27. Juli 2016 | Kategorie: Artikel, Doping, Medizin, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muss
und was sonst nicht wüsste, wozu das Dasein ist,
wenn es nicht eben dazu wäre, dass man da ist.
Karl Kraus
Es ist wieder soweit. Nach wie immer angemessen verspätet veröffentlichten Dopingbefunden, setzt sich das IOC bei Olympia 2016 erneut an die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs, unter sich den Berg des nicht Nachweisbaren. Das Versagen scheint Programm. Wortwörtlich geht alles den Bach herunter. Ist es neu? Keineswegs. Nicht zufällig regte sich das in den sechziger-siebziger Wohlstandsjahren des 20. Jahrhunderts, als nach gestilltem Grundbedarf, nach Not und Frust, zunächst die Lust auf Leben, dann die Lust auf nur immer mehr. Lebensqualität nannte und nennt sich das, werbebegleitet etabliert. Aber die Natur folgt einer eigenen Vernunft und gibt nicht freiwillig, was die Unvernunft dem Zeitgeist souffliert. Doping hat als Symptomenkomplex einer Krankheit zu gelten, die sich in zeitgeisttaumeliger Selbstüberschätzung über Natur erheben möchte und dem Körper auch da noch etwas abfordert, wo die Einmaligkeit individueller Anatomie sich verweigert. Als Erfolg tarnt sich das Suchtmittel, in Dollar und Euro gemessen, das den Teufel mit dem Beelzebub versöhnen möchte. Es mutet wie ein Treppenwitz an, dass der sogenannte Fortschritt zeitgleich mit dem Optimierungswahn eine Industrie hervorgebracht hat, die stets die gewünschte Pille bereitstellt, deren Nebenwirkungen wiederum die Entwicklung der nächsten profitablen Pillengeneration erfordern. Beruhigungsmittel zum Schlafen für die Nacht ohne Rücksicht auf menschliche Verluste, siehe Contergan, für den Tag Aufputschmittel von Coffein über Captagon bis Kokain. Bei der Tour de France ereilt damals einen Fahrer der Tod im Sattel, ein Boxer stirbt nach einem Kampf infolge einer Überdosis Amphetamin. Viele andere sollten folgen. Dennoch, alles ist seither wohlbestellt in Gesellschaft und Sport. My only hope is dope!
Die Rock-Gruppe „Rolling Stones“ veröffentlichte ein im Rückblick prophetisches anmutendes Lied von den „kleinen Helfern“, ließ die Mütter zu „gelben Pillen“ – Captagon war gelb – greifen und empfahl am Schluss gegen die Langeweile auf dem Weg zum Glück eine Überdosis. Anabolika, etwa zeitgleich zum Aufbau Schwerstkranker entwickelt und dort mit begrenzter Wirkung, aber profitabel, mutierten zur Leistungsanschubdroge für Sportler, von denen viele krank wurden bis auf den Tod. Diese unappetitliche Geschichte schrieb offiziell gern nur dem sogenannten Ostblock, explizit der ehemaligen DDR zu. Dies ist in den Bereich der Legende zu verweisen. „Politisch korrekt“ wurden Ergebnisse über Doping im Sport vor der Wende lediglich verschwiegen. Dabei hatte es im gesamten „Westen“ dasselbe gegeben und gab es hier wie dort weiter. 1996, sechs Monate vor Olympia Atlanta tat die Amerikanische Kontrollbehörde bekannt, man habe leider kein Geld mehr für Kontrollen und alle schwiegen zu dieser Monstrosität. Wer überrascht war, der hatte nur versäumt Augen und Ohren zu öffnen. Spitzensport war und ist seit Anbeginn komprimierter Zeitgeist unter Laborbedingungen. Er bildet wie ab, was Gesellschaft als zu Erstrebendes ansieht, spiegelt das Große im Kleinen und geriert sich als Maßstab für das, was als Leistung zu gelten hat. Hier wird die Saat fruchtbar, als deren Auswuchs sich eine Idee von Geist und Körper bahnbricht, die eine fragwürdigste, undefinierte Vollkommenheit von Natur mit allen verfügbaren Mitteln fordert. Es gab und gibt kein Unrechtsbewusstsein für solches „Körpertuning“, siehe die halbherzige Russlandschelte aktuell. Glaubt irgendjemand, das sei in anderen erfolgreichen Staaten nicht so? Stichwörter Kenia, Jamaika, USA , oder Namen Gatlin, Perkovic etc. Aber weiter im Text.
Anabolika im Spitzensport waren damals als erster breit angelegter Tabubruch bestens geeignet, kosmetisch-pharmakologischer Körperoptimierung zu Akzeptanz zu verhelfen. Die bekannteste und meistgeschluckte dieser Pillen verursachte schwere Leberschäden. Andere Mittel wurden gespritzt und sollten daher angeblich weniger gefährlich sein. Zwar wuchsen die Muskeln tatsächlich, aber auch die Blutgefäße, nämlich nach innen. Dabei verringert sich deren Durchmesser, d.h. sie verschließen sich langsam. Schlaganfall und Herzinfarkt erfolgen, wenn die Erfolge längst verblasst sind. Dies gilt auch für Testosteron oder Wachstumshormone. Spätfolgen von Epo und ungezählten unbekannten Substanzen stehen noch aus. Dass Mediziner Athleten dazu geraten haben, ist unbegreiflich und ein Ende unabsehbar. Das wird bei sportlichen Großereignissen eindrucksvoll vorgeführt, demnächst in Rio. Eine Fußnote dazu! Dem egalitären Anblick optimierter Körper entspricht – welche Ironie! – die verbale Konsonanz der Reportage. Da werden im Dutzend „Emotionen“ über „Emotionen“ beschworen, wo die unterschiedliche Feinheit der Stimmungen leicht Treffenderes oder Tieferes an Beschreibung erlaubt hätten. Der Gleichmacherei hochgezüchteter Anatomie folgt die der Sprache auf dem Fuße.
Doping im Sport bildet nicht etwa die Ausnahme, sondern gibt nach dem Motto “ Gleiches Recht für alle“, die Regeln für unzählige Nachahmer in allen Bereichen der Gesellschaft vor. Schlüssig wird das Verhalten aller Beteiligten dann, wenn man eine zunehmend unkritische Einstellung zu allen ein Mehr an Genuss und Lebenslust versprechenden Stoffen unterstellt . Allein körperliche Perfektion garantierten Erfolg, seien Schlüssel für eine exhibitionistische Lust am Leben, heißt es, ja, sie seien das Leben selbst- so wird per Werbung multimedial erfolgreich suggeriert , von Ballermann bis Bohlen, von Sixpack bis Botox, von Topmodel bis Topblödel. Da darf dann auch der Anatomie messerscharf nachgeholfen werden.Die oben genannten Anabolika sind übrigens in Leistungssport und Medizin weitgehend verschwunden, nicht etwa weil zu gefährlich, sondern weil viel zu leicht nachzuweisen. Aber es gibt sie noch, und es wird weiterhin sehr viel Geld damit verdient. Das Zeug ist mehr etwas für die „Dummen“, die sich das z. B. in den Kraftstudios und Fitnesstempeln in abenteuerlichen Dosierungen verabreichen. Für die Hochmögenden stehen subtilere Mittel für jeden Bedarf zur Verfügung. Schon im August 2002 ließ sich auf neun von zehn Euro-Scheinen Kokain nachweisen, welche die Konsumenten offenbar fein gerollt benutzt hatten, so im „Wallstreet Journal Europa“ von vor über zehn Jahren nachzulesen. Alles wird getan, um „toll“ zu sein. Körperoptimierung mit medizinisch unbegrenzten Möglichkeiten ist akzeptierte Lebensform für Leistungserbringer verschiedenster Provenienz, nicht nur auf Hochniveau, sondern auf allen Ebenen, zugunsten eines Körperkultes, der noch die absurdeste Mode vollendet bedient.
Dem Schönheitsideal einer Gesellschaft huldigend, die Vitalität für Leben und Individualität für Persönlichkeit hält, die Respekt längst der Achtung vorgezogen hat und Kosmetik als Lehre vom Kosmos missversteht, opfert der moderne Psycho-Klon auf dem zum Operationstisch mutierten Altar der Eitelkeiten eine mögliche Identität, Gesundheit,Lebensglück, und alle gucken weg oder dürfen sogar TV-gerecht zusehen. Nach Brust-,Gesichts-, Nasen- und Ohren-, nach Brust- und Bauchkorrekturen, deren medizinische Notwendigkeit in den allermeisten Fällen kein Hippokrates je beglaubigt hätte, wird als vorläufig letzter Schritt zum zivilisatorischen Tiefpunkt die kosmetische Beschneidung für Frauen angedient. Nicht etwa in Afrika, wo es einen zynischen Fortschritt darstellte, sondern in der wildwestlichen Zivilisation – man spürt fast das Zerbröseln des Wortes Zivilisation auf der Zunge -, wo er einem pseudoperfekten Schritt Genüge tun soll, indem er vorspiegelt eine Natur durch Deformieren zu verbessern. Den Erbringern dieser Leistung, die in der Hauptsache Hodenträger sind und weder an ihren Beutel noch an ihren Geldbeutel irgendjemand ließen, würde die ärztliche Approbation sofort entzogen, wäre nicht längst der vormalige Arzt zum gewinnorientierten Leistungserbringer im Gesundheitswesen mutiert. Als solcher wird er von seinesgleichen sowie einer Gesellschaft akzeptiert, die aktive und passive Konsumfähigkeit zum allein seligmachenden Lebensinhalt stilisiert hat. Eine durchsexualisierte, pharmakologisch und kosmetisch optimal aufbereitete Spezies schluckt sich ins Endorphinparadies und begreift die zu Markte getragene Haut mediengerecht als Benutzeroberfläche. Pharmakologisch-kosmetische Komplex, das klingt wie eine Diagnose. Tattoo-tata! Der kategorische Imperativ ist klammheimlich durch das kategorische Präservativ ersetzt und so öffentlich-demonstrativ der Körper dem Geist vorgezogen, was in diesem Fall sogar Sinn macht. Lust, Genuss, Karriere und auch noch den kürzesten Erfolg ohne jede Rücksicht auf körperliche Unversehrtheit, bis zum Burnout und noch darüber hinaus, mit Mitteln zweifelhaftester Art zu befördern, so die Losung, deren Doppelbedeutung aus der Jägersprache mir nie einleuchtender erschien. Sie gibt sich als Lösung aus und verweigert jede Erlösung, sei denn um den Preis des Lebens.
Als Zugabe der Blumenkindergeneration kamen schon Haschisch und LSD zu ungeahnten Ehren und wurden von den Protagonisten der Studentenbewegung aufgenommen. Alljährlich gesellen sich seither neue Stoffe, Pseudolebenselixiere und diverse Lustpillen hinzu. Zurück bleiben ungezählte Versehrte, von denen viele nicht wissen, dass sie es sind. Der rundum-harmlos Bürger behilft sich mit Drinks, Multivitamincocktails, Energyzeug, netten Lifestyleprodukten, damit er den Alltag gesellschaftskompatibel mittun kann. Nebenbei konsumiert er einen Sport, der ihm mehr entspricht als ihm lieb sein muss. Aller zusammen erbarmt sich am Ende die Volksdroge Alkohol, nach den Älteren auch der Jüngsten, bis sich Oma auf Koma reimt. Es beginnt mit Drink und endet im Trunk. Von den Millionen Alkoholikern abgesehen, gibt es schon rund eineinhalb Millionen Menschen, die als Medikamentenabhängige eine statistische Größe bilden dürfen. Die haben keine Wahl mehr. Es soll einem gutgehen, aber es geht nicht gut. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt? Nein! Wer nicht wagen will, wird als Verlierer denunziert und Spott und Verachtung preisgegeben. Jener moderne Sophist, der im Zweiten den ersten Verlierer ausmachte, verwies damit eine ganze Menschheit auf die Plätze. Die systemische Forderung, von jenseits des Atlantik herübergeschwappt, Erster von was auch immer sein zu sollen, wird als bigottgegeben hingenommen, damit man mehr als nur dabei sein könne. Diese inhumane Drohgebärde gibt sich ersichtlich nicht mit dem Feld des Sports zufrieden. Das ist Gesellschaft dabei.
Brot und Spiele in den Arenen der Antike verlangten von den Beteiligten den Kampf bis auf den Tod. Da gibt man sich im Moment noch etwas schamhaft. Für die Schlagzeile reicht das mittelbare Ende immerhin. Sie heißen Griffith-Joyner, Pantani, Prince, Michael Jackson, Kurt Cobain oder Amy Winehouse. Die Spätfolgen für die meisten gehen in den Tagesereignissen unter. Es wird allerorten gut bezahlt. Die japanischen Sumos nehmen ihr vorzeitiges Ende als gegeben hin für einen Erfolg, der eben kein Ruhm ist, weil alles nach Karriereende sehr schnell dem Vergessen anheimfällt. Es bedarf einer inflationären Zahl von Halls of Fame und Sternboulevards, um wenigstens auf ein paar Jahre hin Erinnerung zu konservieren.
Gegenwärtig gehen die Möglichkeiten der Optimierung in Richtung Designer-Baby und Gen-Doping. Durch Veränderungen der Erbsubstanz sollen Kens und Barbies enstehen. Man stelle sich einmal Supergehirne, die Sehschärfe eines Adlers, den Geruchssinn eines Hundes oder Ähnliches vor. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, und die Folgen unabsehbar wie immer, wenn der Mensch Hand an den Menschen legt. Es können ungebremste Blutgefäßneubildung und Blutneubildung für Ausdauer einerseits oder exzessiver Muskelaufbau für Kraftgewinn andererseits erzeugt werden. Im Tierversuch nannte man ein Ergebnis bezeichnenderweise „Schwarzenegger-Mäuse“, allerdings um den Preis halbierter Lebenserwartung. Dass die genetischen Eingriffe zumindest anfangs kaum nachzuweisen sein werden, weckt Begehrlichkeiten nicht nur im Sport. Doping wirkt nolens volens als Katalysator gesellschaftlicher Prozesse nicht nur im Sport, bei denen Schnelligkeit und Leistung und ein sich ständig wandelnder Schönheitsbegriff jegliche Vernunft und Sinnhaftigkeit beängstigend dominieren. So ist im multimedial entgeisteten Zeitalter die Huldigung an eine Körperkultur zu konstatieren, die sich auch teilenthirnen ließe, wenn es der Kopfform frommte und kosmetisch einwandfrei geschähe. Die Schädelkalotte diente zeitgerecht als Hohlraumversiegelung, das Resthirn dürfte intellektuelle Mülltrennung betreiben. Habe ich schon gesagt, dass es dabei natürlich immer um Profit geht? Es lebe der Konsumo sapiens – solang er lebt! Oder genauer: Konsumo debilis statt homo sapiens! Die Schrumpfköpfe sind unter uns. Einmal für einen ephemeren Augenblick wahrgenommen zu werden, ist das nicht genug für ein ganzes Menschenleben? Nein, ist es nicht. Es ist nicht diese Lust gemeint, die Ewigkeit will. Auch hier gilt Adorno: Es gibt nichts Harmloses mehr.
19. März 2014 | Kategorie: Medizin, Notizen zur Zeit, Sterbehilfe, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Da die Diskussion immer wieder auflammt, hier nochmal zum Mitdenken!
Vorab der Originaltext des Hippokratischen Eides, damit ein jeder die Risiken und Nebenwirkungen seines Arzt oder Apothekers zu erkennen vermag.
Ich schwöre bei Appollon dem Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen rufe, daß ich nach meinem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Vereinbarung erfüllen werde:
Den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleichzuachten meinen Eltern und ihm an dem Lebensunterhalt Gemeinschaft zu geben und ihn Anteil nehmen zu lassen an dem Lebensnotwendigen, wenn er dessen bedarf, und das Geschlecht, das von ihm stammt, meinen männlichen Geschwistern gleichzustellen und sie diese Kunst zu lehren, wenn es ihr Wunsch ist, sie zu erlernen ohne Entgelt und Vereinbarung und an Rat und Vortrag und jeder sonstigen Belehrung teilnehmen zu lassen meine und meines Lehrers Söhne sowie diejenigen Schüler, die durch Vereinbarung gebunden und vereidigt sind nach ärztlichem Brauch, jedoch keinen anderen.
Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht. Ich werde niemandem, auch auf eine Bitte nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben: Heilig und fromm werde ich mein Leben bewahren und meine Kunst.
Ich werde niemals Kranke schneiden, die an Blasenstein leiden, sondern dies den Männern überlassen, die dies Gewerbe versehen.
In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven.
Was immer ich sehe und höre, bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung, im Leben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles Derartige als solches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf.
Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht breche, so möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg beschieden sein, dazu Ruhm unter allen Menschen für alle Zeit; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, dessen Gegenteil.
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Man möchte es mehr als nur einer Laune des Zeitgeistes zurechnen, dass ohne Not seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Hippokratische Eid nach dem bestandenen Medizinexamen als zwar unausgesprochene, aber präsente Verpflichtung keine wesentliche Rolle mehr spielte und in historischen Kontext verbannt wurde. Neues, Besseres gedachte man zu formulieren, beabsichtigt von Leuten, die wahrscheinlich auch ein „Vater Unser“ aktualisieren würden. Mir ist über einen verbesserten, also zeitgemäß blankgeputzten, allgemein gültigen Eid in Europa nichts bekannt, obwohl sich seither vieles geändert hat. Es gibt die Genfer Deklaration oder Genfer Gelöbnis, und sie wurde im September 1948 als Hippokrates – Ersatz verabschiedet. Sie wurde mehrfach revidiert, insgesamt schon fünfmal seither. Ich musste es so wenig sprechen wie alle anderen mir bekannten Ärzte. Denn es geschah zu der Zeit, dass der Mensch großzügiger an seinesgleichen Hand anzulegen gedachte, angefangen bei vermehrten Schwangerschaftsabbrüchen, zunehmend fragwürdigen kosmetischen Operationen bis hin zu nunmehr möglichem, genetisch determinierbarem Nachwuchs. Der Körper eingeholt vom Ungeist medizinischer Möglichmacher? Schöne Neue Welt!
Dazu passte vorzüglich ein Artikel zu Sterbehilfe, der ein neues Kapitel zum Umgang mit Leben und Tod im 21. Jahrhundert aufzuschlagen für zeitgemäß hielt. Gemeint war aber nicht die eigentliche Sterbehilfe, sondern es ging um die Planung des vorhersehbaren Todes, nämlich die Hilfe beim Selbstmord Schwerkranker zum von jenen erwünschten Zeitpunkt. Es handelte sich dabei um die sattsam bekannte Unterwanderung von Öffentlichkeit durch nett und in bester Absicht eingestreute populäre Meinungen, die wie der Kai aus der Kiste kommen und sich irgendwann als notwendige Wahrheit mit der Aufforderung zur Tat präsentieren, genau genommen aber den Knüppel aus dem Sack lassen. In dem Artikel teilte ein Arzt mit, dass er gegen die negative Entscheidung zur Sterbehilfe des Deutschen Ärztetages als „Arzt“ Einspruch erhebe. Das zu tun ist sein gutes Recht, aber es mit dem Zusatz „als Arzt“ zu versehen, erscheint mehr als fragwürdig, hat doch der Urvater der Ärzte, Hippokrates in seinem berühmten Eid ausgeführt: “Auch werde ich niemandem auf seine Bitte hin ein tödlich wirkendes Mittel geben, noch werde ich einen derartigen Rat erteilen.“ Auf wen also beruft sich jemand, wenn er „als Arzt“ Einspruch erhebt? Hippokrates als Urvater kann es nicht sein und die Großen in seiner Nachfolge auch nicht. „Ärzte töten nicht und helfen nicht bei Selbsttötung“, so wird der Deutsche Ärztetag im Folgenden zitiert und dafür vom Artikelschreiber kritisiert, obwohl auch jener sich in hippokratischer Tradition wähnt. Deshalb muss widersprochen werden, wenn in dem Artikel weiter behauptet wird, „Ärzte töten zum Beispiel Todeskandidaten in Ländern, in denen es die Todesstrafe gibt, und in Deutschland töten Ärzte im Rahmen legaler Abtreibungen mehr als 150 000 Mal jährlich gesundes Leben.“ So sehr die Fakten über Tötungen und Abtreibungen stimmen mögen, so wenig darf man die Ausführenden der Tat als Ärzte in Hippokrates Sinne bezeichnen, denn ein Arzt in seiner Nachfolge tötet nicht.
Ich verkenne keinesfalls die Segnungen der modernen Medizin und bin nicht so menschenfremd, Abtreibungen angesichts vieler Notlagen in Bausch und Bogen abzulehnen. Dass ein Eingriff von medizinisch ausgebildetem Personal durchgeführt werden muss, liegt auf der Hand. Dem Arzt wird jeder dieser Eingriffe sehr schwer fallen, wie auch den Frauen. Darüber besteht kein Zweifel. Aber sind alle Ausführenden als Ärzte oder nur als dazu befähigte Fachleute, als Mediziner tätig, vor allem dann, wenn es um Geld geht? Nicht zufällig wird die Bezeichnung Mediziner inzwischen fast gleichrangig zu der des Arztes verwendet, und es spricht einiges dafür, dass sich die Berufsangabe „Mediziner“ für die Generation des modernen Gesundheitswesens durchsetzen könnte. Leitet sie sich doch nicht mehr uneingeschränkt von der Verbindlichkeit etwa eines hippokratischen Eides ab, sondern es übernimmt das Gesetz die Führung im Gesundheitswesen, beschreibt den Verantwortungsrahmen für jede Wohltat und Untat und erlaubt in naher Zukunft vielleicht sogar den finalen pharmakologischen Abschuss. Alles legal versteht sich.
Die Modifikation zunächst zum Mediziner darf bei zu vielen als im Werden angesehen werden, die Entwicklung zum Pejorativum „Leistungserbringer im Gesundheitswesen“ ist mit den Auswüchsen der kosmetischen Medizin als weitgehend abgeschlossen zu betrachten. Der Arzt hingegen verhält sich zum Mediziner wie der Helfer zum Vollstrecker. Während der Arzt sich am „nil nocere“ – niemals Schaden – ausrichtet, welches den rücksichtsvollsten Umgang mit dem anvertrauten Menschen schon im Worte beginnt, geriert sich der Mediziner zu oft als Ausführungsbeauftragter moderner Therapiemöglichkeiten, wie zweifelhaft sie auch sein mögen. Der Leistungserbringer im Gesundheitswesen orientiert sich dann nur mehr am zu erzielenden Gewinn. Machte man den Arzt zum Todeshelfer, weil er sich notwendig mit todbringenden Wirkungen von Medikamenten auskennen muss – erlernt allein zum Schutze seiner Patienten ! -, so rückt ihn das in die Nähe des Henkers. Das möchte der Bravbürger nämlich nicht gern selbst machen und auch nicht zusehen und wünscht sich jemand anders, vorzugsweise den Arzt zum Abschalten des Gerätes Mensch. Das könnte aber im Prinzip jeder, aber der Jedermann möchte das nicht so gern.
Bewusst verwende ich nicht das Wort „Sterbehilfe“, denn die gibt es, richtig verstanden, schon lange, und sie hat meine volle, auch tatkräftige Unterstützung. Aber nicht als Tötungsinstrument ist sie gedacht, sondern als Begleitung des Menschen auf seinem letzten Wege unter aller möglichen Zuwendung. Sie wird durchgeführt von den Menschen in Hospizen, von Angehörigen zu Hause, von Personal in den Krankenhäusern, auf den Palliativstationen und von den Hausärzten draußen in den Wohnungen ihrer Patienten. Da muss der Arzt dann schon mal jeden Tag hingehen und Angst nehmen, auch wenn das nicht bezahlt wird. Diese Hilfe begleitet im wahrsten Sinne des Wortes das Sterben und nimmt mit der Gabe höchstdosierter Medikamente – zur kompletten Linderung von Leiden – auch den dadurch bedingten eventuell eher eintretenden Tod in Kauf. Dieser Eingriff in das menschliche Leben und Sterben geht weit genug, und ich, als Arzt, habe nie anderes gebraucht. Wer aber Hilfe zur Selbsttötung will, hat mehr vor und soll sich willige Helfer schaffen. Möge sich dazu berufen fühlen, wer immer will, auch Mediziner. Ich stünde als Arzt niemals zur Verfügung und auch nicht als Mensch. Henkersknecht liegt mir nicht, auch nicht als der von der immer laut schweigenden Mehrheit akzeptierter Hiwi oder vom Staat gedeckter Täter. Denn die Tat ausführen soll, der sie fordert, und so sollte sich der erst einmal selbst befragen, ob er es könnte und begriffe dann, was „den Tod geben“ bedeutet. Stattdessen mal eben den Arzt zu fordern, offenbart ein fundamentales Missverständnis, mit dem ich ein für alle Mal aufgeräumt zu haben hoffe. Ein Arzt tötet per definitionem nicht.
25. Juli 2013 | Kategorie: Hodenträger, Medizin, Notizen zur Zeit
Deutsches Ärzteblatt 28.06.2013
ÄSTHETISCHE CHIRURGIE
Zahl der Schamlippenverkleinerungen steigt
Intimchirurgische Eingriffe bei Frauen werden immer häufiger. 2011 nahmen die plastischen Chirurgen in Deutschland allein 5440 Schamlippenkorrekturen vor, wie aus einer Erhebung der Deutschen Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC) hervorgeht. Solche Operationen seien i n d e r M i t t e d e r G e s e l l s c h a f t angekommen, teilte die Fachgesellschaft mit. „Wir werden darüber diskutieren müssen, wie man mit dem Thema umgeht“, sagte Prof. Dr. med. Peter M. Vogt, Präsident der DGPRÄC. In vielen Fällen seien die Operationen notwendig, etwa bei stark vergrößerten, schmerzhaften Schamlippen. „Aber natürlich sorgt die s t a r k e m e d i a l e A u f m e r k s a m k e i t auch dafür, dass viele Frauen ihre Schamlippen nicht mehr als ,schön‘ empfinden.“ Da es an S t a n d a r d s mangele, arbeite die DGPRÄC an einer S 1- L e i t l i n i e zur Intimchirurgie der Frau. Der W e l t ä r z t i n n e n b u n d hingegen hatte sich kürzlich g e g e n i n t i m c h i r u r g i s c h e E i n g r i f f e aus rein ästhetischen Gründen ausgesprochen. Weitere Ergebnisse: Brustvergrößerungen, Augenlidstraffungen und Fettabsaugungen sind die häufigsten ästhetische Operationen. Insgesamt wurden mehr als 138 000 Eingriffe gezählt. Die Daten stammen aus einer Umfrage unter DGPRÄC-Mitgliedern. G e n a u e Z a h l e n über alle „Schönheitsoperationen“ in Deutschland g i b t e s n i c h t.
Jetzt weiß ich endlich, wo die Mitte der Gesellschaft anzusiedeln ist. Sie befindet sich exakt in der Mitte der Deutschen Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC), die den Menschen nicht nur plastisch, rekonstruktiv und ästhetisch nach ärztlicher Notwendigkeit versorgt, sondern jeden kosmetisch aktuell erwünschten Körperteil in die Mitte ihrer Gesellschaft aufnimmt und gesellschaftskompatibel herzurichten bereit ist. Da wird die Schönheit einer Scham von einer Gesellschaft ins chirurgisch normierte Auge gefasst, der doch gewöhnlich jede Scham abgeht, wenn es den Umsatz fördert. „Die Gesellschaft ist genitalbewusster geworden“, sagte dazu vor einem Jahr ein Dr. Schmidt-Rhode in der Zeitschrift Brigitte. „Vor allem junge Frauen, unter 35, haben heute höhere ästhetische Ansprüche als früher“, führte er aus. Ein genitalbewusster, ästhetisch anspruchsvoller Gynäkologe, natürlich Hodenträger, machte sich da mausig, der, wie seine Kollegen, an seine Hoden aus ästhetisch-kosmetischen Gründen niemals irgendjemand lassen würde. In Hamburg sah ich in der Bahn eine Reklame: „Keine falsche Scham“. Welche bitte ist denn die gesellschaftlich, ästhetisch, genitalbewusst richtige Scham? Die trendkorrekt Operierte ? Wie wärs mit einer S 1- L e i t l i n i e zur Intimchirurgie des Mannes, etwas wie „Hoden auf den Tisch!“ ? Der pharmazeutisch-kosmetische Komplex optimiert seine Geldquellen. Nach Botoxlippenhalloween kommt er mit einer neuerlichen kosmetischen Lüge, die ein wahrhaft natürliches Lippenbekenntnis der Natur entreißt und ein Geschäft daraus macht. Es erschreckt mich zutiefst, wie leicht sich Frauen immer wieder von Hodenträgern instrumentalisieren lassen, die niemals die Pille für den Mann einnähmen und sich den Hodensack verkleinern ließen, der unstrittig großmächtig dort sitzt, wo die kleinen Schamlippen naturgemäß anzutreffen sind. Hat schon einmal irgendwer etwas von einer Empfehlung zur Hodenkorrektur gehört, ja doch mindestens für männliche Radfahrer? Ich nicht. Die Frauen sollten zuerst den ä s t h e t i s c h k o r r e k t e n H o d e n zur Bedingung machen, vorzugsweise zuerst beim Operateur, bevor sie wieder ein Stück von sich auf dem Altar einer Schönheitschirurgie opfern, deren Hohepriester durchweg Hodenträger sind, die, wenn sie zum Herzen greifen, lediglich den Sitz der Geldtasche überprüfen. Wer wirklich Beschwerden hat, darf oder muss sich sogar operieren lassen. Aber das ist klar und außer Diskussion – auch für den W e l t ä r z t i n n e n b u n d. Wer es jetzt immer noch nicht glaubt, soll sich die Tour de France noch einmal anschauen, mit seit Jahrzehnten genital unkorrigierten Hodenträgern. Fazit: Liebe Frauen, hört nicht auf Hodenträger!
Zum Nachweis eine Ä r z t i n : http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro-psychiatrische_krankheiten/article/534924/voellig-normal-wenn-kleinen-schamlippen-grossen-hinausragen.html