Die Planung des vorhersehbaren Todes. Von W.K.Nordenham
19. März 2014 | Kategorie: Medizin, Notizen zur Zeit, Sterbehilfe, Zeitzeugnisse/ZeitzeugenDa die Diskussion immer wieder auflammt, hier nochmal zum Mitdenken!
Vorab der Originaltext des Hippokratischen Eides, damit ein jeder die Risiken und Nebenwirkungen seines Arzt oder Apothekers zu erkennen vermag.
Ich schwöre bei Appollon dem Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen rufe, daß ich nach meinem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Vereinbarung erfüllen werde:
Den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleichzuachten meinen Eltern und ihm an dem Lebensunterhalt Gemeinschaft zu geben und ihn Anteil nehmen zu lassen an dem Lebensnotwendigen, wenn er dessen bedarf, und das Geschlecht, das von ihm stammt, meinen männlichen Geschwistern gleichzustellen und sie diese Kunst zu lehren, wenn es ihr Wunsch ist, sie zu erlernen ohne Entgelt und Vereinbarung und an Rat und Vortrag und jeder sonstigen Belehrung teilnehmen zu lassen meine und meines Lehrers Söhne sowie diejenigen Schüler, die durch Vereinbarung gebunden und vereidigt sind nach ärztlichem Brauch, jedoch keinen anderen.
Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht. Ich werde niemandem, auch auf eine Bitte nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben: Heilig und fromm werde ich mein Leben bewahren und meine Kunst.
Ich werde niemals Kranke schneiden, die an Blasenstein leiden, sondern dies den Männern überlassen, die dies Gewerbe versehen.
In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven.
Was immer ich sehe und höre, bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung, im Leben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles Derartige als solches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf.
Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht breche, so möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg beschieden sein, dazu Ruhm unter allen Menschen für alle Zeit; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, dessen Gegenteil.
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Man möchte es mehr als nur einer Laune des Zeitgeistes zurechnen, dass ohne Not seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Hippokratische Eid nach dem bestandenen Medizinexamen als zwar unausgesprochene, aber präsente Verpflichtung keine wesentliche Rolle mehr spielte und in historischen Kontext verbannt wurde. Neues, Besseres gedachte man zu formulieren, beabsichtigt von Leuten, die wahrscheinlich auch ein „Vater Unser“ aktualisieren würden. Mir ist über einen verbesserten, also zeitgemäß blankgeputzten, allgemein gültigen Eid in Europa nichts bekannt, obwohl sich seither vieles geändert hat. Es gibt die Genfer Deklaration oder Genfer Gelöbnis, und sie wurde im September 1948 als Hippokrates – Ersatz verabschiedet. Sie wurde mehrfach revidiert, insgesamt schon fünfmal seither. Ich musste es so wenig sprechen wie alle anderen mir bekannten Ärzte. Denn es geschah zu der Zeit, dass der Mensch großzügiger an seinesgleichen Hand anzulegen gedachte, angefangen bei vermehrten Schwangerschaftsabbrüchen, zunehmend fragwürdigen kosmetischen Operationen bis hin zu nunmehr möglichem, genetisch determinierbarem Nachwuchs. Der Körper eingeholt vom Ungeist medizinischer Möglichmacher? Schöne Neue Welt!
Dazu passte vorzüglich ein Artikel zu Sterbehilfe, der ein neues Kapitel zum Umgang mit Leben und Tod im 21. Jahrhundert aufzuschlagen für zeitgemäß hielt. Gemeint war aber nicht die eigentliche Sterbehilfe, sondern es ging um die Planung des vorhersehbaren Todes, nämlich die Hilfe beim Selbstmord Schwerkranker zum von jenen erwünschten Zeitpunkt. Es handelte sich dabei um die sattsam bekannte Unterwanderung von Öffentlichkeit durch nett und in bester Absicht eingestreute populäre Meinungen, die wie der Kai aus der Kiste kommen und sich irgendwann als notwendige Wahrheit mit der Aufforderung zur Tat präsentieren, genau genommen aber den Knüppel aus dem Sack lassen. In dem Artikel teilte ein Arzt mit, dass er gegen die negative Entscheidung zur Sterbehilfe des Deutschen Ärztetages als „Arzt“ Einspruch erhebe. Das zu tun ist sein gutes Recht, aber es mit dem Zusatz „als Arzt“ zu versehen, erscheint mehr als fragwürdig, hat doch der Urvater der Ärzte, Hippokrates in seinem berühmten Eid ausgeführt: “Auch werde ich niemandem auf seine Bitte hin ein tödlich wirkendes Mittel geben, noch werde ich einen derartigen Rat erteilen.“ Auf wen also beruft sich jemand, wenn er „als Arzt“ Einspruch erhebt? Hippokrates als Urvater kann es nicht sein und die Großen in seiner Nachfolge auch nicht. „Ärzte töten nicht und helfen nicht bei Selbsttötung“, so wird der Deutsche Ärztetag im Folgenden zitiert und dafür vom Artikelschreiber kritisiert, obwohl auch jener sich in hippokratischer Tradition wähnt. Deshalb muss widersprochen werden, wenn in dem Artikel weiter behauptet wird, „Ärzte töten zum Beispiel Todeskandidaten in Ländern, in denen es die Todesstrafe gibt, und in Deutschland töten Ärzte im Rahmen legaler Abtreibungen mehr als 150 000 Mal jährlich gesundes Leben.“ So sehr die Fakten über Tötungen und Abtreibungen stimmen mögen, so wenig darf man die Ausführenden der Tat als Ärzte in Hippokrates Sinne bezeichnen, denn ein Arzt in seiner Nachfolge tötet nicht.
Ich verkenne keinesfalls die Segnungen der modernen Medizin und bin nicht so menschenfremd, Abtreibungen angesichts vieler Notlagen in Bausch und Bogen abzulehnen. Dass ein Eingriff von medizinisch ausgebildetem Personal durchgeführt werden muss, liegt auf der Hand. Dem Arzt wird jeder dieser Eingriffe sehr schwer fallen, wie auch den Frauen. Darüber besteht kein Zweifel. Aber sind alle Ausführenden als Ärzte oder nur als dazu befähigte Fachleute, als Mediziner tätig, vor allem dann, wenn es um Geld geht? Nicht zufällig wird die Bezeichnung Mediziner inzwischen fast gleichrangig zu der des Arztes verwendet, und es spricht einiges dafür, dass sich die Berufsangabe „Mediziner“ für die Generation des modernen Gesundheitswesens durchsetzen könnte. Leitet sie sich doch nicht mehr uneingeschränkt von der Verbindlichkeit etwa eines hippokratischen Eides ab, sondern es übernimmt das Gesetz die Führung im Gesundheitswesen, beschreibt den Verantwortungsrahmen für jede Wohltat und Untat und erlaubt in naher Zukunft vielleicht sogar den finalen pharmakologischen Abschuss. Alles legal versteht sich.
Die Modifikation zunächst zum Mediziner darf bei zu vielen als im Werden angesehen werden, die Entwicklung zum Pejorativum „Leistungserbringer im Gesundheitswesen“ ist mit den Auswüchsen der kosmetischen Medizin als weitgehend abgeschlossen zu betrachten. Der Arzt hingegen verhält sich zum Mediziner wie der Helfer zum Vollstrecker. Während der Arzt sich am „nil nocere“ – niemals Schaden – ausrichtet, welches den rücksichtsvollsten Umgang mit dem anvertrauten Menschen schon im Worte beginnt, geriert sich der Mediziner zu oft als Ausführungsbeauftragter moderner Therapiemöglichkeiten, wie zweifelhaft sie auch sein mögen. Der Leistungserbringer im Gesundheitswesen orientiert sich dann nur mehr am zu erzielenden Gewinn. Machte man den Arzt zum Todeshelfer, weil er sich notwendig mit todbringenden Wirkungen von Medikamenten auskennen muss – erlernt allein zum Schutze seiner Patienten ! -, so rückt ihn das in die Nähe des Henkers. Das möchte der Bravbürger nämlich nicht gern selbst machen und auch nicht zusehen und wünscht sich jemand anders, vorzugsweise den Arzt zum Abschalten des Gerätes Mensch. Das könnte aber im Prinzip jeder, aber der Jedermann möchte das nicht so gern.
Bewusst verwende ich nicht das Wort „Sterbehilfe“, denn die gibt es, richtig verstanden, schon lange, und sie hat meine volle, auch tatkräftige Unterstützung. Aber nicht als Tötungsinstrument ist sie gedacht, sondern als Begleitung des Menschen auf seinem letzten Wege unter aller möglichen Zuwendung. Sie wird durchgeführt von den Menschen in Hospizen, von Angehörigen zu Hause, von Personal in den Krankenhäusern, auf den Palliativstationen und von den Hausärzten draußen in den Wohnungen ihrer Patienten. Da muss der Arzt dann schon mal jeden Tag hingehen und Angst nehmen, auch wenn das nicht bezahlt wird. Diese Hilfe begleitet im wahrsten Sinne des Wortes das Sterben und nimmt mit der Gabe höchstdosierter Medikamente – zur kompletten Linderung von Leiden – auch den dadurch bedingten eventuell eher eintretenden Tod in Kauf. Dieser Eingriff in das menschliche Leben und Sterben geht weit genug, und ich, als Arzt, habe nie anderes gebraucht. Wer aber Hilfe zur Selbsttötung will, hat mehr vor und soll sich willige Helfer schaffen. Möge sich dazu berufen fühlen, wer immer will, auch Mediziner. Ich stünde als Arzt niemals zur Verfügung und auch nicht als Mensch. Henkersknecht liegt mir nicht, auch nicht als der von der immer laut schweigenden Mehrheit akzeptierter Hiwi oder vom Staat gedeckter Täter. Denn die Tat ausführen soll, der sie fordert, und so sollte sich der erst einmal selbst befragen, ob er es könnte und begriffe dann, was „den Tod geben“ bedeutet. Stattdessen mal eben den Arzt zu fordern, offenbart ein fundamentales Missverständnis, mit dem ich ein für alle Mal aufgeräumt zu haben hoffe. Ein Arzt tötet per definitionem nicht.