieg.  Da braucht es hundert Jahre Aufklärung.

Die Vorstellung, dass im Mittelmeer Menschen auf der Flucht ertrinken, zerreißt auch mir das Herz. Aber was passiert da?  Nordafrika hat eine unselige Tradition des 16. bis 19. Jahrhunderts wiederaufgenommen, unter der schon der berühmte Cervantes gelitten hat, nämlich Piraterie und dann Lösegeld für die Gefangenen fordern. Heutzutage müssen sich die Flüchtenden freikaufen. Das ist ein Geschäftsmodell, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen, ein Milliardengeschäft. Der Mahdi im 19. Jahrhundert versprach seinen Anhängern die Wiedereinführung der Sklaverei und des Menschenhandels.  ISIS hat das für sogenannte Ungläubige ebenfalls im Programm – im 21. Jahrhundert und in Libyen nimmt man sichgerade ein Beispiel daran.

Die Perfidie des nordafrikanischen Dramas besteht darin, dass je mehr freiwillige Rettungsschiffe vor Ort in gutem Glauben Hilfe leisten, je mehr Menschen gerettet werden können, je mehr das von den Schleppern unter den Gestrandeten bewusst publik gemacht wird, desto mehr lassen sich ins Meer schicken und umso besser wird verdient. Deshalb werden durch Gut-meinen letzten Endes noch viel mehr Flüchtlinge ertrinken. Den Schleppern in Nordafrika oder bei Gelegenheit auch wieder denen in der Türkei ist das Schicksal der Ertrinkenden vollkommen egal. Sie haben ihr Geld im Sack und die Behörden vor Ort kassieren, wo auch immer, sicherlich mit. Kürzlich las ich von Strafen zwischen drei und vier Jahren für so ein Menschenhandelsdelikt. Wen soll das schrecken?  Nebenbei gefragt: Wie kommt es, dass alles Lumpenpack dieser Welt in Jemen, in Afrika und sonstwo immer ausreichend Waffen hat?  Divide et impera?

Lange vor dem arabischen Frühling, der nie ein demokratischer Frühling war, sondern eine Despotendämmerung, gab es das Attentat auf Israelis bei Olympischen Spielen 1972. Menschen wurden allein deshalb gemordet, weil sie jüdisch waren. Es folgte die bis dahin unvorstellbare Erfindung von Flugzeugentführungen. Zyniker mögen das in eine willkommene globale Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Sicherheitskräfte umdeuten. Aus meiner Sicht läutete es den damals noch unbegriffenen Beginn eines Zeitalter des arabischen, später auch islamischen Terrorismus ein, der sich um nichts und niemand schert außer sich selbst und allein der willkürlichen Zerstörung im Hass das Wort redet. Da ist man erfindungsreich. Warum gibt es in den reichen Öl-Ländern keine prosperierende Forschung, keine Elite-Universitäten?  Auch darüber hinaus  ist Forschung bis auf Herstellung von Atomwaffen – siehe Iran oder Pakistan-  eher Mangelware. Der Hauptbeitrag heißt Terror. Bis heute ist der Westen darauf ohne wirkliche Antwort. Dass Frau Käsmann wie auch Politik mit den Taliban sprechen wollten, zeigt ein fundamentales Missverständnis auf. Es gibt nichts zu reden. Das Attentat vom World Trade Center und das Heraufziehen von ISIS und etlichen Nachahmern in unzähligen muslimischen Ländern sprechen eine Sprache, die mit der globalen Verteilung von sogenannten Kämpfern von den westlichen, demokratischen Gesellschaften rechtzeitig gelernt werden sollte. Das hat mit den Palästinensern und Israelis inzwischen ersichtlich marginal zu tun. Dennoch glauben nicht wenige Enthirnte, vom arabischen Raum bis Kabul, dass alles, aber auch alles von CIA und Mossad gesteuert wurde und wird.  Das weist auf komplette Paranoia hin. Dabei ist Israel die einzige, natürlich nichtmuslimische Demokratie, die sogar ihre Ministerpräsidenten und Staatpräsidenten strafrechtlich zur Verantwortung zieht. Das ist mir aus anderen westlichen Demokratien vollkommen unbekannt. Versuche mit Kohl und Chirac scheiterten kläglich. Dennoch gibt man den terrorliebenden Palästinensern in Europa den Vorzug. Glaubt wirklich ein weltvergessener Idealist, man brauchte jenen nur alles zu geben und dann wäre Ruhe? Ruhe mit PLO, Hamas, Hisbollah und Iran im Schlepptau? Von den anderen Organisationen rund um den Erdball ganz zu schweigen!  Das sei am Rande als weiterer Ausweis politischer Naivität hierzulande festgestellt.

Wirkliche Freiheitskämpfer, auch die für den Glauben, hatten immer ein Ziel, nämlich Freiheit. Der mordende Terror weiß von dieser Freiheit nichts, denn er will niemanden befreien, sondern nur töten und zwar jeden, der anders glaubt oder anders denkt.  Dafür legt das abenteuerliche Morden der Glaubensbrüder untereinander, das jedes islamischen Glaubenssatzes spottet, ein beredtes Zeugnis ab. Ich weiß nach Lektüre zweier Qur`an Ausgaben zuverlässig, dass der angerufene Gott keineswegs will, dass in seinem Namen gemordet wird. Ebenso wenig glaube ich, dass sich Gott vorzugsweise mit Mördern umgeben wird, die sich mit dem Blut wehrloser, ahnungsloser Männer, Frauen und Kinder den Zugang zum Paradies verschaffen wollen. Was muss nicht alles für den Gotteskampf herhalten? Kann man sich eine Ausnahme denken? Der frühe Mohamed wusste noch davon, bevor er von seiner Macht und Armee  korrumpiert, Gewalt übte. Das weist der Qur`an aus.

Die gesellschaftlichen Strukturen, denen dieses Denken entstammt, bringen jene leider vielfach mit, die nunmehr die Grenzen Europas stürmen, allerdings ohne die Fahne der französischen Revolution „Liberté, Fraternité, Egalité“. Da geht es um Verharren in patriarchalisch-religiösem Umfeld, weit vor jeder Aufklärung im europäischen Sinne.  Vor etwas mehr als hundert Jahren begann in Europa der Aufbruch zu Freiheit und Gleichheit. Frauen und auch Männer müssen sich angstfrei bewegen können. Nach Köln Silvester 2015 haben viele Frauen ihr Verhalten geändert. Wollen wir das auf Dauer und ggf. zunehmend? Nein. Deshalb muss genau geschaut werden, wer kommt und wie viele. Wenn man die Arme zu weit öffnet, könnte man erdrückt werden, nicht heute, aber Morgen sicherlich. Viele Millionen stehen bereit und warten auf ein Zeichen, das hoffentlich nicht kommt. Rückwärtsgewandter Steinzeit-Islam muss in jedem Fall draußen bleiben.  Wir brauchten auch längst ein Zuwanderungsgesetz. Ohne gültigen Pass dürfte niemand kommen können. Das ist geltendes internationales Recht und keine Schikane. Großzügige Humanität sieht, wie gesagt, kurzfristig immer sehr gut aus und muss Prämisse sein, aber nur solange, wie ich diese Humanität auch langfristig für mich, meine Kinder und Enkel gewahrt sehen darf. Für die Zukunft muss man deshalb ohne eine substanzielle Änderung der gegenwärtigen Politik sehr besorgt sein.  Eine willfährig betriebsblinde Presse tut ein übriges. In diesem Sinne ist dieser Artikel ein Eintreten für die Grundrechte aller und für kommende Generationen. Den hier bereits Gestrandeten allerdings muss mit allen Mitteln geholfen werden. Aber das ist klar. Im Übrigen – an die Kurzen im Geiste -, die AfD kann mich mal.

 


Olympia: Doping oder der pharmakologisch-kosmetische Komplex . Von W.K. Nordenham

27. Juli 2016 | Kategorie: Artikel, Doping, Medizin, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muss
und was sonst nicht wüsste, wozu das Dasein ist,
wenn es nicht eben dazu wäre, dass man da ist.

Karl Kraus

Es ist wieder soweit. Nach wie immer angemessen verspätet veröffentlichten Dopingbefunden, setzt sich das IOC bei Olympia 2016 erneut an die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs, unter sich den Berg des nicht Nachweisbaren. Das Versagen scheint Programm. Wortwörtlich geht alles den Bach herunter. Ist es neu? Keineswegs. Nicht zufällig regte sich das in den sechziger-siebziger Wohlstandsjahren des 20. Jahrhunderts, als nach gestilltem Grundbedarf, nach  Not und Frust, zunächst die Lust auf Leben, dann die Lust auf nur immer mehr. Lebensqualität nannte und nennt sich das, werbebegleitet etabliert. Aber die Natur folgt einer eigenen Vernunft  und gibt  nicht freiwillig, was die Unvernunft dem Zeitgeist souffliert. Doping hat als Symptomenkomplex einer Krankheit zu gelten, die sich in zeitgeisttaumeliger Selbstüberschätzung über Natur erheben möchte und dem Körper auch da noch etwas abfordert, wo die Einmaligkeit individueller Anatomie sich verweigert. Als Erfolg tarnt sich das Suchtmittel, in Dollar und Euro gemessen, das den Teufel mit dem Beelzebub  versöhnen möchte. Es mutet wie ein Treppenwitz an, dass der sogenannte Fortschritt zeitgleich mit dem Optimierungswahn eine Industrie hervorgebracht hat, die stets die gewünschte Pille bereitstellt, deren Nebenwirkungen wiederum die Entwicklung der nächsten profitablen Pillengeneration erfordern. Beruhigungsmittel zum Schlafen für die Nacht ohne Rücksicht auf menschliche Verluste, siehe Contergan, für den Tag Aufputschmittel von Coffein über Captagon bis Kokain. Bei der Tour de France ereilt damals einen Fahrer der Tod im Sattel, ein Boxer stirbt nach einem Kampf infolge einer Überdosis Amphetamin. Viele andere sollten folgen. Dennoch, alles ist seither wohlbestellt in Gesellschaft und Sport.  My only hope is dope!

Die Rock-Gruppe „Rolling Stones“ veröffentlichte ein im Rückblick prophetisches anmutendes Lied von den „kleinen Helfern“, ließ die Mütter zu „gelben Pillen“ – Captagon war gelb –  greifen und empfahl am Schluss gegen die Langeweile auf dem Weg zum Glück eine Überdosis. Anabolika, etwa zeitgleich zum Aufbau Schwerstkranker entwickelt und dort mit begrenzter Wirkung, aber profitabel, mutierten zur Leistungsanschubdroge für Sportler, von denen viele krank wurden bis auf den Tod.  Diese unappetitliche Geschichte schrieb  offiziell gern nur dem sogenannten Ostblock, explizit der ehemaligen DDR zu. Dies ist in den Bereich der Legende zu verweisen. „Politisch korrekt“ wurden Ergebnisse über Doping im Sport  vor der Wende lediglich verschwiegen. Dabei hatte es im gesamten „Westen“ dasselbe gegeben und gab es hier wie dort weiter. 1996, sechs Monate vor Olympia Atlanta tat die Amerikanische Kontrollbehörde bekannt, man habe leider kein Geld mehr für Kontrollen und alle schwiegen zu dieser Monstrosität. Wer überrascht war, der hatte nur versäumt Augen und Ohren zu öffnen. Spitzensport war und ist seit Anbeginn komprimierter Zeitgeist unter Laborbedingungen. Er bildet wie ab, was Gesellschaft als zu Erstrebendes ansieht, spiegelt  das Große im Kleinen und geriert sich als Maßstab für das, was als Leistung zu gelten hat. Hier wird die Saat fruchtbar, als deren Auswuchs sich eine Idee von Geist und Körper bahnbricht, die eine fragwürdigste, undefinierte Vollkommenheit von Natur mit allen verfügbaren Mitteln fordert. Es gab und gibt kein Unrechtsbewusstsein für solches „Körpertuning“, siehe die halbherzige Russlandschelte aktuell. Glaubt irgendjemand, das sei in anderen erfolgreichen Staaten nicht so? Stichwörter Kenia, Jamaika, USA , oder Namen Gatlin, Perkovic etc. Aber weiter im Text.

Anabolika im Spitzensport waren damals als erster breit angelegter Tabubruch bestens geeignet, kosmetisch-pharmakologischer Körperoptimierung zu Akzeptanz zu verhelfen. Die bekannteste und meistgeschluckte dieser Pillen  verursachte schwere Leberschäden. Andere Mittel wurden gespritzt und sollten daher angeblich weniger gefährlich sein. Zwar wuchsen die Muskeln tatsächlich, aber auch die Blutgefäße, nämlich nach innen. Dabei verringert sich deren Durchmesser, d.h. sie verschließen sich langsam. Schlaganfall und Herzinfarkt erfolgen, wenn die  Erfolge längst verblasst sind. Dies gilt auch für Testosteron oder Wachstumshormone. Spätfolgen von Epo und ungezählten unbekannten Substanzen stehen noch aus. Dass Mediziner Athleten dazu geraten haben, ist unbegreiflich und ein Ende unabsehbar. Das wird bei sportlichen Großereignissen  eindrucksvoll vorgeführt, demnächst in Rio. Eine Fußnote dazu! Dem egalitären Anblick optimierter Körper entspricht – welche Ironie! –  die verbale Konsonanz der Reportage. Da werden im Dutzend „Emotionen“ über „Emotionen“ beschworen, wo die unterschiedliche Feinheit der Stimmungen leicht Treffenderes oder Tieferes an Beschreibung erlaubt hätten. Der Gleichmacherei hochgezüchteter Anatomie folgt die  der Sprache auf dem Fuße.

Doping im Sport bildet nicht etwa die Ausnahme, sondern gibt nach dem Motto “ Gleiches Recht für alle“, die Regeln für unzählige Nachahmer in allen Bereichen  der Gesellschaft vor. Schlüssig wird das Verhalten aller Beteiligten dann, wenn man eine zunehmend unkritische Einstellung zu allen  ein Mehr an Genuss und Lebenslust versprechenden Stoffen unterstellt . Allein körperliche Perfektion garantierten Erfolg, seien Schlüssel für eine exhibitionistische Lust am Leben, heißt es, ja, sie seien das Leben selbst- so wird per Werbung multimedial erfolgreich suggeriert , von Ballermann bis Bohlen, von Sixpack bis Botox, von Topmodel bis Topblödel. Da darf dann auch der Anatomie messerscharf nachgeholfen werden.Die oben genannten Anabolika sind übrigens in Leistungssport und Medizin weitgehend verschwunden, nicht etwa weil zu gefährlich, sondern weil viel zu leicht nachzuweisen. Aber es gibt sie noch, und es wird weiterhin sehr viel Geld damit verdient. Das Zeug ist mehr etwas für die „Dummen“, die sich das z. B. in den Kraftstudios und Fitnesstempeln in abenteuerlichen Dosierungen verabreichen.  Für die  Hochmögenden stehen subtilere Mittel für jeden Bedarf zur Verfügung. Schon im August 2002 ließ sich auf neun von zehn Euro-Scheinen Kokain nachweisen, welche die Konsumenten offenbar fein gerollt benutzt hatten, so  im „Wallstreet Journal Europa“ von vor über zehn Jahren nachzulesen. Alles wird getan, um „toll“ zu sein. Körperoptimierung mit medizinisch unbegrenzten Möglichkeiten ist akzeptierte Lebensform für Leistungserbringer verschiedenster Provenienz, nicht nur  auf Hochniveau, sondern auf allen Ebenen, zugunsten eines Körperkultes, der noch die absurdeste Mode vollendet bedient.

Dem Schönheitsideal einer Gesellschaft huldigend, die Vitalität für Leben und Individualität für Persönlichkeit hält, die Respekt längst der Achtung vorgezogen hat und Kosmetik als Lehre vom Kosmos missversteht, opfert der moderne Psycho-Klon auf dem zum Operationstisch mutierten Altar der Eitelkeiten eine mögliche Identität,  Gesundheit,Lebensglück, und alle gucken weg oder dürfen sogar TV-gerecht zusehen. Nach Brust-,Gesichts-, Nasen- und Ohren-, nach Brust- und Bauchkorrekturen,  deren medizinische Notwendigkeit in den allermeisten Fällen kein Hippokrates je beglaubigt hätte, wird als vorläufig letzter Schritt zum zivilisatorischen Tiefpunkt die kosmetische Beschneidung für Frauen angedient. Nicht etwa  in Afrika, wo es einen zynischen Fortschritt darstellte, sondern in der wildwestlichen Zivilisation – man spürt fast das Zerbröseln des Wortes Zivilisation auf der Zunge -, wo er einem pseudoperfekten Schritt Genüge tun soll, indem er vorspiegelt eine Natur durch Deformieren zu verbessern. Den Erbringern dieser Leistung, die in der Hauptsache Hodenträger sind und weder an ihren Beutel noch an ihren Geldbeutel irgendjemand ließen, würde die ärztliche Approbation sofort entzogen, wäre nicht längst der vormalige Arzt zum gewinnorientierten Leistungserbringer im Gesundheitswesen mutiert. Als solcher wird er von seinesgleichen sowie einer Gesellschaft akzeptiert, die aktive und passive Konsumfähigkeit zum allein seligmachenden Lebensinhalt stilisiert hat. Eine durchsexualisierte, pharmakologisch und kosmetisch optimal aufbereitete Spezies schluckt sich ins Endorphinparadies und begreift die zu Markte getragene Haut mediengerecht als Benutzeroberfläche. Pharmakologisch-kosmetische Komplex, das klingt wie eine Diagnose. Tattoo-tata!  Der kategorische Imperativ ist klammheimlich durch das kategorische Präservativ ersetzt und so öffentlich-demonstrativ der Körper dem Geist vorgezogen, was in diesem Fall sogar Sinn macht.  Lust, Genuss, Karriere und auch noch den kürzesten Erfolg ohne jede Rücksicht auf körperliche Unversehrtheit, bis zum Burnout und noch darüber hinaus, mit Mitteln zweifelhaftester Art zu befördern, so die Losung, deren  Doppelbedeutung aus der Jägersprache mir nie einleuchtender erschien. Sie gibt sich als Lösung aus und verweigert jede Erlösung, sei denn um den Preis des Lebens.

Als Zugabe der Blumenkindergeneration kamen schon Haschisch und LSD zu ungeahnten Ehren und wurden von den Protagonisten der Studentenbewegung aufgenommen. Alljährlich gesellen sich seither neue Stoffe, Pseudolebenselixiere und diverse Lustpillen hinzu. Zurück bleiben ungezählte Versehrte, von denen viele nicht wissen, dass sie es sind. Der rundum-harmlos Bürger behilft sich mit Drinks, Multivitamincocktails, Energyzeug, netten Lifestyleprodukten, damit er den Alltag gesellschaftskompatibel mittun kann. Nebenbei konsumiert er einen Sport, der ihm mehr entspricht als ihm lieb sein muss. Aller zusammen  erbarmt sich am Ende die Volksdroge Alkohol, nach den Älteren auch der Jüngsten, bis sich Oma auf Koma reimt. Es beginnt  mit Drink und endet im Trunk. Von den Millionen Alkoholikern abgesehen, gibt es schon rund eineinhalb Millionen Menschen, die als Medikamentenabhängige eine statistische Größe bilden dürfen. Die haben keine Wahl mehr. Es soll einem gutgehen, aber es geht nicht gut. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt? Nein! Wer nicht wagen will, wird als Verlierer denunziert und Spott und Verachtung preisgegeben. Jener moderne Sophist, der im  Zweiten den  ersten Verlierer ausmachte, verwies damit eine ganze Menschheit auf die Plätze. Die systemische Forderung, von jenseits des Atlantik herübergeschwappt, Erster von was auch immer sein zu sollen, wird als bigottgegeben hingenommen, damit man mehr als nur dabei sein könne. Diese inhumane Drohgebärde  gibt sich ersichtlich nicht mit dem Feld des Sports  zufrieden. Das ist Gesellschaft dabei.

Brot und Spiele in den Arenen der Antike verlangten von den Beteiligten den Kampf bis auf den Tod. Da gibt man sich im Moment noch etwas schamhaft. Für die Schlagzeile  reicht das mittelbare Ende immerhin. Sie heißen Griffith-Joyner, Pantani, Prince, Michael Jackson, Kurt Cobain oder Amy Winehouse. Die Spätfolgen für die meisten gehen in den Tagesereignissen unter. Es wird allerorten gut bezahlt. Die  japanischen Sumos nehmen ihr vorzeitiges Ende als gegeben hin für einen Erfolg, der eben kein Ruhm ist, weil alles nach Karriereende sehr schnell dem Vergessen anheimfällt. Es bedarf einer inflationären Zahl von Halls of Fame und Sternboulevards, um wenigstens auf ein paar Jahre hin Erinnerung zu konservieren.

Gegenwärtig gehen die Möglichkeiten der Optimierung in Richtung Designer-Baby und Gen-Doping. Durch Veränderungen der Erbsubstanz sollen Kens und Barbies enstehen. Man stelle sich einmal Supergehirne, die Sehschärfe eines Adlers, den Geruchssinn eines Hundes oder Ähnliches vor. Der Phantasie sind  keine Grenzen gesetzt, und die Folgen unabsehbar wie immer, wenn der Mensch Hand an den Menschen legt. Es können ungebremste Blutgefäßneubildung und Blutneubildung für Ausdauer einerseits oder exzessiver Muskelaufbau für Kraftgewinn andererseits erzeugt werden. Im Tierversuch nannte man ein Ergebnis bezeichnenderweise „Schwarzenegger-Mäuse“, allerdings um den Preis halbierter Lebenserwartung. Dass die genetischen Eingriffe zumindest anfangs kaum nachzuweisen sein werden, weckt Begehrlichkeiten nicht nur im Sport.  Doping wirkt nolens volens als  Katalysator gesellschaftlicher Prozesse nicht nur im Sport, bei denen Schnelligkeit und Leistung und ein sich ständig wandelnder Schönheitsbegriff  jegliche Vernunft und Sinnhaftigkeit beängstigend  dominieren. So ist  im multimedial entgeisteten  Zeitalter  die Huldigung an eine Körperkultur zu konstatieren, die sich auch teilenthirnen ließe, wenn es der Kopfform frommte und kosmetisch einwandfrei geschähe. Die Schädelkalotte diente zeitgerecht als Hohlraumversiegelung, das Resthirn dürfte intellektuelle Mülltrennung betreiben. Habe ich schon gesagt, dass es dabei natürlich immer um Profit geht? Es lebe der Konsumo sapiens – solang er lebt! Oder genauer: Konsumo debilis statt homo sapiens! Die Schrumpfköpfe sind unter uns. Einmal für einen ephemeren Augenblick wahrgenommen zu werden, ist das nicht genug für ein ganzes Menschenleben? Nein, ist es nicht. Es ist nicht diese Lust gemeint, die Ewigkeit will. Auch hier gilt Adorno: Es gibt nichts Harmloses mehr.


Die Planung des vorhersehbaren Todes. Von W.K.Nordenham

19. März 2014 | Kategorie: Medizin, Notizen zur Zeit, Sterbehilfe, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Da die Diskussion immer wieder auflammt, hier nochmal zum Mitdenken!

Vorab der Originaltext des Hippokratischen Eides, damit ein jeder die Risiken und Nebenwirkungen seines Arzt oder Apothekers zu erkennen vermag.

Ich schwöre bei Appollon dem Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen rufe, daß ich nach meinem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Vereinbarung erfüllen werde:

Den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleichzuachten meinen Eltern und ihm an dem Lebensunterhalt Gemeinschaft zu geben und ihn Anteil nehmen zu lassen an dem Lebensnotwendigen, wenn er dessen bedarf, und das Geschlecht, das von ihm stammt, meinen männlichen Geschwistern gleichzustellen und sie diese Kunst zu lehren, wenn es ihr Wunsch ist, sie zu erlernen ohne Entgelt und Vereinbarung und an Rat und Vortrag und jeder sonstigen Belehrung teilnehmen zu lassen meine und meines Lehrers Söhne sowie diejenigen Schüler, die durch Vereinbarung gebunden und vereidigt sind nach ärztlichem Brauch, jedoch keinen anderen.

Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht. Ich werde niemandem, auch auf eine Bitte nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben: Heilig und fromm werde ich mein Leben bewahren und meine Kunst.

Ich werde niemals Kranke schneiden, die an Blasenstein leiden, sondern dies den Männern überlassen, die dies Gewerbe versehen.

In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven.

Was immer ich sehe und höre, bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung, im Leben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles Derartige als solches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf.

Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht breche, so möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg beschieden sein, dazu Ruhm unter allen Menschen für alle Zeit; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, dessen Gegenteil.

———————-

Man möchte es mehr als nur einer Laune des Zeitgeistes zurechnen, dass ohne Not seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Hippokratische Eid nach dem bestandenen Medizinexamen als zwar unausgesprochene, aber präsente Verpflichtung keine wesentliche Rolle mehr spielte und in historischen Kontext verbannt wurde. Neues, Besseres  gedachte man zu formulieren, beabsichtigt von Leuten, die wahrscheinlich auch ein „Vater Unser“ aktualisieren würden. Mir ist über einen verbesserten, also zeitgemäß blankgeputzten, allgemein gültigen Eid in Europa nichts bekannt, obwohl sich seither vieles geändert hat. Es gibt die Genfer Deklaration oder Genfer Gelöbnis, und sie wurde im September 1948 als Hippokrates – Ersatz  verabschiedet. Sie wurde mehrfach revidiert, insgesamt schon fünfmal seither. Ich musste es so wenig sprechen wie alle anderen mir bekannten Ärzte.  Denn es geschah zu der Zeit, dass der Mensch großzügiger an seinesgleichen Hand anzulegen gedachte, angefangen bei vermehrten Schwangerschaftsabbrüchen, zunehmend  fragwürdigen kosmetischen Operationen bis hin zu nunmehr möglichem, genetisch determinierbarem Nachwuchs. Der Körper eingeholt vom Ungeist medizinischer Möglichmacher? Schöne Neue Welt!

Dazu passte vorzüglich ein Artikel zu Sterbehilfe, der ein neues Kapitel zum Umgang mit Leben und Tod im 21. Jahrhundert aufzuschlagen für zeitgemäß hielt.  Gemeint war aber nicht die eigentliche Sterbehilfe, sondern es ging um die Planung des vorhersehbaren Todes, nämlich die Hilfe beim Selbstmord Schwerkranker zum von jenen erwünschten Zeitpunkt. Es handelte sich dabei um die sattsam bekannte Unterwanderung von Öffentlichkeit durch nett und in bester Absicht eingestreute populäre Meinungen, die  wie der Kai aus der Kiste kommen und sich irgendwann als notwendige Wahrheit mit der Aufforderung zur Tat präsentieren,  genau genommen aber den Knüppel aus dem Sack lassen. In dem Artikel teilte ein Arzt mit, dass er gegen die negative Entscheidung zur Sterbehilfe des Deutschen Ärztetages als „Arzt“ Einspruch erhebe. Das zu tun ist  sein gutes Recht, aber es mit dem Zusatz „als Arzt“ zu versehen, erscheint mehr als fragwürdig, hat doch der Urvater der Ärzte, Hippokrates in seinem berühmten Eid ausgeführt: “Auch werde ich niemandem auf seine Bitte hin ein tödlich wirkendes Mittel geben, noch werde ich einen derartigen Rat erteilen.“ Auf wen also beruft  sich jemand, wenn er „als Arzt“ Einspruch erhebt? Hippokrates als Urvater kann es nicht sein und die Großen in seiner Nachfolge auch nicht. „Ärzte töten nicht und helfen nicht bei Selbsttötung“, so wird der Deutsche Ärztetag im Folgenden zitiert und dafür vom Artikelschreiber kritisiert, obwohl auch jener sich in hippokratischer Tradition wähnt. Deshalb muss widersprochen werden, wenn in dem Artikel weiter behauptet wird, „Ärzte töten zum  Beispiel Todeskandidaten in Ländern, in denen es die Todesstrafe gibt, und in Deutschland töten Ärzte im Rahmen legaler Abtreibungen mehr als 150 000 Mal jährlich gesundes Leben.“  So sehr die Fakten über Tötungen und Abtreibungen stimmen mögen, so wenig darf man die Ausführenden der Tat als Ärzte in Hippokrates Sinne bezeichnen, denn ein Arzt in seiner Nachfolge tötet nicht.

Ich verkenne keinesfalls die Segnungen der modernen Medizin und bin nicht so menschenfremd, Abtreibungen angesichts vieler Notlagen in Bausch und Bogen abzulehnen. Dass ein Eingriff von medizinisch ausgebildetem Personal durchgeführt werden muss, liegt auf der Hand. Dem Arzt wird jeder dieser Eingriffe sehr schwer fallen, wie auch den Frauen. Darüber besteht kein Zweifel. Aber sind alle Ausführenden als Ärzte oder nur  als dazu befähigte Fachleute, als Mediziner tätig, vor allem dann, wenn es um Geld geht? Nicht zufällig wird die Bezeichnung Mediziner inzwischen fast gleichrangig zu der des Arztes verwendet,  und es spricht einiges dafür, dass sich die Berufsangabe „Mediziner“ für die Generation des modernen Gesundheitswesens durchsetzen könnte. Leitet sie sich doch nicht mehr uneingeschränkt von der Verbindlichkeit etwa eines  hippokratischen Eides ab, sondern es übernimmt das Gesetz die Führung im Gesundheitswesen, beschreibt den Verantwortungsrahmen für jede Wohltat und Untat und erlaubt in naher Zukunft vielleicht sogar den  finalen pharmakologischen Abschuss.  Alles legal versteht sich.

Die Modifikation zunächst zum Mediziner darf bei zu vielen als im Werden  angesehen werden, die  Entwicklung  zum Pejorativum „Leistungserbringer im Gesundheitswesen“  ist mit den Auswüchsen der  kosmetischen Medizin als weitgehend abgeschlossen zu  betrachten. Der Arzt hingegen verhält sich  zum Mediziner  wie der Helfer zum Vollstrecker. Während der Arzt sich am „nil nocere“ – niemals Schaden – ausrichtet, welches den rücksichtsvollsten Umgang mit dem anvertrauten Menschen schon im Worte beginnt, geriert sich der Mediziner zu oft als Ausführungsbeauftragter  moderner Therapiemöglichkeiten, wie zweifelhaft sie auch sein mögen.  Der Leistungserbringer im Gesundheitswesen orientiert sich dann nur mehr am zu erzielenden Gewinn. Machte man den Arzt  zum Todeshelfer, weil er sich notwendig mit todbringenden Wirkungen von Medikamenten auskennen muss – erlernt allein zum Schutze seiner Patienten ! -,  so rückt ihn das in die Nähe des Henkers. Das möchte der Bravbürger nämlich nicht gern selbst machen und auch nicht zusehen und wünscht sich jemand anders, vorzugsweise den Arzt zum Abschalten des Gerätes Mensch. Das könnte aber im Prinzip jeder, aber der Jedermann möchte  das nicht so gern.

Bewusst verwende ich nicht das Wort „Sterbehilfe“, denn die gibt es, richtig verstanden, schon lange, und sie hat meine volle, auch tatkräftige Unterstützung. Aber nicht als Tötungsinstrument ist sie gedacht, sondern als Begleitung des Menschen auf seinem letzten Wege unter aller möglichen Zuwendung. Sie wird durchgeführt von den Menschen in Hospizen, von Angehörigen zu Hause, von Personal  in den Krankenhäusern, auf den Palliativstationen  und von den Hausärzten draußen in den Wohnungen ihrer Patienten. Da muss der Arzt dann schon mal jeden Tag hingehen und Angst nehmen, auch wenn das nicht bezahlt wird. Diese Hilfe begleitet im wahrsten Sinne des Wortes das Sterben und nimmt mit der Gabe höchstdosierter Medikamente – zur kompletten Linderung von Leiden – auch den dadurch bedingten eventuell eher eintretenden Tod in Kauf. Dieser Eingriff in das menschliche Leben und Sterben geht weit genug, und ich, als Arzt, habe nie anderes gebraucht. Wer aber Hilfe zur Selbsttötung will, hat mehr vor und soll sich willige Helfer schaffen. Möge sich dazu berufen fühlen, wer immer will, auch Mediziner. Ich stünde als Arzt niemals zur Verfügung und auch nicht als Mensch. Henkersknecht liegt mir nicht, auch nicht als der von der immer laut schweigenden Mehrheit akzeptierter Hiwi oder  vom Staat gedeckter Täter.  Denn die Tat ausführen soll, der sie fordert, und so sollte sich der  erst einmal selbst befragen, ob er es könnte und begriffe dann, was „den Tod geben“ bedeutet. Stattdessen mal eben den Arzt zu fordern, offenbart  ein fundamentales Missverständnis, mit dem ich ein für alle Mal  aufgeräumt zu haben hoffe. Ein Arzt tötet per definitionem nicht.


Apokalypse. Von Karl Kraus

16. März 2013 | Kategorie: Apokalypse, Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch wirklich kaputt macht.  Karl Kraus

Die Fackel


Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR S. 1- 14

Apokalypse

(Offener Brief an das Publikum.)

»Den Überwinder will ich genießen lassen von dem Lebensholze, das in meines Gottes Paradiese steht.«

Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellenden Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.

Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …

Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird:
an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohne weiteres hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.

Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.

Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.

Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.

Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«

Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«

Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Mitgeboten. Aber die Natur arbeitet schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!

Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und  Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden, weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.

»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.

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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgültigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel‘ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.

Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.

Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.

Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die
Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen  entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.

Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.

Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu erdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.

Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, solange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.

In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner nach meinem Pfeil zurecht schnitze.

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen.  Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem
Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen  meiner Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«

Karl Kraus.

 


Hüben und Drüben . Von Karl Kraus .

15. Februar 2013 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Als im Herbst 1932 bei den Reichstagswahlen über 100 Sitze an die Nationalsozialisten fielen, deren Wahnwitzigkeit Karl Kraus immer wieder in der Fackel  aufgezeigt hatte, waren die Politiker in Österreich  und Deutschland, insbesondere die Sozialdemokratie als bedeutendstes Gegengewicht nicht in der Lage, der braunen Gefahr wirksam  zu trotzen, zumal die Kommunisten sich seit 1928 abgewandt hatten. Spätestens Potempa hätte sie aufwecken müssen. Aber die notwendige „Einheitsfront“ gegen Hitler kam nicht zustande. Karl  Kraus war kein Politiker und vertrat gerade  deshalb durchaus politisch und unbedingt  die Sache einer Menschheit, deren  Bedrohung durch die braune Flut immer deutlicher Gestalt annahm, die Gestalt  eines von ihm befürchteten  neuen Walpurgisnacht und eines großen  Krieges. Man  darf zu dem Wirken der Sozialdemokratie gewiss Meinung anderer sein. Fakt bleibt für mich, dass sie  Hitler nicht ernst genug nahm, wäre sie ansonsten doch  jeden Pakt auch mit  bürgerlichen Parteien eingegangen, um Hitler zu verhindern. In seiner berühmten Rede „Hüben und Drüben“  spiegelt sich die Enttäuschung über den fehlenden Widerstand und wirkt wie ein Abgesang auf eine Sozialdemokratie, die nur ein halbes Jahr später in Deutschland aufhören wird zu existieren.  Karl Kraus  hellsichtige  Analyse mit unverblümten Worten zu den Nazis verdient auch heute noch größte Aufmerksamkeit.  Als ihm 1933 nach der Machtergreifung, wie er schrieb, zu Hitler nichts mehr einfiel, war es das Eingeständnis, dass alle seine Warnungen, das Wort also, den Verderber nicht hatten aufhalten können,  dass es nun zu spät war. ( W.K.Nordenham)

DIE FACKEL

Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR

Hüben und Drüben

Gesprochen am 29. September 1932

… da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins.

… da obsiegte hüben und drüben das Gefühl,  daß Österreich ein Teil Deutschlands ist.

… Nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

… treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben ….

Und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wär’ — an  deren Erschaffung ja der Sozialdemokratie, hüben und drüben, das Hauptverdienst gebührt —:  wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist. Ohne den geringsten Anspruch der Möglichkeit, solche Klarstellung an ein Forum heranzubringen, worin etwas von den beklagenswerten Massen Platz hätte (ohne es zu wünschen, weil ja an den Fristgedanken des Bonzendaseins leider auch der letzte sozialpolitische Bettel geknüpft ist, den das Bürgertum gewährt) — wird es doch nachgerade unabweislich, an eine kleine Schar wohlmeinender und gutgläubiger Jugend eine Frage zu stellen. Sie betrifft nicht solche, die der Zugehörigkeit zu dieser Partei lediglich den Sinn erteilen, einen Rest sozialer Errungenschaft außerhalb ihrer nicht  verteidigen oder nicht beanspruchen zu können. Sie betrifft nur solche, die sich darüber hinaus noch immer mit einer seelischen Hoffnung gebunden fühlen. Diese Jugend ist es, der die Frage gilt: ob sie es noch immer für vorstellbar erachtet, die Zugehörigkeit zu dieser Partei und die Anhänglichkeit an den Namen eines bekannten »Einzelgängers« in veritabler Vereinigung zu umschließen. Ob sie nicht endlich merkt, daß sich zwischen ihm und dem, was er als getünchten und umso scheußlicheren Schmutz der Bürgerwelt erkennt, eine Unvereinbarkeit ergeben hat: anstoßend wider ein sittliches Fühlen und Denken, welches in der Sphäre geistiger Unerbittlichkeit etwas Widerstandskraft gegen Entmannung erworben haben muß und gegen Versuche, sich das logische Einmaleins hinwegdisziplinieren und hinwegpharisäern zu lassen. Erkennt sie nicht doch einmal, daß die politische Jammergestalt, der sie ihr Ideal anvertraut hat, ganz und gar, nein voll und ganz der abgetakelten Welt zugehört, der es widerstrebt? Wie es an jedem Tag zur Phrase entehrt wird von einem Macht- und Würdepopanz, der aus Urväterhausrat politischen Lugs und Trugs die Mittel schöpft, sich durch die Generation zu fristen; dem Disziplin als Schutzvorrichtung dient gegen die Erkenntnis seiner Hinfälligkeit; der den Glauben einem System der Zucht unterworfen hat, mit dem verglichen alle Satzung und Dienstvorschrift, aller Komment der Generalstäbe, Burschenschaften und Bürgerklubs eine Revolution der Geister bedeutet! Sieht sie es nicht, wie diese Obmänner eines Menschheitsvereins im Zwiespalt von Tat und Bekenntnis wohnen, lebend von dem, was sie verleugnen, Heuchler bis zum letzten Hauch! Wie ihre Taktik ganz die ist jener Selbstgerechtigkeit, die als oberste Instanz die deutsche Sache im Weltkrieg vertrat; ganz das beruhigte Gewissen: tue unrecht und scheue niemand; die Haltung der verfolgenden Unschuld; die Fähigkeit, Niederlagen zu erringen, die Wahrheit »umzugruppieren« für beide Berichte, beide Lügen: um hinter der Anklage, oft hinter der Fiktion feindlichen Tuns es selbst zu verüben! Hört sie nicht diesen Tonfall eines Zurechtlegertums für jede Halbschlächtigkeit und jede ganze Lumperei, von keinem andern Fonds bezogen als von der Phraseologie altliberaler Burschenherrlichkeit, ohne doch eine Faser von deren moralischem Inhalt zu bewähren? Spürt Jugend nicht die Vertröstung in dem Schwall von Sonnensängen, nicht den Verschub in der Parole »Wir sind jung, und das ist schön!«, die der leibhaftige Marasmus ungeduldigen Erben gewährt? Biedermanns Trug, ob derlei in der Region der Turniere leben möchte, wo man »mit offenem Visier« leitartikelt und »Ihr Herren!« sagt, oder ob’s »Hooruck — nach links« geht und statt des Kampfs die Beziehung zu einem Handwerk vorgetäuscht wird, bei dem sich die Proleten anstrengen und die Komptoiristen schmunzeln. Doch welches Geschäft immer zur Abgabe dürftiger Metaphern hilft — das einzig Wirkliche und Wahre: die Lüge, quillt dieser Geistigkeit aus allen Poren. Und die vorrätigste aller Metaphern, die von altersher verderblichste: die Fahne — die Fahne, die alle Farben spielt, mit jeder die Gesamtheit blendend, deren Einzelne unbewegt blieben oder abgewendet dem tödlichen Ziel, dem sie winkt — welcher Verein von Kriegern, Bürgern, Turnern hätte jemals den Plunder toller entfaltet als der der Weltumstürzer, wenn er der Jugend Sehnsucht und Ungeduld abgewöhnen möchte, den Drang zur Idee oder den Wunsch nach Kontrolle, damit sie nur ja nicht erfahre, daß mancherlei nicht so schön ist, als jung zu sein! Ganz Hohenzollern hat nicht so viel Verbrauch von Hurrah und Feindschaft in der Welt gehabt, wie die österreichische Sozialdemokratie von einer »Freundschaft«: daß deren erklügelte Harmonie durch keinen Mißton getrübt sei.

Alles Talmi, alles Mumpitz wie eh und je, Urväter Unrat, circenses für panem und vor allem für das geistige Brot. Surrogat und ältestes, um der Neugier etwas zu bieten; eingestandener Neid auf andere politische Firmen, die mit so etwas wie einem Ideal arbeiten. Altösterreichische Generale, die ausnahmsweise nicht giftig sind auf solche, die »halt a Urganisation hab’n«, sondern die sie selber haben, aber halt a Romantik braucheten. Das Hakenkreuz hat die der Entmenschtheit, jegliche Art von Gesundbetern hat eine, selbst ein so niedriges Geschäft wie die Psychoanalyse beruht auf etwas Seelischem: dem hysterischen Defekt, der zwar nicht geheilt, aber behandelt werden kann, das Heilgewerbe ermöglicht, Beschäftigung
und Unterhalt gewährt; denn jeder Patient kann Arzt sein, jeder Betrogene Betrüger: jeder Geführte Führer; ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode, entspricht als Neuro-Mantik einem Trieb, beschäftigt eine schäbige Phantasie und nährt seinen Mann. Bei der Sozialdemokratie frommt’s nur der herrschen den Klasse (der Bourgeoisie innerhalb und außerhalb der Partei); und den Geführten wird, im Leerlauf der Organisation, vor der ewigen Taktikerfrage: »Also was tan mr jetzt?« — bald die Antwort einfallen: »Jetzt tan uns die Füß’ weh«. Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt, der sich von der katholischen Springprozession, wo es drei Schritt vorwärts und zwei zurück geht, dadurch unterscheidet, daß es zwei vorwärts geht und drei zurück — eine Strapaz’, die schier unbegreiflich wäre, wenn sie nicht doch die Chance böte, einmal am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Und erfolgt abwechselnd der animierende Zuruf: Hoo—ruck!, oder jener taktische Zuspruch, der den Rückschritt als die Bedingung des Fortschritts klarmacht, so wird man noch müder. Aber die Visage dieser Anführung — welch unabsetzbare Posse eines Optimismus: »Morgen gehts uns gut«! Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts erlitt, indem er alles litt; wiewohl man von der Sozialdemokratie doch wieder nicht sagen könnte, sie habe keine Rente als den muntern Geist, um sich zu nähren und zu kleiden. In einem Erpresserblatt — und diese Partei war, wie es Stützen der Gesellschaft ziemt, Erpressern ausgeliefert, publizistischen und bureaukratischen — erschien durch lange Zeit immer dasselbe Cliché, das ein frohgemutes Bonzenantlitz zeigte; so verdächtig der Pranger, so richtig die Ansicht und so witzig die Beharrlichkeit der Reproduktion: Ausdruck des steten Würdebewußtseins mit vergnügten Sinnen, das von den Zinnen der Partei wie von einem Lug- und Truginsland auf alles Untertänige hinabschaut. Schmunzelnd wie jene ständige Aufschrift Arbeitersang, deren Frakturbuchstaben ausgewechselt werden mußten, weil man das s für ein f gehalten hatte. Charakterologisch taugt unsere Sozialdemokratie gewiß zur Vertretung dessen, was sie so gern deutsch-österreichische Schicksalsgemeinschaft nennt, indem sie nicht nur Disziplin mit Schlamperei vereinigt, sondern auch jene materialistische Geschichtsauffassung, die in dem Trost beruht: »Da kann man nix machen«, mit der Technik der Herrichtung auf den Glanz. Ihr kann wirklich nicht mehr viel geschehn, selbst wenn die Begleithandlung zu jedem Hooruck sich umgekehrt vollzieht — macht nichts, wir Pharisäer sind Schriftgelehrte und können von rechts nach links lesen. Und entschädigt denn nicht jeder Rückschritt durch die Pünktlichkeit, mit der er ein-trifft, wenn man ihn, die Uhr in der Hand, tiktaktisch auskalkuliert hat? Daß der Zeiger rückwärts geht, liegt an der Zeit, nicht an der Uhr, denn die ist ein Präzisionsapparat! So mag es wahr sein: diese Partei von Republikanern, welche auf den Trümmern einer Monarchie die Methode jenes Fortwurstelns erbeutet hat, das die Wartezeit bis zum Untergang ausfüllt — sie kann, vermöge programmatisch festgelegter Weitsichtigkeit (Rückschläge inbegriffen), länger bis zur Machtergreifung durchhalten als der Nationalsozialis-
mus, der sich durch Kompromisse erledigt und der die Gewalt, die er nicht ergreift und nicht einmal anwendet, verliert. Gleichwohl: der Zeitvertreib, den die Sozialdemokratie ihren Anhängern, bis zum Ziel, bis zum Ende garantiert, ist der tödlichste ihrer Rückschläge; solches wieder nach deutschem Kriegsmuster: Taktik der Zermürbung unser selbst! Die geistige Welt des Kommunismus — in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte — sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben. So widermenschlich alles Parteiische sein mag, an jeglichem hat die Natur, noch mit Blut oder Schlamm, ihren Anteil. In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den, meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. Ich verleugne mein Blut! Nicht fremder Spott, mit dem sie ihrer selbst spottet, nicht die Zutat der optimistischen Phrase, nicht Kampf noch Hoffnung ziemt Lemuren, die ihr eigenes Grab schaufeln. Sie ist in keinem Geist zu Hause — sie geht uns nichts mehran! Sie wirkt fort als die staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien: seit sie aus dem Weltbrand hervorging als der Treuhänder bürgerlicher Zuversicht, daß »alles gerettet« ist bis auf zwölf Millionen und ein großer Aufwand schmählich vertan. Nichts wöge der verlorne Krieg, hätte die Sozialdemokratie nicht den Frieden verloren! Sie hat ihr Verdienst überlebt — ihre Schuld wird sie überleben. Denn sie ist schuldig, daß alles, was wert war, daß es zugrundegeht, fortbesteht und in Phönixfarben prangt. Schuld ist sie an einem Umsturz, der so beschaffen war, daß ihn die Schieber mit der Formel quittierten: »geht in Ordnung«. Schuld ist sie — und der die »Letzten Tage der Menschheit« schrieb, sagt es —, daß gegenüber einer Demokratie, die jeglichen Aussatz der Vorkriegswelt zu tropischem Gedeihen fördert, das Leben in der Staatsform, die den Fluch entfesselt hat, rehabilitiert erscheint; daß uns ein kulturelles Heimweh ergreift nach dem verjährten Übel, und daß die politische Freiheit, vergewaltigt und verhöhnt von ihren Lippenbekennern, aufgehört hat, ein geistiges Problem zu sein! Alles ist geblieben, wie es war, alles ist schlechter geworden, als es war, doch so identisch links und rechts, daß es der Sozialdemokratie gewährt ist, durch den geringern Grad an bürgerlicher Korruption aufzufallen!

Aber der höhere an bürgerlicher Heuchelei ist beträchtlicher. Ihre Taten oder Nichttaten mögen sie gesellschaftsfähig gemacht haben — ihre Sprache entlarvt sie und bekehrt den Freund ihres Wollens zum Feind ihres Seins. Das ist der Gestus, der nicht wahr haben will, was er tut, und den Beweis als Lüge ächtet. Das ist die Taktik jenes Generalstabs, der gewußt hat, daß man am besten lügt, wenn man den, der die Wahrheit sagt, verdächtigt, und was mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören ist, so bestreitet, daß einem Hören und Sehen vergeht. Das ist der Tonfall, der eszurechtbringt, das, was man schwarz auf weiß besitzt, als Phantom wirken zu lassen. Von einer Kriegsschuld, die sich zur Not durch Ultimaten nachweisen ließe, durchhaltend bis zur Entrüstung über eine »Kriegsschuldlüge«, scheint er zu sagen: ich habe es zwar getan, aber ihr dürft es nicht  glauben, denn die andern haben es getan; wohl dem, der lügt und rein ist von Schuld und Fehle!  Das ist der speiwürdige Biedermannston, der für alle politische Witterung vorgesorgt hat; zu jeder Niederlage die Attitude bereit hat und, wenn es neunzig tote Proletarier zu vergessen gilt, die Einteilung in »Gefühlssozialisten« und »geschulte Marxisten«. Das ist die  unwiderrufbare Selbstgerechtigkeit, die anders denkt als handelt, anders politisiert als agitiert; Umzüge für den »Anschluß« veranstaltet, während sie bei anschlußfeindlichem Ausland um Schutz gegen die Heimwehr bittlich wird, und wieder mit dem Anschluß im Herzen, mit der Nation im Munde, Lausanne in Ordnung bringt. Das ist die Überzeugtheit, die doppelt besser hält, so daß die bürgerlichen Kostgänger einer Creditanstalt Lumpen sind und die Annoncen ihrer Generalversammlungen in einem Organ Lassalles die plausibelste Sache von der Welt; die vorne »den Kampf gegen die Krupniks« führt, wenn hinten »Krupnik voran« schreitet; die einem bußfertigen Lippowitz, seit er sich die Unzucht abkaufen ließ, das »Massageblatt« vorwirft, während der Redaktionsetat eines Schwesterorgans von eben den achtzig Wohltäterinnen bestritten wird, die jener dem Heimatgedanken zum Opfer brachte; die so schamfrei ist, einen »Kraus-Jargon« zu verwerfen, den sie durch ein Lustrum als die Sprache unantastbarer Wahrhaftigkeit verherrlicht hat und noch heute bestiehlt; die die »Sieghart-Husaren« höhnt, wiewohl ein General der Eigenen nach Siegharts Pfeife Shimmy tanzte; die den Mordbestien des Hakenkreuzes flucht, sie aber auch als »faszistische Söldner« brandmarkt, von deren Berliner Publizistik ein Redakteur der Arbeiter-Zeitung Sold bezog. (Und ihr Chef hatte, wie ich weiß, die Stirn,einem ehrlichen Sozialisten, der diese Schande   unerträglich fand, die Ehre abzusprechen! Aber ob er es nun noch wagen wird, einen Ton in dieser Richtung von sich zu geben oder das Nichtmucksen, auf das er verwiesen würde, vorzieht — der stärkste Fall von sozialdemokratischem Doppelverdienertum an Bürgerehre wird nicht unerörtert bleiben. Meinetwegen auch vor der bürgerlichen Justiz, für welche die  Hörer ihre Aufmerksamkeit schärfen mögen, damit ja nicht wieder einer bezeuge, ich hätte auch nur um ein Jota anders gesprochen als gedruckt! Es handelt sich, wie man erkannt haben dürfte, nomina sunt odiosa, um jenen Musikfachmann, der etwas von Mozart hat, nämlich einen Vornamen, und dessen Fähigkeit, aus revolutionärer Marschmusik für die Leserschaft Viktor Adlers den ehernen Tritt der Arbeiterbataillone herauszuhören, für die Leserschaft Hitlers aber nicht — dessen musikalisches Taktgefühl in so verschiedenen Lagen also von der bürgerlichen Justiz keineswegs als Beweis für »Schlieferlpraktiken«, von der Parteijustiz jedoch als honorig erkannt ward. Und es handelt sich um jene »Berliner Börsenzeitung«, deren nach jüdischem Kapital, also ganz unverdächtig klingender Name noch zu einer Zeit die Mitarbeit eines Sozialisten harmlos machen sollte, als ihr Chefredakteur schon als Wirtschaftsberater und Ressortminister des Hakenkreuzes ausersehen war. Der Tonfall hätte zu erwidern: Wie, ihr könnt glauben, daß sie ein Hakenkreuzlerblatt ist und daß ein Sozialdemokrat an so einem mitarbeitet? Erstens ist sie bloß ein Blatt des Finanzkapitals, zweitens arbeitet er nicht mit, denn drittens hat er soeben die Mitarbeit aufgegeben, weil es ein Hakenkreuzlerblatt ist und ein Sozialdemokrat so etwas nicht tut, ihr Herren, wenn man ihm draufkommt!) Die Fähigkeit zu allem, was dem andern verübelt wird, und die unanfechtbare Selbstverständlichkeit einer doppelten moralischen Buchhaltung —solcher Wesenszug könnte vielleicht die sonderbarste Erscheinung erklären helfen, die das klinische Bild dieses Staatslebens aufweist: des deutschnationalen Hangs unserer Sozialdemokratie, ihrer Zuneigung zu jenem folkloristisch interessanten Typus, der weder im Weltkrieg noch  später die Welt dahinbringen konnte, an seinem Wesen zu genesen. Rassenmäßig besteht keine Verbindung. Auffällig ist der Unterschied, daß es sich drüben um die neudeutsche Form einer Entartung handelt, die ursprünglicher Wert durch den zivilisatorischen Betrieb erleiden mußte, den er »letzten Endes« nicht verträgt; während hüben aus dem Fonds jener altfränkischen Vorstellungen geschöpft wird, die das einstige Deutschtum hinterlassen hat. Der Biedermannston unserer Sozialdemokratie, im Gaudeamus ältester Burschenherrlichkeit verankert, bedient sich für seinen Bedarf an Phrasen der Anregungen, die ein völkisches Leben bietet, das in dieser Fasson in Deutschland gar nicht mehr vorhanden ist. Aber weil es  auch eine Lage der Deutschen in Österreich insofern nicht mehr gibt, als sie sich nur noch in dieser befinden, so hat unsere Sozialdemokratie, die die Überlieferungen der weiland  Deutschen Fortschrittspartei hochhält sowie die Ideale, zu deren Vertretung die Großdeutschen zu schwach waren, einen Ersatz im »Anschluß« gefunden, der bekanntlich zugleich ein  Gedanke und eine Herzenssache ist, wenn er nicht eine handelspolitische Maßnahme bedeutet, vor deren Zwang auch jeden, der kein Österreicher von Beruf ist, das Schicksal behüten möge. Es mag wahr sein, daß Österreich von den Siegermächten über die Schuld hinaus verkürzt wurde, die sein Rest an dem Verbrechen der Monarchie trägt; aber sie haben es doch einigermaßen durch das Verbot, sich an Deutschlandanzuschließen, entschädigt. Unsere Sozialdemokratie, deren Gefühlsleben anders tendiert und deren Gedankenleere auf weite Sicht abgesteckt ist, muß dieses Verbot als Fessel einer Entwicklung empfinden, die sie andauernd im Auge hat. Und bei allem Geschick, mit dem sie sich im Bereich sozialer Tatsachen den »Gegebenheiten« anzupassen pflegt, die sie herbeigeführt hat, bedeutet eine außenpolitische Unmöglichkeit für sie kein Hindernis, von einer vorrätigen Phraseologie den Gebrauch zu machen, der eine romantische Ablenkung der enttäuschten Gefolgschaft ermöglicht. Darauf eben hat sie es abgesehen, weil man doch in einer Zeit, wo es mit dem Sozialen so schwer vorwärtsgeht und für ein primitiver gewordenes Geistesleben der Nation das Nationale seine Zugkraft hat, auch etwas von der Art bieten muß. Es gibt — und dies ist leider Gottes die stärkste aller Gegebenheiten, die wir herbeigeführt haben — es gibt Nationalsozialisten: da bleibt uns nichts übrig, als Sozialnationalisten zu werden, und uns zu gebärden, als wären wir die echten. Wäre in der Politik etwas wie eine Wirklichkeit vorhanden, so müßte man glauben, daß unser Sozialnationalismus, dessen Geistigkeit tief im Frankfurter Parlament wurzelt, einem nicht mehr zu bezähmenden Drang der proletarischen Seele gehorche. Aber es ist ein bis auf Widerruf freiwillig eröffneter Vulkan. Alles Sache der Zurechtlegung, die die Chancen der Konkurrenz abschätzt; und die Juden können nach Bedarf noch altfränkischer sein. Hat die Freiheit den Schillerkragen, so trägt die Brüderlichkeit den Kalabreser. Mehr als das: Marx nimmt Turnunterricht bei Vater Jahn, eine Spezialität, wie sie die Kulturgeschichte bisher kaum aufzuweisen hatte. Und nicht zu sagen, wieviel Elan unsere Taktiker entwickeln! So nüchtern sie im Sozialen Wellenberge als die Vorläufer von Wellentälern und viceersa abzuschätzen wissen, im Nationalen schwelgen sie, können nachempfinden, was in den Gemütern einer Trautenauer Stammtischrunde vor sich geht, und haben jedenfalls schon den Anschluß an die Sudeten vollzogen. Da kehren denn die Termini wieder und immer wieder, mit denen der Protest gegen die Zumutung, »Vasallen Frankreichs« zu werden, der Abscheu vor den »Französlingen« bekundet wird, und dergleichen treue Ladenhüter mehr, wahre Eckarts politischer Mythologie. Natürlich unbeschadet des Umstandes, daß wir die Nationalsozialisten wegen der gleichen, aber glaubhafteren Aversion gegen den »Erbfeind« verhöhnen (denn wir wollen lieber freie Pharisäer sein, als »eine Kolonie von Frankreich«!). Ich, der sich einbildet, zur deutschen Sprache annähernd so gute Beziehungen zu unterhalten wie ein Leitartikler der Arbeiter-Zeitung, ja sogar der schlechthin Deutschösterreichischen, habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich eben im Hinblick auf das Sprachgut einem Anschluß an schießende Koofmichs die Aussicht vorzöge, von Frankreich kolonisiert zu werden (von den »französischen Kapitalisten«, die wenigstens das sind, was sie scheinen, und trotzdem oder eben deshalb vielleicht menschenähnlicher sind als deutsche Arbeiterführer; mögen sie auch als Kapitalisten einer Internationale angehören, die leider Gottes besser zusammenhält als die andere). Der richtige Anschluß, den ich den deutschen Brudervölkern mein Lebtag gewünscht habe, wäre der an die Sprache, die sie im Munde führen. Deutsches Fühlen, sich selbst-berufend bis zum Nichts der Redensart — hätte es denn nicht in der Wiedereroberung des wahren »Bodens«, in dem es wurzelt, die einzige Politik zu suchen, die Kampf und Opfer aller Parteiung lohnt? Wenn es ein überirdisches Wesen gibt, das einer Nation das Geheimnis der tiefsten Sprache anvertraut hat, so muß es sich doch sterblich lachen über die tägliche Preisgabe durch sie und durch den üblen Haufen der Wortführer, die da sagen und vielleicht glauben, ihr Wollen wäre deutsch. Denn es ist ein Greuel und ein Spott vor dem Herrn, wie diese Sprache, deutlicher als jede andere, zu dem Nachteil wurde, den die Menschen vor den Tieren voraushaben!

Können aber die Kopfjäger, die seit dem Irrsinn des Weltkriegs auf die Reste von Menschheit losgelassen sind und es Politik nennen — können sie uns denn nicht umbringen, ohne uns vorher blöd zu machen? Soll es uns nicht mehr gewährt sein, die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Menschenwürde zu erkennen? Und wenn ich es mir gewähre, weil ich mich weder von berufenen noch von unberufenen Agenten der dementia nationalis blöd machen lasse, so frage ich: Was hat ein Konsumverein mit Pathos zu schaffen?  Und wäre es nicht    der menschlichen Vegetation  zuträglicher,  daß wir ökonomisch von Frankreich versorgt werden, als dieses kulturell von Newyork, Budapest und Berlin? S. P. D., K. P. D., D. N. P.,         N. S. D. A. P. — all diese Verschwörerformeln, die Gut und Blut kosten, all dies W. E. H. E. wollte ich freien Herzens, offenbachschen Sinnes, vom Hohn einer zeitlosen Musik  herabgewürdigt hören auf jenes A. B. C. der Natürlichkeit! Vaterlandsfrei bekennen, daß mir, wiewohl auch dort die Zeit das ihre getan hat, das Lebensklima unter der Formel s. v. p. begehrenswerter erscheint: dem s’il vous plait, das es noch gibt und das selbst den Ämtern im Verkehr mit den Menschen vorgeschrieben ist, der Redensart, die im Gegensatz zu unseren Phrasen eine Lebensart bedeutet! Und diese Formel, deren Äußerlichkeit doch auf den Inbegriff der Freiheit weist: vom Nebenmenschen zu verlangen, was ihm gefällt; dies Gebot, nach welchem sich jegliche Politik zu orientieren hätte — es hat durch allen zeitlichen Verfall die dortige Volksnatur widerstandsfähig erhalten: gegen die Freiheit nicht minder als gegen die Sklaverei. Solche Bewahrung vollzieht sich durch einen Nationalismus, den der deutsche Widerpart nicht nur falsch sieht, sondern auch zum falschen machen könnte, der sich aber immer noch in dem Bewußtsein sprachlichen Besitzes erfüllt und in der Verantwortung vor einer Sprache, zu der es freilich die Nation nicht so weit hat wie wir zu der unsern, mit der sie jedoch umso vertrauter ist, in der Schrift wie im täglichen Umgang, welchen sie gleichsam mit ihr selbst pflegt. Deshalb wird der, dem Politik nicht die letzte Beziehung zur  Menschheit kompromittieren könnte, die Harmonie zwischen dieser und dem Begriff eines »Patriotismus« am ehesten dort gegeben finden. Mein Drüben — wenn’s schon nicht mein Hüben sein kann — ist dort! Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt; wo man zu Hause ist, ist man es nicht immer; und bestimmt nicht dort, wo der Tod drauf steht, solches zu bekennen! Es ist die erbärmlichste aller Verlogenheiten, die das parteijournalistische Lager vorrätig hat, wenn Intelligenzler, deren einziger Vorzug bisher darin bestand, vaterlandslose Gesellen zu sein, bei dem Klang des Namens »Deutschland« zu bibbern beginnen, Verengung des Wamses durch Herzerweiterung vortäuschen und Gefühlstöne, die bodenständigen Höhlenbewohnern ziemen, mit Auskennerschaft praktizieren. Gewiß wäre eine Geistesbildung, die zur politischen Praxis als solcher taugt, im Grunde keiner Enttäuschung wert; aber daß Leute, die immerhin ein paar nationalökonomische Bücher gelesen und vielleicht sogar Marx verstanden haben, sich auf ein Gedankenleben reduzieren können, das in der Inschrift  eines Bierkrügels, eines Gablonzer Wandtellers, einer Schlummerrolle Platz hat; daß Sozialisten rot werden wie erhitzte Kegelbrüder ob der »Nichtswürdigkeit« einer Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre, während doch der einzige Sinn jeglichen Fortschritts, der einzigewahre Gewinn des Weltkriegs in der Ausrottung dieses unseligsten aller Ehrbegriffe  gelegen sein müßte — das wäre tragisch, wenn es wahr wäre, es ist aber nur zum Speien, weil es gelogen ist! Denn man vergegenwärtige sich bloß die Schmach, die Vasallen Bauer und Pollack als die Vertreter der besiegten deutschen Nation, womöglich durch ein Spalier spottlustiger Französlinge (worunter ich), im Triumph aufgeführt und dem Genossen Blum vorgeführt zu sehen. (Während die Anbiederung ans Völkische nur das bekannte Erlebnis nach sich ziehen könnte, das jenem Großstädter widerfuhr, der sich in der Tiroler Tracht wohl fühlte, einem ihm begegnenden Landmann frohgemut »Grüaß Gott!« zurief und die loyale Antwort bekam: »Grüaß Gott, Herr Jud!«) Was die Wortführer der österreichischen Sozialdemokratie immer wieder antreibt, uns mit diesem Gejodel zu überraschen und mit ihrer Sehnsucht nach »deutscher Freiheit«, »deutscher Demokratie« und sonstigen Herzenssachen zu amüsieren, mag vielleicht einer Erkenntnis des Freiheitskämpfers Heine entsprechen, der freilich zu französischen Kapitalisten ganz gute Beziehungen unterhielt: »Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen«. Sicher aber ist es Ersatz durch eine Ideologie, die den Anhängern die Wartezeit bis zur Verwirklichung des programmgemäßeren Ideals erträglich machen könnte: aus dem kümmerlichen Drang, es mit der Attraktion des echten Nationalsozialismus aufzunehmen. Manche sozialdemokratische Bestrebung hat ja ihr Motiv nicht an der Oberfläche, wo ihr Gedanke liegt; selbst die programmatische des Antiklerikalismus wurde mir einmal von Frank Wedekind auf eine ungeahnte Triebkraft zurückgeführt: die des moralbürgerlichen Anstoßes an der freiheitlichen Institution der Pfarrersköchin. Eine keinesfalls abzuweisende Erklärung, wenn man die Hypokrisie bedenkt, die die Partei durch Jahrzehntevor Problemen des Menschendaseins bewährt hat, die noch vitaler sind als die Brotfrage, bis endlich jüngere Kräfte und talentierte Lehrlinge der Fackel für etwas sexuelle Aufklärung der sozialdemokratischen Väter sorgten. Aber noch nachdem ich selbst meine Schriften vor Arbeiterauditorien vertreten hatte (immer möchte ich solches Publikum, nie wieder solche Veranstalter!), konnte ich von dem Ärgernis hören, das der Gebrauch des Wortes »Hure« bei den Familien von Parteifunktionären erregt hatte. Leichter haben sie sich mit der Einführung des bürgerlichen Sexualtratsches in die Gerichtssaalrubrik befreundet.

Eine weit populärere Tendenz jedoch als die Freiheit der Geschlechter dürfte bei ihnen noch heute die Vermittlung zwischen Stämmen sein, die Anschluß suchen. Die Christlichsozialen  — und mögen sie hinter der Abneigung gegen ein Hitlerdeutschland ihr eigenes Österreich verteidigen, ihre eigene politische Ambition verfolgen — haben natürlich ganz recht, jetzt gegen solchen Anschluß rühriger zu werden und aus ihrem Herzen nicht die Mördergrube zu machen, in die wir längst hineingefallen wären, wenn eben Frankreich dem  außenpolitischen Drang unserer Sudetensozialisten  (wie zuletzt der Zollvereinsmeierei) nicht Kandare angelegt hätte. Anstatt nun das Wort »Anschluß«, das ja im Annoncenteil des Zentralorgans vorläufig noch keine Sehnsucht befriedigt, im redaktionellen Teil höchstens für Bahnfahrten innerhalb des Bundes zu verwenden, unternehmen es jene, mit dem gewissen »Nun erst recht!« — mit der Zuversicht aller Bankrotteure, die, vom Weltkrieg bis zur Zollunion, eine Dummheit zum zweiten Male machen würden —, die  Herzenssache, die keine Gehirnsache ist, ausgerechnet jetzt aufs Tapet zu bringen. Nicht was die Christlichsozialen da in Versammlungen geäußert, sondern was ihnen die Sozialdemokraten zum deutschen Wahltag geantwortet haben — der ja inkeinem Fall der Entscheidung eine für den »Anschluß« sein konnte —: es ist aufhebenswert, wie jeder dieser Leitartikel, die der ausgeliehenen und ausgeleierten Walze einer deutschen Gemeinbürgschaft Kopftöne des Gemütes entlocken. Da ist jedes Wort unerlebter als der Handgriff des Setzers, den doch ein Gefühl des Grausens angeht, wenn sein Parteischreiber sich in Gefilden gütlich tut, die so weit von der Welt proletarischer Sorgen liegen. Verarbeitet wird die endlich unabwendbare Erkenntnis, daß der »Anschluß« an ein faszistisches Deutschland unmöglich wäre. Aber freilich, dort wo der Hund begraben ist, dort hat der Taktiker noch lange nicht die Hoffnung begraben, die er eben an diesem Grabe aufpflanzt. Heute also fällt die Entscheidung: entweder nämlich siegen die faszistischen Söldner (in welchem Fall einer unserer Redaktionsgenossen deutscher Offiziosus werden könnte, wenn ihn jene nicht von dem Gesinnungskonflikt befreien — was aber soeben wir getan haben, lange nachdem die Berliner Börsenzeitung als eine der drei nominiert war, die im dritten Reich zensurfrei erscheinen dürfen); entweder siegen sie also — was ihnen nach langjähriger Vorarbeit der deutschen Sozialdemokratie ja gelingen könnte — oder, man hat es erraten: sie unterliegen. Dieses Entweder — Oder enthält nicht nur alle Prophetie des Zurechtlegers, sondern auch einen Trost:

Was immer aber dieser Tag bringe —                                                                                                                                                                                                                                                                                                            es wird eine Entscheidung von geschichtlicher Größe sein.

Das ist wahr; eine Entscheidung nicht nur »für unser großes deutsches Volk«, sondern auch eine, die das Gesicht Europas usw. Und nun kommt, aus Wellenbergen und Wellentälern zusammengeballt, der ganze Gefühlsozean, der Hüben und Drüben verbindet. Aber nicht daß eine Barbarei einbrechen würde, die mit dem zu entbehrenden Pofel einer Prominentenkulturauch allen Wert, ja das werteschaffende Leben selbst begrübe; nicht daß dann der Untergang einer Freiheit, deren Begriff die Sozialdemokratie bloß zum Hohn gemacht hat, besiegelt wäre — nicht solches wird nun erörtert. Sondern was? Die dann noch bleibenden und die immer bleibenden Chancen des »Anschlusses«.

Als im Novembersturm von 1918 die republikanische Demokratie in
Deutschland und in Österreich obsiegte,

um mit den von ihr besiegten Mächten zu packeln und deren Erholung vorzubereiten,

da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins. Da
erlebte am 12. November 1918 — — da obsiegte hüben und
drüben das Gefühl — —

»Selbst die Klerikalsten der Klerikalen«, was taten sie da? Sie

haben es seither nie gewagt, ihre innere Gegnerschaft gegen den
Anschluß offen zu bekennen. Sie haben es nicht gewagt,
bis — — Sie haben es nicht gewagt, bis — — Sie haben
es nicht gewagt, bis — — Jetzt aber wittern unsere
Schwarzgelben wieder —

na was läßt man den Gegner in solchem Fall wittern?

Morgenluft.

Seitdem nämlich die Phraseure sämtlicher Parteien sich des Leitartikels bedienen, werden die Gespenster, die selbstverständlich immer nur im feindlichen Lager umgehen, am Morgen aktiv, während es doch zu den verbrieften Lebensgewohnheiten von Gespenstern gehört, sich zur Ruhe zu begeben, sobald sie Morgenluft wittern. Diese verkehrte Lebensweise haben sie mit mir gemeinsam, der aber noch rasch den Leitartikel durchfliegt und, sooft er das mißverstandene Zitat findet, mit einem beruhigten »Schon faul!« sich schlafen legt. Auf diese  Art nehme ich Kenntnis davon, daß abwechselnd die »Marxisten« und die »Antimarxisten« Morgenluft wittern und einander wittern lassen. Aber die klerikalen Gespenstersind eben »jetzt« aktiv, und wenn sie es bisher viermal nicht gewagt haben, so müssen sie jetzt doch mindestens fünfmal etwas unternehmen. Da wären also zuerst die Unbilden jener Witterung (oder vielmehr die Unbildung jenes Witterns); und dann gehts los:

Jetzt fühlen sie: ein Deutschland, das seine Bürger wieder zu Untertanen der ostpreußischen Barone erniedrigt, verliert seine Anziehungskraft. Jetzt jubelt das christlichsoziale Hauptorgan — —   Jetzt spielt Herr Kunschak — — Jetzt erklärt Herr Dr. Aigner — —

Aber ganz mit Recht, da eben jetzt die ostpreußischen Barone gefährlicher sind als die französischen Kapitalisten, geschieht das alles jetzt, während die Sozialdemokraten sich mit ihrer Anschlußdummheit schon immer hervorgewagt haben. Ist es nicht, als ob sie »jetzt« dem Gegner die eigene Einsicht ankreiden wollten? Nein, pharisäischer, ihm die eigene Blamage vorwürfen?

Oh, wir wissen sehr genau, welch erbärmliche Heuchelei darin steckt,

nämlich immer in dem, was der Gegner tut. Nun wird diesem noch ein fehlender »Trennungsstrich« entgegengehalten, und dann heißt es nur dreimal:

die Partei der Herren Vaugoin und Rintelen, die Partei, die — —
die Partei, die — —

»Aber so erbärmlich die Heuchelei sein mag«, die solcher Tonfall überzeugend dartut — das Zentralorgan muß gestehen, und zwar bloß zweimal: daß diese »Wendung«, die der Sozialdemokratie offenbar unverhofft kommt, »doch eine eindringliche Lehre« ist. Immerhin hat nämlich »die Partei, die« recht, daß sie sich klerikal, wie sie ist, jetzt vor dem Anschluß zu bekreuzigen wagt. Die Begründung der Aversion mag den Sozialdemokraten verdächtig sein — daß diese endlich laut wird, ist ersprießlich.  Die eindringliche Lehre, die selbst jene  empfangen, besteht also in der Erkenntnis:

wie jeder Sieg der Reaktion in Deutschland die Anziehungskraft   Deutschlands dermaßen schwächt,  daß die, die ihre innere Feindschaft gegen die deutsche Einheit aus Furcht vor der öffentlichen Meinung ein Jahrzehnt lang zähneknirschend verbergen mußten, sie jetzt offen zu bekennen wagen können!

Das immerhin beträchtliche Fazit wäre, daß eine durch Leitartikel nicht nur blöd, sondern auch feig gemachte Öffentlichkeit aufgerüttelt wurde, nachdem sie des kompletten Ausbruchs eines allzeit drohenden nationalen Irrsinns bedurft hat, um dessen Anziehungskraft geschwächt zu finden. Die Nibelungentreue, mit der sie sich aushelfen, hat sich ja öfter in einem  gegenseitigen Opfer des Intellekts bewährt, vorbildlich im Jahre des Unheils 1914, als der große Blutsbruder in schimmernder Wehr einem Kadaver sekundierte. Dieser mußte nur den entsprechenden Gehorsam leisten und durchhalten, solange jenem beliebte, auf verlorenem Posten auszuharren. Man erinnert sich noch der grausigen Metapher von dem »Irrsinnigen auf dem Einspännergaul«, den er als Schlachtroß antrieb. Nach solcher Tour, in solchem Zustand sollen wir uns nun »anschließen«, der ärmste aller Klepper sucht seinen Herrn,  nachdem der imperialistische Wahnwitz dem weit tolleren Platz gemacht hat — diesem Produkt eines faulen Friedens nach einem verpfuschten Krieg, der mit Emblemen begonnen und mit Reparationen beendet wurde: statt mit einem Strafgericht an den Schuldigen mit einer Pfändung ihrer Opfer. Zwischen solchen Siegern und solchen Sozialdemokraten gewann die  unbesiegliche Denkart, die sich nie für besiegt halten könnte, Nahrung. Während hüben ein gutartiges Volk das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben — wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave! — nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat. Vor einer Entscheidung, die der Ausgang der Wahlen bestenfalls verzögern konnte, muß selbst die österreichische Sozialdemokratie eine Chimäre aufs Eis legen.

Aber was drüben zum Blutrausch wird, bleibt hüben ein Hirngespinst; gläubiger als »die Klerikalsten der Klerikalen«, die sich schließlich mit dem, was Gott gegeben und Gott genommen hat, abfinden, faßt man die »Gegebenheiten«, die Genommenheiten, als Unterpfand des Schicksals auf und weiß noch hier einem fatalistischen »Obzwar« ein optimistisches »Und wenn schon« entgegenzusetzen. Gewiß, die Anziehungskraft Deutschlands ist ausnahmsweise derzeit geschwächt:

Wir aber denken anders.

Nicht sehr tief, aber anders. Denn was bedeutet drüben ein Jahrzehnt Bürgerkrieg gegenüber den Äonen der Entwicklung, in denen wir hüben denken? Die »deutschösterreichische« Sozialdemokratie (welche sich so nennt) hat sich »immer als ein abgesondertes Korps der großen Armee des deutschen Sozialismus gefühlt«. Das ist aber nicht etwa eine Anspielung darauf, daß diese Armee 1914 den Fahnen Wilhelms, des Eroberers, sondern daß sie »Lassalles großen Worten« gefolgt ist, die »auch die österreichischen Arbeiter geweckt« haben. Zwar nicht so sehr, daß sie den Widerspruch zwischen Lassalles großen Worten über die Annoncenpresse und den großen Annoncen Krupniks bemerkt hätten. Doch als Krieg zwischen Preußen und Österreich war, »haben die Wiener Arbeiter Wilhelm Liebknecht zugejubelt«.  Nicht mehr später, als er in der Fackel die Wahrheit über die falschen Freiheitskämpfer schrieb. Aber 

nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

Drüben und hüben ist eine Abwechslung; doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müßte sie ganz ebenso die österreichische und die  französische Arbeiterklasse vereinen. Und welche Wendung durch Gottes Fügung läßt uns Materialisten an ein Geschick glauben, das wir doch bisher nur von der Seite des Ungeschicks kennen gelernt haben? Nun kommt die abgetakelte Redensart, daß der Sozialismus nur »werden« kann »in größerer, durch Volkszahl und Wirtschaftskraft und räumliche Ausdehnung selbständigerer Gemeinschaft«. Das wäre ja sogar bis zu der Erfüllung des Wunsches richtig, daß sich die Proletarier aller Länder vereinigen mögen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel dürfte der nationale Vorspann eher hinderlich sein, indem er die Nationalisierung der anderen Proletarier, welche der Anschluß nicht umfaßt, fördern könnte. Doch da wir ja anders  denken, bedarf es nur noch eines Wellenberges der Entwicklung, damit »unser Boden« ein Teil »des großen, freien Deutschland« sei, »des Deutschland der Arbeiter«, welches das  »Deutschland von morgen oder übermorgen« sein wird. (Sagen wir vorsichtshalber von übermorgen.)

Denn wir kennen die deutsche Arbeiterklasse. Sie war noch jung und schwach, als Bismarck sie vor einem halben Jahrhundert mit dem Sozialistengesetz zerschmettern wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Bismarck ist tot, und die Deutsche Sozialdemokratie lebt!

Wir denken wirklich anders. Denn anderen könnte etwa einfallen: Lassalle ist tot und die Deutsche Reaktion lebt! Es könnte ihnen sogar einfallen, daß eben das, was Bismarck mit dem Sozialistengesetz mißlungen ist, einem preußischen Leutnant mit drei Mann Reichswehr gelang, von denen die Machthaberder deutschen Arbeiterklasse sich widerstandslos jeder weitern amtlichen Strapaze entheben ließen. Aber uns Volksgenossen ficht dergleichen nicht an; und wir denken auch insofern anders, als wir gleich darauf den Hitler wegen des  Arguments verhöhnen, daß er Hindenburg überleben werde. »Eine politische Konzeption von erstaunlicher Genialität«, spotten wir da. Denn wir meinen es doch metaphysisch. Und mag es offenbar sein, daß die Sozialdemokratie älter als Bismarck wurde, wir können sie auch anders  messen:

Sie war noch ungleich schwächer als heute, als Wilhelm Hohenzollern sie vernichten wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Wilhelm ist in Verbannung und die Deutsche Sozialdemokratie lebt und kämpft!

Ob man das ein Leben und gar ein Kämpfen nennen kann, mag dahingestellt bleiben; es möchte kein Hund so länger leben und kämpfen. Aber der ‚Vorwärts‘, der ja nicht immer lügt, meldet beharrlich, daß Wilhelm demnächst aus der Verbannung heimkehren werde. (Um Pate zu stehn, wenn der Sohn Reichspräsident wird.) Sei’s drum, ihr Herren — »was immer der heutige Tag bringe und was immer die nächsten Jahre bringen mögen« (Morgen- oder Übermorgenluft wittern wir also nicht): die Deutsche Sozialdemokratie wird »schließlich doch sieghaft die Fesseln brechen!« Wie wird das geschehen? Sehr einfach, durch Unwiderstehlichkeit:

Man löse ihre Organisationen auf — morgen muß doch die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln.

Das nennt man Fesseln brechen! Da lachen die Rebhühner der ostpreußischen Barone, und diese sagen, es sei zum Schießen. Welch ein Anders-Gedanke! Welche Vorstellung von der Gottgewolltheit einer politischen Macht, die sogar noch mit dem Verzicht auf den Generalstreik imponiert! Als ob es Hindenburg oder Hitler verdrießen würde, daß die Arbeiter in die Fabrik gehen und daß man keine Streikbrecher brauchen wird. Als ob es nicht ihr Triumph wäre, daß nur noch solche Sirene und nicht mehr die parteiamtliche die Arbeiter versammelt. Das ist ja noch größer als der Stolz auf die Abbruchsparole von 1927!  Man erinnert sich vielleicht, wie exakt damals alles ging: Ein Ruck — schon war die Arbeit nieder gelegt; wieder ein Ruck — und schon war sie wieder aufgenommen! Wohlan! Wie klaglos der Apparat der Niederlagen funktioniert — ein Griff ein Gfrett —; und wie wir, beneidet von Bruderparteien, im Rückschritt vorangehen, das rechtfertigt schon ein erhöhtes Selbstbewußtsein, vollends wenn es unmöglich erscheint, noch mehr abzuwirtschaften. Und nichts ist dieser Genügsamkeit
unerschwinglich, die generalstäblerisch Pech in pures Gold verwandelt und aus dem unerschöpflichen Born der Selbstgerechtigkeit Beruhigung spendet; je größer die Verluste, umso klingender das Kleingeld, das ihr herauskommt; es fehlt nur noch, daß man bei erklärter Pleite »heißa« sagt. Wahrlich ein Seelenleben, das den Hang zum Anschluß beglaubigen könnte! Die Gewißheit, daß die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln wird, nachdem man sie entrechtet hat, als Raumgewinn zu imaginieren: solche Verzückung taktischer Nüchternheit ist selten. Man denke, hier wird nicht etwa das Wellental als Gewähr des Wellenberges, sondern dieser selbst zum Greifen vorgestellt. Denn nun folgt Konkretes. Verheißung — heißa — des gelobten Landes, das, wenn erst die Arbeiter zu Paaren und in die Fabrik getrieben sind, endlich betreten sein wird. Nun reißt es den Seher der Entwicklung zu einer Vision hin, die wohl das Stärksteist, was entsagende Größe einer dennoch ungebeugten Parteimacht bisher über sich gebracht hat.
Wortwörtlich:

Man unterdrücke ihre Presse — im Fabriksaal raunt doch ein Arbeiter dem andern die Botschaft des Sozialismus zu.

Ja! Und sogar die Verachtung der Presse, die sie dann nicht mehr haben! Und ihrer pensionierten Anführer, denen es gelungen ist, den Sozialismus auf mündliche Überlieferung anzuweisen, nein auf Raunen, und die, wenn selbst dieses verboten wäre, allerletzten Endes stolz darauf sein werden, daß sie im Kampf gegen die Reaktion die Zollfreiheit der
Gedanken erobert haben! Denn, wortwörtlich:

Das Erbe eines halben Jahrhunderts sozialistischer Erziehung ist nicht auszurotten. Das gebildetste Volk Europas wird nicht ein Volk von Untertanen sein.

Daß es ein solches ist, daran hat leider das Maß der Bildung (falls es eben so sicher nachweisbar wäre) nicht das geringste ändern können. Aber weil selbst wir Andersdenkenden den Zustand hinnehmen müssen, dem wir mit deutschen Redensarten nicht abzuhelfen vermögen, so werden wir beherzt, indem wir zwar weichen, aber nicht wanken:

Ja, wir wollen dieses unser Österreich abriegeln gegen die braune Pest, die in Deutschland so verhängnisvoll die Köpfe verseucht.

(Des gebildetsten Volkes Europas!)

Ja, wir wollen alles daran setzen — —

(Nur zweimal.)

Aber deshalb bleiben wir trotzdem, was wir immer gewesen
sind — —:

nicht das, was man glaubt, sondern:

treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben — —                                                                                                                                                                    für das sozialistische Großdeutschland der Zukunft! Darum schlagen unsere Herzen so stürmisch mit an diesem Kampftag — —

Mit einem Wort, die Großdeutschen müßten vor Neid vergehen, wenn sie nicht eben darum schon vergangen wären, weil sie ihr Lebtag nicht über so viel deutsche Gesinnung mit so schlechtem Deutsch zu verfügen hatten.

Was nun soll man zu Sozialisten sagen, die diese Sprache sprechen können? Zu den Auffrischern einer Ideologie und Phraseologie, deren Verlust wir als die kulturelle Entschädigung in all dem Unheil zu erlangen hofften, das eben dieser Geistestypus über uns verhängt hat! Zu den Vertretern einer Internationale, die jenen Anschluß ans Vaterland propagieren, dessen Verbot wir als die einzige Wohltat einem schonungslosen Siegerwillen danken! Drüben, wo eine Menschenart haust, die die Freiheit nur als das Recht erfaßt hat, einander aufzufressen, und deren Wesen eher die Welt anstecken wird, bevor sich ihr Wahn, daß diese an ihm genesen werde, erfüllt — drüben ist die Hölle ausgespien; hüben, wo das Dasein auf das Problem herabgesetzt ist, wie es zu fristen sei, betrügt man das Volk mit der Erwartung des nationalen Paradieses.Aber eine Hemmung wird doch bemerkbar: aus der schwelgerischen Vorstellung von einer Schicksalsgemeinschaft, die für alle Zukunft zum Gedeih auch den Verderb garantiert, wird mit taktischer Klugheit, ja sogar mit Takt, die des Weltkriegs ausgeschaltet. Denn  da hat Hüben denn doch etwas vor Drüben voraus: vor der Region, wo man noch heute mit Pathos dem Vorwurf begegnet, nicht treu pariert zu haben, als Wilhelm, der in Verbannung  ist, das Schwert zog; wo dem leisesten Verdacht defaitistischen Denkens von anno dazumal der Veteranenstolz antwortet; und wo noch heute die Gesinnung vorrätig ist, der 1914 für alle Zeiten der Stempel aufgedrückt ward: jener Max Stempel, mit dem Bekenntnis einer Parteilyrik, die den Begriff »Vorwärts« als Parole für Gott und Vaterland ausgab. Und weil sich  damals Bebel auf Säbel reimte, so ist es kein Wunder, daß heute Hindenburg den Severing nicht brauchen kann. Aber die Tragik der Zeitläufte ist es dafür, daß solche Gestalten wie dieser noch zu Märtyrern werden können, und daß man vor der Gefahr, die allem Bessern droht, den Angriff gegen sie so »relativ« halten muß, wie sie sich selbst zeitlebens hielten, die um des Verrats an der eigenen Sache vom Feind gefällt wurden. Doch in seinem Angesicht noch darf es nicht ungesagt bleiben, daß gemeinsame Feindschaft nicht gemeinsame Sache bedeutet; daß man, vor dem Übel neben dem Üblen stehend, nicht die Gesinnung teilt, die er nicht hat. Nie könnte Kampfnot Zorn und Hohn entwaffnen gegen die Erbärmlichkeit, die sie bewirkt  hat. Es bleibe Raum für den Abstand vom Genossen! Braucht er ihn nicht, um auf die Knie zu fallen? Verrät er uns nicht im Augenblick der Entscheidung? Jener Severing, in  privatisiertem Zustand, hat — wenn ich dem Hakenkreuzlerblatt glauben darf, das mit unserer Sozialdemokratie den Beiträger teilte — er hat als Wahlkandidat vor deutschen Rundfunkhörern Klage geführt, daß die Sozialdemokratie als Partei, als Gesamtheit, nicht die Rechtswohltat jedes einzelnen Staatsbürgers genieße — sonst hätte sie längst den Schutz der  Justiz gegen den schimpflichsten aller Vorwürfe, der noch heute gegen sie von politischen Gegnern erhoben werde, gesucht und gefunden: 1914 nicht mit Begeisterung ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllt zu haben! Heißt das nicht Leben und Kämpfen, seit Wilhelm in Verbannung ist? Aber dieser Severing, an den wir uns anschließen möchten, hatte recht: noch nie  hat Verleumdung die Wahrheit schmählicher entstellt. Die Bruderpartei, mit der wir Schicksalsgemeinschaft pflegen, sie kann ihre vaterländische Ehre durch den Beweis der Gefühle rehabilitieren, die sie 1914 beseelt haben. Er ist gedruckt und lautet:

Und besonders unser Kaiser —
Ede, stier’ mich nicht so an,
Deshalb sag’ ich’s doch nicht leiser —
Ist ein echter deutscher Mann!

Hörte täglich August Bebel
Jetzt den Jubel in Berlin:
Mensch, er zöge gleich den Säbel,
Und so forsch, wie ich, für ihn.
—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —

Quatscht mir nicht vom Zukunftsstaate!
Republike her und hin!
Schöner ist’s, daß ich Soldate,
Und ein kaiserlicher, bin.

Und genügt nicht drüben noch heute der Ruf nach Waffen, der einem einzigen Zivilisten einfiel: ein Volk zu begeistern und die Führer einer Arbeiterpartei in das Lager der  ostpreußischen Barone zu treiben? Sie könnten wieder Landstürmer sein — und man wagt es, ihren Veteranenstolz zu kränken? Der Appell an deutsche Herzen, der Hinweis auf das Kriegsverdienst, der Anspruch einer Bürgerehre, die es sich nicht schmälern läßt, war das, was die deutsche Sozialdemokratie in die Wagschale zu werfen hatte, war die ultima ratio der  stärksten Abwirtschaftspartei am Kampftag — und unsere Herzen schlugen stürmisch mit.

Aber es ist nicht wahr! Ihr Schlag gehorcht nicht der Parole des papiernen Hirns, und der Ramsch nationalliberaler Geistigkeit wird dort nicht zu brauchen sein, wo Bestialität und Technik über Leben und Tod entscheiden. Hüben würde man das eigene Verdienst gegen den  Weltkrieg entehren, wollte man stürmisch mitmachen, wie drüben heute der Schlachtruhm reklamiert wird. Hüben hat doch immer hin vor Drüben ein Stück der antibürgerlichen Ehre voraus, nach dem Kopfsturz in die Raserei der Welt die sozialistische Besinnung gewonnen zu haben und den Mut zum Abscheu, wie er in den Angriffen gegen die Helfer der  Schlachtbank, gegen Militärrichter und Generalstäbler, sich bekundet hat: in der Tat eines Verstorbenen, dessen Gedenken dem schlechten Gewissen der Nachlebenden in den Ohren gellt, des Mannes, dessen Ausgang — und hier ist Schicksalsgemeinschaft — ähnlich, jedoch tragischer war als der jenes Wilhelm Liebknecht. (Denn hüben wurde Wahrheitsliebe von  dem Augenblick an, wo sie in Konflikt zu kommen drohte mit der Liebe zur Partei, davor bewahrt: ent-mündigt im eigentlichen Sinn des Wortes, entmannt und von der Übermacht in  jenen heillosen Wirbel getrieben einer Haßliebe gegen den, der mit um die Wahrheit wußte, und den er als Richtmaß der Wahrhaftigkeit eingesetzt hatte. Hüben wurde Festigkeit zerbrochen, Gradheit dazu gebracht, Krummes zu dulden, das sich nun für Existenz und Fortbestehn auf Pietät beruft. Dann und wann von der Stimme des Toten geweckt, an Gedenktagen, gibt das Schuldgefühl so stark sie wieder, als wäre sein Wirken bis zum Ende selbstherrlich gewesen. Doch dann und wann gedenkt auch Frechheit eines Erpressers, der nicht mehr da ist, als wäre es immer erlaubt gewesen, die Wahrheit über ihn auszusprechen, und nicht eben das Verbot die Ursache jenes seelischen Zusammenbruchs. Wenn die Wahrheit über eine Partei, der sich einer geopfert hat und der er sich opfern ließ, auch keinem letzten Willen zu entnehmen ist, wie er so tragischem Erlebnis gemäß wäre, so weiß ich doch um den letzten Willen, dessen er fähig war, als er im Begriffe stand, sich gegen die Partei und für die Wahrheit zu entscheiden: bevor ihn der Zwang ergriff und der Mut verließ, den er gegen Generalstäbler zu bewähren pflegte.)

Die Haltung im Krieg gegen den Krieg — seither, und insbesondere seit jenem Hingang, hundertmal wettgemacht durch Feigheit vor dem innern Feind, durch eine Haltung im Frieden, deren jeder Atemzug Kriegslüge ist —; das damals weithin sichtbare Verdienst war das Zeichen, in dem ich, in den Tagen trügerischer Hoffnung, hunderte junger Herzen einer Partei zugeführt habe, der ich nicht angehörte, die ich im Verhängnis politischer Übel für das kleinere nahm und die heute nichts ist als die zur Not und durch Not erhaltene Organisation einer Alterserscheinung. Solches hat damals mein Wort vermocht. Sollte es heute nicht mehr vermögen, jene der Sache, zu der sie als der Sache von damals stehen wollen, abzuwenden; sollte der Glaube an mich schwächer sein als der Glaube, den er geweckt hat, so würde es mir nicht über mich zu denken geben. Denn meiner Ohnmacht, auch vor dem wenigen, das ich vermocht habe, bin ich mir bewußt; ihr stolzes Gefühl ist in mein Wirken einbezogen, dem keine Wirkung zugehört. Diejenige, auf die ich stets am schnellsten verzichtet habe, ist die Verehrung solcher, deren Zwiespalt in ihr sich offenbart. Dagegen darf ich sagen, daß die Aussicht, von der Sozialdemokratie nicht mehr verehrt zu werden, etwas ist, was meinen Lebensabend verschönert, während der ihre vergällt wird durch den Zwang, noch hin und wieder von meinem Dasein Notiz zu nehmen, und durch den Krampf des Bestrebens, sich von der Bürgerwelt, die mich totschweigt, in meinen Augen vorteilhaft zu unterscheiden. Da ich den Unterschied gleichwohl nicht bemerke und zufrieden bin, in der sozialdemokratischen Presse ungenannt fortzuleben, so wäre vollends alles in Ordnung, wenn ich ihr auch noch diese Sorge abnehmen könnte. Nichts freilich, was immer die Sozialdemokratie mit mir vor hat, könnte sie, solange mir die Greuel des gesellschaftlichen Daseins noch Anreiz gewähren, davor schützen, von mir beachtet zu werden! Nichts mich verhindern, gegen sie wie gegen eine lästige Regierung, die kein Mißlingen vom Ruder bringt, zu Haß und Verachtung aufzureizen— ob sie nun als Partei, als Gesamtheit, mit Sack und Pack, den Schutz der bürgerlichen Justiz gegen Kränkung anrufen könnte oder stumm leiden müßte, wie sie stumm gelitten hat vor jenem, der die Macht hatte, von ihren Übeln zu schweigen. Was aber die betrifft, über  die sie selbst Macht hat, diejenigen, denen ich zum Anschluß an sie verholfen habe, so gehöre ich keineswegs zu der Sorte, die, stolz auf eine Dummheit, sie zum zweiten Male machen würde, und halte für eine solche auch die Bejahung des Hoffens, gegen die Übel einer Partei, die aus nichts anderm mehr besteht als Übeln, innerhalb ihrer wirken zu können. Trage ich  Schuld noch an solcher Betörung Gläubiger, so bin ich ihrer ledig, wenn ich ihnen gesagt habe, daß der Glaube nur durch die Abkehr von einer Kirche zu retten ist, die die Priester  entweiht haben. Wie sich die Treue zu diesen fortan mit der zu mir verbinden könnte, wäre ein Problem, das mir so lange Unbehagen schafft, als nicht da oder dort die Lösung erfolgt.  Nie würde es mir in den Sinn kommen, den reinlichen Austritt aus meiner schwachen Organisation, die nichts zu bieten hat als etwas geistige Nahrung und keine soziale oder gar  nationale Hoffnung, mit dem Wunsch zu belohnen, die, die ihn vollziehen, möge der Teufel holen — einer von denen, deren die Welt nun voll ist und an deren Erschaffung der Sozialdemokratie das Hauptverdienst gebührt. Drüben und hüben!


Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR


Hitler: „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“. Von Konrad Heiden. 2. Teil

16. November 2012 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Die Aktualität Heidens erschreckt. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass, wie geschehen, an einem 9. November wieder Nazis in einer deutschen Stadt aufmarschieren dürften.  Fast gleichzeitig wird in Hoyerswerda  ein Paar von der Polizei ersucht – wegen Bedrohung durch Neonazis –  die eigene Wohnung zu verlassen, statt jene zu entfernen.  Obgleich auch ohne die jüngsten Ereignisse ein vielfacher Tod den Weg der Rechtsszene seit Jahrzehnten markiert, ringt der Rechtsstaat mehr mit sich, als dass er seinen rechten Feinden Einhalt geböte. Bei den Linken der RAF war das noch ganz anders. Die Rechtssympathie der Polizei der Weimarer Zeit findet ihr abgeschwächtes Pendant in der Inaktivität offenbar nicht nur bei den  Vorgängen um die NSU Morde, sondern im Zurückweichen des Staates vor dem nationalen Pöbel. So gewinnt die Geschichte vom Aufstieg Hitlers und seiner Mordbuben  ungeahnte Lehrstückqualität für heutige Politik.  Konrad Heiden *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, schreibt als Zeitgenosse. Nichts wirklich Neues nach ihm über Hitler. Er war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im besten Sinne. 1935 veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine gültige Biographie Hitlers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an, lange vor der Machtergreifung,  unglaubliche Verbrecher ohne jede Moral waren, und es auch blieben. Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte ihm die Rückführung des „Phänomens“ Hitler  auf die banale Wirklichkeit.  Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte mediale Flachköpfe sie immer aufs Neue mit den Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den  jene mit der Verrichtung  ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen.  Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes.  Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden.

KONRAD HEIDEN

ADOLF  HITLER  DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT

EINE BIOGRAPHIE          EUROPAVERLAG  ZÜRICH 1936   2011

Erhältlich ist es bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage.

Konrad Heiden schreibt 1936  im Vorwort zur Neuauflage des Buches, in der er Verschiedenes präzisierte:

Vom Ganzen her gesehen handelt es sich  freilich um  Neuigkeiten, doch um nichts Neues.

Das  trifft  auf alle nachfolgenden Hitlerbiographien der  folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu. Nichts Neues nach Konrad Heiden. Man liest ihn als wäre man dabei.

Von Kriegsende bis  zum  Marsch auf die Feldherrnhalle. (Auszüge aus dem Buch)

5. Der Aufbruch

Dietrich Eckart sucht einen Führer

Wer das historische Glück gehabt hat, an einem Sommerabend des Jahres 1919 die Weinstube „Brennessel“ in dem Münchner Künstlerquartier Schwabing zu betreten, der konnte dort an einem Stammtisch der Erfindung Adolf Hitlers  beiwohnen. Oder der Erfindung der Hitler-Legende.

In dem Schwabinger Weinlokal saß der Dichter Dietrich Eckart. Er war ein mittelgroßer, dicker Mann mit einem eindrucksvollen Kahlkopf, etwas kleine Augen, liebte einen guten Tropfen, und sein drittes Wort war ein bekannter Kraftspruch, der in keiner Sprache so herzhaft klingt wie im bayrischen Dialekt. Diese Eckart war vor dem Kriege Feuilleton-Redakteur an dem besonders kaisertreuen Berliner „Lokal-Anzeiger“ gewesen, hatte es als geborener Bayer und Bohemien nicht lange in Berlin ausgehalten und dann eine Reihe von Dramen geschrieben, die meist durchfielen oder nicht aufgeführt wurden. Dies Schicksal erleben sie noch heute im nationalsozialistisch gewordenen Deutschland. Unter anderem fertigte Eckart eine Übersetzung von Ibsens „Peer Gynt“ an, die durch ihre große „Freiheit“ auffiel, aber angeblich den nordischen Geist des Originals unvergleichlich traf. Dieser Lebenskünstler mit dem beneidenswert schönen Namen – er war echt – war wie viele Literaten durch den Krieg politisch aufgeregt worden und wollte eine Partei zur Bekämpfung der Juden und Bolschewiki gründen.

„Eine deutsche Bürgerpartei soll es sein, “ zählte er den Künstlern und Studenten in der „Brennessel“. Auch der Arbeiter ist Bürger, wenn er deutscher Volksgenosse ist. Und ist denn jeder sesshafte Bürger oder Bauer schon ein Kapitalist oder Faulenzer? Er muss doch auch arbeiten, um seinen Besitz zu erhalten. Es muss Schluss gemacht werden mit dem Neid, aber es muss auch Schluss gemacht werden mit der Protzerei. Wir müssen wieder einfach werden.“

Dann setzte er die Pläne zur Organisation der neuen Partei auseinander:

„Ein Kerl muss an die Spitze, der ein Maschinengewehr hören kann. Das Pack muss Angst in die Hosen  kriegen. Einen Offizier kann ich nicht brauchen, vor denen hat  das Volk keinen Respekt mehr. Am besten wäre ein Arbeiter, der das Maul auf dem richtigen Fleck hat. Herrgott, wenn Noske nicht solch ein“-hier kam wieder ein Kraftausdruck –„ gewesen wäre …! Verstand braucht er nicht viel, die Politik ist das dümmste Geschäft auf der Welt, und soviel wie in Weimar weiß bei uns in München  jedes Marktweib. Ein eitler Affe, der den Roten eine saftige Antwort geben kann und nicht vor jedem geschwungenen Stuhlbein davonläuft, ist mir lieber als ein Dutzend gelehrte Professoren, die zitternd auf dem feuchten Boden der Tatsachen sitzen.“ Und als letzte Weisheit verkündete er:“ Es muss ein Junggeselle sein! Dann kriegen wir die Weiber!

Es leben noch viele Zeitgenossen, die sich an dieses prophetische Bild erinnern, das Eckart in der Schwabinger Weinkneipe von Adolf Hitler entwarf. Eckart ist der geistige Urheber des Führer-Mythos und der nationalsozialistischen Partei.  Er hat auch am schärfsten das Arierprinzip erfasst, nämlich die Behauptung von der Existenz einer geheimnisvollen, höherwertigen arischen Rasse, die überall auf der Welt seit Jahrtausenden auf einer Wanderung von Norden nach Süden begriffen sei, mit den minderwertigen Elementen der heißen Zone und namentlich vom Mittelmeer im Kampfe liege und zumal im Körper des deutschen Volkes, ja in dessen einzelnen Individuen selbst die ewige Schlacht mit der niederen Rasse führe. Der stärkste Ausdruck und verhängnisvollste Träger und Verbreiter der niederen Rasseelemente ist der Jude; er überträgt nicht nur durch Mischung sein schlechtes Blut, sondern auch durch sonstige Berührung seine Sitten, seine Denkweise, seine Weltanschauung – in Gestalt des Christentums. Eckart wird in dieser Gedankenrichtung (…) durch einen russischen Freund, den Architekten Alfred Rosenberg aus Reval, bestärkt. Sie sind einander in der „Thule-Gesellschaft“ begegnet, einem Verein, der die Lehre von der arischen Rasse verbreitet und sich nach dem sagenhaften Inselreich in der nordgermanischen Sage nennt. Seitdem halten sie zusammen wie siamesische Zwillinge. Gemeinsam leiten sie Hitler, nicht so sehr seine Schritte, als sein Denken. Als Dietrich Eckart 1923 stirbt, tritt Rosenberg sein Erbe als Hitlers Lehrer an.

Röhms eiserne Faust.

Etwa um dieselbe Zeit spielte im Café Fabrig  am Karlstor eine Musikkapelle alle Viertelstunden das sogenannte Flaggenlied, das jedes deutsche Schulkind kennt. Wenn der Refrain geschmettert wurde, erinnerte sich jeder an den Text und verstand die Bedeutung:

„Ihr woll´n wir treu ergeben sein, /getreu bis in den Tod, /ihr woll´n wir unser Leben weih´n, / der Flagge schwarz-weiß-rot!“

Alles stand auf. Wenn jemand sitzen bleib, pflanzte sich alsbald eine schneidige Figur  in Militäruniform vor ihm, auf. Ein stummer Blick genügte. Wehe dem Unseligen, der nicht sofort verstand! Er war unversehens vor die Tür gerissen und wurde draußen fürchterlich verprügelt. Auf diese Art verbreitete eine Vereinigung junger Offiziere, die sich die „Eiserne Faust“ nannte, den Patriotismus. Sie zogen durch die Wirtshäuser, machten  mit Singen, Aufstehen und Hurraschreien gewaltsam nationale Stimmung. In aller Unschuld, möchte man sagen , entdeckten die Männer von der „Eisernen Faust“ das große Geheimnis des kommenden Nationalsozialismus, das darin bestand, das alle  Staatsbürger die gleiche Meinung haben müssen. In anderen Stunden beschäftigte sich die „ Eiserne Faust“ mit Fememorden, das heißt mit dem heimlichen Töten politischer Gegner.  An ihrer Spitze stand der damalige Reichswehrhauptmann Ernst Röhm. (…)

 

6. Der Klassenkampf der Intellektuellen

Hitlers dunkler Beruf.

Aus dem Gewimmel dieser Soldaten, Bohemiens und Halbproleten, aus diesem Abfall aller Gesellschaftsklassen taucht vage und bescheiden die Gestalt Adolf Hitlers auf.

Im Lazarett von Pasewalk war er uns verloren gegangen, ein blinder, unbekannter Soldat (Hitler war im Krieg durch Gaseinwirkung kurzzeitig erblindet. Anm. d. Red.), den innere Stimmen quälten. Früher als die Kameraden ist er wieder in der bayrischen Heimat. Heimat? Weder Eltern noch Geschwister, weder Braut noch Freund erwarten ihn. Die Schwestern in Wien wissen nicht einmal, ob er noch lebt. Und doch ist dieses München, das einst dem von Wien flüchtenden so warm und herrlich erschienen war, in dessen Bierstuben er  seine spärlichen Freundschaften geschlossen hat, die Stadt, nach der er  heim verlangt. Schon ist er so etwas wie ein Landsknecht geworden; da ihn kein häuslicher Herd empfängt, ersetzt ihm das Ersatzbataillon seines Regimentes in dem oberbayrischen Städtchen Traunstein Haus und Hof, Weib und Kind. Hier verbringt er die Wintermonate zusammen mit einem Freunde, einem gewissen Schmiedt.

In München tritt er während der Räterepublik bei seinen Kameraden für die sozialdemokratische Regierung ein und nimmt überhaupt in erregten Diskussionen für die Sozialdemokraten und gegen die Kommunistenpartei. Darauf soll er verhaftet werden; er hält sich jedoch, wie er erzählt, das dreiköpfige Kommando mit einem Karabiner vom Leib. Nach dem Sturz der Räteregierung dringt eine „weiße“ Truppe in die Kaserne ein, wo Hitler mit einer „wilden roten Rotte“ (so drückt sich der Gewährsmann aus) in scheinbarer Eintracht lebt. Von den „Roten“ wird jeder zehnte Mann an die Wand gestellt, Hitler jedoch von vornherein ausgenommen (Berichteines Augenzeugen). Welche Rolle hat er bei dem grauenhaften Vorgang gespielt? In seiner Autobiographie geht er mit ein paar verlegenen Zeilen darüber hinweg:

„Wenige Tage nach der Befreiung Münchens wurde ich zur Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim zweiten Infanterieregiment kommandiert. Dies war meine erste mehr oder weniger politische aktive Tätigkeit.“

Sehr knapp und nichtssagend. Etwas gesprächiger ist der Schriftsteller Adolf-Victor von Koerber, der 1923 im Auftrag Hitlers eine biographische Skizze über ihn geschrieben hat:

„Zur Untersuchungskommission kommandiert, bringen seine Anklageschriften rücksichtslos Klarheit in die unsagbare Schändlichkeit militärischer Verrätereien der Judendiktatur der Rätezeit Münchens.“

Anklageschriften? Hat dieser Gefreite eine juristische Aufgabe, ist er Staatsanwalt bei den Militärgerichten? Nein. Sondern er gehört zum sogenannten Nachrichtendienst, was ein sympathischerer Ausdruck für  Spionage jeder Art ist. Damals handelte es sich vor allem  um politische Nachrichten, worunter man nicht die große Politik verstehen muss, sondern das Aufstöbern von ehemaligen Anhängern der Räteregierung, die an die Wand gestellt werden sollten. Das war Adolf Hitlers Geschäft. Jetzt wissen wir also, was er während der Münchner Rätezeit war: Spitzel und Henker seiner Kameraden. Grauen vor diesem Geschäft scheint er nicht zu kennen: „ Ehe nicht die Laternenpfähle voll hängen, eher gibt es keine Ruhe im Lande „, sagt er öfters. Wer das unglückliche Leben dieses Einsamen kennt, der weiß, warum Hass und Verfolgungswut seine ersten politischen Schritte leiten. Er hat etwas gegen die Welt auf dem Herzen  und lässt es an Schuldig und  Unschuldig  aus. In seiner Stimme krächzt, in seinem Gang federt, in seinen Gebärden schneidet der Hass; das spürt ein jeder, der ihn sah. (…)

Der „jüdische Marxismus“.

Hitler berichtet von sich, dass er als junger Mensch den  damaligen Führer der österreichischen Antisemiten, den Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger, „reaktionär“ gefunden habe. Zwei Jahre habe er gebraucht, um sich innerlich zum Antisemiten zu bekehren; fünfzehn Jahre später ist  das Weltbild fertig, um – ein Beispiel außerordentlicher geistiger Konzentrationskraft –  in einem einzigen Satz vollkommen ausgeschöpft zu werden:

„Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip der Natur ab und setzt an die Stelle des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke, die Masse der Zahl und ihr totes Gewicht“(Mein Kampf s. 69).

In diesen glänzend formulierten einunddreißig Worten ist schlechthin alles gesagt, was Hitler zu sagen hat:

In der Natur haben Kraft und Stärke das Vorrecht; dies ist ein aristokratisches Prinzip, d. h. die Auslese nach Kraft und Stärke bedeutet die Auslese der Besten.

Dieses Naturprinzip hat auch das Prinzip der gesellschaftlichen Auslese zu sein.

Es gibt auch ein anderes gesellschaftliches Ausleseprinzip, nämlich das nach der „Masse der Zahl“, d. h. Herrschaft der Mehrheit oder Demokratie.

Dies ist aber das Prinzip des „toten Gewichts“, d. h. es zeugt nicht neues Leben und ist deshalb unnatürlich.

Die Verkörperung dieses Prinzips in Gesellschaftslehre und Politik ist der Marxismus.

Der Marxismus ist jüdisch. Das bedeutet : die naturfeindliche Gesellschaftslehre ist Erzeugnis und Eigentum  einer bestimmten Rasse, die diese Lehre erfunden hat, um damit andere Rassen von ihrem natürlichen Wege abzubringen, dadurch zu schwächen und sich schließlich zu unterwerfen.

Hitler erläutert das:“Sie (d.h. die Lehre des Marxismus) leugnet so im Menschen den Wert der Person, bestreitet die Bedeutung von Volkstum und Rasse und entzieht der Menschheit damit die Voraussetzung ihres Bestehens und ihrer Kultur…Siegt der Jude mit Hilfe seines  marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.“

Diese grausige Fernsicht in die Jahrtausende macht das Ganze ein bisschen unseriös. So fanatisch Hitler gewiss von der Wahrheit seiner Einsichten überzeugt ist, so gewiss werden viele Leser nicht umhin können, folgende Überlegungen anzustellen.

Das „Vorrecht der Kraft und der Stärke“ in der Natur ist noch nicht erwiesenermaßen ein „aristokratisches Prinzip“, denn es führt zwar zur Auslese der Lebensfähigsten, aber nicht der „Besten“, die es in der nicht zweckbestimmten Natur auch gar nicht gibt, sondern nur dort, wo ein Zweck gesetzt ist, also z.B. in der Gesellschaft.

Wenn das Vorrecht von Kraft und Stärke auch Ausleseprinzip der Gesellschaft  sein soll, so kehrt man zweckmäßiger zur Sitte des Faustrechts zurück und am besten zur Menschenfresserei.

Die Auslese nach der „Masse der Zahl“ bedeutet, dass die Vorteile und Güter der Gesellschaft möglichst gleichmäßig allen oder mindestens einer möglichst großen Zahl zugutekommen sollen. Wer das nicht wünscht, täte besser, es ganz deutlich zu sagen.

Zweifellos ist der Marxismus eine Lehre vom Glück der Masse, aber das hat ihn nicht gehindert, eine sorgfältige und zweckmäßige Auslese seiner Funktionäre zu treffen und ihnen hohe Leistungen und Opfer zuzumuten.

Wer den Marxismus wegen der Person seines einen Begründers Karl Marx schlechtweg jüdisch nennt, unterschlägt die nicht unwesentliche Tatsache, dass die philosophischen Grundlehren des Marxismus von dem Nichtjuden Ludwig Feuerbach stammen, die meisten Formulierungen von dem Nichtjuden Friedrich Engels und dass sie ihre moderne theoretische und praktische Weiterbildung von den Nichtjuden Plechanow und Lenin erhalten haben. (…)

Aber wir wollen ja nicht wissen, ob Hitler recht oder unrecht hat, sondern wie er zu seinen Ideen kam und was er mit ihnen erreichte.

Das Privileg der Rasse.

Der Klassenkampf der Intellektuellen bedarf eines neuen Ideals. Der Intellektuelle aber ist der neue Typ, in den das alte Bürgertum sich allmählich verwandelt. Die Zahl der Studenten, Akademiker aller Grade, Akademikern in freien und abhängigen Berufen verdoppelt sich gegenüber der Vorkriegszeit  und hat zeitweise die Tendenz sich zu verdreifachen.(…)

„Im völkischen deutschen Studenten verkörpern sich“, sagt Hitler 1921,“ diejenigen Energien, die das einzige wertvolle Kampfmittel gegen das Judentum sind.“

In Wahrheit verkörpert sich im deutschen Studenten oder besser Intellektuellen jene blind um sich beißende Energie, die das Alte nicht mehr will und zum Neuen nicht den Mut hat. (…)

Der Intellektuelle hat tatsächlich den Weltkrieg geführt, um den Sieg gerungen und die Niederlage erlitten, …im Zivilberuf Lehrer, Kaufmann oder Postdirektor, (…). Der Intellektuelle hätte die Revolution hingenommen, wenn sie ein vollwertiger Ersatz für den Sieg gewesen wäre;(…). Die Männer der Revolution aber taten das Törichteste was möglich war; statt erst den Staat in ihrem Sinne zu reorganisieren und dann das Volk zur demokratischen Abgabe seines Urteils über das Geleistete aufzurufen, taten sie nichts, sondern ließen eine Nationalversammlung wählen, ohne dem Wähler ein Programm zu geben. Da wurde klar, dass die Männer der Revolution kein Ziel hatten, und der Intellektuelle im Offiziersrock und  im Fabrikkontor nahm ihnen die Entscheidung wieder aus der Hand. Mit diesem Versagen erlosch der politische Nimbus der deutschen Arbeiterschaft. Das Bürgertum verlor seine jahrzehntelange Angst vor ihr; sein neuer Führer, der Intellektuelle, begann sich der bisher wegen ihrer Organisationskraft viel bewunderten Arbeiterschaft politisch überlegen zu fühlen. Es ist ein in seiner alten, bürgerlichen Klasse entfremdeter Typ; nicht einfach über Bord gegangen, sondern im Schiffbruch einer ganzen Schicht selbständig geworden. Seine Moral ist brüchig wie die aller Deklassierten, und er wird allmählich den Abfall aller Klassen um sich sammeln. (…)

Was wird Hitler diesem nunmehr ausschlaggebenden Typ sagen?

Erstens dies: Gräme dich nicht über die Niederlage im Weltkrieg. Du hast den Weltkrieg nicht verloren, sondern du hast ihn eigentlich gewonnen. Dein Unglück war, dass du das winzige Gift im eigenen Körper nicht erkannt hast, die Laus im Pelz, den tückischen Zwerg, (…). Du hast dem Engländer standgehalten, den Russen zerschmettert, den Franzosen geschlagen, aber den winzigen Juden übersehen. Das war nicht fair play. Befreie dich vom Juden, und  das nächste Mal wirst du siegen.

Zweitens sagt er:  Wenn du dein Vermögen verloren hast, deine Laufbahn versperrt siehst, als Akademiker das Leben eins Proletariers führen musst, so lass den Kopf nicht hängen, sondern kämpfe für den nationalsozialistischen Staat, in dem dies alles besser wird. Denn der nationalsozialistische Staat  verteilt Führerstellen nicht nach Geburt, Besitz und bürgerlicher Stellung, sondern nach persönlichem Wert; dieser Wert wird unter Beweis gestellt durch rücksichtslosen Kampf für die Bewegung, und dieser Bewertungsmaßstab ist deshalb berechtigt, weil die rücksichtslosesten Kämpfer im allgemeinen die wertvollste Rasse haben, deren Erhaltung und Fortpflanzung der kommende Rassestaat naturgemäß begünstigen wird. Wer von wertvoller Rasse ist, hat ein adelsähnliches Privileg, nicht um seiner Person, sondern um des Rassetypus willen, der in möglichst zahlreichen Exemplaren weitervererbt werden soll. Kampf, Selbsteinsatz, Treue zur Idee und zum Führer sind im Zweifel Kennzeichen der arischen Rasse, der wertvollsten der Welt, die nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern wieder zur Vorherrschaft kommen und die „niederrassigen“ Bestandteile zurückdrängen, in ungünstigere Lebensbedingungen versetzen und damit schließlich zum Aussterben bringen muss – wenn nötig durch Eroberung und Ausrottung. Die gefährlichste dieser niederen Rassen  aber, die überall eindringt und zersetzt, ist die Jüdische.

Die Brüchigkeit dieser Lehre ist leicht nachzuweisen. Sie setzt die Existenz einer sogenannten arischen Rasse voraus, die der  ernsten Wissenschaft unbekannt ist. (…) Tatsächlich sind alle hochstehenden modernen Völker aus sehr gründlicher Mischung vieler Stämme hervorgegangen, auch die Deutschen, und überall hat die mittelmeerische Rasse, die regelmäßig die Trägerin der älteren Kultur gegenüber nordischer Barbarei und Faulheit war, zu der Mischung Wertvollstes beigetragen. (…)

Aber wiederum kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt der Lehre an, sondern auf die politische Kraft, die sie auslöst. Es ist die richtige Lehre für die Intellektuellenschicht, die zwei Ideale hat: Privileg und Gehorsam. (…)

Das Mitglied Nr. 7.

(…) Eines Tages drückt ein Offizier Hitler ( Er gehört immer noch zur Reichswehr. Anm. d. Red.) einen Zettel mit einer Adresse in die Hand. In einer winzigen Gastwirtschaft tagt eine sogenannte „Deutsche Arbeiterpartei“. Die politisch so neugierige Reichswehr möchte Genaueres über das Grüppchen wissen, das von „guter Gesinnung“ zu sein scheint. Hitler geht hin. Es spricht Feder, der von ihm hochverehrte Brecher der jüdischen Zinsknechtschaft; aber das besagt in dem Fall wenig. Feder spricht ja überall. Dann steht  der Redner  auf und erklärt,  alles Unheil komme von Preußen; von denen  müsse Bayern sich trennen. Das erträgt Hitler nicht. Obgleich er eigentlich nur zuhören und berichten soll, meldet er sich zu Wort und hält eine halbstündige Rede über Großdeutschland, gegen den Egoismus der Länder und Stämme, gegen den Preußenhass und für die Einigkeit. Dann geht er.

In diesem Augenblick läuft ihm der Vorsitzende nach und steckt ihm eine Broschüre zu mit der Bitte, sie doch ja zu lesen. Sie ist von ihm selbst verfasst und trägt den Titel „Mein politisches Erwachen“.  Es finden sich Sätze wie: „Am deutschen sozialistischen Wesen soll die Welt genesen… Ich sehe auch im Arbeiter einen Bürger und im Offizier und Beamten noch keinen Bourgeois…Armer, verhetzter Arbeiter! Mit dir hat man die Revolution zu einer noch nie gesehenen  Lohnbewegung gemacht, die dir nichts einbrachte, wohl aber denen, die dich  bisher ausbeuteten, die Tasche füllte und Deutschlands Konkurrenzfähigkeit vernichtete…(…).“ Wie heißt der Verfasser? Anton Drexler.

Hitler las die Schrift, wie er sagt, „mit Interesse“. Dieser leutselige Ton ist gar nicht angebracht. Tatsächlich steckt in Drexlers dunklen  Sätzen ein gutes Stück der Idee der Nationalsozialistischen Bewegung. Aber das wird Hitler, ein sammelndes Talent, das gern originell sein möchte, nie zugeben. „Wollen Sie leugnen, dass ich der Schöpfer des Nationalsozialismus bin?“ fragt er später hochfahrend. In „Mein Kampf“ vergisst er vollständig zu erwähnen, dass „Mein politisches Erwachen“ von Drexler verfasst wurde und nennt ihn beständig nur „ein Arbeiter“. (…) Der Verein (d.i. Deutsche Arbeiterpartei. Anm. d. Red.) hatte etwa vierzig Mitglieder, darunter einen richtigen Oberregierungsrat. Hitler wurde sofort in den Ausschuss gewählt und bekam dort die  Mitgliedsnummer sieben.

Dietrich Eckarts Ratschläge.

Eckart spricht einige Male in der Deutschen Arbeiterpartei und entdeckt hier – zwar nicht seine lang gesuchte neue Bewegung, wohl aber seinen „Führer“: den Proleten im Soldatenrock, der das Maul aufmachen kann und Maschinengewehrrattern verträgt, brennend vor Ehrgeiz und Eitelkeit – und sogar Junggeselle. Auch dumm? Das nicht, aber in gewissem Sinn naiv, ungebildet und unbelehrbar, wenn man sich in den Grundvorstellungen einig ist; saugt Weisheiten, die er brauchen kann, eilig und massenhaft auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Ein hervorragender politischer Verstand, vor höherer Bildung ehrfürchtig, im Theoretischen leichtgläubig. Dietrich Eckart übernimmt Hitlers geistige Führung. Hitler lernt von ihm schreiben und sogar sprechen, wenn man darunter nicht nur ein temperamentvolles Geheul, sondern das Formen von Sentenzen und den Aufbau von Gedankengängen  versteht. Die Unterhaltungen, die Lehrer und Schüler miteinander führten, hat Eckart in einer merkwürdigen Broschüre aufgezeichnet: „Der Bolschewismus von Moses bis Lenin“. Beide hielten Lenin für einen Juden.

7. Propaganda und Organisation

Witz, Logik, Frechheit.

(…) Nur auf die Propaganda kam es an. Das war das große geistige Erlebnis des werdenden Mannes Hitler. In seinem Buch „Mein Kampf“ hat er 32 Seiten dem Weltkrieg gewidmet. Davon beschäftigt er sich auf 20 nur mit Propaganda. „An der feindlichen Kriegspropaganda habe ich unendlich gelernt.“ (…) Alles, was Hitler in seinem Buch über Propaganda sagt, ist meisterhaft, aber es ist eine Meisterschaft niederen Ranges. Die Erhöhung der Propaganda zur  herrschenden Form der Volkserziehung ist das Verbrecherische an dieser Geschicklichkeit, die in ganzes Volk formt nach dem ruchlosen Satz: „Die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Anforderungen kann gar nicht groß genug sein.“

Man muss das Gemüt der Masse mit einer bestimmten, knalligen, aufpeitschenden Vorstellung derart füllen, dass daneben nicht anderes Platz hat. Man darf sie ja nicht zum Denken bringen, denn wenn die Gedanken erst einmal laufen, hat keine Propaganda sie mehr in der Hand. Vorstellungen, Bilder, Schlagworte, die wie Keile in den Denkapparat fahren und nicht mehr herauszubringen sind – darüber muss man verfügen. Auch wenn man scheinbar logisch spricht, Konsequenzen entwickelt, so darf das eben nur scheinbar sein; haften darf nur der eine Satz: der Jude ist an allem Schuld.

In seiner großen außenpolitischen Rede vom 21.Mai 1935 sagt er: „Ich wünsche Ruhe und Frieden. Wenn man aber sagt, dass das nur der Wunsch der Führung sei, so muss ich darauf folgende Antwort geben: wenn nur die Führer und Regierenden den Frieden wollen – die Völker selbst haben sich noch nie einen Krieg gewünscht.“ Das klingt „messerscharf“, ist aber nur ein plumpe Verdrehung, denn die Welt hat nicht gefürchtet, dass das deutsche Volk, sondern dass der Staatsmann Hitler den Krieg will. (…)

Der Redekünstler.

Und nun steht er oben auf dem Podium. Zuweilen benimmt er sich meisterhaft. Die Versammlung ruft und winkt andauernd; ein Begleiter reicht ihm einen Steinkrug mit Bier. Hitler behauptet, er sei kein Alkoholiker,  aber den Krug hebt er wie ein alter Bräuhausstammgast gegen das Publikum, ruft grinsend „Prost!“ und trinkt einen mächtigen Respektschluck. Wenn die Münchner einen Bier trinken sehen, sind sie vor Jubel fassungslos. (…) Über sein Stimme gibt es die verschiedensten Urteile. Die einen finden sie faszinierend, die anderen abscheulich. Sicher ist, dass die außerordentliche Kraft dieses Organs, die auch in der heulenden Höhenlage wenig abnimmt und nur in erregten Augenblicken in ein fanatisches Krähen übergeht, auf viele suggestiv wirkt. Ton und Haltung des Redners bei Beginn machen den Eindruck von starkem Ernst und Verantwortungsgefühl, umso erregender später wirkt das hemmungslose Schreien; wenn dieser Kraftvolle, so empfindet der Hörer unbewusst, wie ein wahnsinniges Weib kreischt, dann müssen wirklich fürchterliche Dinge passiert sein. Der sogenannte Zauber seiner Persönlichkeit ist im letzten nicht zu enträtseln, aber der Mechanismus ist in diesem Falle ganz primitiv und deutlich: das jähe Wechseln zwischen ausdrucksstarkem Ernst  und ausdrucksstarker Hysterie. Oft ist die Frage nach seiner Ehrlichkeit gestellt worden, von der später noch zu reden sei wird. Sicher ist: der Redner Hitler lebt sich selbst einen ehrlichen Mann vor. Er ist auf den Höhepunkten ein von sich selbst Verführter, und mag er lautere Wahrheit oder die dickste Lüge sagen, so ist jedenfalls das, was er gerade sagt, in dem betreffenden Augenblick so vollständig der Ausdruck seines Wesens, seiner Stimmung und seiner Überzeugung von der tiefen Notwendigkeit seines ganzen Tuns, dass selbst von der Lüge noch ein Fluidum von Echtheit auf den Besucher überströmt. Die Einheit von Mann und Wort ist das zweite Geheimnis seines Erfolges.

Den Künstler der Formulierung muss jeder bewundern, der mit dem Ausdruck und seiner widerspenstigen Kraft jemals gerungen hat. „Was nicht Rasse ist, ist Spreu“, ist in seiner klingenden Kürze vollendet; übrigens falsch. „Die Erde ist nicht da für feige Völker“, kommt ihm nahe. „So wenig eine Hyäne vom Aase lässt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat“, ist ein sehr kurzbeiniger Gedanke, aber eine unübertroffene Beschimpfung; von gleicher Kraft „Pazifistenspülwasser“. Mit den Waffen, die einem „nationalen Volk aus der Faust herausquellen“ würden, kommt er der bewussten Unwahrheit schon sehr nahe. Einen Satz wie „Die braune Garde grüßt das Schicksal“, würde man kitschig nennen, wenn in diesem Schlamm-Meer von kunstvoller Lüge noch ein trockener Fleck für den guten Geschmack übrig bliebe. (..)

Wenn beispielsweise die Kommunisten „hämmern“, dann hämmern sie ihren Zuhörern etwa so einen schwierigen Begriff wie „Klassenfeind“ ein, der ohne Vorkenntnisse und Nachdenken gar nicht zu verstehen ist. Hitler sagt „Jude“ – und jeder versteht. Immer wieder wird die Wahrheit vergessen, dass die Masse – zu der bekanntlich jeder, selbst der Gebildetste gehört, wenn er unter Tausenden steckt – erlogene Tatsachen lieber hört, als wahre Begründungen. Und dass sie eine erlogene Tatsache, die mehrmals wiederholt wird, schließlich bedingungslos glaubt –  ein „ungeheures, kaum verständliches Ereignis“, das selbst ein Hitler „mit Staunen“ feststellt.

Ja, das tätige Nachspüren hinter der Frage: wie komme ich an die Massen heran, wie in die Gemüter hinein?  – hat ihn zu erstaunlichen Ergebnissen  und schwindelnden Höhen geführt. Aber mag moralisch die Lehre Hitlers noch so verurteilenswert sein; seine Leistung ist die Bestätigung des alten Satzes, dass Genie Fleiß ist. Durch seine Unermüdlichkeit hat er seine Gegner geschlagen.

Aktivierung der Masse, Hingabe an die Rede und Rastlosigkeit im Wirken sind die drei Schlüssel seines Erfolges. (…)

Das Führerprinzip.

Die einzigartigen Leistungen Hitlers als Propagandist und Organisator beruhen nicht auf einem ausgeklügelten Plan, sondern auf Experiment und Glück, raschem Zugriff und manchem Fehlgriff. Er ist den Ereignissen mit gesundem Menschenverstand entgegengetreten; so wurde ihre Lehre ihm heilsam und selbst der Irrtum nicht auf Dauer verderblich. Indem er im einzelnen Fall meistens das Zweckmäßige herausfand, entstand aus tausend Fällen und ihrer Bemeisterung mit der Zeit eine Art System. (…) Das Führerprinzip durchläuft die Partei von oben bis unten. Grundsätzlich wird keine Organisation, keine Gliederung, keine Gruppe ins Leben gerufen, bevor ein geeigneter Mann als Führer vorhanden ist. Fehlt er, so bleiben die bereits vorhandenen Parteianhänger eben vorläufig unorganisiert.

Das ist in den Augen Hitlers kein Unglück. Nach seiner Ansicht soll die Partei klein sein. Denn er unterscheidet zwischen den Mitgliedern und Anhängern; die Mitglieder sind die Erprobten, Zuverlässigen, blind Gehorchenden, und zehn Gehorsame sind selbstverständlich wertvoller als hundert Unberechenbare. Die Anhänger dagegen füllen die Versammlungssäle, wo sie durch ihre Anwesenheit nützen und im Übrigen keine Schaden stiften.

Denn Hitler hat mit teuflischem Scharsinn begriffen, was andere Parteien ( es ehrt sie ) nicht gesehen haben: „dass die Stärke einer politischen Partei keineswegs in einer möglichst großen und selbständigen Geistigkeit der einzelnen Mitglieder liegt, als vielmehr im diszipliniertesten Gehorsam, mit dem ihre Mitglieder der geistigen Führung Gehorsam leisten. Denn derjenige siegt, „ der die überlegendste Führung und zugleich die disziplinierteste, blind gehorsame, bestgedrillte Truppe hat….“

Eine hohe Meinung von seinen Anhängern hat Hitler jedenfalls nicht und kann er nicht haben. Denn – das ist die unausgesprochene Voraussetzung seiner Führerauslese – er kann natürlich nur solche Menschen brauchen, mit denen er selbst geistig fertig zu werden vermag. Und so hoch man die politische Klugheit  des Mannes, der diese Organisationsgrundsätze ersann und anwandte, schätzen muss, so eng sind, wie wir noch sehen werden, ihre Grenzen in einer echten Auseinandersetzung, wo er einen echten Gegner aus Fleisch und Blut und nicht einen zusammenphantasierten Feind vor sich hat, wirkliche Gegengründe und nicht eigens zur Widerlegung erfundene Widersprüche beantworten soll und Beweise statt wirksamer Behauptungen vorbringen muss. Diese Eigenschaften Hitlers ziehen dem Niveau seiner Anhänger nach oben eine sichere Grenze.

So erklärt sich auch die Gelassenheit, mit der er dem Theorienstreit in seiner Partei zusieht, wo radikale Sozialisten und radikale Kapitalisten miteinander im ewig unentschiedenen Kampf liegen. Eine derart auf Stumpfsinn ausgesuchte Gefolgschaft wird durch den im engen Zirkel tobenden Streit der Privatmeinungen in ihrem Gehorsam nicht beunruhigt – und darauf kommt es allein an. (…) Erst der Führer, dann die Truppe; kleiner Kern, breite Masse; Verantwortung nach oben, Autorität nach unten; absolute Befehlsgewalt der Zentrale über das Ganze, absolute Befehlsgewalt der Unterführer in ihrem Bereich; Ausschaltung der Debatte aus dem Parteileben und Konzentration der Mitglieder auf die einzige große technische Aufgabe, nämlich auf die Propaganda zur Erringung der Macht; immer schärferer Schliff der Partei zur fruchtbaren Waffe des Machtkampfes, Zurückdrängung aller menschlichen Werte, die diesem Machtkampf nicht dienen, Pflege des gehorsamen Mittelmaßes, Verkümmerung persönlicher Eigenart, Herdenzucht – dank solcher Prinzipien erringt Hitler mit seiner Partei die Macht über ein großes, geistig reiches Volk.

Er hat das deutsche Volk meisterhaft verdorben.

8. Der Weg in die Gesellschaft

Wovon lebt er eigentlich?

Die Partei wird zum Heer werden, die Propaganda zur Legende, und vor den Augen der Zeitgenossen baut sich die Kolossalfigur des Tribunen Adolf Hitler auf,  in der der Mensch Adolf Hitler einfach verschwindet. Bevor er dort sich selbst und uns verloren geht, versuchen wir noch einmal seine Gestalt in ihrem verschwimmenden Naturzustande festzuhalten.

Der schmächtige Ansichtskarten-Zeichner von 1913 ist seitdem ein harter Berufssoldat geworden. Seit sechs Jahren trägt er die Uniform. Er ist längst eine bekannter „Hetzer und Volksaufwiegler“, ein Wühler gegen Staat und Regierung, aber die Reichswehr besoldet ihn immer noch. Am 1.Mai 1920 scheidet er aus; die Vorgesetzten müssen ihn fallen lassen, weil nach dem missglückten Kapp-Putsch die hervorstechendsten politischen Gestalten nicht mehr bei der Truppe zu halten sind. (…)

Hitler muss zusehen, wie er sich durchs Leben schlägt. (…) Den Parteigenossen ist sein bürgerliches Dasein ein Rätsel. Niemand weiß, wovon er lebt. Sie wagen schon gar nicht zu fragen. Was sie vor sich sehen, ist ein Bohemien der ungezieltesten Sorte. Er hat kein Geld, aber er gibt es aus und die Widersprüche sind ihm peinlich. (…) Wegen eines Flugblattes kommt es zu einem Beleidigungsprozess. Hitler wird vor Gericht aufgefordert, nun doch einmal frei herauszusaugen, wovon er eigentlich lebe. Bekomme er für seine Versammlungsreden Geld? Das sei doch nichts Unehrenhaftes. Antwort: „Wenn ich für die nationalsozialistische Partei spreche, dann nehme ich kein Geld für mich. Aber ich spreche auch als Redner in mehreren Organisationen, zum Beispiel im Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund. Dann nehme ich natürlich Honorar.“ – „Und das reicht aus?“ – „Ich esse auch abwechselnd bei einzelnen Parteigenossen zu Mittag. Außerdem werde ich von einigen Parteigenossen in bescheidener Weise unterstützt.“ (…)

Sicherlich haben alle diejenigen geirrt, die den Hitler der ersten Jahre wegen seines chronischen Geldmangels für einen armen Teufel hielten. Sein Bedürfnis nach sprunghaftem Wechsel zwischen tiefer Einsamkeit und wimmelnder Gesellschaft führt bei eben nicht unbeschränkten Mitteln zu bescheidener Wohnung und großem Wirtshausgelage. Er ist ein zügelloser Mensch. Dabei hält sich wahrscheinlich ganz ehrlich für ein „armes Luder“, das kaum ein anständiges Dach über dem Kopf hat, denn so haben die Menschen noch immer ihre Genies behandelt. In Wirklichkeit kann Hitler mit Geld nicht umgehen; so wenig wie er mit seiner Zeit umgehen, mit seiner Kraft haushalten, sein Personal ökonomisch verwenden oder Schrift und Rede architektonisch gliedern kann. Er ist ein zügelloser Mensch, gegen Mühen und Schmerzen bisweilen wie in einem Rauschzustand unempfindlich und dadurch zu bewundernswerten Kraftleistungen fähig; auf lange Dauer zu Selbstdisziplin jedoch nicht imstande.

„Im Kreise schöner Frauen“.

Im Sommer 1923 entdecken die Freunde Dietrich Eckart und Hermann Esser eine ländliches Asyl bei Berchtesgaden, den Platterhof. Ein reicher junger Verehrer Hitlers, Ernst Hanfstaengl, ist eine willkommene Ergänzung der Gesellschaft, zu der auch Max Amann, der damalige Geschäftsführer der Partei gehört. In dieser fidelen Bande wusste Hitler die Grenzen nicht zu finden. Gottfried Feder las (Mitbegründer der Partei, informiert die Volksgenossen. Anm. d. Red.) einen Brief vor, den er an Hitler gerichtet hatte und in dem es hieß:

„ Mit wachsender Sorge sehen wir den unhaltbaren Zuständen zu. Wir verkennen nicht, dass es dem Führer (…) vergönnt sein muss im Kreise schöner Frauen Erholung zu finden … . Der Führer muss sich bewusst sein, dass er mit seinem ganzen Tun und Lassen im öffentlichen Leben steht und dass man nach seinem Verhalten den idealen und sozialen Wert der Partei beurteilt.“

Feder sagte ferner noch, man müsse Hitler zu einer geordneten Arbeitsweise erziehen. Er hatte zu diesem Zweck einen Offizier ausgesucht, der Hitler als Sekretär beigegeben wurde, die Tagesarbeit nach der Uhr festlegen und überhaupt in die Tätigkeit des Führers Ordnung und Programm hineinbringen sollte. Als Hitler das hörte, schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie: „ Was bilden sich die Kerle ein? Ich gehe meinen Weg, wie ich ihn für richtig halte.“ Den Sekretär nahm er aber doch noch.

Der Kampf um die Salons.

Man muss nicht glauben , dass dieser unbeherrschte Mensch mit den schlechten Manieren ein beliebter Tafelaufsatz der Münchner Gesellschaft gewesen sei  Er wurde wenig eingeladen, die Salons hielten bis 1923 einen fast nirgends durchbrochenen Boykott gegen ihn durch. Ein schüchterner und  linkischer Mensch, auffallend durch seine hastige Gier beim Essen und seine übertriebenen Verbeugungen, wurde er aus der Nähe schnell uninteressant. (…)

Das ganze Leben Hitlers ist eine einzige unglückliche Liebe zur guten bürgerlichen Gesellschaft. Er wurde nicht in sie hineingeboren. Das lässt sich reparieren. Zielsicher betrat er den richtigen Weg, auf dem ein zum Glücklichsein Begabter Hätschelkind der Gesellschaft werden kann: er wollte Maler werden. Wir sahen, wie und warum er scheiterte. Seitdem ist sein Verhältnis zur Gesellschaft mit dem Fluch des bösen  Gewissens belastet, mit dem ewigen Selbstvorwurf, zu träge zum kecken Griff nach dem Glück gewesen zu sein. (…)

Das erste größeren Stils Haus, das sich Hitler zu freundschaftlichem Verkehr auftut, befindet ich nicht in München, sondern in Berlin. Es ist das des Klavierfabrikanten Bechstein. Die Bechsteins sind alte Freunde von Dietrich Eckart; der führt seinen Schützling dort ein. Frau Helene Bechstein fasst eine warme Zuneigung zu Hitler. „Ich wollte, er wäre mein Sohn“, sagt sie. Hitler benutzt die Freundschaft ohne zarte Bedenken; erbittet immer wieder um Geld. (…) In München ist es das Haus Hanfstaengl, das sich ihm 1923 auf Wunsch des Sohnes öffnet. (…) Andere Bekanntschaften reichen zwar gleichfalls in die Luxussphäre, bleiben aber doch im Bereich dieses Landsknechttums, das man vielleicht besser eine bewaffnete Boheme nennen würde. Da ist der neue Freund, der ehemalige Fliegerhauptmann Göring, zur Zeit ein etwas später Student der Universität München, der mit seiner jungen Frau Karin eine elegante Wohnung im Villenvorort Gern hat. (…)

Nie verlässt ihn, der als Fünfzehnjähriger scheiterte, das Gefühl, er werde nicht voll genommen in dem Kreise, den er als Dreißigjähriger betritt. Er ist ein Arrivist, der nicht den Wunsch hat angenehm zu sein, sondern den Mut aufzufallen. Dafür gibt es drei goldenen Regeln, die er nicht als erster erfunden hat; man kommt grundsätzlich zu spät, dann wird man beachtet; man beteiligt sich nicht an der Unterhaltung, denn damit macht man sich höchstens unangenehm, fällt aber nicht weiter auf; dann redet man plötzlich wie ein Irrsinniger, dass alle schweigen müssen, denn damit erzwingt man Aufmerksamkeit; schließlich geht man vor dem allgemeinen Aufbruch weg, denn dann können die Zurückbleibenden noch über einen reden, was den Eindruck vertieft. Angenehm ist ein Mitmensch mit solchen Methoden freilich nicht.

9. Stufen zur Macht

Die bayrische Fronde.

Hitlers kleines Fahrzeug schwimmt auf dem großen Strom der deutschen Gegenrevolution. Die Gegenrevolution überflutet 1919 ganz Deutschland. Fast die ganze organisierte Macht des Landes ist gegen die Revolution gewendet. Die Unternehmer sind selbstverständlich gegen sie, die Großgrundbesitzer und die Bauern sind selbstverständlich gegen sie, die Reichswehr ist selbstverständlich gegen sie, die Kirche ist selbstverständlich gegen sie. In den Kartoffelgruben der schlesischen und pommerschen Landgüter, in den Kellern und Speichern bayrischer Klöster  lagern die versteckten Waffen der  Reichswehr und der Freikorps. (…)

Die bayrischen Föderalisten sind gegen Berlin, gegen die Revolution und für eine bayrische Monarchie. Aber man darf sich diese Gruppen nicht als zwei scharf geschiedene Lager vorstellen; vor allem die Massen der Anhänger, der  Bürger und Bauern merkten von dem Gegensatz nicht viel, sondern folgten fröhlich der Parole: gegen Berlin, gegen Preußen, gegen die Republik, gegen die Juden! Die Bürokratie, die Reichswehr, die stärksten Parteien und die Kirche standen hinter diesen Losungen, und erst im Lauf der Jahre, als man sich der Unterschiede stärker bewusst wurde , lockerten sich die Bande und rissen schließlich. Dazu hat Hitler wesentlich beigetragen. Er gehörte zu dem Flügel, der scharf gegen die Republik, aber bedingungslos für die Einheit des Reiches und eine starke Zentralgewalt  in Berlin eintrat,  und wurde schließlich dessen mächtigster Wortführer. (…)

Der Kapp-Putsch.

Am nächsten von allen Machtfaktoren steht ihm die Reichswehr, denn die deutsche Arbeiterpartei ist mit der Reichswehr geradezu identisch. Ihre Mitglieder sind Reichswehrsoldaten, die Röhm in die Partei hineingeschickt hat; die erste Schutztruppe wird von einer Minenwerferkompagnie der Münchner Reichswehr gebildet; der Führer ist Reichswehrsoldat und wird von der Reichswehr bezahlt, handelt im Auftrag Röhms und macht Politik für den General von Epp.

Im März erheben sich Teile der Reichswehr in offenem Aufstand gegen die Republik und wollen die Regierung samt dem Reichspräsidenten Ebert stürzen. Die Führer des Unternehmens sind der General von Lüttwitz und der Kapitän Ehrhardt in Berlin; sie stellen einen bisher wenig hervorgetretenen Politiker, einen ostpreußischen Generallandschaftsdirektor  namens Kapp, als Reichskanzler auf, und das Abenteuer erhält nach ihm den Namen Kapp-Putsch, als welches es eine der wichtigsten Episoden in der Geschichte der deutschen Republik bleibt. Ein paar Tage beherrschen die Aufständischen Berlin; dann ringt die Reichsregierung in einem großen Generalstreik der Arbeiter und Angestellten, einer gewaltigen Kraftäußerung des republikanischen Massenwillens, den Putsch ohne große Muhe nieder. Die Reichswehr in den übrigen Landesteilen hat eine Beteiligung an dem Aufstand nicht gewagt. Nur in Bayern macht sie einen kleinen Sonderputsch.  (…) (Der sich auch auflöst. Anm. d. Red.)

Für Hitler ist das Ergebnis dieser Märztage ein ungeheurer, vom Glück geschenkter Gewinn. Über Bayern gebietet plötzlich eine Regierung, die die Rechtsparteien und darunter auch das fast noch unbekannte Grüppchen der Deutschen Arbeiterpartei zügellos gewähren lässt; (…).  Von der ersten Stunde an genoss also die nationalsozialistische Bewegung den umfassendsten Schutz der Behörde. Und bis zum Endsieg hat Hitler immer wieder den Weg zur Staatsgewalt gesucht, um in ihrem Schutz seine sogenannte Revolution zu machen. Er selber sagt, er sei kühn gewesen. Die Geschichte wird bezeugen, dass er sehr fleißig gewesen ist. Vierzehn Jahre lang hat er sich durch die Weltgeschichte redlich empor gedient, immer den Weg des geringsten Widerstandes und der größten Sicherheit gewählt.

Der Unermüdliche.

Jede Woche ist Versammlung. Jedes Mal sind etwa 2000 Menschen da  – ein treuer Stamm, von dem immer einige Hundert wechseln. (…) Hitler sagt so ziemlich dasselbe (…). Aber jedes  Mal har er neue Bilder, neue Witze und neue Schimpfworte gegen Berlin und gegen die Juden. (…) Und doch setzen sich die einfachen Gedanken binnen drei Versammlungen so tief in den Köpfen fest, dass der Hörer beim vierten Mal meint, der Redner sage nur dasselbe, was er selbst seit jeher gedacht habe.

Neben Hitler zeichnet sich ein zweiter Agitator aus, der gerade zwanzigjährige Hermann Esser. Er hat nicht Hitlers Pathos, aber er kann sich mit zweitausend Menschen unterhalten, als wären es zwei. Er wirkt ein bisschen schmierig und bald sickern Geschichten durch, die auf seine private Moral ein bedenkliches Licht werfen. (…) Er ist der erste, der Hitler in öffentlicher Versammlung als „den Führer“ begrüßt. Ein dritter mächtiger Redner ist ein gewisser Max Weber, literarisch und schneidend, im Äußeren und im Ton Goebbels ähnlich. 1923 verschwindet er plötzlich und taucht nie mehr auf, eine Anzeige wegen Meineids ist das Letzte, was von ihm gehört wird. (…)

Die Entstehung des „Führers“.

Aber der Glanz all dieser Erfolge wirft hinter Hitler einen Schatten auf die Bewegung. Diese zerfällt immer deutlicher in zwei Schichten. Da sind erstens die alten Parteigründer,(…); da ist zweitens der Kreis um Hitler(…). Zwischen beiden pendelt Hermann Esser hin und her, der unmögliche Jüngling mit dem schlechten Ruf. (…)

Hitler ist im Juli 1921 in Berlin, wohnt bei Bechsteins, nimmt Sprachstunden, besucht den Nationalen Club und wird von dem Grafen York von Wartenburg aufgefordert seine Bewegung nach Berlin zu verlegen. Zufall oder Zusammenhang – zur gleichen Zeit arbeiten auch in München Leute dran, die Bewegung nach Norden  zu verschieben.(…) Unter der zentralen Leitung ist Drexler selbst verstanden; Hitler mag weiter in München agitieren.

Nun wird es dramatisch. Hitler zeigt den erschütterten Parteigenossen wie man eine Krise niederkämpft. Die Fronten sind geschieden Drexler, Körner und die ganze Schar der kleinen Gründungsmitglieder, auf der andern Seite Hitler mit den Kavalieren der Partei Eckart, Rosenberg, Feder und dem Freunde Heß. Der ergreift zum ersten Mal öffentlich das Wort: „Seid Ihr wirklich blind dagegen“, schreibt er in dem erwähnten Brief an den „Völkischen Beobachter“, „dass dieser Mann die Führerpersönlichkeit ist, die allein den Kampf durchzuführen vermag?“ Zwischen den Gruppen steht Esser. (…)…, der hat erfahren, dass der Führer zu Dritten äußerte: „Ich weiß, dass Esser ein Lump ist, und ich brauche ihn nur, solange ich ihn für meine Zwecke nötig habe.“ Das ist der Ton in der Partei; zu Drexler sagte Hitler, als er zornerfüllt von Berlin zurückkam: „Dreckiger Hund, gemeiner Lump, der größte Idiot aller Zeiten….“ Dabei ist Drexler ein Ehrenmann, Esser das Gegenteil. Aber Hitler kennt jetzt nur Freund oder Feind. Er erklärt jetzt seinen Austritt aus der Partei.

Das ist Blitz und Donner zugleich, damit gewinnt Hitler den Kampf, bevor der Gegner überhaupt zu Besinnung kommt. Denn Hitler ist bereits die Macht, das Ansehen und das Vermögen der Partei, er braucht sich nur halb abzuwenden, und den Genossen wird sein Unersetzlichkeit sofort klar. Bei Hitler steht Dietrich  Eckart, dem der „Völkische Beobachter“ gehört, bei ihm steht die Reichswehr, bei ihm die Polizei. Epp, Röhm, Pöhner, Frick entscheiden den Kampf aus der Ferne. Ohne Hitler ist die Partei nur ein zusammensinkender Sandhaufen. (…) In zwei Mitgliederversammlungen am 26. Und 29. Juli 1921 diktiert Hitler die Friedensbedingungen. Anton Drexler wird als Ehrenvorsitzender kaltgestellt, Hitler zum ersten Vorsitzenden der Partei mit unumschränkten Vollmachten gewählt; seitdem gibt es keine Ausschüsse und beratende Körperschaften in der Partei mehr, sondern nur „Referenten“, die dem Führer Bericht erstatten und seine Befehle empfangen. Seit dem 29. Juli 1921 ist Hitler der „Führer“ der nationalsozialistischen Bewegung wie wir sie heute kennen. Er befestigt seine Herrschaft sofort, indem er seinen persönlichen Freund Max Amann als Geschäftsführer der Partei erklärt. Ferner verkündet er, dass München für immer das Zentrum der Bewegung bleiben werde; nie werde er nach dem  Norden gehen. Denn jede Verlegung weg von München wäre vorläufig noch eine Bedrohung seiner persönlichen Herrschaft über die Partei. Im Übrigen könnte er München gar nicht verlassen, selbst wenn er wollte. Denn die Grundlage der Bewegung ist die Münchner Reichswehr, die man nicht mitnehmen kann.

Die Anfänge der SA.

(…) Eine Schar von Männern zieht sich in vielfacher Kette durch den Versammlungssaal. Sie geben das Zeichen zum Beifall, sie beginnen den Gesang, sie bilden dem Führer eine Gasse, sie stürzen sich mit Übermacht auf den Zwischenrufer und schlagen ihn zu Boden. Sie lernen es allmählich, all das auf Kommando zu machen. (…) Ganz von selbst treten nach der Versammlung in Kolonnen auf der Straße zusammen und marschieren durch die Stadt. (…) Das Gefühl, mit dem Marsch ein Polizeiverbot zu übertreten, erhöht den Stolz, und das Bewusstsein, dass die Polizei beide Augen zudrückt, hebt die Zuversicht. Wehe dem „Marxisten“, wehe dem Juden, der dem Zug in die Quere kommt. Rasch springt – der Nationalsozialist Czech-Jochberg hat das in seiner Hitler- Biographie geschildert – ein halbes Dutzend flinker Kerle aus der Kolonne, und der Unglückliche liegt am Boden unter den Stiefeln der wütend trampelnden Nationalsozialisten. Stundenlang schwärmen die kleinen Überfalltrupps durch die Stadt, (…). Sie machen Judenjagd. Einmal fällt ihnen ein adlernasiger, dunkelhäutiger, sehr eleganter Herr in die Hände, der wütend protestiert: Er sei kein Jude, sondern der Konsul einer großen südamerikanischen Republik. Da drängen sie ihn in eine dunkle Ecke und untersuchen jene diskrete Körperstelle, an der sich die Beschnittenen von den Unverschnittenen unterscheiden. Ihr Grundsatz ist, immer in geschlossenen Trupps aufzutreten, um immer die Überlegenen zu sein. So errichten sie eine rohe und eindrucksvolle Herrschaft über die Straße. Die Polizei hilft, indem sie gewähren lässt.

Das waren die Anfänge der SA.

Terror.

Es ist die Zeit der politischen Morde in Deutschland. Auf offener Straße hatte ein junger bayrischer Student, Graf Arco-Valley den sozialistischen bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner niedergeschossen. (…) Zwei Jahre später schossen zwei Meuchelmörder, (…), den Minister Erzberger nieder; am 24. Juni 1922 tötete eine ganze Kolonne nach raffiniert ausgeklügeltem Plan den bedeutenden Minister Rathenau aus dem fahrenden Auto und floh in alle Winde. Aus dem Hinterhalt wurde in dunkler Nacht in München der sozialistische Abgeordnete Gareis niedergeschossen; niemals fand die bayrische Justiz den Täter, obwohl sie ihn zwei Jahre lang in den Händen gehabt hat. Denn noch zahlreiche andere Morde fielen in jener Zeit vor, zumeist an armen Teufeln, die einem der heimlichen  Wehrverbände angehört hatten und denen man nicht mehr traute. Ein fanatischer antisemitischer Professor  namens Arnold Ruge erfand für diese Morde den zynischen Ausdruck „Umlegen“.  Gelegentlich wurden der Tat Verdächtige verhaftet, aber regelmäßig wieder freigesprochen; die bayrische Justizbehörde, an deren Spitze der spätere Reichsjustizminister Gürtner stand, fand nie genügend Beweise. Und immer gehörten die Verdächtigen zu dem Kreise um Röhm; oft waren es, wie der erwiesene Mörder Heines, wie die Leutnants Neunzert und Bally, seine engsten persönlichen Freunde. (…) Der älteste Führer der SA, ein Leutnant Klintzsch, wird unter dem Verdacht verhaftet, bei der Ermordung Rathenaus geholfen zu haben, aber die Anklagebehörde findet angeblich nicht genug Material gegen ihn. Als er freikommt, ruft Hitler zu seinen Ehren die Partei zusammen und erklärt schäumend: Der Vorwurf Rathenau ermordet zu haben, werde die SA nur noch fester an Klintzsch binden.

Mit dieser Truppe erobert Hitler München. Seine später – auch in „Mein Kampf“- aufgestellte Behauptung, es sei nur eine Truppe für Schutz und Verteidigung gewesen, ist einfach lächerlich. Er hat am 4. Januar 1921 öffentlich erklärt: „Die nationalsozialistische Bewegung in München wird in Zukunft rücksichtslos alle Veranstaltungen und Vorträge verhindern – wenn es sein muss , mit Gewalt – die geeignet sind, zersetzend auf unsere ohnehin schon kranken Volksgenossen  einzuwirken ( zitiert nach dem „Völkischer Beobachter“ Nr. 3, 1921)“. Hitler hat also den Angriff angekündigt und ausgeführt und wenn die Partei heute von ihren Toten spricht, so muss der Geschichtsschreiber hinzufügen, dass diese Toten, historisch gesehen, als Angreifer gefallen und in Notwehr erschlagen worden sind.

Hitler zieht auch hinaus in die kleinen Städte, nach Ingolstadt, nach Coburg. Wenn er in Überzahl den Gegner anfällt, steht die Polizei mit verschränkten Armen daneben, oder ist überhaupt nicht zu sehen; wird er aber selbst angefallen, dann erscheint sie, räumt das Schlachtfeld, trennt die Kämpfer und verhaftet die „Roten“. An der Spitze einer mit schweren Eichenstöcken bewaffneten Bande dringt er in die Versammlung eines Rivalen um die Volksgunst, eines gewissen Ballerstedt, ein. Hitler und Esser stürmen mit geschwungenem Sparzierstock auf das Podium und auf Ballerstedt hagelt es Schläge. Die Polizei kapituliert wieder einmal; der arme Wachtmeister weiß, dass Hitler bei seinen Vorgesetzten tausendmal mehr gilt als er und bittet schüchtern: „Herr Hitler, sie sehen ja selbst, hier gibt es Tote, bringen Sie doch Ihre Leute zur Räson!“ Hitler wirft einen Siegerblick über das Schlachtfeld und sagt gnädig: „Schön, der Zweck ist ja erreicht, Ballerstedt spricht heute nicht mehr!“  (…)

Bruch mit der Reichswehr.

(..) Am 1. Mai wagt sich Hitler zu weit vor. Die Sozialdemokraten und Kommunisten begehen an diesem  Tag ihren Weltfeiertag des Proletariats. Hitler will an der Spitze seiner SA und einiger anderer Miltitärverbände die rote Demonstration mit Gewalt auseinanderschlagen.(…) Nun fordert er, dass die Reichswehr ihm für einen Tag die Waffen überlässt, die ursprünglich für den äußeren Feind bestimmt waren. Lossow ( General, Oberbefehlshaber der Reichswehr München. Anm. d. Red.) hat früher einmal Ähnliches versprochen. Hitler geht zu ihm und fordert die Waffen. Lossow erwidert zynisch: „ Sie können mich ruhig einen Meineidbauern nennen, die Waffen gebe ich nicht heraus.“ Er warnt Hitler, etwas gegen die Sozialisten zu unternehmen, dann werde die Staatsgewalt mitleidlos gegen ihn zuschlagen.

Hitler schäumt. So geht das also zu: Wort gegen Wort und Wortbruch gegen Wortbruch. Er gibt nicht nach. Er lässt Flugblätter verbreiten: Frauen und Kinder, morgen weg von der Straße! Und das Wort zirkuliert, man werde die Roten niederschießen wie tolle Hunde. Röhm meutert, er lässt die Kasernen öffnen, Hitler schickt seine Leute hin, sie holen die Waffen gegen Lossows Verbot. Die Untergebenen Röhms in den Kasernen hindern es nicht. Am Morgen des 1. Mai stehen ein paar tausend SA-Leute unter Waffen.

Aber jetzt verlässt Hitler der Mut. Er wagt den Streich nicht, sondern zieht sich mit seinen Schwerbewaffneten  vor die Stadt zurück, so weit wie möglich von den sozialistischen Gegnern entfernt. Dort bewegt er sich, einen Stahlhelm auf dem Kopf,  ziemlich ratlos mit seinem militärischen Berater Kriegel, mit Göring und dem Unterführer Brückner zwischen den seinen. Aber Lossow, erbittert über den Waffenraub, erbittert über einen unzuverlässigen Untergebenen wie Röhm, statuiert jetzt ein Exempel. Er lässt Hitler von der Reichswehr umzingeln und zwingt ihn, die Waffen wieder in die Kaserne zurückzubringen. Es ist eine glatte Kapitulation. Kein Röhm verhindert sie diesmal.

10. Der Putsch

Der Generalstaatskommisssar.

Der Widerspruch zwischen Röhms militärischem Denken und Hitlers politischen Zielen, den Hitler von Anfang an sah, hat sich zur Katastrophe entwickelt. Für Röhm ist das ein edler Seelenschmerz, aber Hitler muss seine Politik neu überdenken. Er hat gegen besseres Wissen nachgegeben und trägt jetzt die Folgen; er hat entscheidende Vorteile von dem Bündnis mit der Reichswehr (das ja Blutsverwandtschaft ist) gehabt, aber wenn sich ein Schlag wie dieser 1. Mai wiederholt, dann splittert es in der Partei. Ein gefährlicher Schritt wird getan: Hitler bricht die Beziehungen zur Reichswehr ab. (…) Da fällt mit einem Schlage das ganze politische Theater um. Die Reichsregierung Cuno, die Regierung des Ruhrkrieges, wird im August 1923 gestürzt. Der Ruhrkrieg ist verloren, die Währung zerstört, die Wirtschaft im Sterben und das Reich im Zerfall. (…) Am 24. September bricht die Reichsregierung den Ruhrkrieg ab.

Am 25. September treten in höchster Erregung die Führer des sogenannten Deutschen Kampfbundes in München zusammen; dies ist ein am 2. September in Nürnberg geschlossenes Kartell, dem auch die NSDAP angehört. Neben ihr ist der Bund Oberland durch seinen Führer, den Tierarzt Dr. Friedrich Weber vertreten; ein dritter, sehr starker Verband ist die Reichsflagge unter dem Hauptmann Heiß, der aber bald mit Hitler bricht. Auch Röhm und Göring sind da, und dann noch Scheubner-Richter, der dunkle Abenteurer aus dem Osten, auf den Hitler neuerdings große Stücke hält und von dem er sich oft politisch beraten lässt. Die Zusammenkunft ist von Röhm vorbereitet, ihr Programm von Röhm entworfen, ihr Ziel von Röhm festgelegt. Nun tritt Hitler in die Szene. Er ist wirklich ein großer Redner. Volle zweieinhalb Stunden spricht er auf die Kameraden ein und bittet sie schließlich, ihn alle zu ihrem politischen Führer zu wählen. Da springt Heiß auf streckt ihm, Tränen in den Augen, die Hand hin; auch Röhm weint. Selbst der kühle Dr. Weber ist bewegt. Hitler ist politischer Führer des Deutschen Kampfbundes; gestern noch Redner einer Lärmpartei, heute Herr der stärksten Wehrverbände in Bayern. Es ist ein Ereignis und hat sofort seine Folgen.

Am 26. September verhängt die bayrische Landesregierung, die eine Putsch Hitlers befürchtet, den Ausnahmezustand und setzt einen Diktator über das Land, den Generalstaatskommissar Dr. von Kahr( ermordet 1934 in Dachau. Anm. d. Red.). Dieser ehemals Ministerpräsident und sehr volkstümlich, soll die Gemüter von Hitler ablenken und ihm notfalls mit Gewalt entgegentreten; er erweist sich aber bald als ganz unfähig. Seine erste Tat ist ein Schlag gegen Hitler, der diesen heftig verdrießt: Kahr verbietet vierzehn große Veranstaltungen, die Hitler an einem Abend gleichzeitig in München abhalten wollte. Durch dieses Kunststück, mit einem Schlage vierzehn Säle zu füllen und dann im Wagen von Saal zu Saal zu fahren, hat Hitler schon öfter die Öffentlichkeit verblüfft. Hitler ist ungeheuer erregt, dass er nicht reden darf: „Vierzehn Versammlungen, „schreit er; „ wegen vierzehn Versammlungen geraten die Herrschaften schon in Aufregung? Was werden die erst sagen, wenn  die ersten Vierzehnhundert, nein, die ersten Vierzehntausend an die Laternenpfähle hängen!“ (…)

Hitler war vor Ekstase halb aberwitzig geworden – so kam es wenigstens dem General von Lossow vor (mit dem er sich aus taktischen Gründen wieder versöhnt hatte. Anm. d. Red.), wenn er sich vor dessen Ohren mit Gambetta und selbstverständlich auch mit Mussolini verglich. Zu Lossows Mitarbeiter, dem Oberstleutnant von Berchem, sagt er: „ Ich fühle in mir den Beruf, Deutschland zu retten.“- Berchem: „Zusammen mit Ludendorff? Exzellenz Ludendorff dürfte außenpolitisch nicht tragbar sein.“- Hitler. „ Bah, Ludendorff hat lediglich militärische Aufgaben. Ihn brauche ich zur Gewinnung der Reichswehr. In der Politik wird er mir nicht das Mindeste dreinreden – ich bin kein Bethmann-Hollweg.“ – Pause . Dann: „Wissen Sie, dass auch Napoleon bei Bildung seines Konsulats sich nur mit unbedeutenden Männern umgeben hat?“  (…)

In einer Besprechung des Kampfbundes am 23.Oktober (1923. Anm. d. Red.) gab Göring Befehle aus, die alle späteren Gräuelberichte des Jahres 1933 verständlich machen und ihre Ableugnung Lügen strafen. Er sagt – und hierüber besitzen wir Zeugenaussagen vor dem Untersuchungsrichter: „ Wer nach der Machtergreifung die geringste Schwierigkeit macht, ist zu erschießen. Es ist notwendig, dass die Führer sich schon jetzt die Persönlichkeiten heraussuchen, die beseitigt werden müssen. Mindestens einer (gemeint ist offenbar: in jedem Ort) muss zum Abschrecken nach dem Umsturz sofort erschossen werden.“ (…)

„Kannst du schweigen Toni?“

Der Zufall bot für den Überfall eine wunderbare Gelegenheit. Herr von Kahr hielt auf Bitten einiger Wirtschaftsorganisationen am Abend des 8. November eine große Programmrede im Bürgerbräukeller.(…)  Hitler zog sich am 8. November seinen besten Anzug an, einen langen Gehrock, heftete das Eiserne Krauz drauf und rief … den Veranstalter der Kundgebung an, er möge doch mit dem Versammlungsbeginn bis zu seiner Ankunft warten. (…) Neben ihm im Auto saß Anton Drexler, der harmlos glaubte, man fahre zu einer Versammlung aufs Land. Plötzlich wandte sich Hitler zu seinem Ehrenvorsitzenden: „Toni, “ sagte er,  „kannst Du schweigen? Also, wir fahren heute nicht  nach Freising. Um halb neun schlage ich los.“ Drexler, überrumpelt, verstand die Demütigung. Er erwidert trocken: „ Ich wünsche dir Glück.“

Der Schuss im Bürgerbräu.

Als Kahr etwa eine halbe Stunde gesprochen hatte, fuhren die Sturmabteilungen vor dem Lokal an. Es war der „Stoßtrupp Hitler“. Drinnen spricht Kahr, … , drinnen sind dreitausend ahnungslos; draußen bilden Sechshundert Sperrketten. Das Ganze ist ein Werk von drei Minuten. In diesen drei Minuten wird Geschichte geschrieben. (…)

Die Polizei aber sah zu. Ihr ratloser Führer rief im Polizeipräsidium bei seinem diensthabenden Vorgesetzten an und bat um Verhaltensmaßregeln. (…) Dieser pflichtbewusste Vorgesetzte war der damalige Oberamtmann und spätere Reichsminister Frick. Eine Stunde später hatte Hitler ihn zum Polizeipräsidenten von München ernannt. Denn inzwischen, es war etwa dreiviertel neun Uhr, hatte Hitler mit seinen Bewaffneten  geräuschvoll den Saal betreten. Mit einer Pistole in der Hand rast er auf das Podium los. Wie ein Augenzeuge, Graf Soden, später vor Gericht sagte, machte er den Eindruck eines völlig Irrsinnigen. Seine Leute postierten im Saaleingang ein Maschinengewehr. Hitler selbst sprang, seiner Sinne kaum noch mächtig, auf einen Stuhl, feuerte einen Pistolenschuss in die Decke und stürmte dann weiter durch den plötzlich totenstill gewordenen Saal nach dem  Podium. Ein pflichtgetreuer Polizeimajor trat ihm entgegen, die Hand in der Tasche. Hitler fürchtete eine versteckte Schusswaffe, setzte dem Major blitzschnell die Pistole auf die Stirn und schrie wie im Kriminalroman: „Hände aus den Taschen!“ Ein anderer Beamter griff von der Seite zu und riss Hitlers Arm weg. Der angegriffene Polizeimajor ist zehn Jahre später im Konzentrationslager  Dachau ermordet worden .( Also gleich1933, wie Göring angekündigt hatte. Anm. d. Red.)

Hitler stieg jetzt auf das Podium … und schrie: „ Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Niemand darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Galerie stellen lassen. Die Kasernen der Reichswehr und Landespolizei sind besetzt – dies war falsch –  Reichswehr und Landpolizei rücken bereits unter den Hakenkreuzfahnen heran.“ Dann rief er Kahr sowie Lossow und Seißer, die in der Nähe saßen, in gebieterischem Tone zu, sie sollten ihm folgen. (…) Die Stimmung wurde so bedrohlich, dass Göring aufs Podium stieg und mit Donnerstimme versicherte, der Anschlag solle kein feindseliger Akt sein ,sondern der Beginn der nationalen Erhebung.(…) Er schloss: „Im Übrigen können Sie zufrieden sein, Sie haben ja hier Ihr Bier!“

„Morgen Sieger oder tot“.

Inzwischen begann Hitler in einem Nebenzimmer die Verhandlungen mit den Worten: „Niemand verlässt lebend das Zimmer ohne meine Erlaubnis!“ Dann redete er auf die kalt Abgeschreckten glühend los: „ Meine Herren,  die Reichsregierung ist bereits gebildet und die bayrische Regierung ist abgesetzt. Bayern wird das Sprungbrett für die Reichsregierung, in Bayern muss ein Landverweser sein. Pöhner wird Ministerpräsident mit diktatorischen Vollmachten und Sie, Herr von Kahr, werden Landverweser.“ Dann stieß er kurz und fetzenartig hervor: „Reichsregierung Hitler, nationale Armee Ludendorff, Seißer Polizeiminister.“ Der „Trommler“ hatte die Maske abgeworfen.

Als er keine Antwort bekam, hob er die Pistole und rief leidenschaftlich:

„Ich weiß, dass den Herren das schwerfällt. Der Schritt muss aber gemacht werden. Ich will den Herren ja nur erleichtern, den Absprung zu finden. Jeder von Ihnen muss den Platz einnehmen, auf den er gestellt wird; tut er das nicht, so hat er keine Daseinsberechtigung.“ Als die Drei in finsterem Schweigen verharrten, fingen seine Nerven an, zu zappeln: „Sie müssen,verstehen Sie, Sie müssen einfach mit mir kämpfen, mit mir siegen oder mit mir sterben, wenn die Sache schief geht. Vier Schuss habe ich in meiner Pistole, drei für meine Mitarbeiter, wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich.“ Er setzte sich die Pistole an die Schläfe und sprach feierlich: „ Wenn ich nicht Morgen Sieger bin, bin ich ein toter Mann.“

Herr von Kahr war der Situation gewachsen. Er fasste Hitlers Drohung als richtiggehenden Mordanschlag auf und sagte das Anständigste, was in diesem Augenblick gesagt werden konnte: „Herr Hitler, Sie können mich totscheißen lassen, Sie können sich selber totschießen. Aber Sterben oder Nichtsterben ist für mich bedeutungslos“ –  er wollte sagen, dass er sich nicht durch die Drohung mit einer Kugel einen Entschluss abzwingen lasse. Vor diesem Misserfolg versagten Hitlers Nerven einen Augenblick, und das Ergebnis war eine subalterne Taktlosigkeit. Während Kahr von Sterben und Nichtsterben sprach, brüllte er plötzlich seinen Begleiter Graf an: „Maßkrug her!“  (…)

Der, auf den es Hitler eigentlich abgesehen hatte, der General von Lossow, schwieg. Aber Seißer redete jetzt. Er warf Hitler vor, dass er sein Ehrenwort gebrochen habe. Schon wieder eines von einem halben Dutzend Ehrenwörtern! In der Tat, Hitler hatte Seißer öfters versprochen keine Putsch gegen die Polizei zu machen. (…) Gleichzeitig betrat Ludendorff mit Scheubner-Richter das Zimmer; er sah sich nicht um, fragte nach nichts, sondern begann zu reden: er sei ebenso überrascht wie alle, aber es handele sich um eine  große nationale, völkische Sache, und er könne den drei Herren nur raten mitzutun. Sie möchten in seine Hand einschlagen.

Das Ehrenwort.

Und nun muss Hitler noch eine peinliche Szene über sich ergehen lassen – schon die dritte dieser Art an einem Abend. Unter den Gästen ist auch der Innenminister Dr.Schweyer. Der tritt auf Hitler zu und spricht – aber lassen wir ihn das besser mit seinen eigenen Worten sagen, so wie er sie als Zeuge vor dem Staatsanwalt gesprochen hat; der Untersuchungsausschuss des bayrischen Landtags hat im April 1928 diese Aussage aus den Akten ans Licht gezogen. Schweyer berichtet:

„Mich würdigte Hitler keines Blickes. Ich trat daraufhin auf ihn zu, klopfte ihm mit dem Finger auf die Brust und sagte in nachdrucksamem Ton: „ Jetzt will ich Ihnen aber etwas sagen, Herr Hitler. Erinnern sie sich noch, was Sie im Sommer vorigen Jahres in meinem Büro aus freien Stücken erklärt haben? Wissen Sie es noch?“  Darauf geriet Hitler in eine gewisse Verlegenheit, ohne eine Antwort zu geben.“

Ein tapferer Man, dieser graubärtige, leicht schwäbelnde Dr. Schweyer. Er meinte natürlich das berühmte Ehrenwort, keinen Putsch zu machen. Ringsum sind sechshundert Begeisterte, er aber klopft dem Sieger des Abends wie ein zorniger Schulmeister auf die Brust und sagt ihm ins Gesicht, dass sein Sieg nur ein Wortbruch ist. Das Ganze ist aber tief sinnbildlich. Hitler bedeutet in jeder Form den Untergang dieser verwehenden Schicht von Reserveoffizieren und Korpsstudenten. Er  stellt, der Halbprolet, durch seinen Aufstieg ihre gesellschaftliche Hierarchie auf den Kopf, zerstört die Sicherheit ihres Eigentums und macht ihre Ehrenwörter lächerlich, indem er sie rücksichtslos als Mittel benutzte, um seinen Prozess gegen die bürgerliche Gesellschaft zu gewinnen. Aber diesmal fand er Gegenspieler, die auf Wortbruch mit Wortbruch antworteten und das Spiel gewannen.

Wütende Generäle.

Die weitläufige Entstehungsgeschichte von Kahrs und Lossows Gegenreaktion soll hier nicht erzählt werden. (…) Der ganze Zorn der Offiziere gegen die Freischärler brach jetzt los; die Generäle empfanden die Bürgerbräuszene einfach als Schmach der Armee. Seit der Pistolenszene  war Hitler nach herkömmlichem militärischem Ehrbegriff ein Mann, den man mit dem Seitengewehr niederstechen konnte. Das hatte der ehemalige Gefreite nicht bedacht.

Noch bevor sie sich mit Lossow verständigen konnten, waren Danner, General Kreß von Krtessenstein und Major von Loeb zusammengetreten und hatten dafür gesorgt, dass die Truppen abwehrbereit standen. Sie hätten sie wahrscheinlich sogar gegen Lossow marschieren lassen, wenn dieser sich nicht fügte. Aber inzwischen war außerhalb Bayern etwas geschehen, wovor der ganze Spuk aus dem Bürgerbräu zerstob. Es wurde nämlich  bekannt, dass der Reichspräsident Ebert dem General von Seeckt( Chef der Reichswehr. Anm. d. Red.) die ganze vollziehende Gewalt im Reich übertragen hatte. Seeckt  ließ in München telegraphisch wissen, dass er den Putsch niederschlagen werde.

Die fehlenden vierundzwanzig Stunden.

In der Nacht zum 9. November ging Hitler durch ein Dampfbad von Jubel, Verzweiflung, Trotz und Hoffnung. (…) Was an den verschiedenen Ecken der Stadt biwakierte, auf den Landstraßen marschierte, auf Lastautos heranfuhr, das waren mehrere Tausend. Zahlenmäßig war die Truppenzahl des Kampfbundes an der entscheidenden Stelle weit stärker als die des Staates. Dem Kampfbund fehlten auch nicht Maschinengewehre und Kanonen, sondern vierundzwanzig kostbare Stunden. Darum hatte er die Kasernen nicht besetzen ,die Bahnhöfe nicht absperren, die Telegraphenämter nicht unter Kontrolle nehmen können, obwohl für all das genaue Pläne ausgearbeitet waren.

Der Marsch zur Feldherrnhalle.

(…) Gegen elf  Uhr traten Hitler und Ludendorff mit mehreren  tausend Leuten ihren „Erkundungsmarsch“ in die Stadt an. Um besser erkunden zu können, trug man Gewehre über der Schulter, zum Teil mit aufgepflanztem Bajonett; Hinter den ersten Reihen fuhr ein Auto mit Maschinengewehren. Der Plan des Zuges  war in erster Linie, die Stadt moralisch zu erobern und die Gegner in die Winkel zu scheuchen: jedoch war man auch auf Kampf gefasst. Falls die Revolutionäre ganz genau wissen wollten, was die Regierung beabsichtigte, hätten sie ihren Erkundungsmarsch nicht mehr zu machen brauchen. Denn an den Häuserwänden klebten Plakate:

„Trug und Wortbruch ehrgeiziger Gesellen haben aus einer Kundgebung für nationales Wiedererwachen eine Szene widerwärtiger Vergewaltigung gemacht. Die mir, General von Lossow und Oberst Seißer mit vorgehaltenem Revolver abgepressten Erklärungen sind null und nichtig. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sowie die Kampfverbände „Oberland“ und „Reichsflagge“ sind aufgelöst.“  von Kahr . Generalstaatskommissar

An der Spitze des Zuges gingen Ludendorff und Hitler, Dr. Weber, Scheubner-Richter und Kriebel; in der zweiten Reihe Göring.  Der Zug traf an der Isarbrücke auf Sperrketten der Landespolizei. Die senkten die ‚Gewehrläufe nicht;  würden sie schießen? Da trat Göring aus den Reihen nach vorn, legte die Hand an die Mütze und sagte: „ Der erste Tote auf unserer Seite bedeutet Erschießung sämtlicher Geiseln, die wir in Händen haben.“ (…) Die Polizisten schossen nicht. Im Nu waren sie entwaffnet, bespuckt und geohrfeigt.(…)

Der Zug marschierte dann durch die innere Stadt. (…) Ludendorff führte, wie er später angab, ohne einen bestimmten Plan; nur die allgemeine Richtung schwebte ihm vor.

Streicher greift ein.

Hitler schritt zwischen Ludendorff und Scheubner-Richter, dessen Arm er untergefasst hatte. In der rechten Hand hielt er ein Pistole und rief, unmittelbar vor dem Schießen, den Polizisten zu:  „Ergebt Euch!“ In diesem Augenblick …aber hier sollen die Augenzeugen sprechen. Der Zeuge Friedrich, der den Zug als Zuschauer begleitete, sah folgendes:

„Hitler trug in der rechten Hand eine Pistole offen und schussbereit. Ein Nationalsozialist, der in der Hand ebenfalls eine schussbereite Pistole trug, sprang aus der Umgebung Hitlers vor den Zug, ging zu einem Beamten der Landespolizei und sprach kurz mit ihm. In diesem Augenblick fiel ein Schuss. Da dieser Nationalsozialist und Hitler eine Pistole schussbereit in der Hand trugen, nehme ich an, dass der erste Schuss entweder von Hitler oder von dem vorgesprungenen  Nationalsozialisten abgegeben wurde.“

Hier beginnt eine Kette merkwürdiger, ja unheimlicher Vermutungen. Sollte also tatsächlich Hitler oder jener Nationalsozialist zuerst geschossen haben? Friedrich glaubte es, denn: „Der erste Schuss war bestimmt ein Pistolen- oder Revolverschuss“ – die Landespolizei hatte Karabiner.(…) Dr. Weber und der Zeuge haben beide von verschiedenen Punkten aus dasselbe gesehen. Aber noch ein dritter Zeuge sah, und dieser weiß auch, wer der Nationalsozialist war. Der Zugteilnehmer Robert Kuhn berichtet:

„Streicher sprang einige Schritte vor und sprach mit einem Beamten. Dieser winkte aber ab. Streicher wurde von einem Beamten der Karabiner auf die Brust gesetzt. Dann krachte ein Schuss…“ (…)

Kein Zufall in Gestalt eines unbekannten SA-Mannes. Keine Nebenfigur. Der Strahl der Verantwortung trifft niemanden mit voller Entschlossenheit, aber die Wolke des Verdachts sammelt sich m dichtesten über zwei Häuptern: Hitler und Streicher.

Der Zusammenbruch.

Nun rollen Salven auf beiden Seiten. Als erster auf der Seite des Kampfbundes wird Scheubner-Richter tödlich getroffen; stürzend renkte er Hitlers Arm aus. Auch Hitler lag auf der Erde; ob von Scheubner-Richter mitgerissen, ob nach Soldatengewohnheit Deckung suchend, wird er selbst kaum zuverlässig angeben können.(…) Vorwürfe möge ihm machen, wer mit gutem Gewissen von sich behaupten kann, dass erstehen geblieben wäre. Aber wenige Minuten später wird Hitler sich wirklich so benehmen, dass er Vorwürfe verdient.(…) Der Feuerhagel hatte in der engen Straße entsetzlich gewirkt. Vierzehn tote lagen auf dem Pflaster.

Hitlers Flucht.

Und dann schweigt das Feuer. Da erhebt sich ein Mann… aber wiederum sollen die Augenzeugen das Wort haben. Der praktische Arzt, Dr. Walter Schulz Nationalsozialist, Teilnehmer am Zuge, der mit den anderen auf der Erde lag, sagte in der Voruntersuchung aus:

„Ich nahm wahr, dass Hitler der  Erste war, der aufstand und sich, scheinbar am Arm verwundet, nach rückwärts begab….“

Auch der zweite Zeuge ist Arzt, Dr. Karl Gebhardt:

„Beim Schießen fuhr plötzlich in die Menge hinein ein gelbes Automobil, auf dem ein Nationalsozialist stand und rief: Wo ist Hitler? Dr. Schulz, der direkt in dem Haufen lag, anscheinend neben Hitler, rief: Er ist hier! Und schon war Hitler in dem Automobil, das mit ihm und Dr. Schulz davonfuhr.“ (…)

Das Gesamturteil über Hitlers Putsch muss lauten: gutes Spiel und schlechte Arbeit. Der erste Fehler war das Losschalgen ohne genügende militärische Vorbereitung, der Zweite die psychologische Fehlbehandlung des Reichswehrkommandeurs, der Dritte der mangenlde Mut am 9. November. Selbst ein so tapferer Soldat wie röhm ließ sich vom Gegner einkreisen, weil er es nicht übers Herz brachte, den ehemaligen Kameraden mit Maschinengewehren zu drohen. Ludendorff wollte überhaupt nicht kämpfen, sondern zaubern. Als sogar Hitler vor dem Zug zaghaft wurde: „Man wir auf uns schießen“, wusste Ludendorff  bl0ß eine heroische und gedankenlose Antwort: „Wir marschieren!“

Für die NSDAP ist der blutige Tag trotz allem ein Segen gewesen. Er schnitt sie endgültig aus dem Leibe der Reichswehr heraus. So wurde der  9. November 1923 ihr eigentlicher Geburtstag.


Seht da den Mörder…(Bekenntnis eines Schuldlosen). Von Bernhard Diehl

10. Oktober 2012 | Kategorie: Artikel, Menschenwürde, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Bernhard Diehl wollte Arzt werden, aber bekam nicht sofort einen Studienplatz. So ging er 1968 als Krankenpflegehelfer für die Malteser nach Vietnam, um das Elend der Menschen zu lindern und arbeitete in einem Hospital, das jeden Monat mehreren tausend Verletzten, Zivilisten wie Soldaten, kostenlos medizinische Hilfe leistete. Aber irgendwie war Bernhard Diehl für den Vietcong trotz des roten Kreuzes  auf der „anderen Seite“. In den Wirren des Krieges  wurde er vom Helfer mit Malteserkreuz zum Gefangenen und vier lange  Jahre festgehalten. Von den fünf gefangenen deutschen Helfern überleben nur zwei.  In der Gefängniseinzelzelle entsteht u.a. das Lied/Gedicht eines Schuldlosen, der wie ein Mörder gehalten wird. Damals war er 23 Jahre alt. Hier klingt der Schrei all derer an, die  auch heute schuldlos in den Gefängnissen der Welt sitzen, von Guantanamo bis Baghram, von Minsk und bis Pjöngjang. Es ist der Schrei,  den ein  Munch gemalt hat, ein Schrei, der im Universum nicht verstummen wird, solange irgendwo auf der Welt der Unschuldige leidet. Der Text ist entnommen dem Band:

Gedichte und Liedertexte

Dr. med. Bernhard J. M. Diehl

August von Goethe Literaturverlag

179 S. TB 2009  (erhältlich über amazon)

 

Seht da den Mörder … (Bekenntnis eines Schuldlosen)

 

Wenn nachts die Ketten rasseln, wach ich auf aus meinem Schlaf,

Denn ich weiß, ein neuer Mörder wird gebracht.

Und dann hör ich Leute lachen, hör Befehle laut und scharf,

und ich denk daran, dass man auch mich verlacht.

 

Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.

Gefängniszelle, eine wahre Hölle.

Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.

 

Die Gitterstäbe rosten, der Putz fällt von der Wand,

Und morgens modern Ratten vor der Tür.

Ich sitz´ auf meinem Holzbett,  hab´ Ketten um die Hand,

Nur Brot  und Wasser, sonst gibt´s hier nichts mehr.

 

Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.

Gefängniszelle, eine wahre Hölle.

Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.

 

Zweimal am Tage waschen, mal morgens früh um sechs

und dann noch einmal nachmittags um zwei.

Ich fasse einmal Essen und esse wie verhext,

Und dann ist so ein Zellentag vorbei.

 

Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.

Gefängniszelle, eine wahre Hölle.

Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.

 

Hier gibt es keine Butter und kein weiches Ei,

Und Wurst hat diese Zelle nie geseh´n.

Ich sammle meine Kippen, mal zwei oder auch drei

Und kann dann aus dem Rest ´ne neue dreh´n.

 

Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.

Gefängniszelle, eine wahre Hölle.

Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.

 

Die Decken sind vermottet, die Seife rationiert,

und in dem Holzbett sitzen Wanzen drin.

Mein Pisspott hat zwei Löcher  und wenn ich urinier,

Dann stinkt die ganze Bude nach Urin.

 

Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.

Gefängniszelle, eine wahre Hölle.

Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.

 

Warum bin ich gefangen? Was hab ich denn getan?

Wann lasst ihr mich denn endlich mal nach Haus?

Ich schreie diese Fragen, doch keiner stört sich dran… .

Wer hier mal sitzt, kommt nicht so schnell heraus.

 

Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.

Gefängniszelle, eine wahre Hölle.

Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.


Apokalypse. Von Karl Kraus

02. April 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Es gibt eine Aktualität, die zeitlos ist. Die Frage,  warum Karl Kraus von Jahr zu Jahr lebendiger wird, kann von niemandem besser beantwortet werden als im Folgenden von ihm selbst. Haufenweise haben sich an ihm die Geister, Plagegeister und Ungeister abgearbeitet und mit dem Versuch ihres Gegenbeweises den Beweis geführt, dass er  recht hat. W.K.Nordenham

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Apokalypse.

(Offener Brief an das Publikum.)

»Den Überwinder will ich genießen
lassen von dem Lebensholze, das in
meines Gottes Paradiese steht.«

Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.

Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und  Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die  Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …

Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel
hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.

Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller  Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe  Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.

Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist  abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.

Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.

Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere  gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«

Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«

Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Missgeburten. Aber die Natur arbeitet schon  darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener  geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!

Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen  wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat  man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die  misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten  wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure  bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen  genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und  knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich  nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine   politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden,  weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.

»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.

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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel’ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.

Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit  seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass  mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen  Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden,  als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin  größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.

Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.

Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für  den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der  Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut  gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat  und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder  Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse  der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion.  Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber  der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die  Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier  Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich  den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er  vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir  erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug  einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die  ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige  Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt  keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb  der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.

Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer  noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen  Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre  nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe  rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut  hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.

Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen,  damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns  einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu verdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.

Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass  ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, so lange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der  Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.

In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen  Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch  staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht  im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der  Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei  reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur  mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in  der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner  nach meinem Pfeil zurechtschnitze.

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt  hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf  eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen. Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit  unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man  unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die  Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die  tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«

Karl Kraus.