25. Juli 2013 | Kategorie: Hodenträger, Medizin, Notizen zur Zeit
Deutsches Ärzteblatt 28.06.2013
ÄSTHETISCHE CHIRURGIE
Zahl der Schamlippenverkleinerungen steigt
Intimchirurgische Eingriffe bei Frauen werden immer häufiger. 2011 nahmen die plastischen Chirurgen in Deutschland allein 5440 Schamlippenkorrekturen vor, wie aus einer Erhebung der Deutschen Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC) hervorgeht. Solche Operationen seien i n d e r M i t t e d e r G e s e l l s c h a f t angekommen, teilte die Fachgesellschaft mit. „Wir werden darüber diskutieren müssen, wie man mit dem Thema umgeht“, sagte Prof. Dr. med. Peter M. Vogt, Präsident der DGPRÄC. In vielen Fällen seien die Operationen notwendig, etwa bei stark vergrößerten, schmerzhaften Schamlippen. „Aber natürlich sorgt die s t a r k e m e d i a l e A u f m e r k s a m k e i t auch dafür, dass viele Frauen ihre Schamlippen nicht mehr als ,schön‘ empfinden.“ Da es an S t a n d a r d s mangele, arbeite die DGPRÄC an einer S 1- L e i t l i n i e zur Intimchirurgie der Frau. Der W e l t ä r z t i n n e n b u n d hingegen hatte sich kürzlich g e g e n i n t i m c h i r u r g i s c h e E i n g r i f f e aus rein ästhetischen Gründen ausgesprochen. Weitere Ergebnisse: Brustvergrößerungen, Augenlidstraffungen und Fettabsaugungen sind die häufigsten ästhetische Operationen. Insgesamt wurden mehr als 138 000 Eingriffe gezählt. Die Daten stammen aus einer Umfrage unter DGPRÄC-Mitgliedern. G e n a u e Z a h l e n über alle „Schönheitsoperationen“ in Deutschland g i b t e s n i c h t.
Jetzt weiß ich endlich, wo die Mitte der Gesellschaft anzusiedeln ist. Sie befindet sich exakt in der Mitte der Deutschen Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC), die den Menschen nicht nur plastisch, rekonstruktiv und ästhetisch nach ärztlicher Notwendigkeit versorgt, sondern jeden kosmetisch aktuell erwünschten Körperteil in die Mitte ihrer Gesellschaft aufnimmt und gesellschaftskompatibel herzurichten bereit ist. Da wird die Schönheit einer Scham von einer Gesellschaft ins chirurgisch normierte Auge gefasst, der doch gewöhnlich jede Scham abgeht, wenn es den Umsatz fördert. „Die Gesellschaft ist genitalbewusster geworden“, sagte dazu vor einem Jahr ein Dr. Schmidt-Rhode in der Zeitschrift Brigitte. „Vor allem junge Frauen, unter 35, haben heute höhere ästhetische Ansprüche als früher“, führte er aus. Ein genitalbewusster, ästhetisch anspruchsvoller Gynäkologe, natürlich Hodenträger, machte sich da mausig, der, wie seine Kollegen, an seine Hoden aus ästhetisch-kosmetischen Gründen niemals irgendjemand lassen würde. In Hamburg sah ich in der Bahn eine Reklame: „Keine falsche Scham“. Welche bitte ist denn die gesellschaftlich, ästhetisch, genitalbewusst richtige Scham? Die trendkorrekt Operierte ? Wie wärs mit einer S 1- L e i t l i n i e zur Intimchirurgie des Mannes, etwas wie „Hoden auf den Tisch!“ ? Der pharmazeutisch-kosmetische Komplex optimiert seine Geldquellen. Nach Botoxlippenhalloween kommt er mit einer neuerlichen kosmetischen Lüge, die ein wahrhaft natürliches Lippenbekenntnis der Natur entreißt und ein Geschäft daraus macht. Es erschreckt mich zutiefst, wie leicht sich Frauen immer wieder von Hodenträgern instrumentalisieren lassen, die niemals die Pille für den Mann einnähmen und sich den Hodensack verkleinern ließen, der unstrittig großmächtig dort sitzt, wo die kleinen Schamlippen naturgemäß anzutreffen sind. Hat schon einmal irgendwer etwas von einer Empfehlung zur Hodenkorrektur gehört, ja doch mindestens für männliche Radfahrer? Ich nicht. Die Frauen sollten zuerst den ä s t h e t i s c h k o r r e k t e n H o d e n zur Bedingung machen, vorzugsweise zuerst beim Operateur, bevor sie wieder ein Stück von sich auf dem Altar einer Schönheitschirurgie opfern, deren Hohepriester durchweg Hodenträger sind, die, wenn sie zum Herzen greifen, lediglich den Sitz der Geldtasche überprüfen. Wer wirklich Beschwerden hat, darf oder muss sich sogar operieren lassen. Aber das ist klar und außer Diskussion – auch für den W e l t ä r z t i n n e n b u n d. Wer es jetzt immer noch nicht glaubt, soll sich die Tour de France noch einmal anschauen, mit seit Jahrzehnten genital unkorrigierten Hodenträgern. Fazit: Liebe Frauen, hört nicht auf Hodenträger!
Zum Nachweis eine Ä r z t i n : http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro-psychiatrische_krankheiten/article/534924/voellig-normal-wenn-kleinen-schamlippen-grossen-hinausragen.html
19. Juli 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth
Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Was ich will, ist, dass die Presse aufhöre zu sein – Kraus und der Journalismus
Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 4
Du brauchst nicht mehr zu wissen noch zu denken,
Ein Tagblatt denkt für dich nach deiner Wahl.
Die Weisheit statt zu kaufen steht zu schenken,
Zu kaufen brauchst du nichts als das Journal.
Franz Grillparzer (aus Dem internationalen Preßkongreß)
Richard Schuberth 05.03.2006
Auf dem Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters, in der Periode zwischen 1848 und 1914, profiliert sich die Zeitung als Medium der Emanzipation und Bildung. Feuilletonisten und Leitartikler machen den seit der Aufklärung heroisierten Dichtern und Denkern Konkurrenz. Besonders die Ästhetizisten als Künder des ewig Wahren und Schönen wehren sich gegen die Anmaßungen des täglich neu gedruckten und weggeworfenen Worts. Hugo von Hofmannsthal z. B. gefällt es gar nicht, dass auf den elendsten Zeilenschreiber etwas vom Glanz der Dichterschaft abfällt. Dem hätte Karl Kraus wohl zugestimmt und von Hofmannsthal und seinesgleichen gleich den Glanz mit runterpoliert.
Dass Karl Kraus in der Journaille, wie er das journalistische Gewerbe nannte, seinen Hauptfeind bekämpfte, ist beinahe eine Untertreibung. Mehr noch war die 1899 gegründete Fackel die unversöhnliche Antithese zur Presse schlechthin, in ihrem Titel schon leuchtet die Doppelbedeutung von Erhellung und Brandlegung auf, jener Productivkraft schöpferischer Zerstörarbeit, deren deklariertes Ziel die Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes war.
Karl Kraus kannte die Produktionsbedingungen des bürgerlichen Journalismus gut genug, schrieb er doch seit 1892 selbst für die damals wichtigste meinungsbildende Kraft Mitteleuropas, die Neue Freie Presse sowie in der Wochenschrift Die Wage. Als das Gerücht, der begabte junge Autor wolle eine eigene Zeitschrift gründen, auch in die Redaktion der Neuen Freien Presse drang, wollte die ihn als Redakteur an sich binden. Karl Kraus Selbstbewusstsein war indessen stark genug für die Gewissheit, dass er nicht reif für die NFP sei, sondern diese reif für ihn. Er gründete 1899 die Fackel und formulierte bereits in der Nullnummer sein Programm: kein tönendes Was wir bringen, aber ein ehrliches Was wir umbringen hat sie sich als Leitwort gewählt.
Beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes
Kraus Kampf gegen den Journalismus ist ein vielschichtiges Unternehmen und es bedarf profunden Studiums, bis sich einem die disparaten Elemente seiner Kritik als schlüssiges Ganzes offenbaren. Seine Pressekritik beherbergt sprach- und moralkritische, politische, ökonomische und medienphilosophische Aspekte. Diese aber sind so klug ineinander verzahnt, dass jeder Versuch ihrer analytischen Trennung von ihrem Verständnis wegführte. Hier nur der Anflug eines Versuchs, Eckpunkte eines Lebenswerkes zu skizzieren.
Der Sprachverfall ist zugleich Ursache, Folge und Symptom all dessen, was Kraus verabscheut und apokalyptisch überhöht, die Presse sein Brennglas.
Zunächst ist Kraus nur daran gelegen, den Schuster bei seinem Leisten bleiben zu lassen. Als sachlicher Informationsdienst ist ihm die Zeitung durchaus willkommen, eine knappe unprätentiöse Sprache sogar literarisch inspirierend. Störend wird der Journalismus erst, wenn er sich mit dem Anspruch von Objektivität und schlimmer noch als Meinungsbildner zwischen den denkenden Menschen und die Wirklichkeit stellt, und ihm die Möglichkeit autonomer Reflexion durch die Fütterung mit dem selbstgerechten Meinungsbrei des Leitartikels abnimmt.
Mit selten einfühlsamer Pädagogik fordert Kraus den Leser zur Mündigkeit auf: Freundlicher Leser! Der du noch immer die Zeitung für ein von geheimnisvoller Macht Erschaffenes, aus pythischem Munde Weisheit Kündendes, beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes hältst, der du vom Offenbarungsschauer dich angewehet und der Ewigkeit näher fühlst, wenn Löwy oder Müller im Wir-Ton leitartikeln , werde misstrauisch, und einer von Druckerschwärze fast schon zerfressenen Kultur winkt die Errettung. Lasse den Zeitungsmenschen als Nachrichtenbringer und kommerziellen Vermittler sich ausleben, aber peitsche ihm den frechen Wahn aus, dass er berufen sei, geistigen Werten die Sanction zu erteilen. Nimm das gedruckte nicht ehrfürchtig für baare Münze! Denn deine Heiligen haben zuvor für das gedruckte Wort baare Münze genommen.
Schon früh läutet Kraus eine Revolution in der Medienkritik ein. Beschränkte sich diese vor ihm zumeist auf Bildungsdünkel oder Entsetzen über die Verflachung der Sprache, so wirft Kraus sein satirisches Schlaglicht auf die politischen und ökonomischen Bedingungen der Wirklichkeitsproduktion. Und findet seinen Erzfeind nicht in den Pöbelblättern der Deutschnationalen, sondern im vorgeblich kleineren Übel, der liberalen, fortschrittlichen Neuen Freien Presse.
Den Schlüssel zur Heuchelei der interesselosen Meinungs- und Faktenfabrikation findet Kraus in den üppigen Inseratenteilen der Zeitungen. Sein Zeitgenosse, der Nationalökonom Karl Bücher definierte die moderne Zeitung als Erwerbsunternehmen, das Annoncenraum als Ware verkauft, die nur durch einen redaktionellen Teil verkäuflich wird. Diese scharfsinnige Spitze mag heute nicht mehr stechen, so selbstverständlich ist die Verabsolutierung kapitalistischer Marktprinzipien geworden.
Auch der Arbeiter Zeitung, der er zwischen Wohlwollen und Distanz verbunden blieb, rechnete Kraus früh die Widersprüche zwischen Absicht und Tat auf:
Aufsehen erregt haben seinerzeit die Artikel der Arbeiter-Zeitung über die Mordschiffe der Donau-Dampfschiffahrt-Gesellschaft durch die Kühnheit ihrer Sprache. Seit damals Herbst 1898 erscheinen statt der Mordschiffe in kleinen Intervallen Mordsinserate der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft. () Die Mordschiffe werden allerdings nicht angegriffen; sie sind zwei Jahre älter geworden. Und zeigte mit dieser Sentenz, wie brillant sich das als seicht verschriene satirische Mittel des Kalauers mit einer Sache gegen eine Sache rüsten ließ.
Kraus ging jedoch einen bedeutenden Schritt weiter und wurde nicht müde nachzuweisen, dass der redaktionelle Teil selbst geheimer Umschlagplatz der Warenform ist. Nicht nur dem heuchlerischen Nebeneinander von Geist und Kommerz gilt seine Kritik, sondern der schleichenden Kommerzialisierung des Geistes, die er am Sprachgebrauch diagnostiziert.
Die Presse als Bote, Partei und Ereignis
Damals wie heute wirkt Kraus Totalisierung des Pressunwesens, ihre Hypostase zur Hauptursache aller gesellschaftlichen Übel, als überspannt, gerade so, als hätte sich ein narzisstischer Kritiker eine freie Nische gefunden, deren Bedeutung er zur Überhöhung der eigenen überhöhen muss.
Wohl ist er sich bewusst, wo die Basis, wo der Überbau ist: Ich habe die Presse nie als Ursache, sondern immer nur als Wirkung verklagt. () Ich weiß schon, dass die Nässe nicht am Regen schuld ist; aber sie informiert mich darüber, dass es regnet.
Und doch bildet die Nässe Dunst, der aufsteigt, um zu neuen Regenwolken sich zu ballen. Im Frühjahr 1908 nennt der konservative Abgeordnete Gröber die anwesenden Journalisten im deutschen Reichstag Saubengels. Aus Protest stellen diese die Berichterstattung über den Reichstag ein, was die vorübergehende Einstellung der parlamentarischen Tätigkeit zur Folge hat. Kraus dazu in der Fackel: Die Öffentlichkeit hat wieder einmal dazugelernt und weiß jetzt, dass die Weltgeschichte aufhören muss, wenn sichs die Staatsmänner mit den Stenographen verderben.
Bei Kraus Fehde mit der Presse verhält es sich wie bei den anderen Feldern seiner Kritik. Ganz dem Grundsatz gemäß, dass nur die Übertreibung der Realität gerecht wird, lässt ihn sein kritischer Geist, gerade dort, wo er am verschrobensten wirkt und durch keine Sache mehr gedeckt scheint, Mauern vor der Wahrnehmung einreißen, wofür die damalige Wissenschaft und Gesellschaftskritik der Methoden entbehrte. Als erster Mensch der Geschichte formuliert er Zusammenhänge, welche zum wesentlichen Topos der Medien- und Kulturkritik des 20. Jahrhunderts avancieren würden, ohne dass die es ihm je gedankt hätten. Karl Kraus kommt dem Prinzip der Substitution der Wirklichkeit durch die Medien auf die Schliche.
Seinen Zeitgenossen evident wird diese Macht spätestens durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg: Längst nicht mehr ist sie Vollzugsorgan politischer Macht, sondern lenkt die Ereignisse selbst kraft ihrer Deutungshegemonie.
Schon 1909, als ein gewisser Minister Aerenthal der bereits damals kriegsbegeisterten NFP durch den Historiker Friedjung Falschinformationen über eine Verschwörung Kroatiens mit Belgrad zuspielen lässt und somit einen Krieg gegen Serbien vom Zaun brechen will, erkennt Kraus die Omnipotenz der Presse als Wirklichkeitsmanipulator. Er verfolgt diesen Pfad bei der Berichterstattung über die Balkankriege und findet seine anfänglich polemische Position durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg bestätigt:
die Presse ein Bote? Nein, das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten erst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind …
Hiermit nimmt Karl Kraus, der sich längst nicht auf Sprache beschränkt, sondern Photographie, Reklame und Film in sein Denken mit einbezieht, die größten Leistungen der späteren Kulturindustrie- und Medienkritik vorweg, wie Sigfried Kracauers Analyse der Photographie in den 20er Jahren etwa (In den Illustrierten sieht das Publikum die Welt, an deren Wahrnehmung es die Illustrierten hindern.), oder Günther Anders Analyse des Fernsehens (Am Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt.) oder die schwachbrüstigere Medienkritik eines Marshal MacLuhan, weitschichtig auch die Simulakrentheorie von François Baudrillard.
Kraus contra Békessy, Thurnherr und Sperl
Nach dem Krieg sieht sich Kraus einem neuen Typus von Journaille gegenüber: In den Revolverblättern des Erpressers und Medientycoons Imre Békessy wird die idealistische Maske fallen gelassen, auf welche die NFP noch Wert legte, und der Prototyp des populistischen Boulevardjournalismus geschaffen, der auch heute noch den Zeitungsmarkt beherrscht. Die Dramaturgie des folgenden Kampfes nimmt jene des Westerns High Noon vorweg. Dass Békessy mit offenen Karten spielte, Korruption und Lüge als journalistisches Prinzip ehrlich zugab Niedertracht unter dem Vorwand der Niedertracht , mag den Dialektiker Kraus sogar amüsiert haben, ehe sich dieser wieder mit dem Ethiker zugesellte und mit den donnernden Worten Raus mit dem Schuft aus Wien! einem Schieberimperium, dem sich Kraus alte Feinde wie Felix Salten und Anton Kuh nur zu gerne andienten, den Krieg erklärte. Ein Krieg, den er völlig alleine führen würde. Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Feiglinge. Zwei Jahre später, 1926, ergriff Békessy die Flucht nach Paris. Einer der wenigen Erfolge, den Satire je gezeitigt haben dürfte.
Wie sehr den Zeitungsintellektuellen unserer Tage die Angst vorm Fackelkraus im Nacken sitzt, beweist die magische Praxis des Zitats. Man zitiert Kraus, weil er nicht mehr lebt und damit er nicht mehr lebt. Der rituell-magische Charakter des Zitats funktioniert auf zwei Ebenen. Das Krauszitat lässt den Journalisten magisch an dessen geistiger Autorität teilhaben und dient zugleich als Schutzzauber. Wogegen? Gegen Kraus selbst, dessen Geist ja noch immer durch die Redaktionsstuben spuken und die eigenen Texte ihrer ganzen Dürftigkeit überführen könnte.
Die Frage indes, wie Karl Kraus sich zur heutigen Presselandschaft äußern würde, zählt selbst schon zu den automatisierten Phrasen des Feuilletons oder Impulsreferats. Sicher ist, dass er sich nicht mit Peanuts abgeben, sondern seine Kritik erst bei jenen so genannten Qualitätsblättern ansetzen würde, deren vorgebliches Niveau sich hierzulande aus der Distanz zur Kronen Zeitung ableitet. Die Chefredakteure, Leitartikler und Feuilletonisten von, Presse, Profil, besonders aber Standard und Falter, die sich aus Mangel an Alternativen den Lesern als das äußerst Mögliche an kritischem Geist aufdrängen, lebten in ständiger Angst und Hoffnung, dass sich die Privatwirtschaft ihrer erbarmte, wenn der Redakteurssessel zu heiß würde.
Richard Schuberth
01. Juli 2013 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Leseempfehlung, Ringelnatz, Verdichtetes
„Joachim Ringelnatz (* 7. 8.1883 † 17.4.1934, eigentlich Hans Gustav Bötticher) war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler , der vor allem für humoristische Gedichte um die Kunstfigur Kuttel Daddeldu bekannt ist.“ So klingt das bei wikipedia. Damit wird jener vor nunmehr 130 Jahren Geborene vorgestellt, der eben weit mehr als „Daddeldu“ und vor allem Dichter war. Dies sei hier zum Geburtsjubiläum mit den folgenden Gedichten nachgewiesen und seine gesammelten Werke zur Lektüre empfohlen.
Kindersand
Das Schönste für Kinder ist Sand.
Ihn gibt´s immer reichlich,
Er rinnt unvergleichlich
zärtlich durch die Hand.
Weil man seine Nase behält,
wenn man auf ihn fällt –
ist ja so weich.
Kinderfinger fühlen,
wenn sie in ihm wühlen,
nichts und das Himmelreich.
Denn kein Kind lacht
über gemahlene Macht.
*
Vor einem Kleid
Karo ist in deinem Kleid,
eine ganze Masse
Karo-Asse.
Wieviel Karos ihr wohl seid
in dem Kleid? – Das Kleid ist nett.
Karos sind im armen Bett.
Nun, ich habe nicht gezählt,
wenn mich auch die Frage,
wieviel es wohl sind, doch quält.
(Immer wieder seh ich hin.)
Weil ich männlich bin,
Rock und Hose trage,
passt solch Muster nicht für mich.
Karo ist zu munter.
Aber ich bestaune dich,
fremdes Mädchen, hübsche Maid.
Karo ist in deinem Kleid.
Ist ein Coeur darunter?
*
Zu dir
Sie sprangen aus rasender Eisenbahn
und haben sich gar nicht weh getan.
Sie wanderten über Geleise,
und wenn ein Zug sie überfuhr,
dann knirschte nichts. Sie lachten nur,
und weiter ging die Reise.
Sie schritten durch eine steinerne Wand,
durch Stacheldrähte und Wüstenbrand,
durch Grenzverbote und Schranken
und durch ein vergehaltnes Gewehr;
durchzogen viele Meilen Meer –
meine Gedanken.
Ihr Kurs ging durch, ging nie vorbei.
Und als sie dich erreichten,
da zitterten sie und erbleichten
und fühlten sich doch unsagbar frei.
*
Ich habe dich so lieb!
Ich hab dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen schenken.
Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
leuchtet der Ginster so gut.
Vorbei – verjährt –
doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
ist leise.
Die Zeit entstellt
alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
an einem Sieb.
*
Und auf einmal steht es neben dir
Und auf einmal merkst du äußerlich:
wieviel Kummer zu dir kam,
wieviel Freundschaft leise von dir wich,
alles Lachen von dir nahm.
Fragst verwundert in die Tage.
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert deine Klage …
Du fragst niemanden mehr.
Lernst es endlich, dich zu fügen,
von den Sorgen gezähmt,
willst dich selber nicht belügen,
und erstickst es, was dich grämt.
Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
längst zu lang ausgedehnt. –
Und auf einmal –: Steht es neben dir,
an dich gelehnt –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.