24. August 2016 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Detonation, Journalisten, Notizen aus Medienland
DIE FACKEL
Nr. 336—337 23. NOVEMBER 1911 XIII. JAHR S. 1-3
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Glossen Von Karl Kraus
Die Detonation
ist schrecklicher als der Schuss. Trostloser als das Leid ist die Teilnahme. Und je stiller das Haus, desto lärmvoller die Gasse. Nicht mehr ein Atridenmaß blutiger Tat kann uns entsetzen, stumpf wird das Messer an dem Nachspiel, der empfindlichste Sinn verhärtet an der Schmach, die einem Mord auf dem Fuß folgt. Der Schmerz muss sich durch die Neugier den Weg bahnen, um zu seinen toten Kindern zu gelangen; vor dem Tor steht das Volk, auf der Stiege stehen die Nachbarn und um die Leichen sind die Reporter gruppiert. Gleich werden die Eltern da sein. Jetzt sind sie an der Schwelle, jetzt werden sie in Ohnmacht fallen. Sie dürfen noch nicht. Sie müssen sich halten. Die Zeitungen sind vertreten und wollen wissen, ob sie etwas gewusst haben. Man hat ihnen drei Kinder weggeschossen, aber es sind so viele Herren da, die eine Auskunft wollen. Der Vater soll den Reportern alles sagen, sie sind gefasst, das Äußerste zu hören. Die Mutter, die man nicht hineinlässt, weiß nichts, sie will es von ihnen hören. Sie schüttelt den nächsten, der ihr im Weg steht. Er müsse es doch wissen, wie das alles zugegangen ist, herrscht sie ihn an; er zuckt die Achseln und schreibt es auf. Alles schart sich wieder um den Vater, sie wollen hören, wie er mit tränenerstickter Stimme spricht. Man fragt ihn nach der toten Tochter, er sinkt schluchzend um und sie notieren. Aber dann zwingen sie ihn, ein Mann zu sein und ihnen zu sagen: »Sie war eine besondere Kennerin der historischen und Kunstmerkwürdigkeiten der Stefanskirche, welche sie außen und innen in allen ihren Teilen genau kannte. « Er weiß nicht, ob das Leben für ihn noch einen Sinn hat, zwei Kinder sind tot, das dritte liegt verwundet im Spital, und »er äußert sich unserem Mitarbeiter gegenüber, dass die in unserem Morgenblatte gegebene Darstellung der Untat und ihrer Vorgeschichte den tatsächlichen Verhältnissen entspricht«. Es war fürs Abendblatt, er wollte noch ins Spital, nach dem Sohn zu sehen, aber sie sagten, dass es sonst zu spät wäre fürs Abendblatt. Er solle Details geben. Er sagte: »Es vergingen Minuten, die ich wohl nicht näher kennzeichnen muss«. Aber gerade das wollten sie hören. »Es waren Minuten der Qual, die keiner weiteren Hinzufügung bedürfen«, sagte er. Ja, gerade so was brauchten sie, wegen der Ausschmückung. »Die Leichen meiner toten Kinder habe ich nicht gesehen, man hat mich nicht zu ihnen gelassen, so sehr es mich zu ihnen gedrängt hat. « Man wusste schon, was man tat. Sie haben auch nicht jeder die Leichen gesehen, mancher nur mit den Eltern gesprochen. Es war ein Turnus. Und sie schrieben: »In die Wohnung wurde kein Unberufener gelassen«. Sie aber hatten dort zu tun. Der Vater soll ihnen etwas aus dem Leben erzählen, und wie die silberne Hochzeit war. Das Konzertprogramm wollen sie: was Marie gesungen und Georg gespielt hat. Im Taumel dieser Stunde klammert sich der alte Mann an jede Erinnerung, er spricht Monologe und sie schreiben mit. Sie wollen aber noch wissen, bei welcher Firma der Revolver gekauft worden ist. Das weiß der Vater nicht, das sagt ihnen die Polizei. Aber interessant ist, dass das Sofa in dem Zimmer, wo die Toten liegen, alt und unmodern ist. Noch zwei könnten Auskunft geben: der Mörder und der Psychiater. Aber jener hat sich selbst gemordet. Er hat, wie sie missbilligend feststellen, sein Geheimnis mit ins Grab genommen, und »wir können nur tasten und suchen, nur forschen und fragen, nur vermuten und bedauern«. Vielleicht weiß der Psychiater etwas. Der weiß, dass dieser dreifache Mord ein psychologisches Rätsel ist, und, »fügte der Gelehrte scherzend hinzu«: wenn wir alles psychologisch motivieren könnten, so würden wir auch für die Reden des Ministerpräsidenten Stürgkh eine Erklärung finden. Nur soviel könne er sagen, dass »in dem vorliegenden Falle das anarchistisch-psychologische Element fehle«; Marie sei »keine der Damen gewesen, für die ein junger Mann sinnlos entflammt sein kann«; und er sei »sogar überzeugt, dass Matkovic auch die Eltern erschossen hätte, wenn sie zur Zeit des Mordes in der Wohnung gewesen wären« … Wo waren die Psychiater? Oh hundertmal süße Vorstellung, dass alles das, was sich nach der Tat abgespielt hat, verhindert worden wäre! Hat dieses fromme Haus je zuvor solche Gäste beherbergt? Ist es erhört, dass ein Gesindel, das man zum Tee nicht ladet, beim Tod der Kinder zugegen sein darf? Hat es sich dieser Ritter von Holzknecht träumen lassen, dass er je Leichenfledderern werde erzählen müssen, wie weh ihm ums Herz sei? Unser aller Haus ist entweiht. Was Zeit und Zone an Schmutz hergeben können, ist an der Schwelle der Trauer abgelagert worden. Die Tat eines Geisteskranken ist so wenig ein Problem wie die eines Ziegelsteins. Dass ein Unschuldiger getroffen wird, damit fertig zu werden, ist Religion. Wie aber um Gottes willen damit fertig werden, dass die verantwortliche Gemeinheit des Lebens in das Heiligtum des Unglücks speit? Hier erlöst nur die Hoffnung auf den vollwertigen Mörder, der drei Kinder verschont, aber Alles, was auf das Mordgerücht hin die Schwelle des Hauses zu übertreten wagt, erbarmungslos niederknallt!
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So waren die Reporter schon vor einhundert Jahren, als sie vor und in den Häusern lagerten. Heute kommen sie in Kompaniestärke mit Übertragungswagen und legen ihre Hände auf alles das sie nichts angeht. Sie stillen die Gier ihrer Klientel nach auch den peinlichsten Informationen, die ihnen nimmer peinlich sind und die sie im Notfall schon mal dazu erfinden müssen, wenn es sonst nicht reicht. Am Ende übersieht der Nachrichten-Konsumo am Ende noch sein eigenes Leben, weil er zu viel sieht und das Fremde lebt und erlebt statt des Eigenen. Kann es einen schlimmeren Diebstahl geben? W.K. Nordenham
15. Dezember 2014 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland, Notizen zur Zeit
Franzen: …“Ich betrachte mit seinen Augen das Zeitalter von Google, Facebook und Twitter. Dabei fiel mir etwas Unglaubliches auf: Vieles von dem, was Kraus schrieb, trifft unsere Zeit noch genauer als seine eigene.“
Jonathan Franzen
Das Kraus-Projekt Rowohlt 2014 304 S. ISBN 978-3-498-02136-8 19,95 €
Karl Kraus wird immer lebendiger. Das erfreut mich und die ihn schätzen, was mehr beinhaltet als ein bloßes Verehren, weil dieses kritische Betrachtung ermöglicht, was jene eher hindert. Jonathan Franzen und Daniel Kehlmann geben im Interview in „Die Zeit“ ein Beispiel für Ersteres, dem wie zum Gegenbeweis etwas auf Journailleniveau aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgt. Wäre Herr Weidemann nicht Feuilletonchef bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Text hätte das Lektorat keinesfalls so passiert. So mutiert sein Kommentar ungewollt zu einem q.e.d. für Karl Kraus` Argumentation.
DIE ZEIT Nº 49/2014 27. November 2014 07:00 Uhr
Karl Kraus
Der große Bruder
Die Schriftsteller Jonathan Franzen und Daniel Kehlmann sind Freunde, und beide verehren den genialen Satiriker Karl Kraus. Über ihn wollen sie hier reden – aber auch über die Erotik der Sprache, die Freuden des Zorns und über die Abgründe des Internets. Interview: Peter Kümmel
Seit 30 Jahren steht der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen im Bann des Wiener Satirikers und Kritikers Karl Kraus (1874 bis 1936). Um Kraus endlich wirklich zu verstehen, hat Franzen zwei von Kraus’ zentralen Essays, Heine und die Folgen und Nestroy und die Nachwelt, ausführlich kommentiert und ins Englische übersetzt. Die deutsche Ausgabe dieses Werks heißt Das Kraus-Projekt. Das Buch ist auch ein autobiografisches Unternehmen, ein Ich-Projekt, denn die Fußnoten zu Kraus geben Aufschluss über Franzens eigenes Schriftstellerleben. Als Lektor und Berater stand Franzen sein europäischer Freund Daniel Kehlmann zur Seite, auch er ein großer Kraus-Verehrer. An einem nasskalten Novemberabend treffen wir die beiden zum Gespräch. Treffpunkt ist Franzens Apartment an der Upper East Side von New York.
DIE ZEIT: Meine Herren, Karl Kraus war ein unerbittlicher Gesellschafts- und Sprachkritiker. Haben Sie manchmal rückwirkend Angst vor ihm? Angst davor, dass Ihre Literatur seinem unerbittlichen Blick nicht standhalten würde?
Daniel Kehlmann: Ja, absolut. Wenn man sich mit Kraus beschäftigt hat, hat man diese Fantasie: Was würde er über mich sagen? Und das wäre sicher nichts Nettes. Das Einzige, was uns schützen würde, wäre, dass sich Kraus für Romanautoren nicht interessiert hat. Er war kaum fähig, Romane zu lesen. Alles Narrative war ihm fremd.
Jonathan Franzen: Ich habe so viele Texte geschrieben, die keine Romane sind, dass ich voll in seinem Visier wäre – ich wäre sicher ein mögliches Ziel. Aber ich habe keine Albtraum-Fantasien, in denen Karl Kraus mich vernichtet. Als junger Mensch fürchtete ich mich zwar vor der Schärfe seines Urteils, aber zugleich fühlte ich mich zu ihm hingezogen wie zu einem viel Stärkeren. Mein Kalkül war: Ich musste ihm nur geistig nahe genug kommen, dann würden die wütenden Pfeile, die er in die Welt schleuderte, mich verfehlen.
ZEIT: Sie wählten sich Kraus als einen idealen großen Bruder?
Franzen: Genau. Das war er für mich. An solche Verhältnisse war ich gewohnt. Ich habe zwei größere Brüder. Inzwischen habe ich mir aber selbst ein relativ dickes Fell wachsen lassen, und das brauche ich auch angesichts der Kritik, die ich bekomme. Die Pfeile fliegen wirklich.
ZEIT: Viele Kraus-Interpreten deuten seinen Zorn auf andere als eine Art umgeleiteten Selbsthass. Es ist ja wirklich auffällig, dass er niemals Zeichen der Selbstkritik, des Selbstzweifels zeigte.
Franzen: Er war in einem gewissen Maß der Gefangene seines Stils. Ich habe dieses Problem zum Teil reproduziert – in den Fußnoten des Kraus-Projekts. Ich habe unter seinem Einfluss eigene Aussagen bis zur äußersten Polarität zugespitzt, ich teilte die Welt in Freund und Feind, in Gut und Böse. Dadurch bekommen die Sätze viel mehr Kraft und Schub. Es ist ein Rausch. Man wird süchtig nach dem Krausschen Zorn.
ZEIT: Mich irritiert seine Attitüde, auf die Mitmenschen wie auf seelenlose Untote, nein eigentlich: wie auf Hirntote herabzublicken.
Kehlmann: Aber das stimmt nur für eine bestimmte Klasse von Schriftstellern und Journalisten. Dagegen war er voll des Mitleids für die wirklich leidenden Menschen. Er konnte beispielsweise nicht einstimmen in die Kriegsbegeisterung vor dem Ersten Weltkrieg – weil er genau wusste, welches Leid über die Menschen kommen würde. Er war der einzige bedeutende Schriftsteller, der gegen diesen Krieg war.
Franzen: Es war die Zombie-Sprache, die er angriff. Die sich selbst perpetuierende Phrase des Journalismus, die kein Leben hatte, aber einfach nicht verschwinden wollte. Wer so schrieb, war sein Gegner.
Kehlmann: Mir hat immer sehr die Unterscheidung gefallen, die Schiller in seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung trifft. Er sagt nämlich, es gibt die lachende und die strafende Satire. Die lachende Satire zeigt die Welt, wie sie wirklich ist, und lacht darüber. Während die strafende Satire sich erregt über den Zustand der Welt. Sie ist der Blitzstrahl, der Richtspruch. Dafür steht Kraus.
Franzen: Ich stimme Schiller nur zum Teil zu. Wenn es nicht komisch ist, ist es nicht Satire, sondern etwas anderes: Kritik.
ZEIT: Herr Franzen, Sie selbst teilen die moderne Literatur ein in zwei Kategorien: einerseits Status-Romane, andererseits Kontrakt-Romane. Der Status-Autor demonstriert immerzu seine Einzigartigkeit, er schreibt schwer verständlich und entzieht sich dem Publikum. Der Kontrakt-Autor dagegen schließt einen Vertrag mit seinen Lesern, er will sie in seine Romane hineinziehen und ihnen ein guter Gastgeber sein. Wie liegt der Fall bei Kraus? Einerseits war er ein Status-Autor, der teils kryptisch schrieb und sich als unerreichter Stilist begriff; andererseits wollte er aber den Kontrakt mit seinen Lesern, die ihn süchtig lasen …
Franzen: Diese Begriffe stammen zwar nicht von mir, sondern von William Gaddis, aber ich habe sie auch verwendet. Gaddis fand, dass die Kontrakte zwischen Künstler und Publikum nicht mehr gültig seien. Das führt zur totalen Glorifizierung des Künstlers als einsames Genie, das von der Masse nicht verstanden wird. Eine gefährliche Position, denn unter ihrem Deckmantel findet eine Menge schlechter Literatur Schutz. Auch die Sprache von Kraus sperrt sich gegen den Leser, aber sie ist brillant. Kraus wollte mit seinen Texten klarstellen, dass hier ein geistig unerreichbarer Autor am Werk war. Und er hat sich ein Publikum erzogen, das seine codierte Sprache verstand.
ZEIT: Kraus sagt: „Das Schlimmste, was meine Leser über mich sagen können, ist: Ich kenne Karl Kraus.“ Was für ein Kontrakt ist das denn?
Kehlmann: Er verbat sich Annäherungen. Auf der Rückseite seiner Zeitschrift Die Fackel stand: „Zusendungen welcher Art immer sind unerwünscht.“ Dass man ihn verehrte, hieß nicht, dass man ein Recht hatte, etwas von ihm zu wollen. Einer seiner imponierendsten Sätze steht in einem Text namens Apokalypse, den er schon 1909 schrieb, da heißt es: „Ich bin größenwahnsinnig. Ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird.“
ZEIT: Hatte er recht?
Kehlmann: Er hatte recht. Seine Zeit ist nicht gekommen. Und sie kommt auch nicht. Das hat wahre Größe. In einer Welt, in der sich alle wünschen, dass ihre Zeit kommt, sagt da einer diesen Satz.
ZEIT: Hat er geahnt, warum seine Zeit nicht kommen würde? Hat er den Nationalsozialismus und den Antisemitismus nicht unterschätzt?
Franzen: Er unterschätzte zumindest die Macht des Antisemitismus. Dafür spricht etwa dieser Aphorismus von Kraus: „Das einzige, was ich mehr hasse als die antisemitische Presse, ist die jüdische Presse. Das einzige was ich mehr hasse als die jüdische Presse, ist die antisemitische Presse.“ Das ist in gewisser Weise fahrlässig, das virtuose, aber auch leere Spiel eines Mannes, der sich mit keinem Lager gemeinmachen will.
Kehlmann: Aber er schildert sehr genau in seiner großen Schrift Die dritte Walpurgisnacht, die allerdings erst posthum erschien, den allmählichen Umschlag in die Barbarei. Er hat nichts anderes getan, als aufmerksam Zeitung zu lesen, bis hin zur kleinsten Lokalzeitung, und da sind eben diese kleinen Momente des Kippens zu erkennen. Jedem, der heute sagt, man habe damals nicht wissen können, wie sich der Faschismus entwickeln würde, muss man nur Die dritte Walpurgisnacht in die Hand drücken.
ZEIT: Kraus hat eine sehr spezielle Beziehung zur Sprache: Er spricht von ihr wie von einer Heiligen und einer großen Geliebten, mit der nur der wahre Schriftsteller – also er – Kinder zeugt, während alle mindereren Geister Unzucht mit ihr treiben. Herr Franzen, Sie schreiben in diesem Zusammenhang, Kraus sei ein Vorläufer der heutigen Rapper – ein Mann, der mit seiner Potenz prahlt.
Franzen: Tatsächlich hat er die Sprache als eine Frau bezeichnet, und diese Frau wollte er erobern. Das war das Rapperhafte an ihm: Ich bringe die Lady besser in Fahrt, als ihr anderen es könnt – because I know her and I know how to really ring her bells!
Kehlmann: Man findet solche Elemente ganz wörtlich in Bezug auf Rilke, denn Rilke war für Kraus im doppelten Sinn der große Rivale, als Lyriker, aber auch als Mann. Beide standen Sidonie Nádherny von Borutin sehr nahe. In Kraus’ Briefen an Rilke sieht man sehr stark diese Rapperattitüde – Kraus weist auf seine überlegene Männlichkeit hin.
ZEIT: Was würde er denn heute tun? In der Welt des World Wide Web, das jeden geistigen Zug, der irgendwo getan wird, kontrolliert und aufzeichnet? Würde er es benützen oder bekämpfen?
Kehlmann: Ich weiß es nicht. Aber ich ahne, wie er es analysieren würde. Kraus hat in der Auseinandersetzung mit Medien hartnäckig eine simple Frage gestellt, von der sich alles andere ableitet: Wem gehört eigentlich das Medium? Diese Frage ist nach wie vor die entscheidende.
ZEIT: Und die Frage führt heute noch weiter als zu seiner Zeit. Ich nehme das Gespräch, das wir gerade führen, mit einem iPhone auf.
Kehlmann: Ganz genau: Wem gehört der Hersteller dieses Gerätes? Wem die Software? Was sind seine Interessen? An der Bedeutung dieser Fragen hat sich nichts geändert.
Franzen: Kraus ist in seinen Analysen dem Geld gefolgt. Was würde er heute tun? Eine sehr interessante Frage. Die Internetfans glauben ja, als Blogger sei man sein eigener Herausgeber. Aber das stimmt nicht. Kraus war wirklich sein eigener Herausgeber: Er hat Die Fackel veröffentlicht, die kleine Zeitschrift, die sich der Wiener Mainstream-Presse widersetzte. Er war unabhängig und unbestechlich. Der heutige Nexus aus Kapitalismus, Technologie und Medien dagegen verkauft seinen Kunden die Idee, sie seien Rebellen, wenn sie ihre Gesellschaftskritik im Internet veröffentlichen. Das Netz macht so aus jungen Menschen Republikaner im Geiste.
ZEIT: Das müssen Sie erklären.
Franzen: Sie erkennen schon gar nicht mehr das Problem, dass die Macht sich in den Händen weniger Menschen und Konzerne befindet. Sie nehmen es als gegeben. Innerhalb dieser Gegebenheit dürfen sie sich dann symbolische Freiheiten nehmen, sich als Rebellen aufführen und ihre „Authentizität“ inszenieren.
ZEIT: Sie haben Kraus’ Methode der Sprachkritik mit dem Stil eines Bloggers verglichen.
Franzen: Ich glaube, Kraus wäre heute in einem wirklichen Dilemma. Er würde diese Technologie genau durchschauen, andererseits ist der Netz-Diskurs wie für ihn geschaffen: Seine Texte waren wie Blogger-Texte: eigene Sätze und Zitate, es fehlen nur die Hyperlinks. Er würde vermutlich 26 Stunden am Tag das Netz nach Material durchsuchen.
Kehlmann: Interessanter als die Frage, was er heute tun würde, ist für mich, was man von ihm lernen kann. Die Frage: „Wem gehört das Medium, und was sind seine Interessen?“, betrifft heute viel mehr Bereiche unseres Lebens als zu Kraus’ Zeit – jeden Akt der Kommunikation, jeden Einkauf, jeden Telefonanruf.
ZEIT: Als Hitler an die Macht kam, sagte Kraus, zu dem falle ihm nichts ein – was natürlich nicht stimmte, es fiel ihm unendlich viel ein. Er wollte nur sagen: Hier helfen die Waffen des Geistes nicht mehr. Könnte es sein, dass ihm heute, überfordert von der Fülle des Daten- und Medienmaterials, zu unserer Welt nichts mehr einfiele?
Franzen: Er sah keine Möglichkeit, sich über die Faschisten lustig zu machen. Dieser Gegner war mit Satire nicht mehr zu bekämpfen. Aber solange wir noch zivilisierte Strukturen haben, kann man sich auch lustig machen. Ich glaube, Kraus würde genug zu unserer Welt einfallen. Nebenbei bemerkt: Wer öffentlich das Internet problematisiert, wie ich das tue, auch im Kraus-Projekt, der muss sich warm anziehen. Das Netz ist voll von harschen Kommentaren über mich – ich werde als Idiot und als Steinzeitmensch bezeichnet.
ZEIT: Sie selbst greifen im Kraus-Projekt den Schriftstellerkollegen Salman Rushdie an, weil der sich naiv für Twitter begeistert.
Franzen: Woraufhin er getwittert hat, Franzen solle mal lieber aus seinem Elfenbeinturm rauskommen. Da ich selbst nicht twittere, habe ich das nicht gelesen, es hat sich aber zu mir rumgesprochen. Ich habe Salman gestern zufällig zum ersten Mal seit dieser kleinen Auseinandersetzung wiedergetroffen. Er war sehr freundlich.
Kehlmann: Er sprach vom Elfenbeinturm? Aber das ist keine Beleidigung.
Franzen: Oh doch, in den USA ist das eine absolute Beleidigung. Er nannte mich elitist.
ZEIT: Herr Franzen, das Kraus-Projekt besteht zum großen Teil aus Fußnoten. In diesen Anmerkungen, die eigentlich Hauptsachen sind, kommentieren Sie nicht nur Texte von Kraus. Sie erzählen auch ein Stück Ihrer Lebensgeschichte: ein Porträt des Künstlers als junger Krausianer. Dass in einem literarischen Werk die Fußnoten das Wesentliche enthalten, gab es schon einmal: in Vladimir Nabokovs Roman Fahles Feuer .
Franzen: Ich wollte immer schon etwas Fahles, Feuer -Artiges schreiben. Ansonsten verkneife ich mir beim Schreiben Fußnoten. Aber zu Kraus passte diese Form, sein ganzes Werk entwickelt sich im Fußnoten-Modus: aus Anmerkungen zu fremdem Text. Ich versuche in diesem Buch über Kraus, selbst ein wenig Kraus zu spielen. Ich betrachte mit seinen Augen das Zeitalter von Google, Facebook und Twitter. Dabei fiel mir etwas Unglaubliches auf: Vieles von dem, was Kraus schrieb, trifft unsere Zeit noch genauer als seine eigene.
ZEIT: Und seine Kritik „traf“ ja wirklich, mit aller Macht. Er machte sich unendlich viele Feinde. Sein Werk erscheint wie die Lebensäußerung eines Mannes, dem jede Angst fehlt, weil sein Zorn so groß war.
Kehlmann: Kannte er Angst? Ich weiß nicht, ob er Angst vor den Nazis hatte. Er wusste sicher, was auf ihn zugekommen wäre, wenn er ihre Herrschaft noch erlebt hätte. Aber er ist ja sozusagen rechtzeitig gestorben. Er lebte eigentlich in einer sehr zivilisierten Welt. Er hat dasselbe Kaffeehaus aufgesucht wie die Leute, die er fürchterlich angegriffen hat – und dann haben die sich höchstens in einen anderen Flügel des Kaffeehauses zurückgezogen, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Franzen: Aber so zivilisiert ging es dann doch nicht zu, denn er hat Leute verklagt. Reihenweise. Das ist für mich einer der dunkelsten Aspekte von Kraus: Er war durch das Vermögen seiner Familie geschützt. Wäre er ein armer Mann gewesen, hätte seine Kritik an der Korrumpierbarkeit der Journalisten mehr Biss. Er konnte es sich leisten, nicht korrupt zu sein. Er konnte attackieren, wie es ihm gefiel. Und wenn andere ihn zu sehr attackierten, zerrte er sie vor Gericht – und das ist übel.
Kehlmann: Das hat aber eine Tradition. Schon Voltaire hat gesagt: Um so frei zu sein wie ich, muss man auch sehr alt sein und sehr reich. Und Kraus hat mit manchen Prozessen tatsächlich Exempel statuiert.
ZEIT: Er hat das Justizsystem sozusagen durchgespült mit einem reinigenden, exemplarischen Prozess?
Kehlmann: Genau. Er hatte die Zeit und das Geld, die strafende Satire mit anderen Mitteln, den Mitteln des Gerichts, fortzusetzen.
Franzen: Nun, du kommst aus Wien, du hast eine größere Toleranz gegenüber Leuten mit ökonomischen Privilegien. Das ist bei mir ein wenig anders, weil ich aus dem Mittleren Westen der USA komme. Aber du hast schon recht: Es fehlen Menschen, die diese Kraussche Konsequenz besitzen. Mir geht die fürchterliche Nettigkeit der jungen amerikanischen Schriftsteller auf die Nerven. Ich meine, wer wird heute Schriftsteller? Es sind wohlhabende Leute, denen der Papa die Dichterklause in Brooklyn bezahlt. Diese Leute könnten etwas riskieren – so wie Kraus es tat. Aber sie haben fürchterliche Angst. Vermutlich vor den Internet-Trollen, die unendlich viel Zeit und Raum für ihre Attacken haben.
ZEIT: Was haben die Trolle gemacht, als es das Internet noch nicht gab?
Franzen: Dazu muss ich ein wenig zurück in die Vergangenheit gehen. Das Internet wurde ersonnen von einer Gruppe privilegierter weißer Burschen. Viele von denen waren in den sechziger und siebziger Jahren Hippies, die beim Versuch, eine utopische Welt zu erschaffen, völlig gescheitert waren. Also haben sie sich gesagt: Beim zweiten Mal werden wir es mit Technologie versuchen. Dann werden wir den Weltfrieden schon retten. Und solange nur ein paar Tausend privilegierte weiße Typen am Internet beteiligt waren, hat alles wunderbar funktioniert. Dann wurde das Netz größer und größer – und man stellte fest, dass es nicht sicher ist. Dass es uns alle total kontrolliert. Und dass es niedere Instinkte weckt. Die Trolle sind die Hooligans der Netzwelt.
Kehlmann: Eine Sache, die wir von Kraus nicht übernehmen sollten, ist seine klare Trennung der Welt in die Guten und die Bösen. Ein Troll ist nicht das Böse an sich. Wir sind selbst die Trolle. Jedenfalls haben wir diese Möglichkeit alle in uns. Der Mensch ist ein offenes System. Wenn ihm die Möglichkeit geboten wird, anonym seine Aggressionen zu kultivieren, dann tut er es und wird eben dadurch immer aggressiver. Dem zu widerstehen ist ein Akt der Selbstkontrolle.
ZEIT: Das Internet steht also nicht im Bann des Bösen?
Kehlmann: Es gibt innerhalb des Mediensystems keine Verschwörungen. Das wäre zu einfach. Es war auch im Wien von Karl Kraus nicht so geradlinig, dass die Zeitungsbesitzer einfach den Redakteuren diktierten, was sie zu schreiben hätten. Sondern, wenn man Kraus folgt, ist es so: Die Redakteure schreiben das, was die Besitzer ihrer Zeitungen wollen, die Besitzer lesen es dann – und glauben es. Es ist ein sich selbst erzeugendes System. Das gilt natürlich auch heute. Der Besitzer von Facebook, Mark Zuckerberg, gibt ungeheuer viel Geld aus, um ein bestimmtes Welt- und Menschenbild zu propagieren – und dann glaubt er’s selbst. Adorno hat dafür den Ausdruck des Verblendungszusammenhangs geprägt. Und Adorno war sehr von Kraus beeinflusst.
ZEIT: Das Kraus-Projekt handelt davon, wie Sie, Jonathan Franzen, sich mit diesen geistigen Werkzeugen des Karl Kraus vertraut machen. Es ist aber auch eine Bestandsaufnahme Ihres Verhältnisses zur deutschen Kultur, denn Sie haben Ihre Kraus-Studien an deutschen Universitäten betrieben. Was bedeutet dieses Land für Sie?
Franzen: Ich kam über die deutsche Literatur zum Schreiben. Deutsche Literatur war sättigend. Man war nicht zwei Stunden später wieder hungrig, wenn man ein Stück deutscher Literatur verschlungen hatte. Man konnte den ganzen Tag arbeiten, man hatte genug zu verdauen. Das Wort „Dichtung“ sagt schon alles: Die Idee, die Dinge zu verdichten im Prozess des Schreibens – das wurde meine Definition von Literatur. Für mich war deutsche Kultur immer gleichzusetzen mit „Bedeutung“. Auch wenn ich in meiner Zeit in Berlin eine Überdosis von Bedeutung abbekommen habe – ich wurde ein wenig psychopathisch damals.
ZEIT: Was geschah?
Franzen: Ich setzte mich fürchterlich unter Druck. Alles, was ich tat, musste literarisch bedeutsam sein und dem Werk nutzen, jede Bewegung musste „Signifikanz“ haben. Ich lebte zeitweise in einer Wahnwelt der bedeutungsvollen Zeichen. In gewisser Weise war Deutschland der perfekte Ort für meinen Zusammenbruch.
Der Amerikaner – Jonathan Franzen, 55, Autor der Romane Die Korrekturen und Freiheit, ist einer der wichtigsten Schriftsteller der englischsprachigen Welt.
Der Europäer – Daniel Kehlmann, 39, geboren in München und aufgewachsen in Wien, kam mit dem Roman Die Vermessung der Welt zu Ruhm
Das Interview von Franzen und Kehlmann offenbart sich ein grundsätzliches Problem, das jedermann haben muss, der sich mit Karl Kraus befasst. Die Unnahbarkeit der Person und die begrenzte Nahbarkeit der Sprache, beide mit derselben Aura des Faszinierenden, die einem großen Kunstwerk eignet und beim Betrachten jedes Mal einen neuen Blick darauf erlaubt. Bei Karl Kraus heißt das Kunstwerk Sprache. Mir hat das Interview wegen der reflektierten Antworten einfach nur gefallen. Deshalb wird es hier zur Kenntnis gebracht. Nebenbei bemerkt, das m. E. epochale Buch über die Nazizeit von Karl Kraus heißt „Dritte Walpurgisnacht“ und nicht „Die dritte Walpurgisnacht“. Auf der Korrektur hätte auch Karl Kraus bestanden. Der Rest wäre vermutlich unkommentiert geblieben. Dann äußern sich zu dem Interview zwei, die es auch mal versuchen wollen, in der FAZ . Der Kontrast könnte größer nicht sein. Wie sagte Karl Kraus: Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen. Die Heraushebungen stammen von mir.
Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.1.2.14
Feuilleton
Karl-Kraus-Projekt
Die Schule der Vernichtung
Karl Kraus war erbarmungslos gegen seine Feinde, dafür verehren ihn viele Feuilletonisten und Schriftsteller bis heute. Wir nicht.
06.12.2014, von Niklas Maak und Volker Weidermann
Im Bonn der späten neunziger Jahre gab es einen Dozenten, der jungen Studenten, die Journalisten werden wollten, beibrachte, was einen guten Kritiker ausmacht. Dieser Dozent, ein hagerer Mann mit einer blonden Bürstenfrisur und einem Rucksack, auf dem ein eingerollter Fuchs abgebildet war, ließ seine Studenten vor allem zwei Autoren lesen: Rolf Dieter Brinkmann – und Karl Kraus. Bei ihnen, bekamen die Studenten beigebracht, lerne man, „radikal“, „unversöhnt“, „scharfsinnig“ der Gesellschaft „einen Spiegel vorzuhalten“.
Die erste Aufgabe der Bonner Studierenden bestand darin, sich an der wütigen Großlitanei „Rom. Blicke“ von Brinkmann warmzulesen und dann den Verriss eines beliebigen aktuellen Kulturprodukts im Stil von Karl Kraus zu verfassen – und die Studierenden gaben sich alle Mühe, ein Buch, eine Ausstellung, einen Film möglichst böse, kaltherzig und aphoristisch scharf kleinzumachen, weil es eben kleingemacht werden musste.
Einige, die diese Schule durchliefen, wurden später wirklich Kritiker, sie schrieben für Zeitungen und Radios Verrisse, immer an Karl Kraus denkend: Sie vernichteten Romandebüts, sie höhnten über erste kleine Galerieausstellungen. Sie wussten nicht, wogegen sie kämpften und wofür, warum genau sie etwas verrissen, was ihnen daran nicht gefiel. Sie hatten abgespeichert, dass Kritik in Deutschland „Erledigung“ bedeutete. Sie hatten eine grimmige Freude daran, alles Herausragende in den Brei des Mittelmaßes zurückzustampfen. Sie lernten, die Welt durch einen Hämefilm zu betrachten und nur hin und wieder seinen Gegenstand gnädig mit einem anerkennenden Schulterklopfen zu bedenken – und sie wussten, dass sie klingen mussten wie Karl Kraus.
Mit Kraus begann ihre Erziehung zur Kälte, zum Desinteresse am Menschen, zum Kulturjournalismus als elaborierter Form von Häme, der Glaube, dass die gekonnt gesetzte Infamie einen Inhalt, eine Überzeugung, eine Idee davon, wie es besser, anders sein sollte, ersetze.
Anleitungen zur Vernichtung
Aber sie begriffen Kraus nicht. Sie sahen sein Drama nicht, sahen nicht, d a s s s e i n M e n s c h e n h a s s immerhin dort aufklärerisch war, wo er die durch und durch korrupte Medienbranche seiner Zeit traf, wo seine Rhetorik auf die Fragwürdigkeiten der Psychoanalyse und die Bigotterie der Kriegslyriker zielte, die nach dem Krieg als Pazifisten auftraten. Die Lehre aus Kraus war nicht, sich furchtlos mit mächtigen Feinden anzulegen; der Kraus der deutschen Journalistenschulen ist vor allem ein Sound, eine Anleitung zur gnadenlosen, unbedingten „Erledigung“, zu Vernichtungen ohne Ziel.
Kann man Kraus das vorwerfen, was deutsche Journalistenschulen und Literaturwissenschaftler aus ihm machen? Natürlich nicht. Kraus, 1874 in Böhmen geboren, Herausgeber und ab 1912 alleiniger Autor der Zeitschrift „Die Fackel“, Satiriker, scharfer Kritiker der Presse und gleichzeitig damals einer ihrer Stars, starb 1936.
Interessant aber ist, warum und von wem Kraus heute, 2014, als Leitbild und Offenbarung empfohlen wird – und was aus ihm gemacht wird. Soeben ist Jonathan Franzens Buch „Das Kraus-Projekt“ auf Deutsch erschienen (Rowohlt, 19,95 Euro), in dem er die beiden Essays „Heine und die Folgen“ und „Nestroy und die Nachwelt“ von Karl Kraus mit eigenen Fußnoten der Begeisterung versieht.
Wie kann das sein? Der sanfte Franzen und der wütende Kraus?
Irgendwo mitten in seinen Fußnoten erklärt er, w i e e r d a r e i n – g e r a t e n i s t , i n d i e K r a u s – S c h u l e d e s Z o r n s . Es war auf einem Bahnsteig in Hannover, Franzen war 22 Jahre alt, er hatte sich aus irgendwelchen Gründen über eine „alte deutsche Pfennigfuchserin“ aufregen müssen, und kurz zuvor war es „mit einem unglaublich hübschen jungen Mädchen in München nicht zum Sex gekommen“. Um seinen Zorn darüber zu kultivieren, warf er zunächst sein ganzes Kleingeld auf den Bahnsteig, um mickrige deutsche Pfennigfuchser dabei zu beobachten, wie sie sich nach seinen Groschen bücken. Doch das genügte noch nicht. Der schöne Zorn sollte bleiben und noch größer werden: „Dann stieg ich in einen Zug und fuhr nach Berlin und schrieb mich in einen Kurs über Karl Kraus ein.“
U n d e r l a s u n d l a s u n d b e w u n d e r t e u n d l i e ß s e i n e n n o c h z a r t e n k l e i n e n Z o r n w e i t e r w a c h s e n . Er liebte Kraus’ Unbedingtheit, das perfekte System gegen die Welt: „Dass Kraus eine Rückkehr zur Reinheit forderte und ein vollständiges System lieferte, mit dem sich die Welt in Bezug auf ihre Verseuchung begreifen ließe: das sprach mich an, wie einen Zweiundzwanzigjährigen heute die regionale Öko-Landwirtschaft oder der radikale Islam ansprechen mag.“ K r a u s – e i n r a d i k a l e r Ö k o – B a u e r , e i n I S – T e r r o r i s t ! Ein Kämpfer für die reine Lehre, gegen Ironie, Leichtigkeit, und das hieß vor allem: gegen Frankreich und den alten Dichterfeind, gegen Heinrich Heine schreibt Kraus 1910 in „Heine und die Folgen“, er „wirke aus dem romanischen Lebensgefühl: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat. Wie leicht wird man krank in Paris! Wie lockert sich die Moral des deutschen Sprachgefühls!“
Sprachrichter Gnadenlos
Die Fremde ist das Kranke, die deutsche Sprache bekommt in Paris Syphilis: Hier steht K r a u s i m b e s t e n E i n v e r s t ä n d n i s m i t d e m d e u t s c h n a t i o n a l e n F r a n k r e i c h – u n d F r e m d e n h a s s seiner Zeit. Klar, das ist nicht der ganze Kraus. Man könnte ein Buch schreiben über d e n K r a u s , d e r b ö s e , m u t i g e , a u c h l u s t i g e L i e d e r über gewalttätige Polizeipräsidenten schrieb, die daraufhin zurücktreten mussten; den Kraus, der seine Lesungshonorare mittellosen Kriegswaisen und -witwen überließ; den Pazifisten Kraus, der von einer anderen Sprache träumte, die die Rhetorik der Kriegstreiber entlarven und sprengen würde.
Aber leider beziehen sich die meisten seiner n e r v t ö t e n d e n Anhänger nicht auf diese Seite ihres Idols, sondern auf den Kraus von „Heine und die Folgen“. Und dessen allgemein als „scharf“ und „gnadenlos“ bewunderte Metaphern und Sprachbilder künden vor allem von einem g r ü n d l i c h e n und t i e f s i t z e n d e n P r o b l e m m i t F r a u e n : Die französische Sprache gebe sich „jedem Filou“ hin, „vor der deutschen Sprache muss einer schon ein ganzer Kerl sein, um sie herumzukriegen“–und dann werden die Sprachbilder so schief, dass man sie mit vier Dübeln an der Wand befestigen möchte. „Die Sprache regt an und auf, wie das Weib“, erklärt Kraus, aber nur „die deutsche Sprache ist eine Gefährtin, die nur den dichtet und denkt, der ihr Kinder machen kann“. Die Sprache als Frau, die man rumkriegen muss, um ihr Kinder zu machen – man kann s i c h j e d e n f a l l s n i c h t ü b e r B u s h i d o a u f r e g e n u n d g l e i c h z e i t i g K a r l K r a u s v e r e h r e n .
Schmutzfluten aus Frankreich
Franzen vermerkt dazu in einer k l e i n l a u t e n Fußnote: „Zur Verteidigung dieser Sichtweise kann nicht viel mehr vorgebracht werden, als dass sein Stil auf extreme, prägnante Kontraste angewiesen war und dass er es nett meinte. Kraus mochte und bewunderte Frauen.“ Ach ja? Und in seinen vielen tausend Texten hat er das mal kurz vergessen? Nicht wichtig genommen? Oder war er etwa – ungenau? M a n b e k ä m e s c h o n g a n z g e r n e i n m a l e r k l ä r t , wo hier jetzt noch mal der unübertreffliche scharfe Stil von Kraus zu finden ist, der „den nachlässigen Umgang mit der Sprache als Zeichen der allgemeinen Gedankenlosigkeit und Unachtsamkeit“ deutete und für den „die Sprache das Medium des Denkens“ war, wie es a u f d e r W e b s i t e d e s „F e r n s t u d i u m s J o u r n a l i s m u s“ h e i ß t.
Man würde auch gern erfahren, wohin ein Denken führt, das zum Misstrauen gegen Erzähler aufruft, die sich, wie Kraus beklagt, „in exotischen Milieus herumtreiben“, von wo aus dem Leser dann „der Flugsand der französischen Sprache“ in die Augen treibt, die eben noch eine leicht herumzukriegende Frau war, offenbar aber eine aus Sand, während Heine leider auch „der deutschen Sprache“, vor der man ja einst ein ganzer Kerl sein musste, „so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können.“
H e r r j e h ! Der Vorwurf, der in dieser Galerie der schiefen Bilder sichtbar wird, ist: Heine sei zu süßlich, zu spielerisch, zu charmant, französisch kraftlos, ohne t i e f e n g e r m a n i s c h e n , s p r a c h- f r a u e n b e z w i n g e n de n E i g e n t l i c h k e i t s d o n n e r. Die Hoffnung: dass der deutschen Sprache das Mieder zugeknöpft wird, wenn sich in Deutschland die aus Frankreich hereingeschwappte „intellektuelle Schmutzflut“ verläuft und „das Kopfwerk sprachschöpferischer Männlichkeit“ wieder in sein Recht gesetzt wird.
M a n k a n n , b e i a l l d e r K r a u s-V e r e h r u n g , s c h o n a u c h e inmal f r a g e n , was m a n heute, wenn m a n n i c h t a n d i e w o h l t u e n d e W i r k u n g v o n X e n o p h o b i e , F r a u e n v e r a c h t u n g , N a t i o n a l i s m u s und d i f f u s e n M ä n n l i c h k e i t s r i t u a l e n auf die d e u t s c h e S p r a c h e g l a u b t , v o n d i e s e m K r a u s l e r n e n , w a s m a n a n s e i n e m S t i l b e w u n d e r n s o l l. Aufklärerisch haben viele andere gewirkt. Man kann Zolas „J’accuse“ lesen, man kann Heines oder Tucholskys kluge, warmherzige, nicht minder scharfe Satiren lieben, die Kraus vor allem einen Humor voraushaben, der den Menschen nicht verlorengegeben hat. Es ist eine deutsche Eigenart, Hass und Borniertheit ohne größere Umwege zu begehrenswerten romantischen Essentialien, nämlich als Ausweis von „Unbedingtheit“, „Radikalität“, „Tiefe“ zu verklären – ohne zu sehen, dass sie das Gegenteil davon sind.
Zurück zur Warmherzigkeit
„Mit unserem Misstrauen haben wir immer recht“, schreibt Franzen in seine Fußnoten hinein. Das ist das Kraus-Gift, das alle seiner Verehrer so magisch anzieht: Schreiben im Modus des Verdachts, des Misstrauens, des Schnüffelns nach Fehlern, statt frei heraus das Schöne zu lieben. Das herrliche Gedicht Heines über das vom Sonnenuntergang entzückte Fräulein: „Mein Fräulein, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter, / Und kehrt von hinten zurück.“ Kraus erkennt hier „Heines Zynismus“, das Niveau seiner Sentimentalität stehe „auf dem Niveau des Fräuleins“. Franzen erinnert sich an den Moment, als er Heines Zeilen zum ersten Mal las, an seine Begeisterung – „Wow, dachte ich, der ist ja einer von uns.“ Dann las er Kraus, und er erkannte, was an diesem Gedicht „problematisch ist“. Die Liebe war weg. Verachtung war an die Stelle getreten. Ist das ein Gewinn?
Jonathan Franzen ist kein kalter Zyniker, kein Weltverkleinerer. Seine „Korrekturen“ sind einer der wichtigsten und emphatischsten Romane der letzten Zeit, ein Werk, das scharfsichtig, aber warmherzig mit den Schwächen seiner Protagonisten umgeht, die Welt nicht hasst, sondern vom Kampf einiger Menschen handelt, sie erträglicher, leuchtender, schöner und größer zu machen. Wie er das gemacht hat? Er habe einfach, im Gegensatz zu Kraus, irgendwann angefangen, Romane zu schreiben. Dafür sei es das Wichtigste, „sich vorzustellen, wie es ist, jemand zu sein, der man nicht ist“. Und das untergrabe auf Dauer noch die größte Wut. „Je länger ich Romane schrieb, umso weniger vertraute ich meiner eigenen Selbstgerechtigkeit.“ Und der seines frühen Meisters.
Wie gesagt, der Text hätte das Lektorat der FAZ nicht überstanden, wäre sein Verfasser nicht Feuilletonchef. Karl Kraus führte als das stärkste Argument gegen seine Kritiker gern deren eigene Texte in Feld, indem er sie wortwörtlich abdruckte. Das gilt auch für den FAZ Artikel. Franzen wirkt darin wie ein vorgeschobener Strohmann, damit es dann direkt gegen Karl Kraus gehen kann. Es sei ergänzend zu bemerken, dass die Journalisten Niklas Maak und Volker Weidemann zu zweit auftreten, um den Versuch gegen Karl Kraus zu wagen, um einen Heinrich Heine zu retten, der weder gerettet werden muss noch es unter solchen Umständen wollen würde. Jedenfalls kann man keinen der beiden Journalisten für den einen oder anderen Satz direkt verantwortlich machen. Keiner ist es gewesen. Dass Jonathan Franzen im Vorbeischreiben abfertigt wird, offenbart ein Unverständnis über dessen Absicht, das dem Denker Franzen deshalb den Gedanken so lassen muss wie dem Journalisten die Phrase. Beides bleibt unvereinbar wie Tiefe und Fläche. So kommt in dem Artikel ein Sammelsurium aus Ungenauigkeiten zusammen, das sich selbstgemachter Popanze bedienen muss, die jene glauben Karl Kraus oder Jonathan Franzen unterjubeln zu dürfen. Woran liegt das? Sie kennen den Text nicht und verfassen einen eigenen, der dann zwangsläufig ebenso wenig trifft. Da ist Scheitern unvermeidlich. Unsinnig auf die Verbalien zu Karl Kraus Frauenbild oder auf die Heine-Polemik einzugehen. Da wird „das Kopfwerk sprachschöpferischer Männlichkeit“ aus Karl Kraus Abrechnung mit Heines Börne-Verriss herangezogen wie es eben passt. Ich lasse es. Der FAZ Text ist es nicht wert. Er ist selbst „nervtötend“, weil er einfach nur schlecht ist. Die Heraushebungen weisen die Ungenauigkeit nach. Was sollen solche Sätze wie
„Kraus – ein radikaler Öko- Bauer, ein IS-Terrorist!“
„Man kann sich jedenfalls nicht über Bushido aufregen und gleichzeitig Karl Kraus verehren.“
Bushido und Karl Kraus. Das entsteht aus Hochlraumversieglung oberhalb des Halses. Man fasst es nicht.
„Man kann, bei all der Kraus-Verehrung, schon auch einmal fragen, was man heute, wenn man nicht an die wohltuende Wirkung von Xenophobie, Frauenverachtung, Nationalismus und diffusen Männlichkeitsritualen auf die deutsche Sprache glaubt, von diesem Kraus lernen, was man an seinem Stil bewundern soll.“
Was man lernen können sollte von Karl Kraus? Nur eines : Niemals so zu schreiben – geschweige denn zu denken – wie die Verfasser des Artikels!
„Das h e r r l i c h e Gedicht Heines über das vom Sonnenuntergang entzückte Fräulein: „Mein Fräulein, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter, / Und kehrt von hinten zurück.“
Herrlich ? Dazu muss man Heine-besoffen sein. Wer das Schmunzeln überstanden hat, der empfindet die Geschmacklosigkeit.
Es könnte weiteres ungenau Ungereimtes folgen, etwa zu „Fernstudium Journalismus“, aber wozu ? Das oben zitierte Sammelsurium muss m a n sich im Zusammenhang mit Karl Kraus erst einmal zusammenfabulieren. Stellvertretend für Karl Kraus zitiere ich als einzig stimmigen Kommentar dessen Aphorismus:
Ein Feuilleton schreiben, heißt auf einer Glatze Locken drehen.
Fazit : Es scheint besser Karl Kraus zu schätzen, als Heinrich Heine zu verehren.Der Dichter in Heine ist zudem nicht zu verwechseln mit den Folgen. Mehr ist zu diesem Fäule-Ton der FAZ – die Aussprache für Feuilleton gefällt mir gut – nicht zu sagen. Man lese Karl Kraus und erkenne eine kompromisslose Menschlichkeit, die sich entgegen journalistischer Praxis eben weigert, dem Zeitgeist zu dienen und den Menschen ihre Zeit zu stehlen, vielmehr Zeit zu erschließen – im Wort.
24. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen zur Zeit
Süddeutsche Zeitung 05.05.2012
Medienpreis für Sprachkultur
Marietta Slomka und Stefan Niggemeier ausgezeichnet
ZDF-Moderatorin Slomka und Medienjournalist Niggemeier sind für ihre „hervorragenden Verdienste um die Sprache und Sprechkultur“ ausgezeichnet worden. In Wiesbaden hat die Gesellschaft für deutsche Sprache ihnen die Auszeichnung übergeben. Auch eine Nachwuchsjournalistin wurde geehrt.
ZDF-Moderatorin Marietta Slomka und Medienjournalist Stedan Niggemeier. haben den diesjährigen Medienpreis für Sprachkultur erhalten. Beide werden damit für ihre „hervorragenden Verdienste um die Sprache und Sprechkultur“ ausgezeichnet, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprachkultur, Armin Burkhardt, zur Begründung bei der Verleihung am Samstag in Wiesbaden.
Beinahe hätte ich vergessen dieses Ereignis dem geneigten Publikum mitzuteilen. So ist das mit den Preisen. Irgenjemand muss sie bekommen. Niggemeyer mag eine gewisse Berechtigung zugestanden sein, aber wie kommt die Gesellschaft für deutsche Sprachkultur – ich lese da immer Sprachklistier – auf „hervorragende Verdienste“ von Marietta Slomka? Es kann sich eigentlich nur um den Verdienst für eine journalistische Sprachkultur handeln, die zwischen der und das Verdienst im Allgemeinen sowieso keinen Unterschied mehr kennen muss und jenen deshalb nicht macht. Der Rheinländer hat die Antwort: „Mer weiß et nit!“
24. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Richard Schuberth
Zwei Formen der Verdummung: Keine Information und Information ohne Maß und Ziel. Für die zweite Möglichkeit sind die Medien zuständig, die täglich den Nachweis ihrer Verdummungseffizienz führen. W.K. Nordenham
Der folgende Artikel ist vor allem jenen ans Herz zu legen, die da glauben, ungezählte Fernsehprogramme mit ausufernder Information oder das Internet sorgten mit einem Mehr an Wissen für ein Mehr an Denkvermögen. Das Gegenteil ist für die überwiegende Mehrheit als gegeben zu betrachten.
Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Von Reiseschriftstellern, Bildungs- und Wissenschaftlhubern.
„Gelehrsamkeit, die –
Staub, aus einem Buch in einen leeren Schädel geblasen.“
Ambrose Bierce
„Es hat jemand mit großem Grunde der Wahrheit behauptet, dass die Buchdruckerei Gelehrsamkeit zwar mehr ausbreitet, aber im Gehalt vermindert hätte. Das viele Lesen ist dem Denken schädlich. Die größten Denker (…) waren grade unter allen den Gelehrten, die ich habe kennen gelernt, die, die am wenigsten gelesen hatten.“
Georg Christoph Lichtenberg
„Jedes Ereignis, über das ich nichts lese, ist Ruhe, jedes Gebiet, das ich nicht betrete, Erholung. Je weniger ich weiß, desto besser errate ich.“
Karl Kraus
Zu den zeitlos wertvollen Anregungen des Kraus’schen Vermächtnisses zählt seine Respektlosigkeit gegen alles, was die bürgerliche Gesellschaft für Geist und Intellekt hält. Nicht nur bietet jene der Nachwelt ein weites, gut ausgeleuchtetes Tor in sein Denken, sondern die letzte Möglichkeit, gründlich zu revidieren, was sie für gescheit hält. Dies gelingt aber erst nach Revidierung des abgelutschten Vorurteils, solch Radikalität der Kritik an Wissenschaft, Bildung und Empirie sei Ausdruck seiner narzisstischen Originalitätssucht gewesen. Denn hat man einmal kapiert, welchen Spott Kraus auch dieser entgegenbringt, wird man verstehen, welch gründlicher ethischer Ernst seine Abneigung nährt.
Da es sich für Kraus nur in und nicht mit der Sprache denken lässt, stehen die Geistes- und Kulturwissenschaften auf der Liste der zu bestrafenden Sprachvergewaltiger ganz oben, nicht nur wegen ihrer Jargons, sondern auch aufgrund ihrer Entkoppelung von Form und Inhalt zugunsten größerer Objektivität. Der Einwand von Wissenschaftsseite her, es ginge zunächst um Faktizität und Schlüssigkeit der Theorie, Arbeit an der Form sei eine Stilfrage, ästhetische Fleißaufgabe, ließe Kraus niemals gelten. Wer an der Form nicht hart arbeitet, bleibt auch der Wahrheit fern und setzt bloß die nach den wissenschaftlichen Moden wechselnden Analysebausteine immer wieder neu zusammen. An der positivistischen Vereinheitlichung der Sprache zu methodischen Instrumenten lässt sich das Verhältnis allgemein des Forschergeistes zum Erforschten ablesen, nämlich nicht das des Verstehens, sondern des Beherrschens. Jene „hoffnungslose Intelligenz, die alles Geistige nach seinem Wert fürs Fortkommen abschätzt“, kann sich nur per Obduktion vom Innenleben einer lebendigen Wirklichkeit Begriffe machen. Dabei hält Kraus stets an der kritischen Rationalität fest und verordnet selbst der Kunst, dass ihr die „Logik einmal geschmeckt haben“ müsse. Auch wissenschaftliche Systematik, so ließe sich seine Allegorik frei variieren, schadet nicht, zumindest zur Disziplinierung sich naturgemäß überschätzender adoleszenter Individualität. Nur sollte man rechtzeitig aus dem Wissenschafts-Internat türmen, ehe einem nicht nur die Adoleszenz, sondern auch gleich die Individualität ausgetrieben wird, man sich für die Fähigkeit, auch ohne akademische Gehhilfen voranzukommen, zu genieren beginnt.
Die wissenschaftliche Initiation erfolgt stets nach demselben biographischen Muster. Vor der Universität reagiert man auf alles Denken, das die Frechheit besitzt, von einem nicht verstanden zu werden, mit Minderwertigkeitsgefühlen, Ablehnung und schließlich Anpassung. In diesem frühen Stadium sind akademische Geheimsprache und wahrer Tiefsinn noch nicht voneinander zu unterscheiden, doch man wird sich später immer mit Ersterer gegen Letzteren verbünden. Der Hausverstand kann sich mit dem Campusverstand stets besser arrangieren als mit dem Geist, und je obskurer der Fachjargon, desto besser lässt sich mit ihm bluffen, und die, welche durch dessen Beherrschung dem Magister- bzw. Doktorvater gefallen wollen, werden jenen, die allein Form und Sache verpflichtet sind, immer Selbstgefälligkeit vorwerfen.
Kraus propagiert Kunst mit einem Erkenntnisinteresse, das wissenschaftlicher Exaktheit nicht fern ist. Nur vor dem Hintergrund seiner nahezu religiösen Verehrung sprachlichen Denkens, das kritische Rationalität mit schöpferischer Phantasie versöhnt, ist seine herablassende Haltung gegenüber den „Wissenschaftlhubern“ verständlich. Diese lässt er zumindest als Zuträger von Fakten gelten. „Die Wissenschaft könnte sich nützlich machen. Der Schriftsteller braucht jedes ihrer Fächer, um daraus den Rohstoff seiner Bilder zu beziehen, und oft fehlt ihm ein Terminus, den er ahnt, aber nicht weiß. Nachschlagen ist umständlich, langweilig und lässt einen zu viel erfahren. Da müssten denn, wenn einer beim Schreiben ist, in den andern Zimmern der Wohnung solche Kerle sitzen, die auf ein Signal herbeieilen, wenn jener sie etwas fragen will. Man läutet einmal nach dem Historiker, zweimal nach dem Nationalökonomen, dreimal nach dem Hausknecht, der Medizin studiert hat, und etwa noch nach dem Talmudschüler, der auch das philosophische Rotwälsch beherrscht. Doch dürften sie alle nicht mehr sprechen als wonach sie gefragt werden, und hätten sich nach der Antwort sogleich wieder zu entfernen, weil ihre Nähe über die Leistung hinaus nicht anregt. Natürlich könnte man auf solche Hilfen überhaupt verzichten, und ein künstlerischer Vergleich behielte seinen Wert, auch wenn in seiner Bildung die Lücke der Bildung offen bliebe und einem Fachmann zu nachträglicher Rekrimination Anlass gäbe. Aber es wäre eine Möglichkeit, die Fachmänner des Verdrusses zu überheben und sie schon vorher einer ebenso nützlichen wie bravourösen Beschäftigung zuzuführen.“
Von denen, die leibhaftig dort waren
Die Entbehrungen und Gewinne des sprachlichen Denkens ersetzen tausende Weltreisen und Feldstudien. Nicht dass Karl Kraus die unmittelbare Erfahrung gering schätzen würde, den Beweis ihrer Intensität kann der Autor ja im adäquaten Ausdruck nachliefern. Der Bluff beginnt erst dort, wo sich der Künstler mittels interessanter Themen vor dem eigentlichen Tagwerk und somit der eigentlichen Erfahrung, der Komposition, drückt. „Den Autoren wird jetzt geraten, Erlebnisse zu haben. Es dürfte ihnen nicht helfen. Denn wenn sie erleben müssen, um schaffen zu können, so schaffen sie nicht. Und wenn sie nicht schaffen müssen, um erleben zu können, so erleben sie nicht.“
Der nach wie vor grassierenden Vergötzung des welterfahrenen Reiseschriftstellers hätte Kraus einiges entgegenzusetzen. Wer von seinem Schreibtisch aus die Galaxien der Sprache durchmessen hat, dem sind die fünf Erdteile nur noch Provinzen, und eine Wellnessreise wäre die Durchquerung der Atacamawüste gegen die Höllen und Erlösungen der sprachlichen Gestaltung. Karl Kraus reiste gerne, aber nur um sich von den wahren Abenteuern, die in seinem Schreibzimmer stattfanden, zu erholen, und entgegen der Unterstellung der Askese suchte er im Geschlechtsakt Entspannung von den Ausschweifungen des künstlerischen Schöpfungsaktes. Doch dem Spießer ist schon jeder Teufelskerl und somit irgendwie Künstler, der mehr schnackselt als er selbst, in Kneipen verkehrt, in die er sich nie traut, und mit exotischen Spießern per du ist. Das intellektuelle Spießerbedürfnis nach Authentizität bedient der Kulturmarkt en masse mit literarischen Bosnientagebüchern, Donaureiseimpressionen und „Ich war ganz alleine dort“-Reportagen. „Nach wie vor ist es das fremde Milieu, was sie für Kunst halten“, erkennt Kraus. „In den Dschungeln hat man viel Talent, und das Talent beginnt im Osten etwa bei Bukarest. Der Autor, der fremde Kostüme ausklopft, kommt dem stofflichen Interesse von der denkbar bequemsten Seite bei. Der geistige Leser hat deshalb das denkbar stärkste Misstrauen gegen jene Erzähler, die sich in exotischen Milieus herumtreiben. Der günstigste Fall ist noch, dass sie nicht dort waren; aber die meisten sind leider doch so geartet, dass sie wirklich eine Reise tun müssen.“
Dass geistiger Provinzialismus durch physische Standortveränderung zwingend überwunden würde, ist leider nicht wahr. Vielmehr neigt er dazu, sich mit exotischen Provinzialismen zu verbiedern. Niemand ist dadurch interessanter, dass er viel herumgekommen ist. Es muss in ihm viel herumgekommen sein. Mit seinem Interesse an der Fremde hebt sich der aufgeklärte Spießer vom xenophoben Spießer ab, doch beide bekunden sie, wie fremd ihnen die Welt ist. Denn zwischen dem Großgöpfritzer, der den anderen Großgöpfritzer darum beneidet, in den Salons von Zwettl ein- und auszugehen, und der Bewunderung des Hietzingers für den Balkanexperten und der des Belgraders für den Schulfreund, der sich in den Hindukusch, nach Hietzing oder gar Großgöpfritz wagte, bestehen nur graduelle Unterschiede. Wer die Welt nicht konsumierend, sondern geistig, das heißt schöpferisch – und das heißt immer sprachschöpferisch – durchdrungen hat, dem ist irgendwann nichts mehr fremd außer der befremdliche Missstand geistiger und materieller Not. Nicht die Welt, wie sie woanders ist, sondern wie sie überall sein könnte, reizt den Denker, bei dem Scharfsinn und Ethik gemeinsam auf Reisen gehen. „Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal am Tag der Mist der Welt gekehrt wird.“
Von denen, die viel lesen und viel wissen
Dem Alltagsverstand ist die sprachliche Form bekanntlich nur Ausschmückung des Inhalts, für Kraus verhält es sich genau umgekehrt, und seine Argumente sind schwer von der Hand zu weisen. Nur lächerlich findet er Menschen, die durch Anhäufung von Faktenwissen Intellektualität reklamieren und das auch noch als literarischen Wert behaupten. Dumm sind niemals die Ungebildeten, sondern die, die so was für gescheit halten. „Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?“, spottet er dem Vielleser und Vielwisser indirekt, für den er auch direktere Aphorismen im Ärmel hat. „Die Bildung hängt an seinem Leib wie ein Kleid an einer Modellpuppe. Bestenfalls sind solche Gelehrte Probiermamsellen der Fortschrittsmode“ und „Der Vielwisser ist oft müde von dem vielen, was er wieder nicht zu denken hatte“ und „Vielwisser dürften in dem Glauben leben, dass es bei der Tischlerarbeit auf die Gewinnung von Hobelspänen ankommt.“
„Ein Bildungskünstler presst die Leckerbissen von zehn Welten in eine Wurst.“ Doch räumt Kraus der Bildung durchaus ihren Wert ein, so sich diese nicht als Eigenwert vor Gedanke und Empfindung drängt und der durch Wissen breitere Horizont nicht nur ausgewalzte Oberfläche ist: „Nun muss gesagt sein, dass diese Art, das Leben zu umschreiben oder um das Leben herumzuschreiben, immerhin einer Anschauung dienen könnte. Diese Umständlichkeit wäre Verkürzung oder die Verkürzung wäre sinnvoll, wenn die für die Dinge gesetzten Chiffren zugleich den Inhalt brächten, der von den Dingen ausgesagt werden soll, oder die Beziehung, in welche die Dinge gestellt werden sollen.“
Als Präzendenzfall, als Mutter aller Bildungshuberei führt Kraus in der „Fackel“ über Jahre hinweg den Berliner Starpublizisten Maximilian Harden vor, dessen gestelzter Bildungsbürgerjargon um 1900 Schule zu machen beginnt. „Man muss nachdenken; das ist eine harte Forderung, meist unerfüllbar. Aber die Forderung, die der Berliner Bildungsornamentiker stellt, ist bloß lächerlich: Man muss Spezialist in allen Fächern sein oder zum Verständnis eines Satzes zehn Bände eines Konversationslexikons wälzen. Der eine schlägt auf den Fels der nüchternsten Prosa, und Gedanken brechen hervor. Der andere schwelgt im Ziergarten seiner Lesefrüchte und in der üppigen Vegetation seiner Tropen. Hätte ich mein Leben damit verbracht, mir die Bildung anzueignen, die jener zu haben vorgibt, ich wüsste vor lauter Hilfsquellen nicht, wie ich mir helfen soll. Ein Kopf, ein Schreibzeug und ein Fremdwörterbuch — wer mehr braucht, hat den Kopf nicht nötig!“
Doch die Ungebildeten ließen sich durch Kraus nicht trösten – Faktenkenntnisse lassen sich aus der Illustrierten ausschneiden wie Gutscheine, denken muss man selbst. Doch Denken dotiert auf dem Markt nicht hoch. Denn schon in der Schule wurde einem eingebläut, dass Wissen Macht bedeute. So sinnlos eine Bildung, die nicht an ein Erkenntnisinteresse, zumindest eine emotionelle Erfahrung geknüpft ist, auch sein mag, die Gesellschaft sanktioniert anders. Faktenbildung, die über den praktischen Nutzen im Berufsleben hinausreicht, bringt zumindest soziales Prestige. Und so sehr Kraus’ Aphorismus zutreffen mag, dass „Bildung (…) eine Krücke“ ist, „mit der der Lahme den Gesunden schlägt, um zu zeigen, dass er auch bei Kräften sei“, so könnte auch stimmen, dass dieser „Gesunde“ schon zum Krüppel deklariert wurde, bevor die Gebildeten ihn zu einem solchen schlagen konnten, vielmehr dass die Gesundheit, für die sie den wahren Denker beneiden, zugleich Krankheit ist, denn die Stärke, aus Liebe zu Denken und Wahrheit auf das zu verzichten, worum jene einzig konkurrieren, nämlich soziales Prestige und materiellen Besitz, muss von ihnen als Schwäche ausgelegt und folglich getögelt werden.
Ob im Kampf um die knappen Ressourcen das ziellose Anhäufen von Bildungsgütern nützt, bleibt allerdings fraglich. Immerhin bietet die Kulturindustrie zur allgemeinen Ergötzung diesen Lumpenintellektuellen die Chance, in der Manege der „Millionenshow“ mit der gleichzeitigen Kenntnis von Pophits, Philosophennamen und Motorersatzteilen nach einzelnen Happen zu schnappen.
27. Mai 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Richard Schuberth
Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Was ich will, ist, dass die Presse aufhöre zu sein – Kraus und der Journalismus.Von Richard Schuberth
„Du brauchst nicht mehr zu wissen noch zu denken,
Ein Tagblatt denkt für dich nach deiner Wahl.
Die Weisheit statt zu kaufen steht zu schenken,
Zu kaufen brauchst du nichts als das Journal.“
Franz Grillparzer (aus „Dem internationalen Preßkongreß“)
Auf dem Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters, in der Periode zwischen 1848 und 1914, profiliert sich die Zeitung als Medium der Emanzipation und Bildung. Feuilletonisten und Leitartikler machen den seit der Aufklärung heroisierten Dichtern und Denkern Konkurrenz. Besonders die Ästhetizisten als Künder des ewig Wahren und Schönen wehren sich gegen die Anmaßungen des täglich neu gedruckten und weggeworfenen Worts. Hugo von Hofmannsthal z. B. gefällt es gar nicht, dass auf den „elendsten Zeilenschreiber etwas vom Glanz der Dichterschaft abfällt“. Dem hätte Karl Kraus wohl zugestimmt – und von Hofmannsthal und seinesgleichen gleich den Glanz mit runterpoliert.
Dass Karl Kraus in der „Journaille“, wie er das journalistische Gewerbe nannte, seinen Hauptfeind bekämpfte, ist beinahe eine Untertreibung. Mehr noch war die 1899 gegründete „Fackel“ die unversöhnliche Antithese zur Presse schlechthin, in ihrem Titel schon leuchtet die Doppelbedeutung von Erhellung und Brandlegung auf, jener „Productivkraft schöpferischer Zerstörarbeit“, deren deklariertes Ziel die „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ war.
Karl Kraus kannte die Produktionsbedingungen des bürgerlichen Journalismus gut genug, schrieb er doch seit 1892 selbst für die damals wichtigste meinungsbildende Kraft Mitteleuropas, die „Neue Freie Presse“ sowie in der Wochenschrift „Die Wage“. Als das Gerücht, der begabte junge Autor wolle eine eigene Zeitschrift gründen, auch in die Redaktion der „Neuen Freien Presse“ drang, wollte die ihn als Redakteur an sich binden. Karl Kraus’ Selbstbewusstsein war indessen stark genug für die Gewissheit, dass er nicht reif für die „NFP“ sei, sondern diese reif für ihn. Er gründete 1899 die „Fackel“ und formulierte bereits in der Nullnummer sein Programm: „… kein tönendes ‚Was wir bringen’, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen’ hat sie sich als Leitwort gewählt.“
… beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes
Kraus’ Kampf gegen den Journalismus ist ein vielschichtiges Unternehmen und es bedarf profunden Studiums, bis sich einem die disparaten Elemente seiner Kritik als schlüssiges Ganzes offenbaren. Seine Pressekritik beherbergt sprach- und moralkritische, politische, ökonomische und medienphilosophische Aspekte. Diese aber sind so klug ineinander verzahnt, dass jeder Versuch ihrer analytischen Trennung von ihrem Verständnis wegführte. Hier nur der Anflug eines Versuchs, Eckpunkte eines Lebenswerkes zu skizzieren.
Der Sprachverfall ist zugleich Ursache, Folge und Symptom all dessen, was Kraus verabscheut und apokalyptisch überhöht, die Presse sein Brennglas.
Zunächst ist Kraus nur daran gelegen, den Schuster bei seinem Leisten bleiben zu lassen. Als sachlicher Informationsdienst ist ihm die Zeitung durchaus willkommen, eine knappe unprätentiöse Sprache sogar literarisch inspirierend. Störend wird der Journalismus erst, wenn er sich mit dem Anspruch von Objektivität und – schlimmer noch – als Meinungsbildner zwischen den denkenden Menschen und die Wirklichkeit stellt, und ihm die Möglichkeit autonomer Reflexion durch die Fütterung mit dem selbstgerechten Meinungsbrei des Leitartikels abnimmt.
Mit selten einfühlsamer Pädagogik fordert Kraus den Leser zur Mündigkeit auf: „Freundlicher Leser! Der du noch immer die Zeitung für ein von geheimnisvoller Macht Erschaffenes, aus pythischem Munde Weisheit Kündendes, beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes hältst, der du vom Offenbarungsschauer dich angewehet und der Ewigkeit näher fühlst, wenn Löwy oder Müller im Wir-Ton leitartikeln …, werde misstrauisch, und einer von Druckerschwärze fast schon zerfressenen Kultur winkt die Errettung. Lasse den Zeitungsmenschen als Nachrichtenbringer und kommerziellen Vermittler sich ausleben, aber peitsche ihm den frechen Wahn aus, dass er … berufen sei, geistigen Werten die Sanction zu erteilen. Nimm das gedruckte nicht ehrfürchtig für baare Münze! Denn deine Heiligen haben zuvor für das gedruckte Wort baare Münze genommen.“
Schon früh läutet Kraus eine Revolution in der Medienkritik ein. Beschränkte sich diese vor ihm zumeist auf Bildungsdünkel oder Entsetzen über die Verflachung der Sprache, so wirft Kraus sein satirisches Schlaglicht auf die politischen und ökonomischen Bedingungen der Wirklichkeitsproduktion. Und findet seinen Erzfeind nicht in den Pöbelblättern der Deutschnationalen, sondern im vorgeblich kleineren Übel, der liberalen, fortschrittlichen „Neuen Freien Presse“.
Den Schlüssel zur Heuchelei der interesselosen Meinungs- und Faktenfabrikation findet Kraus in den üppigen Inseratenteilen der Zeitungen. Sein Zeitgenosse, der Nationalökonom Karl Bücher definierte die moderne Zeitung als „Erwerbsunternehmen, das Annoncenraum als Ware verkauft, die nur durch einen redaktionellen Teil verkäuflich wird.“ Diese scharfsinnige Spitze mag heute nicht mehr stechen, so selbstverständlich ist die Verabsolutierung kapitalistischer Marktprinzipien geworden.
Auch der „Arbeiter Zeitung“, der er zwischen Wohlwollen und Distanz verbunden blieb, rechnete Kraus früh die Widersprüche zwischen Absicht und Tat auf:
„Aufsehen erregt haben seinerzeit die Artikel der Arbeiter-Zeitung über die ‚Mordschiffe der Donau-Dampfschiffahrt-Gesellschaft’ durch die Kühnheit ihrer Sprache. Seit damals – Herbst 1898 – erscheinen statt der ‚Mordschiffe’ in kleinen Intervallen ‚Mordsinserate der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft’. (…) Die ‚Mordschiffe’ werden allerdings nicht angegriffen; sie sind zwei Jahre älter geworden.“ Und zeigte mit dieser Sentenz, wie brillant sich das als seicht verschriene satirische Mittel des Kalauers mit einer Sache gegen eine Sache rüsten ließ.
Kraus ging jedoch einen bedeutenden Schritt weiter und wurde nicht müde nachzuweisen, dass der redaktionelle Teil selbst geheimer Umschlagplatz der Warenform ist. Nicht nur dem heuchlerischen Nebeneinander von Geist und Kommerz gilt seine Kritik, sondern der schleichenden Kommerzialisierung des Geistes, die er am Sprachgebrauch diagnostiziert.
Die Presse als Bote, Partei und Ereignis
Damals wie heute wirkt Kraus’ Totalisierung des „Pressunwesens“, ihre Hypostase zur Hauptursache aller gesellschaftlichen Übel, als überspannt, gerade so, als hätte sich ein narzisstischer Kritiker eine freie Nische gefunden, deren Bedeutung er zur Überhöhung der eigenen überhöhen muss.
Wohl ist er sich bewusst, wo die Basis, wo der Überbau ist: „Ich habe die Presse nie als Ursache, sondern immer nur als Wirkung verklagt. (…) Ich weiß schon, dass die Nässe nicht am Regen schuld ist; aber sie informiert mich darüber, dass es regnet.“
Und doch bildet die Nässe Dunst, der aufsteigt, um zu neuen Regenwolken sich zu ballen. Im Frühjahr 1908 nennt der konservative Abgeordnete Gröber die anwesenden Journalisten im deutschen Reichstag „Saubengels“. Aus Protest stellen diese die Berichterstattung über den Reichstag ein, was die vorübergehende Einstellung der parlamentarischen Tätigkeit zur Folge hat. Kraus dazu in der „Fackel“: „Die Öffentlichkeit hat wieder einmal dazugelernt und weiß jetzt, dass die Weltgeschichte aufhören muss, wenn sich’s die Staatsmänner mit den Stenographen verderben.“
Bei Kraus’ Fehde mit der Presse verhält es sich wie bei den anderen Feldern seiner Kritik. Ganz dem Grundsatz gemäß, dass nur die Übertreibung der Realität gerecht wird, lässt ihn sein kritischer Geist, gerade dort, wo er am verschrobensten wirkt und durch keine Sache mehr gedeckt scheint, Mauern vor der Wahrnehmung einreißen, wofür die damalige Wissenschaft und Gesellschaftskritik der Methoden entbehrte. Als erster Mensch der Geschichte formuliert er Zusammenhänge, welche zum wesentlichen Topos der Medien- und Kulturkritik des 20. Jahrhunderts avancieren würden, ohne dass die es ihm je gedankt hätten. Karl Kraus kommt dem Prinzip der Substitution der Wirklichkeit durch die Medien auf die Schliche.
Seinen Zeitgenossen evident wird diese Macht spätestens durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg: Längst nicht mehr ist sie Vollzugsorgan politischer Macht, sondern lenkt die Ereignisse selbst kraft ihrer Deutungshegemonie.
Schon 1909, als ein gewisser Minister Aerenthal der bereits damals kriegsbegeisterten „NFP“ durch den Historiker Friedjung Falschinformationen über eine Verschwörung Kroatiens mit Belgrad zuspielen lässt und somit einen Krieg gegen Serbien vom Zaun brechen will, erkennt Kraus die Omnipotenz der Presse als Wirklichkeitsmanipulator. Er verfolgt diesen Pfad bei der Berichterstattung über die Balkankriege und findet seine anfänglich polemische Position durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg bestätigt:
„ … die Presse ein Bote? Nein, das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten erst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind …“
Hiermit nimmt Karl Kraus, der sich längst nicht auf Sprache beschränkt, sondern Photographie, Reklame und Film in sein Denken mit einbezieht, die größten Leistungen der späteren Kulturindustrie- und Medienkritik vorweg, wie Sigfried Kracauers Analyse der Photographie in den 20er Jahren etwa („In den Illustrierten sieht das Publikum die Welt, an deren Wahrnehmung es die Illustrierten hindern.“), oder Günther Anders’ Analyse des Fernsehens („Am Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt.“) oder die schwachbrüstigere Medienkritik eines Marshal MacLuhan, weitschichtig auch die Simulakrentheorie von François Baudrillard.
Kraus contra Békessy, Thurnherr und Sperl
Nach dem Krieg sieht sich Kraus einem neuen Typus von Journaille gegenüber: In den Revolverblättern des Erpressers und Medientycoons Imre Békessy wird die idealistische Maske fallen gelassen, auf welche die „NFP“ noch Wert legte, und der Prototyp des populistischen Boulevardjournalismus geschaffen, der auch heute noch den Zeitungsmarkt beherrscht. Die Dramaturgie des folgenden Kampfes nimmt jene des Westerns „High Noon“ vorweg. Dass Békessy mit offenen Karten spielte, Korruption und Lüge als journalistisches Prinzip ehrlich zugab – „Niedertracht unter dem Vorwand der Niedertracht“ –, mag den Dialektiker Kraus sogar amüsiert haben, ehe sich dieser wieder mit dem Ethiker zugesellte und mit den donnernden Worten „Raus mit dem Schuft aus Wien!“ einem Schieberimperium, dem sich Kraus’ alte Feinde wie Felix Salten und Anton Kuh nur zu gerne andienten, den Krieg erklärte. Ein Krieg, den er völlig alleine führen würde. „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Feiglinge.“ Zwei Jahre später, 1926, ergriff Békessy die Flucht nach Paris. Einer der wenigen Erfolge, den Satire je gezeitigt haben dürfte.
Wie sehr den Zeitungsintellektuellen unserer Tage die Angst vorm „Fackelkraus“ im Nacken sitzt, beweist die magische Praxis des Zitats. Man zitiert Kraus, weil er nicht mehr lebt – und damit er nicht mehr lebt. Der rituell-magische Charakter des Zitats funktioniert auf zwei Ebenen. Das Krauszitat lässt den Journalisten magisch an dessen geistiger Autorität teilhaben und dient zugleich als Schutzzauber. Wogegen? Gegen Kraus selbst, dessen Geist ja noch immer durch die Redaktionsstuben spuken und die eigenen Texte ihrer ganzen Dürftigkeit überführen könnte.
Die Frage indes, wie Karl Kraus sich zur heutigen Presselandschaft äußern würde, zählt selbst schon zu den automatisierten Phrasen des Feuilletons oder Impulsreferats. Sicher ist, dass er sich nicht mit Peanuts abgeben, sondern seine Kritik erst bei jenen so genannten Qualitätsblättern ansetzen würde, deren vorgebliches Niveau sich hierzulande aus der Distanz zur „Kronen Zeitung“ ableitet. Die Chefredakteure, Leitartikler und Feuilletonisten von, „Presse“, „Profil“, besonders aber „Standard“ und „Falter“, die sich aus Mangel an Alternativen den Lesern als das äußerst Mögliche an kritischem Geist aufdrängen, lebten in ständiger Angst – und Hoffnung, dass sich die Privatwirtschaft ihrer erbarmte, wenn der Redakteurssessel zu heiß würde.
19. Februar 2012 | Kategorie: Journalisten, Notizen zur Zeit, Wulff
Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution. Karl Kraus
Der Satz von Karl Kraus trifft, wie man da sieht, zu. Wer sich prostituiert, verlangt einen Gegenwert und sei es ein Ehrensold. Der sich verkauft hat, hat auf jeden Fall einen zu hohen Preis bezahlt. Deshalb ist das Vertrauen in die per se unglaubwürdige Aussage, man mache es im Grunde umsonst, schnell futsch, wenn man es dann zu auffällig treibt. Da reicht der Verdacht, und die Generalbeauftragten der Presse für jede Art Verdacht, bei denen die Absicht seit jeher Handlungsweise bestimmt, um einen Verdacht zu erzeugen und die noch aus jedem Verdacht eine Tat zu konstruieren wissen, die nicht begangen worden sein muss, um vollbracht worden zu sein. Keine nachgeschobene Unschuldsvermutung oder nachgewiesene Unschuld kann sie ungeschehen machen, denn das „semper aliquid haeret“, dass nämlich immer etwas hängen bleibt, gehört zum stillschweigend akzeptierten Grundkonsens boulevardjournalistischer Ethik , die als Phantom den Ungeist begleitet, dem keine Jauchegrube den Geruchsnerv abtötet und der das Licht des Tages nicht mehr zu scheuen hat, seit er mit Präsidialem sein Wesen trieb. Aber es bedurfte schon des Signals einer Staatsanwaltschaft, die sich der publizierten Meinung annahm und wegen Anfangsverdachtes der Vorteilsnahme ermittelt, nicht gegen die Journaille, sondern gegen einen bevorteilten und überforderten Präsidenten. Wohl angemerkt, die unerlaubte Vorteilsnahme, im Privatleben angenehm, im Geschäftsleben gang und gäbe, für Journalisten mit ihren Firmenrabatten und Freikartenabonnements Bedingung, ist in der Politik nur dann unerwünscht, wenn sie öffentlich wird und für einen Bundespräsidenten obsolet, dem eine Bildzeitung vordem holder war, als es der Anstand erlaubt hätte. Der Wulff, als er den Schafspelz ablegte, hat sich als Schaf erwiesen. Nachdem der Boulevard ihm den Vorteil strich, erwies er sich reif für die Schlachtbank des Tagesjournalismus, vermutlich als Unschuldslamm. Nun hat ihm die Stunde geschlagen und das Halali einer Hetze mit allen Mitteln darf geblasen werden, das das vorläufige Ende der Jagd bestätigt. Denn wer wollte schon von sich behaupten, sauber bleiben zu wollen, wenn erneut der nächste erste Stein geworfen wird, vor allem dann, wenn es sich um einen der Kotsteine der Bildzeitung handelt. Lange hat sich die bilderprobte, bundesdeutsche Öffentlichkeit vorgegaukelt, man sei in deutschen Landen von der Unart eines Journalismus à la „News of the world“ noch weit entfernt. Das war ein Irrtum, und bei der größten Boulevardzeitung Deutschlands wird man klammheimlich die Korken knallen lassen und sich bestätigt sehen auf einem Umweg, der direkt mit den Ratten durch die Kanalisation bis in die Privatsphäre nunmehr eines jeden Berufspolitikers führen wird, die zwar durch das Grundgesetz geschützt ist, aber nicht vor Kloakenjournalismus bewahrt, der pseudoinvestigativ daherschleicht. Ohne den Wulff fängt nicht nur in den vorgeblich seriöseren Redaktionsstuben das Nachdenken darüber an, ob denn ab sofort jeder Amtsträger durch den Nacktscanner einer Journaille gejagt wird, die noch den letzten Flecken auf der Weste immer des Anderen sichtbar macht und vor dem Blick in die herunter zu lassende Hose nicht zurückschreckt, in die zu guter Letzt alles gegangen sein wird. Wenigstens einer soll so sein, wie man selbst sein sollte, wenn man so wäre, wie man gern wäre, also anständig, ehrlich, edel, hilfreich und gut, dazu überparteilich, mit messbarem Intelligenzquotienten, erlesenen Manieren, also jemand, der im Dutzend die Gänge der Parlamente des Landes bevölkert. Das fällt die Auswahl schwer. Viele werden dennoch ablehnen, weil sie begründet um den letzten Rest an Privatleben fürchten, indem ihnen zum Beispiel nachgewiesen wird, dass sie seinerzeit in der Schule vom Klassenprimus abschreiben durften, nachdem sie ihn mit einem Bier bestochen hatten. Ich warte gespannt auf die journalistische Nachlese in den Fußnoten der Lebensläufe von Ministern und Abgeordneten, mit ihren Nebeneinkünften, mit ihrem Bundestags-Golf, Bundestags-Tennis und sonstigem Tourismus im Namen des Sponsors und des Volkes.
11. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten
DIE FACKEL
Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr. S. 28 Tagebuch
Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist, als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.
09. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland
Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911 erfunden und apostrophierte damit frei Erfundenes, das die Presse willig aufnahm. Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.
Wenn es dem Esel zu wohl wird, wissen wir, wohin er geht. Der Journalist begibt sich aufs Land, wo tiefentelepsychopathische Abgründe ihn so anziehen, dass er es nicht für sich behalten kann und den durch die tägliche Informationsflut quasi demenzierten Leser für reif genug hält, folgenden, ganzseitigen Artikel ohne Schaden zu überstehen, der hier gekürzt erscheint, um vermeidbaren Schaden abzuwenden.
Kölner Stadtanzeiger 15/16.1.2012
„Tiere berichten mir von Liebeskummer“
Von Brian Schneider
Kommunikatorin Katharina Küsters spricht im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ über das Schaf Schwarzöhrchen, Telepathie und Hunde-Hobbys. Sogar mit toten Tieren will sie sich unterhalten haben.
Köln. Eine abgelegene Straße in Overath, Blick ins Tal, gepflegte Gärten. Katharina Küsters steht am Eingang ihres Hauses, braune Haare, braune Augen, Brille, ungeschminkt. (…)
Was ist das, Tierkommunikation?
KÜSTERS: Die intuitive Fähigkeit, sich in andere Lebewesen einzufühlen und auf diesem Weg Informationen zu erhalten. Man nennt das auch telepathische Kommunikation.
Wie kann so etwas funktionieren?
KÜSTERS: Das kann im Grunde genommen jeder. Viele Kinder sprechen ja auch mit ihren Tieren, bis die Eltern ihnen das dann irgendwann ausreden.
Küsters hat vier große Beagle: George, Paul, Dana und Liesbeth. Ihrem Mann gehört ein Handwerksbetrieb, das Paar ist kinderlos. Eine Suchanfrage mit dem Stichwort „Tierkommunikation“ bringt bei Google 116 000 Treffer. Sogenannte „Tierkommunikatoren“ gibt es im ganzen Land, mit den unterschiedlichsten Angeboten: telefonische Beratung und simultanes Dolmetschen, Körperscannen, Klangschalenmusik für Tiere.
Was erzählen Ihnen die Tiere?
KÜSTERS: Das ist unterschiedlich. Sie berichten von körperlichen Problemen, Liebeskummer oder ihren Hobbys.
Tiere haben Hobbys?
KÜSTERS: Ja. Mein Hund Paul hat mir berichtet, dass er Sport total doof findet, aber gern wandern geht. Ein Pferd hat mir erzählt, dass es gern nach Löchern im Zaun sucht. (…)
Seit fünf Jahren lässt sich die 34-Jährige in Seminaren und Kursen zur Tierkommunikatorin ausbilden. Allerdings: Letztlich kann sich jeder so nennen. Als Honorar nimmt sie 45 Euro die Stunde, hat nach eigener Aussage etwa 60 Kunden.(…)
Auch die Kölner Polizei hat schon einmal auf übernatürliche Hilfe gesetzt. Nach der N a g e l b o m b e n a t t a c k e i n M ü l h e i m f u h r e n z w e i K r i m i n a l i s t e n d e r S o k o “ S p r e n g s t o f f “ z u e i n e r H e l l s e h e r i n n a c h M ü n c h e n . Außer dass die Frau geheimnisvolle Geräusche auf einem Kassettenrekorder abspielte, brachte die Reise nichts.
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Nehmen wir mal an,dass die Kriminalisten die Seance nicht im ehemaligen Braunen Haus in München abgehalten haben, denn dort hätten sie fündig werden können. Aber bleiben wir bei der Tierkommunikation. Die ließ einen gewissen Dr. Dieter von Schützfeld – mir gleich wie ein Ei dem anderen – nicht ruhen, der, aus dem Nichts ertstanden, sogleich aus den Tiefen der erfundenen Erinnerung seine ganz persönliche Geschichte beitrug zum Leserbetrug, die prompt abgedruckt wurde und die Frage impliziert, wie weit man noch gehen muss, damit es nicht gedruckt wird.
Dr. Dieter von Schützfeld Spechtweg 12
50374 Erftstadt
Tierkommunikation vom 14.1.2012
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das klingt ja sehr ungewöhnlich, aber ich kann eine Geschichte dazu beitragen, die ich selbst erlebt habe. Anlässlich der Sturmflut 1962, als Hamburg überschwemmt wurde, war ich bei meiner Oma, die einen einen Papagei besaß. Der konnte tatsächlich sprechen, aber wiederholte eigentlich nur, was man ihm vorsprach. Ich war damals erst 14 Jahre alt, aber weiß noch genau, das der Papagei am 16. Februar als die Flut am höchsten stand und die Deiche nicht mehr hielten, immer wieder „fünfsiebzig“ sagte. Darüber haben wir gelacht und konnten nichts damit anfangen, aber als an den Tagen danach der höchste Pegelstand mit 5,70 m gemessen, wurde uns doch etwas mulmig. Vielleicht ist ja doch etwas dran an der Kommunikation mit Tieren.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dieter von Schützfeld
07. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
DIE FACKEL
Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr. S. 6-13
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Das Gehirn des Journalisten.
»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.
Tausend Jahre Zeitungen — es ist ein Gedanke, den man nur mit Grauen denken mag! Wird es, kann es nach dreißig Generationen von Zeitungslesern noch eine Vernunft, einen Geist auf Erden geben? Einen Geist, der mehr ist als die tote, verschliffene Hülse geistloser Gemeinheit? Die schlimmsten Befürchtungen sind hier immer noch nicht schlimm genug. Mit der Geburt des Tagschreibers aus der Geistverlassenheit des Dünkels schloss sich der Ring der modernen demokratischen Unkultur. Und diese Spottgeburt, die sich durch Lumpen und Schwärze fortpflanzt, musste notwendigerweise erfolgen, sobald die unseligsten aller Erfindungen die Voraussetzungen hierzu geschaffen hatten. Der Zwang, in irgend einer Hinsicht ein Fürsichstehender, ein Eigner seiner selbst zu sein, ist dem Massenmenschen jederzeit eine unerträgliche Last gewesen; immer hat dieser es als Wohltat empfunden, sich sein Denken, Handeln und Fühlen vorschreiben zu lassen. Aber niemals — auch nicht zur Zeit der kirchlichen Allmacht — ist die intellektuelle und ethische Kastration der Menschheit mit so durchschlagendem Erfolg versucht worden wie von den unverfrorenen Faiseuren, die jetzt mit Hilfe einer wahrhaft schwarzen Kunst der Masse das lästige eigene Denken und Betrachten abnehmen und das Surrogat hierfür täglich zweimal ins Haus schicken. Gab es jemals ein glänzenderes Geschäft? Der hungernde Philister versagt sich ein Stück Brot, um ein Zeitungsblatt zu kaufen. Heute bereits ist die Lesemanie so allgemein verbreitet, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer Muße mit dem Verschlingen von Nachrichten und Betrachtungen ausfüllen, zu denen sie nicht die geringste innere Beziehung haben. Sie verschlingen die fragwürdigste geistige Kost ohne jede Not und ohne jede Möglichkeit der Verdauung, die schon wegen der übermäßigen Quantitäten ausgeschlossen ist, auch wenn die Nahrung selbst verdaulich wäre. Gibt es ein besseres Rezept zur schnellsten Erlangung der gründlichsten Stupidität? Und nun denke man an die Folgen dieser immer mehr sich verbreitenden und immer intensiver sich gestaltenden Praxis nach tausend Jahren! …
Die Kirche, die Vorgängerin der Presse in der Herrschaft über den Intellekt der Masse, hatte wenigstens ein Ideal, wenngleich ein lebensfeindliches. Sie besaß auch einen Geist, obgleich nur einen kranken, sie erschuf auch eine unvergängliche Kunst. Innerhalb der kirchlichen Allmacht war noch eine Kultur möglich. Der Kastratismus der Kirche war wenigstens ein System, der Kastratismus der Presse aber ist Unsinn und Gemeinheit als »Selbstzweck«, wie der Ausdruck für alle moderne Sinn- und Systemlosigkeit lautet. Die Kirche stand allezeit über den Gläubigen, die Presse kann ihre Macht nur erhalten, wenn sie den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. Die Popularität der Kirche war Klugheit, die Popularität der Presse ist wirkliche Gemeinheit, die Presse ist des Pöbels. Was der Zeitungsleser in den Blättern sucht und findet, ist der Abklatsch seiner eigenen Niedrigkeit, welche Welt und Leben von gesicherter Futterkrippe aus als ein weitläufiges Panoptikum für nimmersatte Gaffer betrachtet. Der Genius der Kultur wandte sich ab, als die Menschheit die Religion mit der Zeitung vertauschte. Aber dieser Tausch war ein unabweisliches Schicksal. Die Presse ist da, sie wächst, sie überwuchert alle Gebiete des Lebens, und der Tagschreiber löst den Pfaffen ab. Die Welt muss sich dafür interessieren, wie es in dem Gehirn aussieht, aus dem sie neu erschaffen ward: in dem Gehirn des Journalisten.
Es ist eine wenig erfreuliche Spezies Mensch, aus der die Tagschreiber sich rekrutieren. Es sind bestenfalls Menschen mit Ehrgeiz und Unternehmungslust ohne Rückgrat und Willen, Leute mit einem Zuviel an Phantastik und Überhebung, um es in einer bürgerlichen Nützlichkeitsexistenz auszuhalten, und mit einem Zuwenig an Verstandeskraft, Geschmack und Bildung, um im Geistigen und Kulturellen auch nur Kleines zu bedeuten. Es sind im bürgerlichen Sinne Deklassierte, im geistigen Sinne sterile Parasiten der wirklichen Bildung, Nebelgehirne, undisziplinierte Wildlinge mit Vandaleninstinkten. Wer irgendeine tiefere Bildung, wer auch nur das bescheidenste intellektuelle und ethische Reinlichkeitsgefühl besitzt, kann kein tauglicher Journalist werden. Bildung ist nämlich ein Hindernis für die journalistische Fixigkeit, sie untergräbt die dreiste Selbstgefälligkeit, die über alles so leicht und sicher urteilt. Bildung ist ein retardierendes Prinzip: die Erziehung zur Vorsicht im Urteil. Sie hält davon ab, einen Einzelfall bedenkenlos zu verallgemeinern oder eine Regel auf jeden Einzelfall zu beziehen. Die Bildung hat mit einem Wort Vorurteile, der Journalismus aber ist ‚vorurteilsfrei‘. Bildung verantwortet Urteile schwer und zögernd, der Journalismus verantwortet ohne weiteres alles und jedes.
Mit wirklicher Bildung kein Journalist, mit wirklicher Bildung daher auch kein Schriftsteller, kein Dichter, kein Künstler, kein Gelehrter nach dem Herzen der Zeitungskritiker. Es ist leicht zu erraten, was für eine Art von Literatur, Kunst und Wissenschaft die Presse propagiert, was für Leute sie am begeistertsten lobt: Alles, was mit ihr verwandt ist. Es gibt viele und darunter nicht wenig berühmte Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, die ihren Ruhm nur ihrem Mangel an tieferer Bildung und Einsicht verdanken. Aus diesem Mangel stammt jenes leichte Urteil, jene Bedenkenlosigkeit der Dummheit, jene kecke Geschwätzigkeit und aufdringliche Schamlosigkeit, die von der Ignoranz immer wieder mit Temperament, Mut des Geistes und künstlerischer Naivität verwechselt wird. Solche Berühmtheiten wirken im Grunde mit den Mitteln des Journalismus, sie sind dem Tagschreiber verwandt, — es sind vielfach nur entsprungene Tagschreiber …
Die Bildung ersetzt der Tagschreiber durch ein spezifisches Gedächtnis, durch ein Notizbuch oder einen Zettelkasten. Aus aufgeschnappten Namen und Aussprüchen, schlechtgehörten Urteilen und schlechtgelesenen Berichten, zusammenhangslosen Begriffen und Historien, aus schiefgesehenen Tatsachen, aus fünfzig gangbaren Phrasen und mit dem Zubehör des eigenen Fetzenwissens webt er die Ellen seiner Arbeit. Man darf billigerweise nicht übersehen, dass auch unser moderner Schulmechanismus kein anderes als ein solches Phrasenwissen hervorbringt, dass die Schule alles tut, die unheilvolle Verwechslung von Bildung (d. h. Zucht der Sinne und des Intellekts, um richtig sehen und denken zu lernen) mit wertlosem Gedächtnisballast und papageienhafter Nachplapperei vorzubereiten. Die Schule, die von jeder Ecke der Welt einen Theoriefetzen und von jedem Ding wenigstens den Namen in uns hineinstopfen will, verführt die Masse dazu, die Zeitungslektüre für die natürlichste Fortsetzung der »Bildung« zu halten. Der Tagschreiber hält heute den Posten für »Ausbau der Bildung« besetzt. Die Zeitung ist das Schulbuch der Erwachsenen. Und der Tagschreiber ist der Lehrer der großen Masse.
Allem, was heute als Bildungsfaktor gilt, der Zeitung, der Schule, der Reisewut, den Ausstellungen, dem unmäßigen und sterilen Kunstbetrieb, all dem haftet der Fluch des Vielzuviel an. Wir liegen vor der Quantität auf dem Bauch, wir haben völlig vergessen, dass die eigentliche Geistigkeit, die innere Kultur gerade in der Abwehr des Zuvielen, des Angehäuften, in der Beschränkung auf das Wenige, das Verdauliche besteht. Wir haben die Bildung zu einem Kinematographentheater umgestaltet, in dem auf einem endlosen Film eine Kette von wahl- und zusammenhangslosen Momentbildern sich abhaspelt. Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen, Flüchtigen und Halbgesehenen …
Der Journalist ist nicht ein Schriftsteller aus innerem Zwang, sondern ein Schreiber, der einem Druck von außen gehorcht. Er schreibt nicht, weil er etwas zu sagen hat, sondern er sagt immerfort etwas, weil er schreiben muss. Und er hat beim Schreiben das Gefühl, nicht das sagen zu müssen, was er für richtig hält, sondern das, was »man« heute für richtig hält und was übermorgen bestimmt nicht mehr wahr ist. Der Tagschreiber hält beim Schreiben nicht Gericht mit sich selbst und jenem »Man«, sondern schielt ängstlich nach dem Leser, den er schon über seine Schulter gucken sieht. Beim Schriftsteller besteht zwischen Person, Stoff und Form ein organischer Zusammenhang. Das Verhältnis des Tagschreibers zu seinem Stoff aber ist ein durchaus widernatürliches und gezwungenes. Die Auswahl des Stoffes ist bereits ohne ihn vollzogen: er ist abhängig von der Augenblicksgegenwart, von der Aktualität, vom Vordergrund; er hat nur innerhalb des Heute, des »Modernsten« eine Auswahl. Das Heute, der Gischt der Unmittelbarkeit, ist aber gerade das Noch-nicht-zu-Beurteilende, ist dasjenige, was von einem Betrachter, der die Wahrheit und das Wesen einer Sache zu ergründen sucht, mit der feinfühligsten Behutsamkeit und dem kühlsten Misstrauen aufgenommen werden muss. Dem Tagschreiber ist es nicht im Geringsten um die Wahrheit zu tun — er führt dieses Wort, wie alle schönen Worte, im Munde —, sondern nur um Urteile überhaupt, um Urteile, die lediglich durch die Aktualität der beurteilten Substanz interessieren. Was weiß er von der vorsichtigen Gelassenheit, mit der ein geschulter Denker seinem Problem gegenübertritt, von der unbeirrbaren Geduld und zarten Unerbittlichkeit, mit der er es allmählig entwirrt und fasslich macht? Wie hätte der Schreiber des Tages auch nur die Muße zu wirklicher Denkarbeit! Er hat zu schreiben, nicht zu denken. Er kriecht auf den schwierigsten Problemen so geschäftig herum wie die Made auf dem Käse, um sich davon zu nähren und sie überdies noch zu beschmutzen. Der Ernst einer Sache schreckt ihn niemals ab; er hat nur einen Ernst: mit den Brocken, die er der Masse hinwirft, ihren Geschmack zu treffen, vor der Masse recht zu behalten, maßgebend zu sein, eine Macht zu sein, mit der man sich verhalten muss! Er sagt mit Pilatus: Was ist Wahrheit! Er fühlt sich als Anwalt einer Majorität, er stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf die Mode, auf das unisone Geschrei des Tages.
Die Presse hat mit Vernunft und Wahrheit nichts zu tun, sie schlägt ihnen täglich ins Gesicht; sie sorgt für den Obskurantismus besser noch als die Kirche. Dass die Presse, die sich fortschrittlich nennt, irgendwie Aufklärung verbreite oder den Fortschritt fördere, das glauben nur solche, die durch Zeitungslektüre bereits hoffnungslos verdummt sind. Das Hauptargument für die »Berechtigung« oder »Notwendigkeit« der Presse ist jetzt dieses, dass sie die liberalen Institutionen in Schutz nehme. Nun, man mag über die liberalen Institutionen denken wie man will; was würde aber — gesetzt, es wäre wahr — der Schutz einzelner verbriefter (und trotz Presse meist eben nur verbriefter) persönlicher Freiheiten bedeuten gegen die scheußliche Tyrannei der Masse, welche gerade durch die Presse gefestigt und geheiligt wird! Schließlich steckt hinter jedem liberalen Ding immer ein Tyrann. Die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird, ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die illiberalste aller Institutionen. Die Presse wird immer den Erfolg anbeten und — um selbst daran teil- zunehmen — dem huldigen, der die Macht hat, oder dem, welchem die Macht winkt. Nein, die Presse hat nichts mit der Freiheit zu tun, die »freiheitliche« am wenigsten! Und mögen Präsidenten, Minister, Zelebritäten und Streber sie noch so oft als segensreiche Macht verhimmeln! Sie wissen, warum sie’s tun ….
Aber der Mensch ist ein zähes Tier. Vielleicht wird die Presse sich selbst ad absurdum führen und wie jener Frosch, der sich zum Ochsen aufblähen wollte, krepieren, noch ehe der menschliche Intellekt und die menschliche Würde ganz zuschanden werden. Eines aber wird schon in kurzer Zeit unwiederbringlich verloren sein: das lebendige Sprachgefühl. Der Tagschreiber, dem fast ausschließlich nur der Zufall Artikel diktiert, der sich für alles interessieren Muss und daher für nichts interessiert, ist von vornherein zu einer affektierten Schreibweise verurteilt. Er schreibt nicht als Fachmann eines Gebietes, sondern über alles nach unzureichender Information. Er verwendet die Termini und Formeln aller Berufe und Wissenszweige, ohne deren Sinn zu kennen, er ist ein Ignorant, ein typischer Oberflächenmensch und drückt sich daher am liebsten verschwommen und zweideutig aus. Da er immer eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer übertrieben, ist er — nolens, volens — ein Liebhaber des Extrem-Expressiven. Er beherrscht, da er keinen eigenen Stil haben kann, alle Stilarten und hetzt jedes klingende Wort erbarmungslos zu Tode. Der Tagschreiber aber ist der einzige, der von einer ungeheuren Majorität gelesen wird. Die totale Korruption des Wortes ist unabwendbar, wenn es nur noch drei Generationen Tagschreiber und Zeitungsleser geben wird. Denn die Zeitungsleser sind Wiederkäuer! Anschaulicher, als lange Reden es vermöchten, malt Nietzsches Gedichtchen »Das Wort« — selbst ein sprachliches Kleinod — das trübselige Geschick, mit dem Sprache und Wort von ihren Schmarotzern und Würgern bedroht werden. Dem frommen Wunsch, in den es ausklingt, stimmen alle besorgten Schützer der Kultur zu, denen der Tag nicht in Morgen- und Abendblatt zerfällt:
»Pfui allen hässlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!«
K a r l H a u e r.
Es ist unzulässig, dass Leute der Wissenschaft Tiere zu
Tode quälen; mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern
experimentieren.
I b s e n.
Die Zeitungsschreiber haben sich ein hölzernes Kapellchen
erbaut, das sie auch den Tempel des Ruhms nennen, worin sie
den ganzen Tag Porträts anschlagen und abnehmen, und ein
Gehämmer machen, dass man sein eigenes Wort nicht hört.
L i c h t e n b e r g.
Aus „Die Fackel“ Doppel-Nummer Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr. Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer.
»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.
Selbst nach über einhundert Jahren bleibt nur ungläubiges Staunen vor der Weitsicht dieses Denkers. Würde es heute jemand wagen können bei eintausend Fernsehkanälen eine auch nur fünfzigjährige Konklusion zu ziehen, wo die multimediale Entmündigungsmaschine auf Hochtouren läuft? In Unmengen werden scheinbare Antworten auf erfundene Fragen gegeben, die niemand je stellen wollte und deren Beantwortung so sinnlos ist wie die Frage selbst. Der Journaille hat die Bescheidenheit zur Frage von je her gefehlt, da sie implizit vorher glaubt, hinterher sowieso, alles besser zu wissen. Wieviel muss man wissen, um von sich zu behaupten zu dürfen, dass man nichts weiß? Meine Bewunderung gilt der Demut des Sokrates, die aus seiner lakonischen Bemerkung spricht. Dem Gehirn des Journalisten muss das ein Rätsel bleiben. Man kann sicher fragen, ob nun alle Journalisten gemeint seien. Nein, nicht die Denker unter ihnen, die ihre Verantwortung kennen und wollte man Besipiele nennen, fiele einem Hermann Gremliza ein, Hans-Ulrich Jörges oder eventuell noch Klaus Kleber vom ZDF und manchmal sogar „Die Zeit“. Aber jene sind in der Masse selten , wie die Anderen häufig und man muss lange suchen bevor man auf einen trifft, der spricht oder schreibt, weil er etwas zu sagen hat und nicht, um der Redaktion einen normierten Beitrag zu liefern. Nachhilfe kann jedermann unter anderem bei Montaigne, den französischen Moralisten und bei Karl Kraus erhalten. W.K. Nordenham
24. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland, Was man so lesen muss
Gaddafi ist tot. Die Bild-Zeitung und Spiegel zeigen das Bild des Erschossenen. Dazu die
Süddeutsche Zeitung.
Toter Gaddafi im „Spiegel“. Wenn ein Diktator zur Trophäe wird 24.10.2011
Von wegen kritische Distanz im Journalismus: Im aktuellen „Spiegel“-Heft ist ein Foto zu sehen, das den toten Muammar al-Gaddafi als Trophäe zeigt. Und auf eigenartige Weise an Hemingway erinnert. Das höchste Glück des Großwildjägers ist das Foto zum Schluss. Es zeigt den Waidmann mit Gewehr neben dem erlegten Tier, der Trophäe. Hemingway ließ sich so gerne ablichten (mit Leopard). Der Trophäen-Journalismus dieser Tage lebt davon, tote Gruselgestalten abzubilden, Diktatoren etwa. Im aktuellen „Spiegel“ posiert, gleich vorn in der „Hausmitteilung“, eine Redakteurin neben dem toten Muammar al-Gaddafi. Der libysche Schreckensherrscher liegt auf einer Matratze, in einem „gut gekühlten Raum von den Ausmaßen einer Autogarage“, wie es hausmitteilt; die Reporterin trägt eine Art Shopper-Bag. Keine Rolle spielen ethische Fragen, die Agentur AFP hat sich sogar des „weltweiten Scoops“ gerühmt, die Fotos des Toten verbreitet zu haben. Der Deutsche Journalistenverband hat einst festgehalten, Journalisten sollten zu Akteuren „kritische Distanz“ bewahren, sich politisch nicht instrumentalisieren lassen. Die Würde der betroffenen Menschen sei zu achten, hieß es.
Das war 2002, in der Steinzeit des „modernen Journalismus“.
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Wenigstens gut gekühlt hatte es die Redakteurin, deren Namen die „Süddeutsche“ nicht mitteilt und die wohl eiskalt genug für den Auftrag war. Das sei der Grundparagraph solcher Journalisten :
Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie zu missachten und zu benutzen ist Aufgabe aller medialen Gewalt.
Dass sie keinen Respekt vor einem toten Gaddafi haben, der sicherlich ein Verbrecher war und dem sie als bedrohlich Lebenden zu seinen Machtzeiten doch sonst wohin hinterher- und hineingekrochen wären, verwundert nicht. Aber die Achtung vor der Würde eines Toten und vor allem der Majestät des Todes hätten die Veröffentlichung eines solchen Bildes verboten. Mich werden sie dafür als weltfremd abtun und machen doch mir die Welt fremd.
Nun gehörte Würde und Achtung noch nie zum Anstandskatalog der Bild-Zeitung und wie man da sieht, auch nicht zu der des „Spiegel“, dessen Journaille- Ethos, falls es so etwas überhaupt gibt, vor dem Bild des toten Gaddafi ungerührt kollabiert. Das fällt sogar der Münchner Konkurrenz auf. Leider verharmlost die „Süddeutsche“ unzulässig. Sie macht eine journalistische Würde im Jahr 2002 aus, in der Fehleinschätzung, der Journalismus habe damals die zu achtende Würde noch zu berücksichtigen gehabt, die er doch längst auf dem Boulevard erledigt hatte. Vermutlich wurde sie im dafür besonders erwähnten Shopper-Bag mitgeführt. Der noch an jedem Thema oder Foto sich willig prostituierende journalistische Informationsgehalt, der schon beim toten Saddam als rechtfertigende Notwendigkeit herhalten musste, fände das passende Spiegelbild in einem abfälligen Grinsen aus den Redaktionszellen, an dem solcher Einwand abtropfte. Dort sitzt beisammen, was eine Klientel bedient, der gleich ihnen von jeher der Geifer zu leicht von den Lefzen troff, zurechtgeknüppelt mit den Schlagzeilen ungezählter Millionenauflagen, gepresst noch aus jedem Kadaver, zum tagtäglichen Abfüllen der Großbuchstabenkonsumos.
Um den Wegstrecke der Zeitungskilometer zu ermessen, die bis in die Untiefen solchen Geschmacks führte, sei eine kurze Bemerkung eingefügt. Ein NDR-Redakteur berichtete von einem Geburtstag seiner etwa zehnjährigen Tochter, als Fernsehen noch nicht überall die Schule der Nation darstellte. Es waren Kinder vom Dorfe eingeladen und der Vater besaß ein Filmvorführgerät. Zur Feier des Tages wurde ein Film gezeigt, der die Dorfkinder mehrfach dazu veranlasste, aus Angst vor den sie aufregenden Bildern, das Gesicht hinter den Händen zu verbergen. Der Titel des Film lautete: „Der gestiefelte Kater“.
Welche Seelenverbildung, welche optischen Grausamkeiten sind zu erdulden, bis sich eine Leserschaft zu Leichenbildern z. B. ein Mittagessen servieren lässt, um nebenbei ganz angenehm bei laufendem Fernsehbild über Brutalität und Menschenverachtung der Welt zu räsonieren? Hinter jedem Täter, der auf einem Bahnsteig in der U-Bahn einen Mitmenschen erledigt, steht eine lange Reihe von Schreiberlingen und Bildmachern, die den Boden bereiteten auf dem das wuchs. Das Bild des erschossenen Gaddafi passt nahtlos in diesen Kontext. Eine Menschheit daran gewöhnt zu haben, bezeichnet eine Sünde, die nicht vergeben werden kann.
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Aus DIE FACKEL Nr. 418—422 8. APRIL 1916 XVIII. JAHR
Wehe, wehe über die Tagespresse! Käme Christus jetzt zur Welt, so nähme er, so wahr ich lebe, nicht Hohepriester aufs Korn, sondern die Journalisten!
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Gott im Himmel weiß: Blutdurst ist meiner Seele fremd, und eine Vorstellung von einer Verantwortung vor Gott glaube ich auch in furchtbarem Grade zu haben: aber dennoch, dennoch wollte ich im Namen Gottes die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer zu kommandieren, wenn ich mich nur zuvor mit der ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich vor den Gewehrläufen kein einziger anderer Mensch, ja auch kein einziges anderes lebendes Wesen befände als — Journalisten.
Sören Kierkegaard, 1846.
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Und nach siebzig Jahren, wo es um so viel siebzigmal wünschenswerter wäre, als es siebzigmal mehr Gewehrläufe und Journalisten gibt, stehen sie nicht vor ihnen, sondern dahinter, haben sie laden geholfen und sehen zu, man zeigt ihnen, wie es schießt und fließt, und wartet, bis sie kommen, es zu beschreiben.
Welche Verantwortung nimmt die Erde, die solches will und erträgt, im Namen Gottes auf sich!
Karl Kraus