Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Olympia: Doping oder der pharmakologisch-kosmetische Komplex . Von W.K. Nordenham

27. Juli 2016 | Kategorie: Artikel, Doping, Medizin, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muss
und was sonst nicht wüsste, wozu das Dasein ist,
wenn es nicht eben dazu wäre, dass man da ist.

Karl Kraus

Es ist wieder soweit. Nach wie immer angemessen verspätet veröffentlichten Dopingbefunden, setzt sich das IOC bei Olympia 2016 erneut an die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs, unter sich den Berg des nicht Nachweisbaren. Das Versagen scheint Programm. Wortwörtlich geht alles den Bach herunter. Ist es neu? Keineswegs. Nicht zufällig regte sich das in den sechziger-siebziger Wohlstandsjahren des 20. Jahrhunderts, als nach gestilltem Grundbedarf, nach  Not und Frust, zunächst die Lust auf Leben, dann die Lust auf nur immer mehr. Lebensqualität nannte und nennt sich das, werbebegleitet etabliert. Aber die Natur folgt einer eigenen Vernunft  und gibt  nicht freiwillig, was die Unvernunft dem Zeitgeist souffliert. Doping hat als Symptomenkomplex einer Krankheit zu gelten, die sich in zeitgeisttaumeliger Selbstüberschätzung über Natur erheben möchte und dem Körper auch da noch etwas abfordert, wo die Einmaligkeit individueller Anatomie sich verweigert. Als Erfolg tarnt sich das Suchtmittel, in Dollar und Euro gemessen, das den Teufel mit dem Beelzebub  versöhnen möchte. Es mutet wie ein Treppenwitz an, dass der sogenannte Fortschritt zeitgleich mit dem Optimierungswahn eine Industrie hervorgebracht hat, die stets die gewünschte Pille bereitstellt, deren Nebenwirkungen wiederum die Entwicklung der nächsten profitablen Pillengeneration erfordern. Beruhigungsmittel zum Schlafen für die Nacht ohne Rücksicht auf menschliche Verluste, siehe Contergan, für den Tag Aufputschmittel von Coffein über Captagon bis Kokain. Bei der Tour de France ereilt damals einen Fahrer der Tod im Sattel, ein Boxer stirbt nach einem Kampf infolge einer Überdosis Amphetamin. Viele andere sollten folgen. Dennoch, alles ist seither wohlbestellt in Gesellschaft und Sport.  My only hope is dope!

Die Rock-Gruppe „Rolling Stones“ veröffentlichte ein im Rückblick prophetisches anmutendes Lied von den „kleinen Helfern“, ließ die Mütter zu „gelben Pillen“ – Captagon war gelb –  greifen und empfahl am Schluss gegen die Langeweile auf dem Weg zum Glück eine Überdosis. Anabolika, etwa zeitgleich zum Aufbau Schwerstkranker entwickelt und dort mit begrenzter Wirkung, aber profitabel, mutierten zur Leistungsanschubdroge für Sportler, von denen viele krank wurden bis auf den Tod.  Diese unappetitliche Geschichte schrieb  offiziell gern nur dem sogenannten Ostblock, explizit der ehemaligen DDR zu. Dies ist in den Bereich der Legende zu verweisen. „Politisch korrekt“ wurden Ergebnisse über Doping im Sport  vor der Wende lediglich verschwiegen. Dabei hatte es im gesamten „Westen“ dasselbe gegeben und gab es hier wie dort weiter. 1996, sechs Monate vor Olympia Atlanta tat die Amerikanische Kontrollbehörde bekannt, man habe leider kein Geld mehr für Kontrollen und alle schwiegen zu dieser Monstrosität. Wer überrascht war, der hatte nur versäumt Augen und Ohren zu öffnen. Spitzensport war und ist seit Anbeginn komprimierter Zeitgeist unter Laborbedingungen. Er bildet wie ab, was Gesellschaft als zu Erstrebendes ansieht, spiegelt  das Große im Kleinen und geriert sich als Maßstab für das, was als Leistung zu gelten hat. Hier wird die Saat fruchtbar, als deren Auswuchs sich eine Idee von Geist und Körper bahnbricht, die eine fragwürdigste, undefinierte Vollkommenheit von Natur mit allen verfügbaren Mitteln fordert. Es gab und gibt kein Unrechtsbewusstsein für solches „Körpertuning“, siehe die halbherzige Russlandschelte aktuell. Glaubt irgendjemand, das sei in anderen erfolgreichen Staaten nicht so? Stichwörter Kenia, Jamaika, USA , oder Namen Gatlin, Perkovic etc. Aber weiter im Text.

Anabolika im Spitzensport waren damals als erster breit angelegter Tabubruch bestens geeignet, kosmetisch-pharmakologischer Körperoptimierung zu Akzeptanz zu verhelfen. Die bekannteste und meistgeschluckte dieser Pillen  verursachte schwere Leberschäden. Andere Mittel wurden gespritzt und sollten daher angeblich weniger gefährlich sein. Zwar wuchsen die Muskeln tatsächlich, aber auch die Blutgefäße, nämlich nach innen. Dabei verringert sich deren Durchmesser, d.h. sie verschließen sich langsam. Schlaganfall und Herzinfarkt erfolgen, wenn die  Erfolge längst verblasst sind. Dies gilt auch für Testosteron oder Wachstumshormone. Spätfolgen von Epo und ungezählten unbekannten Substanzen stehen noch aus. Dass Mediziner Athleten dazu geraten haben, ist unbegreiflich und ein Ende unabsehbar. Das wird bei sportlichen Großereignissen  eindrucksvoll vorgeführt, demnächst in Rio. Eine Fußnote dazu! Dem egalitären Anblick optimierter Körper entspricht – welche Ironie! –  die verbale Konsonanz der Reportage. Da werden im Dutzend „Emotionen“ über „Emotionen“ beschworen, wo die unterschiedliche Feinheit der Stimmungen leicht Treffenderes oder Tieferes an Beschreibung erlaubt hätten. Der Gleichmacherei hochgezüchteter Anatomie folgt die  der Sprache auf dem Fuße.

Doping im Sport bildet nicht etwa die Ausnahme, sondern gibt nach dem Motto “ Gleiches Recht für alle“, die Regeln für unzählige Nachahmer in allen Bereichen  der Gesellschaft vor. Schlüssig wird das Verhalten aller Beteiligten dann, wenn man eine zunehmend unkritische Einstellung zu allen  ein Mehr an Genuss und Lebenslust versprechenden Stoffen unterstellt . Allein körperliche Perfektion garantierten Erfolg, seien Schlüssel für eine exhibitionistische Lust am Leben, heißt es, ja, sie seien das Leben selbst- so wird per Werbung multimedial erfolgreich suggeriert , von Ballermann bis Bohlen, von Sixpack bis Botox, von Topmodel bis Topblödel. Da darf dann auch der Anatomie messerscharf nachgeholfen werden.Die oben genannten Anabolika sind übrigens in Leistungssport und Medizin weitgehend verschwunden, nicht etwa weil zu gefährlich, sondern weil viel zu leicht nachzuweisen. Aber es gibt sie noch, und es wird weiterhin sehr viel Geld damit verdient. Das Zeug ist mehr etwas für die „Dummen“, die sich das z. B. in den Kraftstudios und Fitnesstempeln in abenteuerlichen Dosierungen verabreichen.  Für die  Hochmögenden stehen subtilere Mittel für jeden Bedarf zur Verfügung. Schon im August 2002 ließ sich auf neun von zehn Euro-Scheinen Kokain nachweisen, welche die Konsumenten offenbar fein gerollt benutzt hatten, so  im „Wallstreet Journal Europa“ von vor über zehn Jahren nachzulesen. Alles wird getan, um „toll“ zu sein. Körperoptimierung mit medizinisch unbegrenzten Möglichkeiten ist akzeptierte Lebensform für Leistungserbringer verschiedenster Provenienz, nicht nur  auf Hochniveau, sondern auf allen Ebenen, zugunsten eines Körperkultes, der noch die absurdeste Mode vollendet bedient.

Dem Schönheitsideal einer Gesellschaft huldigend, die Vitalität für Leben und Individualität für Persönlichkeit hält, die Respekt längst der Achtung vorgezogen hat und Kosmetik als Lehre vom Kosmos missversteht, opfert der moderne Psycho-Klon auf dem zum Operationstisch mutierten Altar der Eitelkeiten eine mögliche Identität,  Gesundheit,Lebensglück, und alle gucken weg oder dürfen sogar TV-gerecht zusehen. Nach Brust-,Gesichts-, Nasen- und Ohren-, nach Brust- und Bauchkorrekturen,  deren medizinische Notwendigkeit in den allermeisten Fällen kein Hippokrates je beglaubigt hätte, wird als vorläufig letzter Schritt zum zivilisatorischen Tiefpunkt die kosmetische Beschneidung für Frauen angedient. Nicht etwa  in Afrika, wo es einen zynischen Fortschritt darstellte, sondern in der wildwestlichen Zivilisation – man spürt fast das Zerbröseln des Wortes Zivilisation auf der Zunge -, wo er einem pseudoperfekten Schritt Genüge tun soll, indem er vorspiegelt eine Natur durch Deformieren zu verbessern. Den Erbringern dieser Leistung, die in der Hauptsache Hodenträger sind und weder an ihren Beutel noch an ihren Geldbeutel irgendjemand ließen, würde die ärztliche Approbation sofort entzogen, wäre nicht längst der vormalige Arzt zum gewinnorientierten Leistungserbringer im Gesundheitswesen mutiert. Als solcher wird er von seinesgleichen sowie einer Gesellschaft akzeptiert, die aktive und passive Konsumfähigkeit zum allein seligmachenden Lebensinhalt stilisiert hat. Eine durchsexualisierte, pharmakologisch und kosmetisch optimal aufbereitete Spezies schluckt sich ins Endorphinparadies und begreift die zu Markte getragene Haut mediengerecht als Benutzeroberfläche. Pharmakologisch-kosmetische Komplex, das klingt wie eine Diagnose. Tattoo-tata!  Der kategorische Imperativ ist klammheimlich durch das kategorische Präservativ ersetzt und so öffentlich-demonstrativ der Körper dem Geist vorgezogen, was in diesem Fall sogar Sinn macht.  Lust, Genuss, Karriere und auch noch den kürzesten Erfolg ohne jede Rücksicht auf körperliche Unversehrtheit, bis zum Burnout und noch darüber hinaus, mit Mitteln zweifelhaftester Art zu befördern, so die Losung, deren  Doppelbedeutung aus der Jägersprache mir nie einleuchtender erschien. Sie gibt sich als Lösung aus und verweigert jede Erlösung, sei denn um den Preis des Lebens.

Als Zugabe der Blumenkindergeneration kamen schon Haschisch und LSD zu ungeahnten Ehren und wurden von den Protagonisten der Studentenbewegung aufgenommen. Alljährlich gesellen sich seither neue Stoffe, Pseudolebenselixiere und diverse Lustpillen hinzu. Zurück bleiben ungezählte Versehrte, von denen viele nicht wissen, dass sie es sind. Der rundum-harmlos Bürger behilft sich mit Drinks, Multivitamincocktails, Energyzeug, netten Lifestyleprodukten, damit er den Alltag gesellschaftskompatibel mittun kann. Nebenbei konsumiert er einen Sport, der ihm mehr entspricht als ihm lieb sein muss. Aller zusammen  erbarmt sich am Ende die Volksdroge Alkohol, nach den Älteren auch der Jüngsten, bis sich Oma auf Koma reimt. Es beginnt  mit Drink und endet im Trunk. Von den Millionen Alkoholikern abgesehen, gibt es schon rund eineinhalb Millionen Menschen, die als Medikamentenabhängige eine statistische Größe bilden dürfen. Die haben keine Wahl mehr. Es soll einem gutgehen, aber es geht nicht gut. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt? Nein! Wer nicht wagen will, wird als Verlierer denunziert und Spott und Verachtung preisgegeben. Jener moderne Sophist, der im  Zweiten den  ersten Verlierer ausmachte, verwies damit eine ganze Menschheit auf die Plätze. Die systemische Forderung, von jenseits des Atlantik herübergeschwappt, Erster von was auch immer sein zu sollen, wird als bigottgegeben hingenommen, damit man mehr als nur dabei sein könne. Diese inhumane Drohgebärde  gibt sich ersichtlich nicht mit dem Feld des Sports  zufrieden. Das ist Gesellschaft dabei.

Brot und Spiele in den Arenen der Antike verlangten von den Beteiligten den Kampf bis auf den Tod. Da gibt man sich im Moment noch etwas schamhaft. Für die Schlagzeile  reicht das mittelbare Ende immerhin. Sie heißen Griffith-Joyner, Pantani, Prince, Michael Jackson, Kurt Cobain oder Amy Winehouse. Die Spätfolgen für die meisten gehen in den Tagesereignissen unter. Es wird allerorten gut bezahlt. Die  japanischen Sumos nehmen ihr vorzeitiges Ende als gegeben hin für einen Erfolg, der eben kein Ruhm ist, weil alles nach Karriereende sehr schnell dem Vergessen anheimfällt. Es bedarf einer inflationären Zahl von Halls of Fame und Sternboulevards, um wenigstens auf ein paar Jahre hin Erinnerung zu konservieren.

Gegenwärtig gehen die Möglichkeiten der Optimierung in Richtung Designer-Baby und Gen-Doping. Durch Veränderungen der Erbsubstanz sollen Kens und Barbies enstehen. Man stelle sich einmal Supergehirne, die Sehschärfe eines Adlers, den Geruchssinn eines Hundes oder Ähnliches vor. Der Phantasie sind  keine Grenzen gesetzt, und die Folgen unabsehbar wie immer, wenn der Mensch Hand an den Menschen legt. Es können ungebremste Blutgefäßneubildung und Blutneubildung für Ausdauer einerseits oder exzessiver Muskelaufbau für Kraftgewinn andererseits erzeugt werden. Im Tierversuch nannte man ein Ergebnis bezeichnenderweise „Schwarzenegger-Mäuse“, allerdings um den Preis halbierter Lebenserwartung. Dass die genetischen Eingriffe zumindest anfangs kaum nachzuweisen sein werden, weckt Begehrlichkeiten nicht nur im Sport.  Doping wirkt nolens volens als  Katalysator gesellschaftlicher Prozesse nicht nur im Sport, bei denen Schnelligkeit und Leistung und ein sich ständig wandelnder Schönheitsbegriff  jegliche Vernunft und Sinnhaftigkeit beängstigend  dominieren. So ist  im multimedial entgeisteten  Zeitalter  die Huldigung an eine Körperkultur zu konstatieren, die sich auch teilenthirnen ließe, wenn es der Kopfform frommte und kosmetisch einwandfrei geschähe. Die Schädelkalotte diente zeitgerecht als Hohlraumversiegelung, das Resthirn dürfte intellektuelle Mülltrennung betreiben. Habe ich schon gesagt, dass es dabei natürlich immer um Profit geht? Es lebe der Konsumo sapiens – solang er lebt! Oder genauer: Konsumo debilis statt homo sapiens! Die Schrumpfköpfe sind unter uns. Einmal für einen ephemeren Augenblick wahrgenommen zu werden, ist das nicht genug für ein ganzes Menschenleben? Nein, ist es nicht. Es ist nicht diese Lust gemeint, die Ewigkeit will. Auch hier gilt Adorno: Es gibt nichts Harmloses mehr.