Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Druck und Nachdruck . Von Karl Kraus

31. Juli 2015 | Kategorie: Artikel

Die Fackel

Nr. 293 ENDE DEZEMBER 1909 XI. JAHR   S. 23-28

Im Vertrauen darauf, dass die zeitgenössische Publizistik ohnehin nicht mehr den Mut zur Zitierung der ‚Fackel‘ und nur noch die Lust zum Stehlen aufbringen werde, habe ich kürzlich bei der Neugestaltung des Titelblattes auf das Nachdrucksverbot verzichtet. Auf dem Umschlag der vorliegenden Nummer ist es wieder zu lesen. Denn jetzt erst sehe ich, wie notwendig es war. Ein Ausschnittbureau sendet mir nämlich einige Nachdrucke, die mir viel mehr Verdruss als Freude bereiten und die mir beweisen, dass man es endgiltig aufgeben muss, Respekt vor dem Gedanken zu verlangen, und dass mehr als der Beifall für die Meinung auf dem heutigen Leserniveau nicht zu erreichen ist. Nun weiß man ja, dass ich gerade darauf und auf nichts lieber verzichte in einer durch und durch verjournalisierten Zeit, der der Geist zur Information dient und die taube Ohren hat für den Einklang von Inhalt und Form. Sie unterscheidet »schreiben können« von »Recht haben«, versichert, »zwar nicht mit allem einverstanden zu sein, aber …«, und hat keine Ahnung von der geheimnisvollen Unmöglichkeit, das, worin ich »Recht habe«, anders als eben so zu sagen, wie ich es sage, und darin, wie ich es sage, etwas anderes haben zu können, als Recht. Sie glaubt, es handle sich vorweg um den Stoff und hinterher komme eine Forderung ästhetischer Sauberkeit. Wenn ich ihr sagte, dass ich an zehn Seiten zwei Stunden und an einer Zeile zehn Stunden arbeite, diese sprachverlassene Zeit würde es unverständlich finden. Und wenn ich verriete, dass ich um einer Konjunktion willen, die mir während des Druckes zu Missfallen beginnt, die halbe Auflage vernichten lasse, so würde sie sagen, dies sei närrisch, denn sie, auf die es doch ankomme, bemerke den Unterschied nicht, und ich sollte Zeit und Geld an populärere Bestrebungen wenden.

Nun kann man freilich über religiöse Angelegenheiten nicht streiten, und die Zeit muss sich damit abfinden, dass einer, der sich als einen Todfeind des Ästhetentums gibt, das Geheimnis eines Doppelpunkts für wichtiger hält als die Probleme der Sozialpolitik. Wir können darüber nicht streiten, ob der Schöpfer oder der Nützer dem Geist näher ist; ob es auf den Umfang des Schöpferischen ankommt und ob nicht in der Wonne sprachlicher Zeugung aus dem Chaos eine Welt wird. Unverständlich ist es wie dieses: die leiseste Belichtung oder Beschattung, Tönung und Färbung eines Gedankens — nur solche Arbeit ist wahrhaft unverloren, so pedantisch, lächerlich und sinnlos sie für die unmittelbare Wirkung auch sein mag, kommt irgend wann der Allgemeinheit zugute und bringt ihr zuletzt jene Meinungen als wohlverdiente Ernte ein, die sie sich heute mit frevler Gier auf dem Halm kauft. Alles Geschaffene bleibt, wie es präformiert war, ehe es geschaffen wurde. Der Künstler holt es als ein Fertiges vom Himmel herunter. Die Ewigkeit ist ohne Anfang. Lyrik oder ein Witz: die Arbeit liegt zwischen dem Selbst –  verständlichen und dem Endgiltigen. Es werde immer wieder Licht. Es war schon da und sammle sich wieder aus der Farbenreihe. Wissenschaft ist Spektralanalyse, Kunst ist Lichtsynthese. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut, der Künstler sammelt sie zum Gedanken. Der Gedanke ist ein Gefundenes, ein Wiedergefundenes. Und wer ihn nur selbst sucht, ist ein ehrlicher Finder, ihm gehört er, auch wenn ihn vor ihm schon ein anderer gefunden hätte …

Doch was hat dies mit einem Nachdruckverbot zu schaffen? Der Leser hat vielleicht keine Lust, sich selbst noch mit der Erklärung von Narrheiten zum Narren halten zu lassen. Von allen Autoren, die ihn bedienen, bin ich der weitaus größte Schwindler: das Publikum dankt mir für Brot und ich sage hinterdrein, dass es Steine waren. Wenn ich jemand an meinen Schreibtisch ließe und ihm die Zumutungen zeigte, die mir die Post eines Tages bringt, er würde über die Zähigkeit staunen, die hier an einen Bäckerladen pocht und sich jahraus jahrein mit einer altbackenen Illusion zufrieden gibt. Kein Hund nähme mehr einen Bissen von mir, wenn er wüsste, wie unverdaulich er ist. Eine der groteskesten Erscheinungen: dieser unbeirrbare Glaube an den Inhalt. Weil drauf »Cyankali« steht, fressen sie’s und holen es noch aus der Tabaktrafik. Ich lechze nach dem Zeitpunkt, wo man mir auf die Inkongruenz zwischen mir und meinen Stoffen, meinen Aktualitäten, meiner Verbreitung kommen und mich der Ehre überheben wird, zwischen Trabukkos, Staatslotterielosen, Revolverblättern und Ansichtskarten Aphorismen zu verschleißen. Bis dahin wird’s noch manchmal heißen: Wo er recht hat, hat er recht. Ich falle der Entwicklung nicht in den Arm. Die Kenner, die solches Zögern von einer geschäftlichen Raison ableiten — aber wenn ich ihnen sage, dass ich halbe Auflagen um eines Wortes willen vernichten lasse, mit der Fabel kommen, dass ich mir’s eben leisten könne —, sie sollen auch leben. Inzwischen, bis einmal die Geschichte der ‚Fackel‘ von reinerer Hand geschrieben wird, will ich wenigstens dafür sorgen, dass ihr geistiges Bild nicht entstellt werde.

Es geschieht durch ein niederträchtiges System des Nachdrucks, dem ich hiermit ein für allemal den Riegel vorschiebe. Ich habe nichts dagegen, dass man Publikationen von mir, die ich heute unpubliziert wünschte, mit dem richtigen Datum zitiert. Auch was ich verwerfe, gehört zu mir, und ich bin nicht imstande, irgendetwas zu bereuen, was mir heute als Sünde erscheint. Was aus den ersten Jahren der ‚Fackel‘ aufhebenswert ist, kommt in die Bücher; trotzdem räume ich jedem das Recht ein, mir Irrtümer, Fehler, Widersprüche, so sehr er Lust hat, vorzuhalten. Aber ich gestatte keinem, eine Äußerung aus den letzten drei Jahren in wohlwollender Absicht zu zitieren, wenn er sich nicht verpflichtet, an die Kontrolle des Nachdrucks wenigstens den hundertsten Teil der Sorgfalt zu wenden, die ich an die Kontrolle des Drucks gewendet habe. Diese Mahnung geht eo ipso nur solche Redakteure an, die mir eine ihnen bequeme Meinung abknöpfen wollen und den Nachdruck mit jenen Worten einleiten, die mich sofort zur entgegengesetzten Meinung entflammen könnten: »Mit Recht bemerkt der bekannte Herausgeber der ‚Fackel‘«. Wenn also der Unfug schon geduldet werden soll, so müsste wenigstens der Text, der nach solcher Einleitung noch immer seinen künstlerischen Ursprung behaupten könnte, unverändert dastehen. Die Redakteure nehmen aber, was ihnen passt, und markieren die Auslassungen nicht einmal durch Punktreihen. Welchem organischen Ganzen der Teil genommen war, ist dann nicht mehr zu erkennen. Dass man durch Streichung eine Plattheit in einen Gedanken, aber auch einen Gedanken in eine Plattheit verwandeln kann, verstehen diese sprachverlassenen Meinungssucher nicht. Und sie tun ein Übriges: sie sehen auch nicht nach, wie der Setzer ihr Flickwerk zugerichtet hat. In einer deutschen Monatsschrift, die von einer Dame redigiert wird, ist jeder Satz, mit dem ich angeblich »Recht« habe, verstümmelt oder in sein Gegenteil verkehrt. Dass durch Weglassung der Anführungszeichen in einem Satz, der noch ein zweitesmal vorkommt, statt einer Kontrastwirkung eine Wiederholung bewirkt wurde, dafür muss ein Setzer kein Verständnis haben. Aber ein Redakteur, der’s auch nicht hat, kennt nicht einmal die Verpflichtung, dort eine mechanische Kontrolle zu üben, wo ein Anderer gedacht hat. Die Dreistigkeit der Absicht, mich zu redigieren, würde ich noch verzeihlicher finden als die grundsätzliche Nichtachtung vor geistiger Arbeit, die in der sorglosen Preisgabe an die Gefahren des Druckes gelegen ist. Ich halte die Maschine auf und zwinge sie, meinen Launen zu dienen, und nach Tagen und Nächten solchen in den Schlaf fortgesetzten Kampfes, solcher auch am fertigen Werk noch wirkender, nie beruhigter Zweifel, kommt ein anderer, der meine Meinung teilt, und opfert mich seiner Maschine auf. Ich habe der Zeitschrift, die mir solches angetan hat, eine Berichtigung geschickt. Aber ich habe nicht Lust, in den Druckereien Deutschlands und Österreichs die Arbeit zu verrichten, die mich in einer einzigen kaputt macht. Ein Wiener Tagesblatt, das seine christlichsozialen Hausmeisterinnen mit Zitaten aus der ‚Fackel‘ erfreuen zu müssen glaubt, sei auf diesem Wege ausdrücklich verwarnt. Es hat kürzlich ein paar Seiten aus dem Artikel über den Fall Hofrichter glatt ins Hausmeisterische übersetzt. Hier handelts sich nicht um Verstöße gegen Stil und satirische Absicht, die ein sorgloser Nachdruck bedeutet, sondern um Verstöße gegen die Grammatik, die ich an und für sich nicht so schmerzlich empfinde, die aber hier eigens für das Fassungsvermögen des Publikums berechnet zu sein scheinen. Wollte ich den Nachdruck nachdrucken, man würde es nicht für möglich halten, dass ein so lesbares Manuskript, wie es die Seiten einer Zeitschrift vorstellen, in einer Druckerei solchen Verheerungen ausgesetzt sein kann. Auch die Volltrunkenheit des Setzers könnte sie nicht erklären. Bleibt nur die Annahme, dass in christlichsozialen Druckereien ein Korrektor angestellt ist, der darüber zu wachen hat, dass nichts Deutsches durchrutscht. Aus der »Behörde, die jetzt den Fall übernommen hat und die durch Tradition und ein veraltetes Gesetz vor den Verlockungen der Reklame geschützt ist« werden »Behörden, die jetzt den Fall übernommen haben und die durch die Tradition und einem veralteten Gesetz vor den Verfolgungen der Reklame geschützt ist«. Eine Person, die »unweit dem Verdachtskreis« wirkt, ist jetzt eine, die »unweit des Verdachtskreises« wirkt. Sie hat »dem Hauptmann Mader ein zweites Opfer gesellt und in der entfachten Sensation die eigene Spur verwischt«? Nein, sie hat ihm »ein zweites Opfer gestellt, deren entfachte Sensation die eigene Spur verwischt hat«. »Es ist doch wahrscheinlicher, dass …. als dass ….« gilt nicht; jetzt heißt es: »Es ist jedoch wahrscheinlich, dass …. als dass …« Ein »zurechtgelegtes Alibi«? Nein, ein »zusammengelegtes«. Gegen die Schuld Hofrichters sollte »die unwahrscheinliche Dummheit« sprechen, »mit seinem notorischen Handwerkszeug einen Giftmord zu verüben und zu hoffen, dass er dem Verdacht durch Harmlosigkeit begegnen könne«. Jetzt heißt es: »Gegen die Schuld H.’s spricht die unwahrscheinliche Dummheit, mit einem notorischen Handwerkszeug ist nicht Giftmord zu verüben und zu hoffen, dass
er den Verdacht … begegnen könne«. Und an der Spitze heißt es trotzdem: »Die ‚Fackel‘ schreibt«.

Aber sie hat für dieses Pack zu schreiben aufgehört. Von jetzt an ist nur mehr das Stehlen erlaubt. Da wird vielleicht auch etwas mehr Sorgfalt auf den Druck verwendet werden, und im Übrigen fällts nicht auf mich zurück. Ein Berliner Sudelblatt, das erst kürzlich wegen Erpressung sich verantworten musste, kompromittiert sich ganz unnötigerweise durch Zitierung der ‚Fackel‘. Hin und wieder nimmt es sich einen Anlauf und druckt eine Notiz ab, ohne die ‚Fackel‘ zu nennen. Es müsste konsequenter sein. Einigen wir uns darauf: Nachdruck nur ohne Quellenangabe gestattet!

»Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche. Sieht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, dass der Deutsche nur die improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener sagt, dass Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen — das begreift auch der Deutsche —, aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? — es ist ihm, als ob man ihm etwas aus dem Fabelland vorerzählte.«                 Nietzsche.

 


Was ein Mensch wert ist…vae victimae !

17. Juli 2015 | Kategorie: Artikel, Justiz

Berliner Zeitung  16.07.2015

Landgericht Berlin Baby blind und taub geschüttelt – fünf Jahre Haft für Vater

Mit fünf Wochen erleidet das Baby Rippenbrüche, mit sechs Monaten erblindet es und verliert das Gehör. Der Vater der kleinen Emilia wurde nun des versuchten Totschlags schuldig gesprochen.

Er schüttelte seine Tochter, bis sie taub und blind wurde: Dafür  muss   der  Vater  der  kleinen  Emilia  aus  Berlin – Pankow  nun  für   f ü n f   J a h r e  hinter Gitter. Das Landgericht sprach den 26-Jährigen am Donnerstag  der  Misshandlung  von  Schutzbefohlenen   sowie   d e s   v e r s u c h t e n   T o t s c h l a g s  schuldig.  Emilia war sechs Monate alt, als sie im November 2014 heftig geschüttelt wurde. „Wer  ein  Kind  derart schüttelt,  der  n i m m t   b i l l i g e n d  d e n   T o d   i n   K a u f “, hieß es im Urteil. Der Vater hatte dies bestritten. Die mitangeklagte Mutter des Babys wurde zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt. Die 24-Jährige sei der fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen schuldig, befand das Berliner Landgericht. Obwohl das Kind im Sekundentakt krampfte, habe sie mehrere Stunden vergehen lassen, ehe sie den Notarzt alarmierte, begründete das Gericht.

„Keinerlei Restzweifel“

Mit f ü n f   W o c h e n  schwebte Emilia zum ersten Mal in Lebensgefahr. Der Vater habe in der Nacht des 1. Juli 2014 überfordert reagiert, weil das Baby schrie. „Er drückt kräftig den Brustkorb, es kommt zu mehreren Rippenbrüchen“, sagte der Vorsitzende Richter Matthias Schertz. Danach sei gegen den 26-Jährigen wegen dringenden   Tatverdachts  ein   H a f t b e f e h l  ergangen.  Weil   aber   k e i n e   F l u c h t g e f a h r  gesehen wurde, blieb er frei. Das Jugendamt habe „zunächst funktioniert“, sagte Schertz. Mutter und Kind seien in einer Einrichtung vom Vater getrennt untergebracht worden. „Doch schon im September wurde ihnen gestattet, in die Wohnung zum Angeklagten zurückzukehren.“ Dies sei unglaublich. Das Verfahren wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen sei zu dem Zeitpunkt nicht abgeschlossen gewesen.

Emilia war sechs Monate alt, als sie erneut lebensgefährlich verletzt in ein Krankenhaus kam. Es war zu starken Einblutungen in Gehirn und Augen gekommen. Zuvor sei der Vater für kurze Zeit allein mit dem Kind gewesen, so das Gericht. „Emilia schreit, er verliert die Geduld und schüttelt das Baby heftig“, sagte Schertz. An der Täterschaft würden nach dem achtwöchigen Prozess „keinerlei Restzweifel“ bestehen. Der Verteidiger des Vaters hatte erklärt, es sei völlig offen, wer das Kind schüttelte.

Das Mädchen kann nach Angaben von Ärzten bis heute nicht sehen und hören. Die Entwicklung sei ungewiss, hieß es. Mit dem Urteil entsprachen die Richter  i m   W e s e n t l i c h e n  dem Antrag des Staatsanwalts. Die Verteidiger hatten Freisprüche verlangt.(dpa)

 

Immer wieder muss ich so etwas lesen. Was ist hier wesentlich und was für eine Welt liegt hier vor, in der Justiz solches Urteil nach Recht und Gesetz für  angemessen halten darf?  Wehe den Opfern zuerst der Gesellschaft und dann der Gerichte!