Der Fortschritt. Von Karl Kraus
10. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", FortschrittDie Fackel Nr. 275—276. 22. März 1909 S. 33 – 40 (Zuerst in: „Simplicissimus“ 1909 erschienen)
Ich habe mir eine Zeitungsphrase einfallen lassen, die eine lebendige Vorstellung gibt. Sie lautet: Wir stehen im Zeichen des Fortschritts. Jetzt erst erkenne ich den Fortschritt als das, was er ist — als eine Wandeldekoration. Wir bleiben vorwärts und schreiten auf demselben Fleck. Der Fortschritt ist ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus. Nur manchmal krümmt sich wirklich etwas vor meinen Augen: das ist ein Drache, der einen goldenen Hort bewacht. Oder es bewegt sich nachts durch die Straßen: das ist die Kehrichtwalze, die den Staub des Tages aufwirbelt, damit er sich an anderer Stelle wieder senke. Wo immer ich ging, ich müsste ihr begegnen. Ging ich zurück, so kam sie mir von der anderen Seite entgegen, und ich erkannte, dass eine Politik gegen den Fortschritt nutzlos sei, denn er ist die unentrinnbare Entwicklung des Staubes. Das Schicksal schwebt in einer Wolke, und der Fortschritt, der dich einholt, wenn du ihm auszuweichen wähnst, kommt als Gott aus der Maschine daher. Er schleicht und erreicht den flüchtigen Fuß und nimmt dabei so viel Staub von deinem Weg, als zur Verbreitung notwendig ist, auf dass alle Lungen seiner teilhaft werden; denn die Maschine dient der großen fortschrittlichen Idee der Verbreitung des Staubes. Vollends aber ging mir der Sinn des Fortschritts auf, als es regnete. Es regnete unaufhörlich und die Menschheit dürstete nach Staub. Es gab keinen, und die Walze konnte ihn nicht aufwirbeln. Aber hinter ihr ging ein radikaler Spritzwagen einher, der sich durch den Regen nicht abhalten ließ, den Staub zu verhindern, der sich nicht entwickeln konnte. Das war der Fortschritt.
Wie enthüllt er sich dem Tageslicht? In welcher Gestalt zeigt er sich, wenn wir ihn uns als einen flinkeren Diener der Zeit denken? Denn wir haben uns zu solcher Vorstellung verpflichtet, wir möchten des Fortschritts inne werden, und es fehlt uns bloß die Wahrnehmung von etwas, wovon wir überzeugt sind. Wir sehen von allem, was da geht und läuft und fährt, nur Füße, Hufe, Räder. Die Spuren verwischen sich. Hier lief ein Börsengalopin, dort jagte ein apokalyptischer Reiter. Vergebens … Wir können von Schmockwitz nach Schweifwedel telefonisch sprechen, wir wissen aber noch nicht, wie der Fortschritt aussieht. Wir wissen bloß, dass er auf die Qualität der Ferngespräche keinen Einfluss genommen hat, und wenn wir einmal so weit halten werden, dass man zwischen Wien und Berlin Gedanken übertragen wird, so wird es nur an den Gedanken liegen, wenn wir diese Einrichtung nicht in ihrer Vollkommenheit werden bewundern können. Die Menschheit wirtschaftet drauflos; sie braucht ihr geistiges Kapital für ihre Erfindungen auf und behält nichts für deren Betrieb. Der Fortschritt aber ist schon deshalb eine der sinnreichsten Erfindungen, die ihr je gelungen sind, weil zu seinem Betrieb nur der Glaube notwendig ist, und so haben jene Vertreter des Fortschritts gewonnenes Spiel, die einen unbeschränkten Kredit in Anspruch nehmen.
Besehen wir das Weltbild im Spiegel der Zeitung, so erweist sich der Fortschritt als die Methode, uns auf raschestem Wege alle Rückständigkeiten erfahren zu lassen, die in der weiten Welt vor sich gehen. Was mir jedoch den größten Respekt abnötigt, ist die Möglichkeit, bedeutende zeitgeschichtliche Tatsachen auf photographischem Wege dem Gedächtnis jener Nachwelt zu überliefern, die am Morgen des folgenden Tages beginnt und am Abend zu Ende ist. Der Fortschritt ist ein Momentphotograph. Ohne ihn wäre jener Augenblick unwiederbringlich verloren, da der König von Sachsen vom Besuche einer Sodawasserfabrik sich zu seinem Wagen begab. Wie sieht das aus? fragte man sich. Wie macht er das? Wie geht der König? Er setzt einen Fuß vor den andern, und der Momentphotograph hat es festgehalten. Aber dieser vermag vom Schreiten nur den Schritt zu erhaschen, darum wird das Gehen zum Gehversuch, und der Adjutant, der auf die Füße des Königs sieht, scheint die Schritte zu zählen, damit keiner ausgelassen wird: Eins, zwei, eins, zwei … So weiß man immerhin, wie die Sohle des Königs von Sachsen beschaffen ist; aber auch das mag dem Untertan genügen. Mehr bietet die Momentphotographie, wenn sie sich »in den Dienst des Sports stellt«, und ohne sie wäre der Sport am Ende gar kein Vergnügen. Eine Schlittenfahrt — hei, das macht Spaß! »Prinz Eitel Friedrich bremst.« Und was tut Prinz August Wilhelm? »Prinz August Wilhelm hilft als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten.« Ist das Bild das offizielle Dementi eines Gerüchtes, dass Prinz August Wilhelm ungalant sei und bei Schlittenfahrten seine Gemahlin von allein aussteigen lasse? Hatte sich solcher Argwohn im Gefühlsleben des deutschen Volkes eingenistet? Nein, das deutsche Volk liebt es zu hören, dass Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten helfe, auch wenn es nie daran gezweifelt hat und das Gegenteil nicht behauptet wurde. Wäre das Gegenteil behauptet worden, so könnte man sagen, es sei kleinlich, solche Gerüchte zu widerlegen; das deutsche Volk glaubt sie ohnedies nicht. Es glaubt nur, was es sieht. Darum glaubt es an die Galanterie des Prinzen August Wilhelm, sobald es eine Probe zu sehen bekommt. Und es will sehen, wie sich dieser Prinz benimmt, wenn er mit seiner Gemahlin aus dem Schlitten steigt. Da es nun unmöglich ist, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zur Besichtigung des Vorgangs, wie Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten hilft, zuzulassen und die Versicherung der Berichterstatter, dass er als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten half, nicht genügt, so stellt sich eben die Momentphotographie in den Dienst des Sports. Quälend wäre aber auch die Ungewissheit, ob der Badische Finanzminister anders geht, wenn er das Reichsschatzamt verlässt, als der Hessische Minister der Finanzen, wenn er desgleichen tut, oder ob Taft, die Grüße der Volksmenge erwidernd, den Mund weiter öffnet, als Roosevelt im gleichen Falle gewohnt war. Das eben ist der Fortschritt, dass solches Interesse heute schnellere Befriedigung findet als ehedem, ja dass sogar die schnellere Befriedigung solches Interesse heute erzeugen kann. Einst war der Geist auf Bücher angewiesen und der Atem auf Wälder. Wo sollen wir heute in Ruhe unsere Zeitung lesen? Die Papierindustrie blüht, aber sie gibt keinen Schatten. Und die Rotationsmaschine schleicht nachts durch die Straßen und wirbelt den Staub des Tages auf, um ihn für den kommenden Tag wieder abzusetzen.
Als ich ein Knabe war, sah ich den Fortschritt in der Gestalt eines deutsch-fortschrittlichen Abgeordneten. Er vertrat die Freiheit, er vertrat die böhmischen Landgemeinden, er vertrat die Stiefelabsätze. Was wollte ich mehr? Ich hörte zum ersten Mal, die Deutschen in Österreich seien von den Tschechen »vergewaltigt« worden. Ich verstand kein Wort davon, aber ich weinte vor Erregung. Es war eine Phrase, die mir einen Lebensinhalt offenbarte. Später, als die Vergewaltigung in eine Keilerei ausartete, sah ich selbst in dieser keine Äußerung natürlicher Kräfte, sondern die Folge einer Phrase. Da die Politik nicht mehr mein Gefühl ansprach, erkannte ich, dass sie nicht zu meinem Verstande spreche. Politik ist Teilnahme, ohne zu wissen wofür. Wenn sie aber nicht einmal das mehr ist, so kann es leicht geschehen, dass sich uns der Fortschritt als die Weltanschauung des Obmannes der freiwilligen Feuerwehr von Pardubitz enthüllt. Aus solcher Enttäuschung gewöhnte ich mich, das Prinzip der kulturellen Entwicklung nur noch in jenen Regionen des Lebens zu suchen, die dem Sprachenstreit entrückt sind. Ich fand den Fortschritt in allen, ohne in einer einzigen seine Physiognomie zu finden. Ich glaubte, ich sei in eine Maskenleihanstalt geraten. Jetzt war er ein Ausgleicher im sozialen Bankrott, jetzt ein Schaffner an jenem Zug des Herzens, der Hoheiten talwärts führt; bald Wahlagitator, bald Kuppler; hier Nervenarzt, hier Kolporteur. Rechts von mir sagte einer, der keine gerade Nase hatte: Ich sitze mit vier Reichsrittern, drei Markgrafen, zwei Fürsten und einem Herzog im Verwaltungsrat der Konservenfabrik … Das war der Fortschritt. Links von mir sagte eine Dame, die Boutons trug: Man kann die Neunte Symphonie am billigsten im Arbeiterkonzert hören, aber man muss sich dazu schäbig anziehen … Das war der Fortschritt.
Dann sah ich ihn als Ingenieur am Werke. Wir verdanken ihm, dass wir schneller vorwärts kommen. Aber wohin kommen wir? Ich selbst begnügte mich, es als das dringendste Bedürfnis zu empfinden, zu mir zu kommen. Darum lobte ich den Fortschritt und wollte in einer Stadt nicht fürder leben, in der mir Hindernisse und Sehenswürdigkeiten den Weg zum Innenleben verstellen. Eines Tages begann ich aber neuen Mut zu schöpfen, weil das Gerücht zu mir drang, in Wien sei eine Automobildroschke zu sehen gewesen. Die wird wohl schwer zu haben sein, dachte ich, aber wenn ich sie doch einmal erwische, so wird es ein anderes Leben werden! Im Sausewind an den Individualitäten vorbei, die mich an jeder Straßenecke belästigen, — das allein ist schon ein anregendes Erlebnis. Ich machte mich auf, den Fortschritt zu suchen: und fand ihn auf dem Standplatz. Die Automobildroschke stand da als eine Verlockung zu einem Leben ohne Hindernisse, der jeder Wiener aus dem Wege ging. Aber wenn ein solcher geahnt hätte, dass auch sie ihm allen Reiz des Umständlichen bieten konnte, den zu entbehren ihm so schwer fallt, er hätte eine Fahrt riskiert, umso mehr als der Chauffeur durch die Frage: »Fahr’n m’r Euer Gnaden?« das sympathische Bestreben verriet, an die Tradition anzuknüpfen und über den Mangel an Pferden taktvoll hinwegzutäuschen. Ich, ein Freund des Fortschritts, ließ mich nicht lange bitten, und ich kann heute sagen, dass jeder Wiener es bedauern kann, meinem Beispiel nicht gefolgt zu sein. Alle Befürchtungen, es könnte am Ende glatt gehen, sind überflüssig und getrost darf man sich dem neuen Fuhrwerk anvertrauen. Vor allem gab es viel zu sehen. Denn zehn unbeschäftigte Kutscher halfen dem Chauffeur, den Wagen flott zu machen, und hier zeigte es sich, dass unser Fortschritt keineswegs durch die Feindschaft des Alten gehemmt wird, sondern im Gegenteil durch dessen Unterstützung. Ein Wasserer eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er will nach alter Gewohnheit den Wagen waschen, ehe man fahrt. Aber als er dann auch den Pferden den Futtersack reichen wollte, stellte es sich heraus, dass keine da waren. Man konnte sie also nicht einmal abdecken und, schlimmer als das, man hatte nichts bei der Hand, um den Taxameter zuzudecken. Nachdem sich der Wasserer, der die Welt nicht mehr verstand, kopfschüttelnd entfernt hatte, setzte sich trotz alledem wie durch ein Wunder das Automobil in Bewegung, nicht ohne dass es mir aufgefallen war, wie der Chauffeur mit einem fremden Manne geheimnisvoll einige Worte wechselte. Als ich am Ziel ausstieg, sah ich denselben Mann wieder mit dem Chauffeur sprechen. Er war vorausgegangen und hatte das Automobil erwartet. Ich beruhigte mich bei dem Gedanken, dass es ein Vertreter der Firma sein könnte, die es erzeugt hatte, und fand nun Gefallen an der Vorstellung, dass ich als Vertreter des Fortschritts ausersehen war, die Probefahrt zu bestehen. Den Ovationen der Menge, die sich inzwischen angesammelt hatte, entzog ich mich, indem ich zu dem benachbarten Standplatz ging, um die Rückfahrt im Einspänner anzutreten. Der Standplatz war aber leer, weil sämtliche Kutscher zu dem Automobil geeilt waren. Nur einer war auf seinem Bock, der aber schlief, und als ihm ein Polizist, den ich schon aufgeweckt hatte, dieses Benehmen verwies, murmelte er aus dem Schlaf die Worte: »Jetzt könnts mi alle mitananda —« Er meinte hauptsächlich den Fortschritt.
Nun erst war ich begierig, diesen kennen zu lernen. Ich reiste, und wirklich, ich habe ihn oft genug in jener Tätigkeit gesehen, zu der er sich hierzulande nun einmal nicht schicken wollte: als Förderer des Fremdenverkehrs. Ich kam schneller vorwärts, aber zumeist auf falschem Wege, und so wurde ich in der Vermutung bestärkt, der Fortschritt sei ein Hotelportier. Und überall schien um seines Ehrgeizes willen jedes bessere Streben der Menschheit zu stocken. Es war, als ob nicht ein Ziel die Eile der Welt geboten, sondern die Eile das Ziel der Welt bedeutet hätte. Die Füße waren weit voran, doch der Kopf blieb zurück und das Herz ermattete. Weil aber so der Fortschritt vor sich selbst anlangte und schließlich auf Erden nicht mehr ein noch aus wusste, legte er sich eine neue Dimension bei. Er begann Luftschiffe zu bauen; doch an Garantien der Festigkeit konnte er es mit jenen, die bloß Luftschlösser bauen, nicht aufnehmen. Denn die haben die Phantasie, mit der sie selbst dann noch wirtschaften können, wenn alles schief geht. Was immer aber der Fortschritt weiter beginnen mag, ich glaube, er wird sich bei den Katastrophen des Menschengeistes nicht anstelliger zeigen, als ein Geolog beim Erdbeben. Er wird uns, wie hoch er sich auch versteige, keine Himmelsleiter errichten. Wenn er jedoch als Roter Radler Briefe befördert, könnte er immerhin von den Dienstmännern als Satan verschrien werden. Auch mag er dazu helfen, dass die Eifersucht der Weltstädte wachse und sie zu Kraftleistungen sporne. Etwa so: Berlin hat heute schon fünfhundert Messerstecher, Wien ist ein Krähwinkel dagegen; wenn man hier wirklich einmal einen braucht, ist keiner da! … Schließlich überlebt sich auch diese Mode. Nur der Tod stirbt nicht aus. Denn der Fortschritt ist erfinderisch, und dank ihm bedeutet das Leben keine Kerkerhaft mehr, sondern Hinrichtung mit Elektrizität. Wer es aber nicht erst darauf ankommen lassen will, den ganzen Komfort der Neuzeit zu erproben, der hat rechtzeitig Gelegenheit, von jener primitiven Erfindung Gebrauch zu machen, die ihm die erbarmungsvolle Natur an die Hand gegeben hat: von der Schnur, mit der der Mensch auf die Welt kommt!