Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Die Detonation. Glossen. Von Karl Kraus

24. August 2016 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Detonation, Journalisten, Notizen aus Medienland

DIE FACKEL

Nr. 336—337 23. NOVEMBER 1911 XIII. JAHR   S. 1-3

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Glossen Von Karl Kraus

Die Detonation

ist schrecklicher als der Schuss. Trostloser als das Leid ist die Teilnahme. Und je stiller das Haus, desto lärmvoller die Gasse. Nicht mehr ein Atridenmaß blutiger Tat kann uns entsetzen, stumpf wird das Messer an dem Nachspiel, der empfindlichste Sinn verhärtet an der Schmach, die einem Mord auf dem Fuß folgt. Der Schmerz muss sich durch die Neugier den Weg bahnen, um zu seinen toten Kindern zu gelangen; vor dem Tor steht das Volk, auf der Stiege stehen die Nachbarn und um die Leichen sind die Reporter gruppiert. Gleich werden die Eltern da sein. Jetzt sind sie an der Schwelle, jetzt werden sie in Ohnmacht fallen. Sie dürfen noch nicht. Sie müssen sich halten. Die Zeitungen sind vertreten und wollen wissen, ob sie etwas gewusst haben. Man hat ihnen drei Kinder weggeschossen, aber es sind so viele Herren da, die eine Auskunft wollen. Der Vater soll den Reportern alles sagen,  sie sind gefasst, das Äußerste zu hören. Die Mutter, die man nicht hineinlässt, weiß nichts, sie will es von ihnen hören. Sie schüttelt den nächsten, der ihr im Weg steht. Er müsse es doch wissen, wie das alles zugegangen ist, herrscht sie ihn an; er zuckt die Achseln und schreibt es auf. Alles schart sich wieder um den Vater, sie wollen hören, wie er mit tränenerstickter Stimme spricht. Man fragt ihn nach der toten Tochter, er sinkt schluchzend um und sie notieren. Aber dann zwingen sie ihn, ein Mann zu sein und ihnen zu sagen: »Sie war eine besondere Kennerin der historischen und  Kunstmerkwürdigkeiten der Stefanskirche, welche sie außen und innen in allen ihren Teilen genau kannte. « Er weiß nicht, ob das Leben für ihn noch einen Sinn hat, zwei Kinder sind tot, das dritte liegt verwundet im Spital, und »er äußert sich unserem Mitarbeiter gegenüber, dass die in unserem Morgenblatte gegebene Darstellung der Untat und ihrer Vorgeschichte den tatsächlichen Verhältnissen entspricht«. Es war fürs Abendblatt, er wollte noch ins Spital, nach dem Sohn zu sehen, aber sie sagten, dass es sonst zu spät wäre fürs Abendblatt. Er solle Details geben. Er sagte: »Es vergingen Minuten, die ich wohl nicht näher kennzeichnen muss«.  Aber gerade das wollten sie hören.  »Es waren Minuten der Qual, die keiner weiteren Hinzufügung bedürfen«, sagte er. Ja, gerade so was brauchten sie, wegen der Ausschmückung. »Die Leichen meiner toten Kinder habe ich nicht gesehen, man hat mich nicht zu ihnen gelassen, so sehr es mich zu ihnen gedrängt hat. « Man wusste schon, was man tat. Sie haben auch nicht jeder die Leichen gesehen, mancher nur mit den Eltern gesprochen. Es war ein Turnus. Und sie schrieben: »In die Wohnung wurde kein Unberufener gelassen«. Sie aber hatten dort zu tun. Der Vater soll ihnen etwas aus dem Leben erzählen, und wie die silberne Hochzeit war. Das Konzertprogramm wollen sie: was Marie gesungen und Georg gespielt hat. Im Taumel dieser Stunde klammert sich der alte Mann an jede Erinnerung, er spricht Monologe und sie schreiben mit. Sie wollen aber noch wissen, bei welcher Firma der Revolver gekauft worden ist. Das weiß der Vater nicht, das sagt ihnen die Polizei. Aber interessant ist, dass das Sofa in dem Zimmer, wo die Toten liegen, alt und unmodern ist. Noch zwei könnten Auskunft geben: der Mörder und der Psychiater. Aber jener hat sich selbst gemordet. Er hat, wie sie missbilligend feststellen, sein Geheimnis mit ins Grab genommen, und »wir können nur tasten und suchen, nur forschen und fragen, nur vermuten und bedauern«. Vielleicht weiß der Psychiater etwas. Der weiß, dass dieser dreifache Mord ein psychologisches Rätsel ist, und, »fügte der Gelehrte scherzend hinzu«: wenn wir alles psychologisch motivieren könnten, so würden wir auch für die Reden des Ministerpräsidenten Stürgkh eine Erklärung finden. Nur soviel könne er  sagen, dass »in dem vorliegenden Falle das anarchistisch-psychologische Element fehle«; Marie sei »keine der Damen gewesen, für die ein junger Mann sinnlos entflammt sein kann«; und er sei »sogar überzeugt, dass  Matkovic auch die Eltern erschossen hätte, wenn sie zur Zeit des Mordes in der Wohnung gewesen wären« … Wo waren die Psychiater? Oh hundertmal süße Vorstellung, dass alles das, was sich nach der Tat abgespielt hat, verhindert worden wäre! Hat dieses fromme Haus je zuvor solche Gäste beherbergt? Ist es erhört, dass ein Gesindel, das man zum Tee nicht ladet, beim Tod der Kinder zugegen sein darf? Hat es sich dieser Ritter von Holzknecht träumen lassen, dass er je Leichenfledderern werde erzählen müssen, wie weh ihm ums Herz sei? Unser aller Haus ist entweiht. Was Zeit und Zone an Schmutz hergeben können, ist an der Schwelle der Trauer abgelagert worden. Die Tat eines Geisteskranken ist so wenig ein Problem wie die eines Ziegelsteins. Dass ein Unschuldiger getroffen wird, damit fertig zu werden, ist Religion. Wie aber um Gottes willen damit fertig werden, dass die verantwortliche Gemeinheit des Lebens in das Heiligtum des Unglücks speit? Hier erlöst nur die Hoffnung auf den vollwertigen Mörder, der drei Kinder verschont, aber Alles, was auf das Mordgerücht hin die Schwelle des Hauses zu übertreten wagt, erbarmungslos niederknallt!

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So waren die Reporter schon vor einhundert Jahren, als sie vor und in den Häusern lagerten. Heute kommen sie in Kompaniestärke  mit Übertragungswagen und legen ihre Hände auf alles das sie nichts angeht. Sie stillen die Gier  ihrer Klientel  nach auch den peinlichsten Informationen, die ihnen nimmer peinlich sind und die sie im  Notfall schon mal dazu erfinden müssen, wenn es sonst nicht reicht. Am Ende übersieht der Nachrichten-Konsumo am Ende noch sein eigenes Leben, weil er zu viel sieht und das Fremde lebt und erlebt statt des Eigenen. Kann es einen schlimmeren Diebstahl geben?   W.K. Nordenham