Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Tagebuch II. Von Karl Kraus

29. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch

DIE FACKEL

Nr. 254—255. 22. Mai 1908. X. Jahr. S. 33 -35


Tagebuch

Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, dass es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.

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In Lourdes kann man geheilt werden. Welcher Zauber sollte aber von einem Nervenspezialisten ausgehen?

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Ich habe um mancher guten Entschuldigung willen gesündigt und darum wird mir vergeben werden.

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Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.

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Der persönliche Umgang mit Dichtern ist nicht immer erwünscht. Vor allem mag ich die Somnambulen nicht, die immer auf die richtige Seite fallen.

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Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber es geht darin zu, wie in Österreich.

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»Zu neuen Taten, tapferer Helde, wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht!« So spricht das Weib Wagners. Dem Helden müsste bei solcher Bereitschaft die Lust an den Taten und die Lust  am Weibe vergehen. Denn die Lust an den Taten entstammt der Lust am Weibe. Nicht zu den Taten lasse sie ihn, sondern zur Liebe: dann kommt er zu den Taten. Solcher Psychologie  aber entspräche auch das Wort Wagners,  wenn nur die Interpunktion verändert wäre. Die Alliteration mag bleiben. Man lese also: »Zu neuen Taten, tapferer Helde! Wie liebt’ ich dich,  ließ’ ich dich nicht …«

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Omne animal triste. Das ist die christliche Moral. Aber auch sie nur post, nicht propter hoc.

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Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es, wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern Gedanken als dich und darum immer neue!

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Zur Vollkommenheit fehlt ihr nur ein Mangel.

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Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen, auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu beseitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei ungefährlich, wenn sie unter allen  Kautelen der theologischen Wissenschaft durchgeführt wird.

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Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus. Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen.

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Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt auch nichts der Sache.

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Die alten Bücher sind selten, die zwischen Unverständlichem und Selbstverständlichem einen lebendigen Inhalt bewahrt haben.

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Auch die sprachliche Trivialität kann ein Element des künstlerischen Ausdrucks sein, nämlich des Witzes. Der Schriftsteller, der sich ihrer bedient, ist echter Feierlichkeit fähig. Das  Pathos an und für sich ist ebenso wertlos wie die Trivialität als solche.

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Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung  kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.

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Die bange Frage steigt auf, ob der Journalismus, dem man getrost die besten Werke zur Beute hinwirft, nicht auch kommenden Zeiten schon den Geschmack an der sprachlichen Kunst verdorben hat.

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Eine exklusive Kunst ist ein Unding. Es heißt die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganze Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder  will dann exklusiv sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung des Exklusiven zu leben. Es besteht der Verdacht,  dass die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen lebt. Die  Musik von Nebengeräuschen, die Schauspielerei von Mängeln.

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Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen,  so bleibe ich lieber unverheiratet.

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Die Gesellschaft braucht Frauen, die einen schlechten Charakter haben. Solche, die gar keinen haben, sind ein bedenkliches Element.

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Das höchste Vertrauensamt: Ein Beichtvater unterlassener Sünden.

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Ein Leierkasten im Hof stört den Musiker und freut den Dichter.

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Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.

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Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!

 

K a r l    K r a u s .

 


Die Sprache. Von Karl Kraus

18. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Aus "Die Fackel", Sprache

DIE FACKEL


Nr. 885—887 ENDE DEZEMBER 1932 XXXIV. JAHR


Die Sprache

Der Versuch: der Sprache als Gestaltung, und der Versuch: ihr als Mitteilung den Wert des Wortes zu bestimmen — beide an der Materie durch das Mittel der Untersuchung beteiligt — scheinen sich in keinem Punkt einer gemeinsamen Erkenntnis zu begegnen. Denn wie viele Welten, die das Wort umfasst, haben nicht zwischen der Auskultation eines Verses und der Perkussion eines Sprachgebrauches Raum! Und doch ist es dieselbe Beziehung zum Organismus der Sprache, was da und dort Lebendiges und Totes unterscheidet; denn dieselbe Naturgesetzlichkeit ist es, die in jeder Region der Sprache, vom Psalm bis zum Lokalbericht, zum Lokalbericht, den Sinn dem Sinn vermittelt. Kein anderes Element durchdringt die  Norm, nach der eine Partikel das logische Ganze umschließt, und das Geheimnis, wie um eines noch Geringern willen ein Vers blüht oder welkt. Die neuere Sprachwissenschaft  mag so weit halten, eine schöpferische Notwendigkeit über der Regelhaftigkeit anzuerkennen: die Verbindung mit dem Sprachwesen hat sie jener nicht abgemerkt, und dieser so wenig wie die ältere, welche in der verdienstvollen Registrierung von Formen und Missformen die wesentliche Erkenntnis schuldig blieb. Ist das, was sie dichterische Freiheit  nennen, nur metrisch gebunden, oder verdankt sie sich einer tieferen Gesetzmäßigkeit? Ist es eine andere als die, die am Sprachgebrauch wirkt, bis sich ihm die Regel verdankt? Die Verantwortung der Wortwahl — die schwierigste, die es geben sollte, die leichteste, die es gibt —, nicht sie zu haben: das sei keinem Schreibenden zugemutet; doch sie zu erfassen, das ist  es, woran es auch jenen Sprachlehrern gebricht, die dem Bedarf womöglich eine psychologische Grammatik beschaffen möchten, aber so wenig wie die Schulgrammatiker imstande  sind, im psychischen Raum des Wortes logisch zu denken.

Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist. Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber  dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern  Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des  Gedankens Vater zu sein? Alles Sprechen und Schreiben von heute, auch das der Fachmänner, hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Wegwurf einer Zeit  gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung abnimmt. Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis  heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt. Und es ist, als  hätte das Fatum jene Menschheit, die deutsch zu sprechen glaubt, für den Segen gedankenreichster Sprache bestraft mit dem Fluch, außerhalb ihrer zu leben; zu denken, nachdem sie  sie gesprochen, zu handeln, ehe sie sie befragt hat. Von dem Vorzug dieser Sprache, aus allen Zweifeln zu bestehen, die zwischen ihren Wörtern Raum haben, machen ihre Sprecher  keinen Gebrauch. Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln, wenn der Deutsche keiner andern Ordonnanz gehorsamte als der der Sprache!

Nichts wäre törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der  tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen  Bodens bäumt sie sich dagegen auf. Sie ist schon in ihrer zugänglichsten Region wie eine Ahnung des höchsten Gipfels, den sie erreicht hat: Pandora; in unentwirrbarer Gesetzmäßigkeit seltsame Angleichung an das symbolträchtige Gefäß, dem die Luftgeburten entsteigen:

Und irdisch ausgestreckten Händen unerreichbar jene, steigend jetzt empor und jetzt gesenkt. Die Menge täuschten stets sie, die verfolgende. Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer  Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind — das wäre die pädagogische Aufgabe an  einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt sein — mehr durch die  Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen — ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an  einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. »Volk der Dichter und Denker«: seine Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst erschlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Außerhalb, das die Fülle entbehrten Glückes umfasst: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen!


 

 


MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 2. Buch

12. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Marc Aurel

Das erste Buch enthält im Wesentlichen autobiographische  Einzelheiten und bleibt deshalb zunächst unberücksichtigt.

Marc Aurel

Zweites Buch

1.Morgens früh sagst Du Dir: Ich werde einen aufdringlichen, undankbaren, frechen, falschen, missgünstigen, unfreundlichen Menschen treffen.  All diese Eigenschaft haben sie ja nur, weil sie sich im Unklaren darüber sind, was gut und was böse ist. Ich aber, der das Wesen des Guten erkannt hat, dass es schön ist und des Bösen, dass es hässlich ist, wie auch die Natur des gegen mich Zuwiderhandelnden. Das heißt zwar, dass er mit mir verwandt ist-   hat er auch nicht an demselben Blut oder der Keimzelle mit mir teil, so doch an demselben Geist und der gleichen göttlichen Abkunft-, aber ich kann von ihm keine Schaden erleiden. Denn in Schande kann mich keiner stürzen. Ich kann auch meinem Verwandten nicht zürnen oder ihm ein feindlich gesinnt sein. Denn wir sind zur Zusammenarbeit bestimmt, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne. Einander entgegenzuarbeiten ist daher wider die Natur. Wir arbeiten uns aber entgegen, wenn wir einander zürnen oder uns meiden.

2. Was ich auch sein mag, dieses Gebilde hier: es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft. Weg mit den Büchern! Lass Dich durch sie nicht länger ablenken! Das darfst Du nicht! Sondern verachte das elende Fleisch, als wenn Du schon sterben müsstest.  Es ist nur  Unrat des Darms und Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. Bedenke  auch, was für ein Ding Dein Atem ist. Ein Lufthauch nur, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick wird er ausgestoßen und wieder eingezogen. Das Dritte in Dir ist also die herrschende Vernunft. Das bedenke nun, Du bist ein alter Mann. Lass sie also nicht länger Sklavin sein,  sich nicht länger durch selbstsüchtige Triebe hin und her gezerrt werden lassen, sich nicht länger aufzuregen über das Dir vom Schicksal Auferlegte  oder über Deine jetzige Lage  oder über das Kommende jammern.

3. Das Walten der Götter lässt überall die Vorsehung erkennen. Das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne die Verkettung der Verflechtung mit dem  Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und das Wohl des ganzen Kosmos, von dem Du ein Teil bist. Für jedes Teil der Natur aber ist gut, was die Natur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Wandlungen der Elemente wie auch die der zusammengesetzten Körper.- Diese Einsichten müssen Dir genügen und stets Grundsätze sein. Den Durst nach Büchern aber wirf ab, damit Du nicht irgendwann murrend stirbst, sondern guten Mutes und von Herzen dankbar gegen die Götter.

4. Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie genutzt hast. Du musst doch endlich einmal einsehen, was das für eine Kosmos ist, dem Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist und dass Dir eine Zeit zugemessen ist, die vergangen sein wird wie Du selbst, wenn Du sie nicht dazu verwendest Dich abzuklären, und die nicht wiederkommt.

5. Immer sei darauf bedacht, bei allem was es zu tun gibt,  eine entschiedene und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut und Gerechtigkeit zu üben, wie es einem Manne geziemt, und  dabei alle Nebengedanken von Dir fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die Letzte im Leben ansiehst, fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran anhängt.  Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht mehr.

6. Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück außer Dir verlegst in die Seelen anderer.

7. Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und Dein unstetes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Außendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur so festhältst. Denn das bleibt die größte Torheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Denken und Trachten ausrichtet.

8. Wenn man nicht herausbekommen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.

9. Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Teil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Teil Du bist.

10. Theophrast in seinem Vergleich der menschlichen Fehler – wie diese denn jeweils verglichen werden können – sagt, schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet, es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht mit unversehrter Haut.

11. Jegliches Tun bedenken wie einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Übel hört dann doch wohl gerade auf. Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind, und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Mehr noch, sie haben, was die Übel betrifft, und zwar die eigentlichen, sie ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Übel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst für die bloße Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen – ist gewiss, dass sie nicht vermag, dem Übel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen. Auch hätte sie dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteilwerden hieß. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen, also sind sie auch weder gut noch böse, weder ein Glück noch ein Unglück.

12. Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber, in der Welt der Geister deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht, wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, tot! – Man folge dem Zuge des Geistes, man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben, man untersuche, was eigentlich sterben heißt, und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken gestattet, darin nichts anderes als ein Werk der Natur erkennen. Kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten. Man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.

13. Nichts Elenderes als ein Mensch, der um alles und jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Mutmaßungen anzustellen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie es sich gebührt. Das aber ist sein Dienst, ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so viele nicht wissen, was Güter und was Übel sind;  eine Blindheit, nicht geringer als die, wie wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.

14. Und wenn Du  dreitausendJahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, hat doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als das, was er einmal verlieren wird. Und so läuft das Längste wie das Kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem niemand verlieren kann, weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken. Einmal, dass alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand etwas verlieren kann, was er nicht hat.

15. Alles beruht nur auf  Meinung. Denn klar ist der Ausspruch des Kynikers Monimos. Auch der Wert des Ausspruches ist klar, wenn man  den Kern erfasst.

16. Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie sich von der Allnatur abzusondern, gleichsam aus ihr geschwürartig herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgendetwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu tun, wie üblicherweise im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas tut oder spricht oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist, den Prinzipien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.

17. Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Endpunkt, des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch, sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er nichts ohne Überlegung tue, nichts erlüge und erheuchle und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, dass er alles, was ihm widerfährt und zugeteilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemäße, und das Naturgemäße ist niemals vom Übel.


Vorurteile. Von Karl Kraus

05. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Vorurteile

Die Fackel

Nr. 241 WIEN, 15. JÄNNER 1908 IX. JAHR  S. 1-8


Es gibt zweierlei Vorurteil. Das eine steht über allem Urteil. Es nimmt die innere Wahrheit vorweg, ehe das Urteil der äußern nahegekommen ist. Das andere steht unter allem Urteil; es kommt auch der äußern Wahrheit nicht nahe. Das erste Vorurteil ist über die Zweifel des Rechts erhaben, es ist zu stolz, um nicht berechtigt zu sein, es ist unüberwindlich und führt zur Absonderung. Das zweite Vorurteil lässt mit sich reden; es macht seinen Träger beliebt und ist auch als Verbindung eines Urteils mit einem Vorteil praktikabel.

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Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nicht.

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Ich unterschätze den Wert der wissenschaftlichen Erforschung des Geschlechtslebens gewiss nicht. Sie bleibt immerhin eine schöne Aufgabe. Und wenn ihre Resultate von den Schlüssen künstlerischer Phantasie bestätigt werden, so ist das schmeichelhaft für die Wissenschaft und sie hat nicht umsonst gelebt.

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Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen!

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Diese finden jenes, jene dieses schön. Aber sie müssen es »finden«. Suchen will es keiner.

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Ich habe den Satz von der ersten Geliebten, die eine Kletterstange war, wörtlich, nicht metaphorisch gemeint. Ich werde doch nicht einer Frau den Rang einer Kletterstange anweisen. Wohl aber umgekehrt.

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Das Gefühl, das man bei der Freude des andern hat, ist in jedem Fall selbstsüchtig. Hat man ihm die Freude selbst bereitet, so nimmt man die größere Hälfte der Freude für sich in Anspruch. Die Freude aber, die ihm ein anderer vor unseren Augen bereitet, fühlen wir ganz mit: die Hälfte ist Neid, die Hälfte Eifersucht.

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Frauen sind hohle Koffer oder Koffer mit Einlage. In die hohlen packe man keinen geistigen Inhalt, er könnte in Verwirrung geraten. In die andern lässt er sich gut hineinlegen.

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Wenn man einmal durch Erleben zum Denken gelangt ist, gelangt man auch durch Denken zum Erleben. Man genießt die wollüstigen Früchte seiner Erkenntnis. Glücklich, wem Frauen, auf die man Gedachtes mühelos anwenden kann, zu solcher Erholung beschieden sind!

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Es ist die wichtigste Aufgabe, das Selbstunbewusstsein einer Schönen zu heben. Und das Selbstbewusstsein derer, die um sie sind.

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Wenn ich eine Frau so auslegen kann, wie ich will, ist es das Verdienst der Frau.

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Mein Gehör ermöglicht es mir, einen Schauspieler, den ich vor zwanzig Jahren in einer Dienerrolle auf einem Provinztheater und seit damals nicht gesehen habe, als Don Carlos zu imitieren. Das ist ein wahrer Fluch. Ich höre jeden Menschen sprechen, den ich einmal gehört habe. Nur die Wiener Schriftsteller, deren Feuilletons ich lese, höre ich nie sprechen. Darum muß ich jedem erst eine besondere Rolle zuweisen. Wenn ich einen Wiener Zeitungsartikel lese, höre ich einen Zahlkellner oder einen Hausierer, der mir vor Jahren einmal einen Taschenfeitel angehängt hat, reden. Oder es ist eine Vorlesung bei der Hausmeisterin. Mit einem Wort, ich muss mich auf irgend einen geistigen Dialekt einstellen, um hindurchzukommen. Mit meiner eigenen Stimme bringe ich’s nicht fertig.

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Es müsste ein geistiger Liftverkehr etabliert werden, um einem die unerhörten Strapazen zu ersparen, die mit der Herablassung zum Niveau des Wiener Schrifttums verbunden sind. Wenn ich wieder zu mir komme, bin ich immer ganz außer Atem.

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Dem Erotiker wird das Merkmal des Geschlechts nie Anziehung, stets Hemmung. Auch das weibliche Merkmal. Darum kann er zum Knaben wie zum Weib tendieren. Den durchaus Homosexuellen zieht das Merkmal des Mannes an, gerade so wie den hypersexuellen »Normalen« das Merkmal des Weibes als solches anzieht. Jack the ripper ist also viel »normaler« als Sokrates.

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Der sexuelle Mann sagt: Wenn’s nur ein Weib ist! Der erotische sagt: Wenn’s doch ein Weib wäre!

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Das Weib kann Sinnlichkeit auch zum Weib führen. Den Mann die Phantasie auch zum Mann. Hetären und Künstler. »Normwidrig« ist der Mann, den Sinnlichkeit, das Weib, das Phantasie zum eigenen Geschlecht führt. Der Mann, der mit Phantasie auch zum Mann gelangt, steht höher als jener, den nur Sinnlichkeit zum Weib führt. Das Weib, das Sinnlichkeit auch zum Weib führt, höher, als jenes, das erst mit Phantasie zum Mann gelangt. Der Normwidrige kann Talente haben, nie eine Persönlichkeit sein. Der andere beweist seine Persönlichkeit schon in der
»Perversität«. Das Gesetz aber wütet gegen Persönlichkeit und Natur, gegen Werte und Defekte.Es straft Sinnlichkeit, die das Vollweib zum Weib und den Halbma nn zum Mann, es straft Phantasie, die den Vollmann zum Mann und das Halbweib zum Weib führt. — Ich spreche diese Erkenntnis, die die Analphabeten aus meiner Abhandlung über »Perversität« nicht entnehmen konnten, hier noch einmal aus. Es muss mir vor allem darauf ankommen, die Analphabeten zu überzeugen, da sie ja die Strafgesetze machen.

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Wenn man vom Sklavenmarkt der Liebe spricht, so fasse man ihn doch endlich so auf: die Sklaven sind die Käufer. Wenn sie einmal gekauft haben, ist’s mit der Menschenwürde vorbei; sie werden glücklich. Und welche Mühsal auf der Suche des Glücks! Welche Qual der Freude! Im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Genuss finden. Wie plagt sich der Mann um die Liebe! Aber wenn eine nur Wanda heißt, wird sie mit der schönsten sozialen Position fertig.

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Ein schauerlicher Materialismus predigt uns, dass die Liebe nichts mit dem Geld zu tun habe und das Geld nichts mit der Liebe. Die idealistische Auffassung gibt wenigstens eine Preisgrenze zu, bei der die wahre Liebe beginnt. Es ist zugleich die Grenze, bei der die Eifersucht dessen aufhört, der um seiner selbst willen geliebt wird. Sie hört auf, wiewohl sie jetzt beginnen könnte. Das Konkurrenzgebiet ist verlegt.

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Die Rechtsstellung des Zuhälters in der bürgerlichen Gesellschaft ist noch nicht geklärt. Ethisch ist seine Rolle, wenn er bloß achtet, wo geächtet wird. Ethisch ist er als Antipolizist. Also ein Auswurf der Gesellschaft. Vollends, wenn er für seine Überzeugung Opfer bringt. Wenn er aber für seine Überzeugung Opfer verlangt, fügt er sich in den Rahmen der Gesellschaftsordnung, die zwar dem Weibe Prostitution nicht verzeiht, aber dem Manne Korruption.

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Verachtung der Prostitution? Die Huren schlechter als Diebe? Wisst: Liebe nimmt nicht nur Lohn, Lohn gibt auch Liebe!

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Hierzulande gibt es unpünktliche Eisenbahnen, die sich nicht daran gewöhnen können ihre Verspätungen einzuhalten.

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Ein skrupelloser Maler, der unter dem Vorwand, eine Frau besitzen zu wollen, sie in sein Atelier lockt und dort malt.

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Das Gesetz enthält leider keine Bestimmung gegen die Männer, die ein unschuldiges junges Mädchenunter der Zusage der Verführung heiraten und wenn das Opfer eingewilligt hat, von nichts mehr wissen wollen.

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Die einen verführen und lassen sitzen; die andern heiraten und lassen liegen. Diese sind die Gewissenloseren.

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Versorgung der Sinne! Die bangere Frauenfrage.

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Ich bin doch gewiss bereit, einen Gegner nachsichtig zu beurteilen. Aber ich muss so gerecht sein und zugeben, dass die Artikel, die H. über seinen Prozess geschrieben hat, der letzte Schund sind.

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Eine untrügliche Probe der Dummheit: Ich frage einen Diener, um welche Zeit gestern ein Besuch da war. Er sieht auf seine Uhr und sagt: »Ich
weiß nicht, ich hab’ nicht auf die Uhr gesehen!« Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen »ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten dürfen. Aber man musssagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten. Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehrviolett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in  holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.

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Ein pornographischer Schriftsteller kann leicht Talent haben. Je weiter die Grenzen der Terminologie, desto geringer die Anstrengung der Psychologie. Wenn ich den Geschlechtsakt populär bezeichnen darf, ist das halbe Spiel gewonnen. Die Wirkung eines verbotenen Wortes wiegt alle Spannung auf und der Kontrast zwischen dem Überraschenden und dem Gewohnten ist beinahe ein Humorelement.

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Es gibt seichte und tiefe Hohlköpfe. In der Vogelperspektive aber ist zwischen einem Paul Goldmann und einem Professor der Philosophie kein
Unterschied.

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Es wäre immerhin möglich, dass eine Sitzung des Vereins reisender Kaufleute sich als eine Versammlung der Väter unserer jungwiener Dichter
entpuppte.

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Die Boheme hat sonderbare Heilige. Ein Einsiedler, der von Wurzen lebt!

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Ein amerikanischer Denker: Deutsche Philosophie, die auf dem Transport Wasser angezogen hat.

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Die Persönlichkeit hat’s in sich, das Talent an sich.

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Es ist etwas Eigenes um die gebildeten Schönen. Sie krempeln die Mythologie um. Athene ist schaumgeboren und Aphrodite in eherner Rüstung dem Haupt Kronions entsprossen. Klarheit entsteht erst wieder, wenn die Scheide am Herkulesweg ist.

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Sie gewährt, an die Pforte ihrer Lust zu pochen und lässt alle die Schätze sehen, von denen sie nicht gibt. Die Unlust des Wartenden bereichert indes ihre Lust: sie nimmt dem Bettler ein Almosen ab und sagt ihm, hier werde nichts geteilt.

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Wir kürzen uns die Zeit mit Kopfrechnen ab. Ich ziehe die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt mich zur Potenz.

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In der Nacht sind alle Kühe schwarz, auch die blonden.