Wie wäre es, gebildet zu sein? Von Peter Bieri
11. Februar 2020 | Kategorie: Bildung, Zeitzeugnisse/ZeitzeugenDer 1944 in Bern geborene Peter Bieri ist einer der profiliertesten Denker unserer Zeit und war bis 2007 Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er hatte den Lehrstuhl für «Sprachphilosophie und Analytische Philosophie» inne und veröffentlichte «Das Handwerk der Freiheit» (2001). Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat er unter anderem den Roman «Nachtzug nach Lissabon» (2004) veröffentlicht.
Wie wäre es, gebildet zu sein?
Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Wie kann man sie beschreiben?
Bildung als Weltorientierung
Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt. Sie kann in ganz verschiedene Richtungen gehen: hinauf zu den Gestirnen und hinunter zu den Atomen und Quanten; hinaus zu der Vielfalt der natürlichen Arten und hinein in die phantastische Komplexität eines menschlichen Organismus; zurück in die Geschichte von Weltall, Erde und menschlicher Gesellschaft, und nach vorn zu der Frage, wie es mit unserem Planeten, unseren Lebensformen und Selbstbildern weitergehen könnte. Stets geht es um zweierlei: zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist.
Die Menge von dem, was es zu wissen und zu verstehen gibt, ist gigantisch, und sie wächst mit jedem Tag. Sich zu bilden, kann nicht heißen, außer Atem hinter allem herzulaufen. Die Lösung ist, sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen.
Dabei entstehen zwei Dinge, die gleichermaßen wichtig sind. Das eine ist ein Sinn für die Proportionen. Man braucht, um gebildet zu sein, nicht die genaue Anzahl der Sprachen zu kennen, die es auf der Erde gibt. Aber man sollte wissen, dass es eher 4000 sind als 40. China ist das bevölkerungsreichste, aber bei weitem nicht das größte Land. Es gibt nicht Hunderte von chemischen Elementen. Die Lichtgeschwindigkeit ist weder 10 noch 1 Million Kilometer pro Sekunde. Das Universum ist nicht Millionen, sondern Milliarden von Jahren alt. Das Mittelalter begann nicht mit Jesu Geburt und die Neuzeit nicht vor 100 Jahren. Auch die Bedeutung von Menschen und ihren Leistungen gilt es richtig zu gewichten. Louis Pasteur war für die Menschheit wichtiger als Pelé, die Erfindung des Buchdrucks und der Glühbirne folgenreicher als diejenige des Rasierapparats und des Lippenstifts.
Das Zweite, was im Zuge der Weltorientierung entsteht, ist ein Sinn für Genauigkeit: ein Verständnis davon, was es heißt, etwas genau zu kennen und zu verstehen: ein Gestein, ein Gedicht, eine Krankheit, eine Symphonie, ein Rechtssystem, eine politische Bewegung, ein Spiel. Es gibt niemanden, der mehr als nur einen winzigen Ausschnitt der Welt genau kennt. Doch das verlangt die Idee der Bildung auch nicht. Aber der Gebildete ist einer, der eine Vorstellung davon hat, was Genauigkeit ist und dass sie in verschiedenen Provinzen des Wissens ganz Unterschiedliches bedeutet.
Bildung als Aufklärung
Der Gebildete ist also einer, der sich in der Welt zu orientieren weiß. Was ist diese Orientierung wert? «Wissen ist Macht.» Was die Idee der Bildung anbelangt, kann das nicht heißen: mit seinem Wissen über andere zu herrschen. Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, dass man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid Weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen, in Politik oder Werbung etwa. Orientierung in der Welt ist nicht die einzige Orientierung, auf die es ankommt. Gebildet zu sein, heißt auch, sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen und was deren Grenzen sind. Es heißt, sich die Frage vorzulegen: Was Weiß und verstehe ich wirklich? Es heißt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu machen. Dazu gehören Fragen wie diese: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verlässlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei? Das Wissen, um das es hier geht, ist Wissen zweiter Ordnung. Es unterscheidet den naiven vom gebildeten Wissenschaftler und den ernstzunehmenden vom einfältigen Journalisten, der noch nie etwas von Quellenkritik gehört hat. Wissen zweiter Ordnung bewahrt uns davor, das Opfer von Aberglauben zu werden. Wann macht ein Ereignis ein anderes wahrscheinlich? Was ist ein Gesetz im Unterschied zu einer zufälligen Korrelation? Was unterscheidet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung? Das müssen wir wissen, wenn wir ein Risiko abschätzen und uns ein Urteil über all die Vorhersagen bilden wollen, mit denen wir bombardiert werden. Jemand, der in diesen Dingen wach ist, wird skeptische Distanz wahren, nicht nur gegenüber esoterischer Literatur, sondern auch gegenüber wirtschaftlichen Prognosen, Wahlkampfargumenten, psychotherapeutischen Versprechungen und dreisten Anmaßungen der Gehirnforschung. Und er wird gereizt, wenn er hört, wie andere Wissenschaftsformeln nur nachplappern. Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloß rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken zu unterscheiden. Er kann das, weil ihm zwei Fragen zur zweiten Natur geworden sind: «Was genau heißt das?» und: «Woher wissen wir, dass es so ist?» Das immer wieder zu fragen, macht resistent gegenüber rhetorischem Drill, Gehirnwäsche und Sektenzugehörigkeit, und es schärft die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens, gegenüber modischen Trends und jeder Form von Mitläufertum. Man kann nicht mehr geblufft und überrumpelt werden, Schwätzer, Gurus und anmaßende Journalisten haben keine Chance. Das ist ein hohes Gut, und sein Name ist: gedankliche Unbestechlichkeit.
Bildung als historisches Bewusstsein
Das aufgeklärte Bewusstsein des Gebildeten ist nicht nur kritisches Bewusstsein. Es ist auch geprägt von historischer Neugierde: Wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, fühlen, reden und leben? Und auf dem Grund dieser Neugierde liegt der Gedanke: Es hätte alles auch anders kommen können, es liegt in unserer Kultur keine metaphysische Zwangsläufigkeit. Das aufgeklärte Bewusstsein ist also ein Bewusstsein der historischen Zufälligkeit. Es drückt sich aus in der Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und ihr gegenüber eine ironische und spielerische Einstellung einzunehmen. Das heißt nicht: sich nicht zu der eigenen Lebensform zu bekennen. Es heißt nur, von dem naiven und arroganten Gedanken abzurücken, die eigene Lebensform sei einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung, die zur Essenz eines jeden Imperialismus und einer jeden Missionierung gehört, ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung.
Das historische Bewusstsein führt zu dem Bedürfnis, sich die Kultur, in die man zufällig hineingewachsen ist, noch einmal neu anzueignen. Das hat viel mit Nachdenken über Sprache zu tun. Die Geschichte von uns als Teilnehmern an einer bestimmten Kultur zu beleuchten, heißt vor allem, sich die Geschichte unserer Wörter zu vergegenwärtigen, denn wir sind sprechende Tiere, und nichts trägt mehr zu unserer kulturellen Identität bei als die Wörter, mit denen wir unser Verhältnis zur Natur, zu den anderen Menschen und zu uns selbst gestalten. Menschliche Lebensformen werden durch Sprachen geprägt, in denen sich Weltanschauungen zu Wort melden. Wie wir die Welt sehen, zeigt sich in den zentralen Kategorien, um die herum eine Sprache gruppiert ist. Wie sind diese Kategorien entstanden, wie haben sie sich gewandelt? Schnell fallen einem Kategorien ein wie «Geist», «Seele», «Bewusstsein» und «Vernunft» – also diejenigen Wörter, die dazu dienen, das Besondere am Menschen, seine besondere Dignität, zu bezeichnen. Der historische Wandel ist hier dramatisch und hat gedankliche Unsicherheit hinterlassen, die zu kennen zur Bildung gehört. Ähnliches gilt für die Ideen von Gut und Böse, Schuld und Sühne, Achtung und Würde, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Wortgeschichten zeigen, wie viel Unterschiedliches, Diffuses und Fragmentarisches sich unter der glatten Oberfläche verbirgt. Wörter wie «Grausamkeit » und «Leiden», «Glück» und «Gelassenheit» sind Beispiele dafür, wie sich in wenigen Wörtern kulturelle Selbstbilder kristallisieren. In der Sprache der Gefühle kommt zum Ausdruck, wie die Teilnehmer einer Kultur sich sehen. Lebensformen und ihre Bewertungen kommen oft in prägenden Metaphern zum Ausdruck, und man ist in einer Kultur erst richtig angekommen, wenn man die Sprache der Zärtlichkeit beherrscht, die Schimpfwörter und Obszönitäten, wenn man weiß, was für sprachliche Tabus es gibt.
Eine Kultur zu verstehen, heißt, sich mit ihren Vorstellungen von moralischer Integrität auszukennen. Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir atmen sie ein mit der Luft des Elternhauses, der Straße, der Filme und Bücher, die uns erschüttern und prägen – sie machen unsere moralische Identität aus und bestimmen unsere moralischen Empfindungen wie Entrüstung, Groll und schlechtes Gewissen. Zuerst – das gehört zur Ernsthaftigkeit der Moral – setzen wir diese Dinge absolut, wir lernen sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen. Der Bildungsprozess dann besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass man in anderen Teilen der Erde, in anderen Gesellschaften und Lebens- formen, über Gut und Böse anders denkt und empfindet; dass auch unsere moralische Identität kontingent ist, ein historischer Zufall; dass sich etwa die Vorstellungen von Sünde und Demut außerhalb der monotheistischen Religionen so nicht finden lassen; dass Rache und Vergeltung nicht überall als verwerflich gelten; dass man über Leiden, Tod und Glück auch ganz anders denken kann; und dass man anderswo mit den physischen und moralischen Übeln in der Welt auch ohne den Gedanken fertig wird, dass sie nicht das letzte Wort sind und dass dereinst noch einmal abgerechnet wird.
Für den Gläubigen kann Bildung Erschütterung bedeuten. Zu erfahren, dass Milliarden von Menschen offenbar nicht den richtigen Glauben haben: Das muss ein Schock sein. Und entsprechend schwer ist die Anerkennung des Offensichtlichen: dass es geographischer und gesellschaftlicher Zufall ist, was ich glaube, welcher Liturgie ich folge – und eben auch, wie meine Moral aussieht. Denn es gehört zum Inhalt religiösen Glaubens, dass er nicht auf einer historischen Zufälligkeit beruhen darf. Das drohte den Glauben zu entwerten, Religion erschiene plötzlich als Spielball kultureller Zufälligkeit. Bildung ist deshalb subversiv, was Weltanschauung angeht. Sie bringt die Relativität einer jeden Lebensform zu Bewusstsein. Totalitäre Ideologien, auch die Kirche, versuchen, diesen Aspekt der Bildung systematisch zu ersticken, daher die Bücher- und Reiseverbote. Im Islam steht auf Apostasie die Todesstrafe. Bildung löst totalitäre Metaphysik auf und versteht Religion als Ausdruck einer Form und Fassung, die Menschen ihrem Leben geben wollen. Religion, so der Gedanke, hat nicht mit metaphysischer Wahrheit zu tun, sondern mit Identitätsbildung, mit der Frage, wie wir leben wollen. Die Kenntnis der Alternativen nimmt ihr nur scheinbar ihren Wert; der Wert kann sogar als größer erlebt werden, weil wir es jetzt nicht mehr mit einem unverfügbaren Schicksal, sondern mit einer freien Wahl zu tun haben. Man könnte sagen: Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden. Man hat die Verantwortung für das eigene Leben noch nicht vollständig übernommen, solange man sich von einer fremden Instanz vorschreiben lässt, wie man zu denken hat über Liebe und Tod, Moral und Glück.
Das Bewusstsein historischer Zufälligkeit schließt noch viele andere Dinge ein: einmal ein Wissen um unterschiedliche Staatsformen und Rechtssysteme, aber auch Dinge wie: Vorstellungen von Intimität; was Anlass zu Scham ist; das Verhältnis zum Körper; Formen der Höflichkeit und Würde; wie man feiert und sich anzieht; das Verhältnis zu Drogen; Formen der Ausgelassenheit und Zärtlichkeit; wann man weint und lacht; Ausprägungen von Humor; Ausdruck von Trauer; Beerdigungsrituale; was beleidigend ist; wie man isst; was man verachtet; wie sich Mann und Frau einander nähern; Formen des Flirts. Auch hier heißt gebildet sein: Wissen um die Vielfalt, Respekt vor dem Fremden, Zurücknahme von anfänglicher Überheblichkeit.
Wenn ich in diesem Sinne gebildet bin, habe ich eine bestimmte Art von Neugierde: wissen zu wollen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Sprache, Gegend und Zeit, auch in einem anderen Klima aufzuwachsen. Wie es wäre, in einem anderen Beruf, einer anderen sozialen Schicht zu Hause zu sein. Ich habe das Bedürfnis nach wachem Reisen, um meine inneren Grenzen zu erweitern. Bildung macht süchtig nach Dokumentarfilmen.
Bisher habe ich Bildung als Weltorientierung, Aufklärung und historisches Bewusstsein definiert. Jetzt füge ich eine Definition hinzu, die mir die liebste ist: Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.
Bildung als Artikuliertheit
Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt – so paradox es klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern. «Schützt Humanismus denn vor gar nichts?», fragte Alfred Andersch mit Blick auf Heinrich Himmler, der aus einer Familie des humanistisch gebildeten Bürgertums stammte. Die Antwort ist: Er schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher. Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung: dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird. Das gilt nicht nur, wenn es um moralisch bedeutsame Dinge geht. Der Gebildete wird auch durch Poesie ein anderer. Das unterscheidet ihn vom Bildungsbürger und Bildungsspießer.
Der Leser von Sachbüchern hat einen Chor von Stimmen im Kopf, wenn er nach dem richtigen Urteil in einer Sache sucht. Er ist nicht mehr allein. Und es geschieht etwas mit ihm, wenn er Voltaire, Freud, Bultmann oder Darwin liest. Er sieht die Welt danach anders, kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen.
Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire, grösser geworden ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.
Jetzt haben wir eine weitere Definition von Bildung: Der Gebildete ist einer, der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind. Seine Fähigkeit, sich besser zu artikulieren, erlaubt ihm, sein Selbstverständnis immer weiter zu vertiefen und fortzuspinnen, wissend, dass das nie aufhört, weil es kein Ankommen bei einer Essenz des Selbst gibt.
Bildung als Selbsterkenntnis
Es kennzeichnet Personen, dass sie sich, was ihre Meinungen, Wünsche und Emotionen anbelangt, zum Problem werden und sich um sich selbst kümmern können. Bildung ist etwas, das an diese Fähigkeit anknüpft. Es mag einer noch so gut ausgebildet sein und eine noch so große Orientierung haben, so dass er in der Welt erfolgreich navigieren kann – wenn er sich nicht auf diese Weise gegenüberzutreten und an sich zu arbeiten Weiß, verfügt er nicht über Bildung in einem vollen, reichen Sinn des Ausdrucks.
Es kann sich dabei um Bildung als Selbsterkenntnis handeln: Statt dass ich nur bestimmte Dinge glaube, wünsche und fühle, kann ich mich fragen, woher sie kommen: welchen Ursprung sie haben und auf welchen Gründen sie beruhen. Im Falle des Denkens und Meinens entsteht dadurch Wissen zweiter Ordnung, von dem schon die Rede war. Doch nun werde ich auch reflektierter, was meinen Willen und meine Emotionen betrifft: Wie bin ich zu ihnen gekommen? Was hat sie angeschoben, und wie gut sind sie begründet? Es geht darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen, statt diese Dinge nur geschehen zu lassen. Es geht um die Interpretation meiner Vergangenheit und das Durchleuchten meiner Entwürfe für die Zukunft, kurz: um das Schaffen und Fortschreiben von Selbstbildern. Und der Gebildete ist auch darin reflektiert, dass er Fragen wie diese stellt: Woher weiß ich, dass ein Selbstbild kein Trugbild ist? Haben wir einen privilegierten Zugang zu uns selbst? Sind Selbstbilder gefunden oder erfunden?
Der Gebildete – so lautet meine nächste Definition – ist einer, der über sich Bescheid weiß und Bescheid weiß über die Schwierigkeiten dieses Wissens. Er ist einer, dessen Selbstbild mit skeptischer Wachheit in der Schwebe gehalten werden kann. Einer, der um die brüchige Vielfalt in seinem Inneren weiß und keine soziale Identität für bare Münze nimmt.
Bildung als Selbstbestimmung
Im Prozess der Bildung geht es nicht nur darum, die Erkenntnis über sich selbst zu vergrößern. Es geht auch darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu bewerten, sich mit einem Teil zu identifizieren und sich vom Rest zu distanzieren. Darin besteht das Schaffen einer seelischen Identität. So meißeln wir eine seelische Skulptur für uns selbst.
Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draußen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, dass Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann. Ich erfahre, was es heißt, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu werden. Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, dass ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über bloße Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei.
Selbstbestimmung in diesem Sinne geschieht nicht von einem inneren Hochsitz herunter, von dem aus ich über mein seelisches Geschehen Regie führen könnte. Ich – das ist nichts anderes als dieses seelische Geschehen selbst. Dass ich über mich selbst bestimme, kann nur heißen: Es findet ein unaufhörliches Knüpfen, Auflösen und Neuknüpfen des Netzes aus seelischen Episoden, Zuständen und Dispositionen statt, das ich bin, ein Entwerfen, Verwerfen und Umbauen meines Selbstbilds, an dem ich messe, was mir innerlich zustößt. Der Gebildete ist einer, der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er einen stetigen Prozess erneuter Selbstbewertung zulässt und die damit verbundene Unsicherheit aushält. Dadurch wird er im emphatischen Sinne ein Subjekt.
Bildung als moralische Sensibilität
Education sentimentale, Herzensbildung, kann noch etwas anderes bedeuten: Entwicklung von moralischer Sensibilität. Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität entsteht Toleranz – kein förmliches Dulden des Fremden, sondern echter und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten, zu leben. Nicht, dass das immer leicht wäre. Besonders schwierig ist es dann, wenn das Fremde die eigenen moralischen Erwartungen verletzt. Was machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des Lebens ist? Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten: Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.
Wir hatten gesehen: Je besser jemand die Sprache des Erlebens beherrscht, desto differenzierter empfindet er. Das hat zur Folge, dass auch seine Beziehungen zu den anderen reicher werden. Das gilt vor allem für die Fähigkeit, die wir Einfühlungsvermögen nennen. Sie ist ein Gradmesser für Bildung: Je gebildeter jemand ist, desto besser ist er darin, sich in die Lage anderer zu versetzen. Bildung macht präzise soziale Phantasie möglich. Sie ist es, die verschleierte Formen der Unterdrückung sichtbar macht und Licht wirft auf Grausamkeiten, die man begangen hat, ohne es zu merken. In dieser Form ist Bildung tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit. Um zu tun, was Himmler tat, muss man an unvorstellbarer Phantasielosigkeit leiden.
Bildung als poetische Erfahrung
Ausbildung ist stets an einem Nutzen orientiert: Man erwirbt ein Know-how, um etwas zu erreichen. Dagegen ist die Bildung, von der hier die Rede ist, ein Wert in sich, wie die Liebe. Es wäre falsch, zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu sein, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Und es ist natürlich auch nicht so, dass es ohne Bildung kein Glück gibt. Aber es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs Engste mit den besprochenen Facetten der Bildung verknüpft sind: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abschütteln zu können; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; die Faszination durch einen Film, der zeigt, wie ganz anders das Leben anderswo ist; die beglückende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen; die freudige Überraschung, wenn man sich mit einem Mal besser versteht; die Erlösung, wenn es einem gelingt, eingefahrene Geleise des Erlebens zu verlassen und so mehr Selbstbestimmung zu erfahren; die überraschende Erfahrung, dass sich mit dem Anwachsen der moralischen Sensibilität der innere Radius vergrößert.
Und Bildung erschließt eine weitere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, das wir Kultur nennen. Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns «fit für die Zukunft» zu machen.
Leidenschaftliche Bildung
Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, was Bildung verhindert. Die Reaktionen sind heftig, denn es geht um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten Hindernissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit. Boulevardblätter, die aus purer Profitgier alles zerstören, wovon ich gesprochen habe, können nur den heftigsten Ekel hervorrufen. Überhaupt ist der Gebildete einer, der vor bestimmten Dingen Ekel empfindet: vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemismen und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums, wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der Bildung halten. Der Gebildete sieht jede Kleinigkeit als Beispiel für ein großes Übel, und seine Heftigkeit steigert sich bei jedem Versuch der Verharmlosung. Denn wie gesagt: Es geht um alles.
——————————————————————————————————————————
Festrede von Peter Bieri an der Pädagogischen Hochschule Bern über Bildung vom 4. November 2005
Der Abdruck folgt dem Manuskript bei http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Bieri
Der 1944 in Bern geborene Peter Bieri ist einer der profiliertesten Denker unserer Zeit und war von 1993 bis 2007 Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin.Unter diesem Namen erschien von ihm «Das Handwerk der Freiheit» (2001).
Peter Bieri studierte klassische Philologie, Indologie und Philosophie in London und Heidelberg. Er ist Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes «Kognition und Gehirn» bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Er hatte den Lehrstuhl für «Sprachphilosophie und Analytische Philosophie» inne. Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat er drei Romane veröffentlicht:
«Perlmanns Schweigen» (1995),
«Der Klavierstimmer» (1998)
«Nachtzug nach Lissabon» (2004) und
die Novelle « Lea» (2007) .