Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Die Welt der Plakate. Von Karl Kraus

10. Februar 2016 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Werbung

Die Welt der Plakate sieht  sich heutzutags  überkotzt mit Werbung auf allen Kanälen. Selbst der einst ruhigste Ort ist nicht mehr sicher vor unnatürlichem Getöse. Es hilft nur die Flucht. Aber wohinsich wenden? Da drängt sich dann zuverlässig eine Last -minute- Empfehlung  zu einem Spottpreis ins Bild, die im Namen den Spott über den Konsumo debilis gleich kostenfrei mitliefert. Alles nicht neu, nur immer blöder werdend, eben dem Publikum angepasst.    W. K. Nordenham

Die Fackel Doppel-Nummer Nr. 283—284 26. Juni 1909 XI. Jahr   S. 19- 25

Die Welt der Plakate

(aus dem simplicissimus)

Von Karl Kraus

Schon als Kind war ich weniger darauf erpicht, das Leben aus den großen Werken der Kunst zu empfangen, als aus den kleinen Tatsachen des Lebens es zu ergänzen. Unbewusst ging ich den rechten Weg ins Leben, indem ich es mit jedem Schritt eroberte, anstatt es als eine Überlieferung an mich zu nehmen, mit der der junge Sinn nichts zu beginnen weiß. Die Erwachsenen, die noch immer eine kindische Freude daran haben, den vor der Tür des Lebens Wartenden den Christbaum mit den Geschenken einer fertigen Bildung zu behängen, wissen nicht, wie unempfänglich sie die Kinder für alles das machen, was die wahre Überraschung des Lebens bedeutet. Meine Neugierde war immer stärker als solche Befriedigung. Instinktiv wich ich der Verlockung aus, in mich aufzunehmen, was weisere Leute gedacht hatten, und während meine Kameraden schlechte Sittennoten bekamen, weil sie unter der Bank Bücher lasen, war ich ein Musterschüler, weil ich auf jedes Wort der Lehrer passte, um ihre Lächerlichkeiten zu beobachten. Ich war früh darauf aus, vom Menschen Aufschluss über den Menschen zu verlangen, und ich ließ eigentlich nur eine Form künstlerischer Mitteilung gelten, die mir das Wissenswerte unaufdringlich an den Mann zu bringen schien: das Plakat. Ein sentimentaler Gassenhauer, den am Sommersonntag ein Leierkasten vor unserem Landhaus spielte, hatte Macht über mein Gemüt; ich ließ ab, Fliegen zu fangen, und die Mysterien der Liebe gingen mir auf. Andere, die sich rühmen, dass der Tristan eine ähnliche Wirkung auf sie geübt habe, fangen noch heute Fliegen. Ich war stets anspruchslos, wenn es die Wahl der äußeren Eindrücke galt, um zu inneren Erlebnissen zu gelangen, und ich verschmähte jene starken Reizmittel, welche die schwachen Seelen brauchen, um eine trügerische Wirkung mit vermehrtem Schaden zu erkaufen. Kurzum, die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vorübergekommen bin, werden sich am Ende über meine Aufdringlichkeit nicht zu beklagen haben. Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine Beschäftigung, bei der Genusssucht und Lernbegier auf ihre Kosten kamen. Und wahrlich, wem der dreimal gefährliche Idealismus eingeboren ist, die Schönheit an ihrem Widerspiel bestätigt zu sehen, den kann ein Plakat zur Andacht stimmen!

Es sind wertvolle Aufschlüsse, die ich den Affichen jener Zeit zu danken habe, da die ersten Versuche gemacht wurden, das geistige Leben ausschließlich auf die Bezugsquellen des äußeren Lebens zu lenken. Denn immer deutlicher wurde das Bestreben, dem Betrachter, dessen Denken von höheren Interessen abgelenkt war, einen vollgültigen Ersatz in den Plakaten selbst zu bieten. Die geistigen Werte, von denen er scheinbar entwöhnt wurde, sollte er eben dort wiederfinden, wo er sie am wenigsten vermutete, und umso größer musste seine Überraschung sein, die Schuhwichse, deren Beachtung er eben noch Kunst und Literatur geopfert hatte, just in Verbindung mit diesen unentbehrlichen Lebensgütern anzutreffen. Als ob man einen lieben Bekannten, von dem man sich in Europa verabschiedet hat, in Amerika wiedersähe: man kann sich vor Staunen nicht fassen und bleibt umso lieber, weil die unverhoffte Gesellschaft zur Empfehlung der Gegend beiträgt. Bis dahin war also die Erkenntnis von der Zweckdienlichkeit und Billigkeit eines Hosenstreckers eine Angelegenheit, die mit der Malerei, mit der Spruchweisheit, mit dem Gefühlsleben nichts zu schaffen hatte. Wenn wir aber den Hosenstrecker in der Verpackung künstlerischer oder geistiger Werte erhalten, warum sollten wirs nicht zufrieden sein? Warum sollten wir zwei Wege machen, wenn die Seligkeit auf einem zu erreichen ist? Warum sollten wir für kulturelle Ideale zahlen, die als Emballage für einen Hosenstrecker nicht einen Pfennig kosten! Aber mag immerhin bei der Monopolisierung der Lebensgüter durch den Kaufmann die bildende Kunst noch da und dort die Freiheit behaupten, selbst Ware zu sein, anstatt der Ware zu dienen. Dass das Wort des Schriftstellers seine Berechtigung außerhalb der industriellen Reklame verlieren wird, scheint gewiss. Nicht als ob das geistige Leben eine Verdrängung durch die merkantilen Interessen zu befürchten hätte; aber es wird aus seiner brotlosen Beschaulichkeit zu einem sozialen Beruf geführt werden, und manche artistische Begabung, die im Nebel undankbarer Probleme erstickt wäre, wird leben, um der Überzeugung zu dienen, dass »für die Ewigkeit« bloß ein Essbesteck geschaffen sei und noch dazu staunend billig zu haben.

Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine Lernstunde versäumt. Und lange ehe ich das Wesen des Plakats als die Empfehlung einer Ware erkannte, empfand ich es als eine Warnung vor dem Leben. Ich wusste bald um den Stand des Geistes Bescheid. Mit der Offenbarungskraft eines Erlebnisses wirkte es auf mich, als ich einmal in einem Schaufenster die Darstellung zweier Männer sah, deren einer sich mit seiner Kravatte plagte, während der andere triumphierend danebenstehend, auf ein fertiges Werk zeigte und schadenfroh ausrief: »Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? Kaufen Sie sich Pollitzers Kragenhalter, der hält Ihnen Kragen und Kravatte fest!« Dass die Menschheit einen Anschauungsunterricht in diesem Punkte nötig habe, bedachte ich nicht. Ich nahm vielmehr an, dass es eine realistische Darstellung sei, dass in der guten Gesellschaft täglich solche Dialoge geführt werden und dass es viele Menschen geben müsse, deren Zentrum jenes Problem ist und deren Leben bloß einen Vorwand bedeutet, um den endlichen Zusammenschluss von Kragen und Kravatte zu erreichen. Und plötzlich sah ich es auf der Straße von solchen Leuten wimmeln, überall sah ich diese Gesichter, den verdrossenen Kämpfer und den fröhlichen Sieger des Lebens, ich lernte den Choleriker vom Sanguiniker unterscheiden, wiewohl beide einen aufgewichsten Schnurrbart und Schnabelschuhe hatten. Den ersten, entscheidenden Eindruck von einer Menschheit also, die in ihrer überwiegenden Majorität aus Ladenschwengeln besteht, empfing ich von jenem Bilde, und mit einemmale war ich es, vor dem sie sich alle zu der Frage einigten: Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? …

Dies trieb mich wieder zu den Plakaten, die mir den Schreckensgehalt des Lebens wenigstens im Extrakt darboten. Gern stellte ich mir vor, dass alle Geistigkeit übernommen sei, dass alles, was die Literatur an Zitaten, die Sprache an Sprüchen, das Herz an Empfindungen bietet, nur mehr dort verwendet werde und dass das Leben außerhalb der Annoncen ein leerer Schein sei und höchstens eine wirksame Reklame für den Tod. Eines Tages brach die Sintflut des Merkantilismus über die Menschheit herein, Gevatter Schneider und Handschuhmacher gebärdeten sich als die Vollstrecker eines göttlichen Willens, und es entstand die Mode, die Köpfe dieser Leute an den Straßenecken zu konterfeien. Da verfolgte mich durch all die Jahre ein Gesicht, in dessen Zügen ich mindestens den Stolz auf eine gewonnene Schlacht zu lesen vermeinte. Ich wurde älter, aber das Gesicht bekam keine Runzeln und ich wusste, dass es mich überleben und dem Jahrhundert das Gepräge geben wird. Einst war es ja die Physiognomie Napoleons, die auf die schwangeren Frauen der Zeit so nachhaltig wirkte, dass noch das Gesicht der Urenkel sie der ehelichen Untreue verdächtigt hat. Das Antlitz, das heute einen ähnlichen Eindruck in den Seelen der zeitgenössischen Welt hinterlässt, gehört einem Uhrmacher. Weil er sich rühmt, dass seine Uhren die besten seien, hat er auch den Mut der Persönlichkeit; er gibt seinen Kopf zum Pfand und seinen treuen Blick als Garantieschein … Wo tue ich das Gesicht nur hin? fragte sich manch einer, sann und kam nicht darauf. Er war einem Mann begegnet, hatte ihn wie einen alten Bekannten gegrüßt, und wusste doch nicht, wer es gewesen sei. An der nächsten Straßenecke aber grüßte ihn ein Plakat zurück. Ein Gastwirt war’s oder ein Hutmacher oder der uns allen liebgewordene Schmierölerzeuger, von dem wir nur nicht vermutet hätten, dass er uns leibhaftig begegnen könnte, weil ja auch Beethoven nicht von seinem Sockel steigt. Gibt’s denn ein Leben außerhalb der Plakate? Wenn uns die Eisenbahn aus der Stadt  holt, so sehen wir freilich eine grüne Wiese — aber die grüne Wiese ist nur ein Anschlag, den der Schmierölerzeuger im Bunde mit der Natur ausgeführt hat, um uns auch dort seine Aufwartung zu machen.

Kein Entrinnen! So wollen wir die Augen schließen und in das Paradies der Träume flüchten … Aber wir haben selbst hier die Rechnung ohne den Gastwirt gemacht, der gerade das Traumleben für eine passende Gelegenheit hält, sein Gesicht in unsere Nähe zu bringen. Fürchterliches wird offenbar. Der Merkantilismus hat es gewagt, noch die Schwelle unseres Bewusstseins als Planke zu benutzen! Die Welt des Tages bot nicht Raum genug, und so ist die grausige Möglichkeit, deren bloße Ahnung einem die Kehle zuschnürt, betreten worden: man hat als jene hypnagogischen Gestalten, die im Halbschlaf unser Lager umstehen, Reklamegesichter verwendet! Und da es auch hypnagogische Geräusche gibt, Gehörshalluzinationen, denen der schlaftrunkene Sinn leicht geneigt ist, so hat man dazu — ein Schauder erfasst mich — alle jene Devisen und Rufe bestimmt, die unser Bewusstsein bei Tage erfüllen. Welch eine Mahnung! Wir liegen da und büßen für Makbeths Schuld. Es erscheinen der Reihe nach die Könige des Lebens: der Knopfkönig, der Seifenkönig, der Manufakturkönig, der Getreidekönig, der Ansichtskartenkönig, der Teppichkönig, der Kognakkönig, und als letzter der Gummikönig. Seine Augen mahnen uns an unsere Sünden, aber seine Züge sprechen für die Unzerreißbarkeit menschlichen Vertrauens. Und doch, und doch! … Ein buschiges Haupt taucht auf und stöhnt: »Ich war kahl!« Und wieder: Hier sind noch Gesichtspickeln, dort sind sie nach dem Gebrauch verschwunden. Ach, ein andres Antlitz, eh’ sie geschehen, ein anderes zeigt die vollbrachte Tat … Ein »heller Kopf« erscheint. Es ist jener, der nur Dr. Oetkers Backpulver verwendet. »Wo isst und trinkt man gut?« summt’s in der Luft und schon öffnet sich ein Maul, um ein Gullasch zu verschlingen, und schon zeigt eines, wie man Bier trinkt. Vor mir steht der »Wolf aus Gersthof« und heult mir das Wiegenlied: Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix dran … Wer kommt denn dort herein? Wilhelm Tell mit seinem Sohne? »Ich soll vom Haupte meines Kindes …« Da schwankte er, aber zur Schutzmarke einer Schokoladefirma gibt er sich her! … Seht, seht, wer bricht sich Bahn? Ein Weib, dessen Haar länger ist als sie selbst, ein Weib also, das Grund hat, seine Persönlichkeit zu betonen; sie ruft: Ich, Anna … Aber ihre Rede verhallt im Gerassel eines Wagens, dessen Lenker mir zuruft: »Sie fahren gut — wenn Sie Feigenkaffee …« »Entfernung ist kein Hindernis!«, unterbricht ihn ein Weltweiser, der der Welt von Herrschaften abgelegte Kleider gönnt. Und nun ist das Chaos der Maximen entfesselt: »Verlangen Sie überall … Schönheit ist Reichtum, Schönheit ist Macht … Verblüffend rasch heilt … Das Entzücken der Frau ist … Fort mit den Hosenträgern! .. Geben Sie eine Krone … Wer probt, der lobt … Überzeugen Sie sich … Haben Sie schon Kinderwäsche? … Jeder Firmling wünscht … Weltberühmte prämiierte Olmützer Quargel … Das ist’s, was Sie brauchen … Ihr Magen verdaut schlecht … Wollen Sie stark und gesund werden? …Reizend schön wird jede Dame … So sehe ich in einem meiner Korsetts mit rationeller Front aus, ohne dasselbe zu fühlen … Das Geheimnis des Erfolges … So sicher wie 2 × 1 = 2 …Ein wahrer Schatz … Der weiße Rabe spricht …. Rasiere dich im Dunkeln! … Wenn eine Mutter nicht in der Lage ist …Gratis 10.000 Kronen … Wanzen und Insekten jeder Art … Musik erfreut des Menschen Herz …« Ja, sie will mir den Schlaf bringen und lockt zu erotischem Traum. Es erklingt das Lied: «Ich liebe die Eine, die Feine, die Kleine … Aber ich bin genarrt, denn es handelt sich bloß um eine Pastille. Was tanzt dort in der Luft? »Ich bin ein Gummihandschuh! Kennen Sie mich noch nicht, gnädige Frau?« Romulus und Remus erscheinen unter einem Regenschirm. Wie? Ist die Gründung Roms wegen ungünstiger Witterung abgesagt? »Ein Verbrechen!« brüllt es — begeht jeder, der nicht … Ich habe Fieber. Aber schon stehen ein Hofrat und fünf Ärzte an meinem Lager, die eidlich begutachten … »Männerschwäche!« murmelt einer von ihnen verächtlich. «Ein Griff, ein Bett!« antwortet es verständnisinnig. »Trinken Sie Sodawasser …« rät ein Unberufener. »Das ist der gute Krondorfer, der fehlt nie auf unserem Tische!« entgegnet es … »Trinken Sie Geßlers Altvater!« höre ich und spüre, wie ein Bart mich kitzelt. »Kauen Sie schon Ricci?« fragt ein Kobold. »Wie werde ich energisch?« wimmert einer, dem in diesem Zimmer selbst angst und bang wird. Und ein Alp, der mir auf der Brust kauert, glotzt mich an und hat nur den einen Wunsch: »Wenn ich Sie persönlich sprechen könnte!« … Hilfe, Hilfe! Ach, wer ruft dort um Hilfe? Wer rennt mit dem Kopf durch die Wand? Rauft sich das Haar? Verzweifelt und frohlockt wieder, jubelt und klagt, springt herum und bearbeitet das Fenster mit den Fäusten? Oh, es ist einer, der unglücklich ist, weil man ihn seine Kleider nicht beim Gerstl einkaufen lässt, und der schließlich doch seinen Willen durchsetzt. »Ich bring mich um —!« droht er, wenn man ihn hält; »Wa — —s? ists möglich!!!« ruft er, weil er die Preise zu billig findet; »Freiheit der Wahl!« brüllt er und bringt damit auch die Demokratie auf seine Seite, wiewohl es sich sofort herausstellt, dass er nur die Wahl der Stoffe meint. Und nun tobt alles durcheinander, ich unterscheide die Branchen nicht mehr, hundert Fratzen tauchen auf, hundert Rufe werden laut. Ichverstehe nur noch Ratschläge wie: Koche mit Gas! Wasche mit Luft! Bade zuhause! … Und da das Leben in solcher Fülle mein Schmerzenslager umbrandet und alle Bequemlichkeiten, alle automatischen Wonnen bietet, deren man um diese Stunde nur habhaft werden kann, so merkt ein Waffenhändler, dass ich mich nicht mehr auskenne, und übertönt den Lärm mit der Reklame:
Morde dich selbst!


Das Kind. Von Karl Hauer (aus „Die Fackel“ 1907)

01. Februar 2016 | Kategorie: Artikel

Trotz einzelner zeitbedingter Veränderungen ist die Beschreibung Karl Hauers im Wesentlichen immer noch hochaktuell- traurigerweise.    W.K. Nordenham

 

Die Fackel Nr. 227-228 10. Juni 1907 X.Jahr S. 10 – 20

Das Kind.

Dieselbe Gesellschaft, welche die »Prostitution« (der ganze Moralwahnsinn stinkt aus diesem Wort) abschaffen will, aber dafür jede Krüppelehe gutheißt und die Mädchen den männlichen Berufen zutreibt, welche die Frauen infolge der ärztlichen Schweigepflicht der Ansteckung preisgibt und dafür den Fötus schützt, welche  ihre  sechsjährigen  Kinder  dem  Katecheten, die Auslese   ihrer   Knaben   dem   Gymnasium  und  die  Auslese   ihrer   Jungfrauen deflorationswütigen Sadisten ausliefert, — diese selbe saubere Gesellschaft knallprotzt jetzt auf einmal mit einem angeblichen besonderen Verständnis, das sie dem Problem des Kindes entgegenbringt, und mit einer angeblichen besonderen Fürsorge, die sie dem Kinde angedeihen lässt. Diese Gesellschaft hat das Schlagwort vom »Zeitalter des Kindes« erfunden, hat aber vom Wesen des Kindes eine verkehrtere Vorstellung und behandelt ihre Kinder schlechter und unsinniger als jede frühere Gesellschaft. Während gehirnweiche pädagogische Theoretikaster, Literaturweiber im kanonischen Alter, die ihre Mütterlichkeitsinstinkte zu spät entdeckt haben, und hochstapelnde Talmipsychologen das große Wort führen, während jeder Snob seinen herostratischen Wahnsinn und jeder spekulative Streber seinen Ehrgeiz und seine Gewinnsucht auf Kosten der wehrlosen Kinder befriedigt, wird ein Dichter oder Denker, der einmal über das Kind ein unbefangenes Wort zu sagen wagt, das der mütterlich-idiotischen Vorstellung unserer Gesellschaft vom Kind als unschuldsvollem Engel nicht entspricht — wie etwa Wedekind in »Frühlingserwachen« oder Freud in den »Abhandlungen zur Sexualtheorie« — vom ausschlaggebenden Bildungspöbel als Zyniker oder verstiegener Ketzer gebrandmarkt. Insbesondere die Erotik will man beim Kinde nicht gelten lassen, und wenn man trotz aller absichtlichen Blindheit endlich in einem konkreten Falle doch die Existenz einer kindlichen Erotik zugeben muss, so schreit man entsetzt von Entartung und Verführung oder ruft fassungslos: »Es gibt keine Kinder mehr!« Es scheint daher notwendig,nicht nur daran zu erinnern, dass das Kind auch vor der Pubertät bereits ein ausgeprägtes und überaus mannigfaltiges erotisches Triebleben führt (* Vergl. hierüber Prof. Dr. Sigm. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, F. Deuticke, Leipzig und Wien 1905.) , sondern auch festzustellen, dass die Lieblingsvorstellung der modernen Gesellschaft vom unerotischen Kind-Engel nur das Produkt eines diese Gesellschaft beherrschenden erotischen Triebes ist. In Wirklichkeit wird nämlich nicht etwa dem Kinde selbst eine überragende Bedeutung in unseren sozialen und kulturellen Bestrebungen eingeräumt, sondern lediglich der konventionellen Vorstellung vom Kinde. Man betont heute die Wichtigkeit erzieherischer und pädagogischer Probleme nicht aus sozialem Ernst oder aus Interesse an Kinderpsychologie und Pädagogik, sondern weil die Illusionen, denen das Gros der Gesellschaft seine sublimsten erotischen Erregungen verdankt, innig mit seiner Vorstellung vom Kinde verquickt sind. Es besteht nämlich heute ein anscheinend sehr dringendes Bedürfnis nach einer durchaus künstlichen Naivität, nach einer extrem unnatürlichen »Natürlichkeit« und »Unschuld«, um dieser Qualitäten entweder teilhaftig zu werden oder sie zu zerstören. Der Mann von heute ist in seiner Mehrzahl entweder ein Feminist, d. h. ein Masochist, der seine Männlichkeit, seine Besonnenheit, seine Verantwortlichkeit los werden will, der im Weibe als in der »Natur« (einer rein illusionistischen »Natur«, die er sich nach seinem speziellen Bedürfnis gut oder böse, sanft oder grausam, himmlisch oder dämonisch vorstellen kann) untertauchen will, — oder er ist ein Nihilist, der alles zerstören will, was er nicht besitzen kann, ein Sadist, der grausam sein muss, weil er leidet, ein Deflorateur, der die »Unschuld« besudeln will, weil er an diese »Unschuld« glaubt und sie nicht hat, und der an die »Unschuld« glaubt, weil er in diese Illusion verliebt ist. Und in sehr vielen Fällen ist der Mann beides zugleich: ein Masochist, der sich nach einer »Herrin« sehnt, die ihn schulmeistert und bei der er selbst zum »Kinde« werden kann, und ein Sadist, der einen jungfräulichen Kind-Engel sucht, um ihm die »Unschuld« abzuzapfen. Aber nichts hat mit der wirklichen Natürlichkeit des Weibes weniger zu tun als die Vorstellung solcher verstiegenen Erotik vom »Weib als Natur«. Die Natürlichkeit des Weibes — das beste Besitztum unserer armseligen »Kultur« — wird gerade durch den femininen Weibskultus zerstört. Das Ziel einer wahren Kultur wird immer die schroffste Differenzierung von Mann und Weib sein. Die Differenzierung und die unbedingte Suprematie des Mannes ist der wirksamste Schutz der Natürlichkeit und harmonischen Gesundheit des Weibes. Die Anähnlichung und Vermischung der Geschlechtscharaktere — die heute auch auf dem Umwege eines allgemeinen und grundverkehrten Kindeskults herbeigeführt wird — ist der Weg zur schlimmsten Unkultur, zur Verweiblichung des Mannes und zur Vermännlichung des Weibes. Der Mann wird dabei zum Idioten und das Weib zur Hysterikerin. Die Vorstellung vom Kinde — in welchem man eben vor allem die Unschuld und Engel- oder Lammhaftigkeit entdeckt zu haben glaubt — bestimmt aber heute zum größten Teil Richtung, Form und Inhalt der männlichen Erotik, es gibt also neben der kindlichen Erotik auch eine kindische Erotik der — Erwachsenen. Die Frauen passen sich natürlich dem männlichen Bedürfnis an und sind entweder »Engel«, wenn sie das Geschäft mit der Unschuld noch vor sich haben, oder »Herrinnen«, wenn sie mit der Unschuld kein Geschäft mehr machen können: aut virgo — aut virago … Ein Psycholog der Kleidung wird dies nach tausend Jahren noch aus unseren Mädchen- und Frauentrachten erraten können. Die Idee der kindischen Kindlichkeit ist sowohl für die Erziehung wie für die Selbst-Formung des Weibes maßgebend geworden. Unsere Mädchen (man kann dies meines Erachtens nicht oft genug wiederholen) werden anstatt zu Weibern zu erwachsenen Kindern, zu künstlichen Engeln erzogen, weil die Kindlichkeit — das Babyhafte in Kleidung, Haltung, Ausdruck und Sprechweise — die unwiderstehlichste Anziehungskraft auf den Mann von heute verbürgt, dessen sadistischer Passion sie entgegenkommt. Später verwandelt sich dann das Baby in eine »Wanda« — die traurigste und modernste Metamorphose von Semiramis und Kleopatra — und mimt entweder im Pelzmantel die königliche Würde oder posiert die kokett-arrogante »Erzieherin«, adaptiert für ihre Toilette männliche Kleidungsstücke und lässt die großen Kindlein zu sich kommen. Denn nunmehr verleiht ihr dies die sicherste Wirkung auf den Mann, dessen masochistischer Passion es entgegenkommt….

Auch die übertriebene Kinderliebe der Eltern, das unnatürliche Verliebtsein der Eltern in ihre Kinder, das Herausputzen und Stilisieren der Kinder zu lebenden Puppen, zum Spielzeug einer klandestinen Erotik der Erwachsenen, einem Spielzeug, dem wir jetzt Schritt für Schritt begegnen können, das Zurschaustellen dieser lebenden Puppen bei allen Festen und Empfängen, in Ausstellungen und auf Bühnen, die auffallend häufige Verwendung der puppenhaften Kinderfigur auf Plakaten, — alle diese Erscheinungen sind unzweideutige Symptome der tiefgehenden Beherrschung des modernen erotischen Empfindens durch die Idee der kindlichen Puppenunschuld. Und diese Idee ist auch in unsere Vernunftvorstellungen bereits so tief eingedrungen, dass sie sogar unserer Vorstellung vom Genie eine mütterlich-idiotische Färbung gibt, so dass wir uns den äußersten Gegensatz des wirklich Kindlichen — also etwa Goethe, den höchsten Grad von Besonnenheit und männlicher Selbstbeherrschung — mit Vorliebe als »großes und ewiges Kind« vorstellen. Napoleon empfand ihn anders. »Es ist ein Mann!« rief er aus. (Nach Nietzsche soll er sich dabei gedacht haben: — »und ich hatte nur einen Deutschen erwartet.«) Unsere Gesellschaft ist zum Weibe kondeszendiert, hat sich einen Ammeninstinkt zugelegt und degradiert alles, was es liebt, bewundert oder verehrt, zum Kinde. Unsere Vorstellung von Gut und Böse ist wieder bei Rousseau angelangt, dem Vater des modernen Feminismus und Demokratismus, bei Rousseau, dessen Genie wohl auch in der völligen Unfähigkeit bestand, Realitäten zu sehen und zu unterscheiden, der der Menschheit das verlogenste Buch über das Kind — den »Émile« — geschenkt hat. (Und der einzige berühmte Franzose ist, den Herr Nordau in sein schmalziges Herz geschlossen hat.) Unser Gut und Böse ist wieder in den Gleichungen ausgedrückt: Gut = Natur = Unschuld = Kind = Weib; Böse = Kultur = Wissen = Ernst = Mann. Die »Natur« der ersten Gleichung ist jedoch nur romantisch-sentimentale Unnatur.

Unsere Vorstellung vom Kinde ist aber auch an sich — abgesehen davon, dass sie nur eine verlarvte Form einer feministischen Erotik ist, der es an spezifisch männlicher Energie gebricht — die falscheste und verkehrteste, die jemals über das Kind verbreitet war. Das Kind ist eben nicht ein Idealgeschöpf, das den Erwachsenen vorbildlich sein könnte, sondern etwas Unfertiges, Rückständiges und in Entwicklung Begriffenes, ein Stück Natur, das glücklicherweise reeller, kräftiger und entwicklungsfähiger ist als der imaginäre »Engel« des Rousseau’schen Naturaberglaubens. Wenn im Kinde noch all das sich vorfindet, was im erwachsenen Kulturmenschen entweder unterdrückt oder derart verwandelt ist, dass der Ursprung mancher »Tugenden« aus kindlichen »Lastern« den meisten unglaubwürdig erscheint, so ist dies eine notwendige und urnatürliche Entwicklungsstufe und kann selbstverständlich nicht den Inhalt einer »Anklage« gegen das Kind bilden. Das wahre Porträt des Kindes ist nur bei einem ganz ungerechtfertigten Vergleich mit dem vollentwickelten erwachsenen Kulturmenschen unerfreulich. In Hinblick auf die Entwicklung selbst ist im Gegenteil eine recht ausgeprägte Erscheinungsform der kindlichen »Laster« wünschenswert. Jedenfalls ist das Kind in Wirklichkeit das Gegenteil eines Unschuldsengels, es ist in jeder Hinsicht »lasterhafter« als der erwachsene Dutzendmensch. In erotischer Hinsicht ist es eine Mustersammlung aller jener Triebe, die wir beim Erwachsenen »pervers« nennen: speziell die Sekretionsvorgänge und -produkte spielen in der kindlichen Erotik eine hervorragende Rolle. Sein Gefühlsleben ist hauptsächlich reaktiv und wird nur von der Furcht einigermaßen gehemmt und reguliert. Das Kind ist rachsüchtig, schadenfroh, jähzornig, neidisch, habsüchtig und feig, ein Ausbund von Verlogenheit, es wäre ein »Verbrecher«, wenn es handeln könnte. Seine intellektuelle Situation gleicht ungefähr der des Wilden. Es kennt anfänglich keinen Unterschied zwischen äußern Objekten und Ereignissen, Sinneswahrnehmungen und subjektiven — psychischen oder somatischen — Empfindungen. Es schreibt alle wahrgenommenen und empfundenen Veränderungen in und außer ihm imaginären Ursachen zu. Es lebt in einer gewissermaßen aufgelösten, nebelartigen Welt, in einer pittoresken und verworrenen Welt des blinden Zufalls, in der noch keine logisch-fassbare Gesetzmäßigkeit Geltung hat, sondern das Unerwartete, Unfassbare, Widerspruchsvolle und Wunderbare, das Absurde die Regel bildet. (Aussagen von Kindern sind daher immer und unter allen Umständen, besonders vor Gericht, mit dem größten Misstrauen aufzunehmen. Kinder lügen auch dann, wenn sie wahrhaftig sein wollen.) Eine ganz ähnliche Welt ist, nebenbei gesagt, auch die Welt des homo religiosus. Der Katechet hält also das Kind auf der kindlichen Stufe der Intellektualität fest, er verzögert oder verhindert den Eintritt der geistigen Mündigkeit. Wirkliche Typen erwachsener Kindlichkeit sind: mancher »Perverse«, der konstitutionelle Verbrecher und der Frommgläubige, der freiwillige Idiot.

Die aus dem psychischen Habitus des Kindes sich ergebenden Grenzen einer vernünftigen Erziehung sind nicht schwer zu bestimmen. Man soll das Kind zunächst sehen und unterscheiden lehren, es möglichst wenig durch unfruchtbaren, ihm fremden abstrakten Wissensstoff verwirren und verstopfen, man soll es alles möglichst von selbst lernen lassen (das wird jeder Vernünftige auch ohne Rousseau einsehen; unser Gymnasium ist eine beispiellos grausame Vergewaltigung kindlicher Gehirne), man soll es aber auch mit etwas kräftiger Hand anfassen, man soll es durch das Stadium der Kindlichkeit hindurchziehen und nicht auf eine mirakulöse Selbstentfaltung seiner guten, engelsgleichen »Natur« warten. Es soll damit keineswegs einer nutzlosen Härte und Strenge, oder gar einer Prügelerziehung das Wort geredet werden. Ich finde vielmehr den Schutz, den das Kind im »Zeitalter des Kindes« genießt, gänzlich unzureichend. Der Willkür in der Erziehung ist noch immer ein viel zu breiter Raum gewährt, während die verständige Förderung der kindlichen Entwicklung noch viel zu selten ist. Ich bin auch dafür, dass man die Natur des Kindes — so wie sie wirklich ist — sich austoben lässt. Man soll ihm vor allem nicht die Schmerzlichkeit der schlimmen eigenen Erfahrung des Lebens ersparen wollen. Die Hauptsache bei aller Erziehung aber ist ein zielbewusster lenkender Wille! Die verfehlteste Erziehung ist jene für das Kind wehleidige Weichlichkeit, jene weibisch-romantische Empfindsamkeit, die das Kind mit Kindereien langweilt, die Erziehung mit »sezessionistischen« Bilderbüchern und »künstlerischem« Spielzeug, die Erziehung mit »Liebe«, Begeisterung, Snobismus und Unverstand, welche die Kindheit mit einer Gloriole der allerdümmsten Poesie — der Kindheitspoesie — umgibt und die Kindheitsperiode künstlich verlängert, jene jetzt so eifrig propagierte, nicht in Hinsicht auf die Zukunft der Kinder, sondern mit Rücksicht auf die Verzückungen von Tantenseelen erfundene Erziehungsmethode, die nichts so sehr zu fürchten scheint als — das Mündigwerden der Kinder. Ich meine, das Kind ist eine zu wichtige und diffizile Angelegenheit, um dem Poesie- und Spielbedürfnis unbeschäftigter Schwachköpfe zu dienen. Ganz besonders widerwärtig ist die Sorte von Snobs, die heute das Kind durch die Kunst beglücken und veredeln will, was genau so geistreich ist, wie wenn man Fidschi-Insulaner mit den Bildern von Velasquez, Murillo und Tizian zivilisieren wollte. Für die ungeheure Vernunft eines von allen überflüssigen Härten gereinigten spartanischen Erziehungssystems ist heute jeder Sinn abhanden gekommen, wir haben im Gegensatz zu aller Vernunft die zwei unsinnigsten Erziehungssysteme, die es gibt — das alexandrinische und das romantisch-sentimentale —, zur Vollendung gebracht. Unsere Erziehung produziert daher nicht Männer und Frauen, sondern auf der einen Seite verbildete Berufskrüppel, auf der andern Feministen und jungfräuliche mimosae pudicae. Zwar spricht man jetzt da und dort von der Notwendigkeit einer »sexuellen Aufklärung« der Kinder. Bei der allgemeinen stupenden Unwissenheit der Erwachsenen in sexuellen Dingen dürfte aber diese »Aufklärung« eine sehr sonderbare und zweifelhafte sein. Und die sexuelle Aufklärung der Erwachsenen scheint mir vorderhand viel dringender als die der Kinder …

Die moderne und äußerst ideal erscheinende Forderung, das Interesse und Glück der Erwachsenen dem Interesse und Glück der Kinder zu opfern, ist zwar nichts als die groteske Vermummung feministischer Erotik. Nichtsdestoweniger aber ist diese Lehre der eigenartigen modernen Kinderfreunde wahrhaft gefährlich und kann nicht nachdrücklich genug zurückgewiesen werden, denn sie bedroht in gleicher Weise das Interesse und Glück der Erwachsenen sowohl als der Kinder. Im Interesse der Erwachsenen — und das Erwachsensein bedeutet doch auch die Zukunft des Kindes; die Wichtigkeit des Kindes beruht nicht in seiner Kindlichkeit, sondern darin, dass es zu einem tüchtigen Erwachsenen geformt werden soll — im Interesse der Erwachsenen also liegt es, durch die Rücksicht auf die Kinder in ihren Betätigungen und in ihrem Lebensgenusse möglichst wenig behindert zu sein. Und im Interesse der Kinder liegt es, durch stupide Herumerzieherei und verkrüppelnden Schulmechanismus in der Überwindung ihrer natürlichen kindlichen Rückständigkeit und in ihrer natürlichen Lebenslust möglichst wenig gestört zu werden. Die »Liebe« der Eltern und Tanten, die Künsteleien und der Eifer der Erzieher und Lehrer sind für das Kind nichts als eine Quelle nutzloser, seine Entwicklung verzögernder Plagen. Den Armen ist das Kind meist eine Last, sie quälen es daher oft mit ihrem Hass. Den Reichen ist das Kind gewöhnlich ein erotisches Spielzeug, sie quälen es daher mit ihrer Liebe. Dem Kind der Reichen sind nicht selten die Eltern eine Last. Man beginnt jetzt einzusehen, dass die Kinder, die von den Eltern mit Hass verfolgt werden, weil sie ihnen eine Bürde sind, von den Eltern getrennt werden müssen. Man sollte aber endlich auch einsehen, dass die Kinder, die von den Eltern mit einem Übermaß von Liebe verfolgt werden, weil diese ein erotisches Spielzeug brauchen, von den Eltern getrennt werden müssen. Man redet jetzt sehr viel von Kinderschutz und Mutterschutz. Ich glaube, Kinder und Mütter wären in vielen Fällen am besten geschützt, wenn sie getrennt würden. Die altehrwürdige Institution der Familie hat heute zwar keinen praktischen Zweck mehr, ist aber dafür der Hort aller Rückständigkeit, Verkrochenheit und Unsinnigkeit geworden. Diese sehr muffige Institution endlich aufzulassen, wäre nicht nur ein sozialer, ethischer und intellektueller Fortschritt, sondern auch die beste Lösung des Interessenkonfliktes zwischen den Kindern und Erwachsenen. Zu fordern, dass der zur Selbstbestimmung und zur höchsten Fähigkeit des Lebensgenusses Gelangte auf die Befriedigung seiner eigensten Bedürfnisse zugunsten der Unselbständigen und wenig Genussfähigen verzichte, heißt die natürliche Lustmöglichkeit des Menschen in seine unreife, für den vollen Lebensgenuss untaugliche Periode verlegen wollen, heißt auf den größten Teil der Freuden, die das Leben bietet, verzichten wollen, heißt das Leben verarmen wollen. Die Führung des Lebens ist eine Schöpfung des Mannes. Er ist das natürliche Schwergewicht im Gesellschaftsbaue. Verlegt er es — seine Mission verkennend oder vergessend — in die Natur des Weibes, die nur als Material, als bildsames Wachs seines schöpferischen Willens ihren hohen Wert gewinnt, so wird die Führung des Lebens weibisch werden; verlegt er es in einen falschen, dem Kinde selbst schädlichen Kult des Kindes, so wird die Führung des Lebens kindisch werden.

Karl Hauer.