Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Das Kind. Von Karl Hauer (aus „Die Fackel“ 1907)

01. Februar 2016 | Kategorie: Artikel

Trotz einzelner zeitbedingter Veränderungen ist die Beschreibung Karl Hauers im Wesentlichen immer noch hochaktuell- traurigerweise.    W.K. Nordenham

 

Die Fackel Nr. 227-228 10. Juni 1907 X.Jahr S. 10 – 20

Das Kind.

Dieselbe Gesellschaft, welche die »Prostitution« (der ganze Moralwahnsinn stinkt aus diesem Wort) abschaffen will, aber dafür jede Krüppelehe gutheißt und die Mädchen den männlichen Berufen zutreibt, welche die Frauen infolge der ärztlichen Schweigepflicht der Ansteckung preisgibt und dafür den Fötus schützt, welche  ihre  sechsjährigen  Kinder  dem  Katecheten, die Auslese   ihrer   Knaben   dem   Gymnasium  und  die  Auslese   ihrer   Jungfrauen deflorationswütigen Sadisten ausliefert, — diese selbe saubere Gesellschaft knallprotzt jetzt auf einmal mit einem angeblichen besonderen Verständnis, das sie dem Problem des Kindes entgegenbringt, und mit einer angeblichen besonderen Fürsorge, die sie dem Kinde angedeihen lässt. Diese Gesellschaft hat das Schlagwort vom »Zeitalter des Kindes« erfunden, hat aber vom Wesen des Kindes eine verkehrtere Vorstellung und behandelt ihre Kinder schlechter und unsinniger als jede frühere Gesellschaft. Während gehirnweiche pädagogische Theoretikaster, Literaturweiber im kanonischen Alter, die ihre Mütterlichkeitsinstinkte zu spät entdeckt haben, und hochstapelnde Talmipsychologen das große Wort führen, während jeder Snob seinen herostratischen Wahnsinn und jeder spekulative Streber seinen Ehrgeiz und seine Gewinnsucht auf Kosten der wehrlosen Kinder befriedigt, wird ein Dichter oder Denker, der einmal über das Kind ein unbefangenes Wort zu sagen wagt, das der mütterlich-idiotischen Vorstellung unserer Gesellschaft vom Kind als unschuldsvollem Engel nicht entspricht — wie etwa Wedekind in »Frühlingserwachen« oder Freud in den »Abhandlungen zur Sexualtheorie« — vom ausschlaggebenden Bildungspöbel als Zyniker oder verstiegener Ketzer gebrandmarkt. Insbesondere die Erotik will man beim Kinde nicht gelten lassen, und wenn man trotz aller absichtlichen Blindheit endlich in einem konkreten Falle doch die Existenz einer kindlichen Erotik zugeben muss, so schreit man entsetzt von Entartung und Verführung oder ruft fassungslos: »Es gibt keine Kinder mehr!« Es scheint daher notwendig,nicht nur daran zu erinnern, dass das Kind auch vor der Pubertät bereits ein ausgeprägtes und überaus mannigfaltiges erotisches Triebleben führt (* Vergl. hierüber Prof. Dr. Sigm. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, F. Deuticke, Leipzig und Wien 1905.) , sondern auch festzustellen, dass die Lieblingsvorstellung der modernen Gesellschaft vom unerotischen Kind-Engel nur das Produkt eines diese Gesellschaft beherrschenden erotischen Triebes ist. In Wirklichkeit wird nämlich nicht etwa dem Kinde selbst eine überragende Bedeutung in unseren sozialen und kulturellen Bestrebungen eingeräumt, sondern lediglich der konventionellen Vorstellung vom Kinde. Man betont heute die Wichtigkeit erzieherischer und pädagogischer Probleme nicht aus sozialem Ernst oder aus Interesse an Kinderpsychologie und Pädagogik, sondern weil die Illusionen, denen das Gros der Gesellschaft seine sublimsten erotischen Erregungen verdankt, innig mit seiner Vorstellung vom Kinde verquickt sind. Es besteht nämlich heute ein anscheinend sehr dringendes Bedürfnis nach einer durchaus künstlichen Naivität, nach einer extrem unnatürlichen »Natürlichkeit« und »Unschuld«, um dieser Qualitäten entweder teilhaftig zu werden oder sie zu zerstören. Der Mann von heute ist in seiner Mehrzahl entweder ein Feminist, d. h. ein Masochist, der seine Männlichkeit, seine Besonnenheit, seine Verantwortlichkeit los werden will, der im Weibe als in der »Natur« (einer rein illusionistischen »Natur«, die er sich nach seinem speziellen Bedürfnis gut oder böse, sanft oder grausam, himmlisch oder dämonisch vorstellen kann) untertauchen will, — oder er ist ein Nihilist, der alles zerstören will, was er nicht besitzen kann, ein Sadist, der grausam sein muss, weil er leidet, ein Deflorateur, der die »Unschuld« besudeln will, weil er an diese »Unschuld« glaubt und sie nicht hat, und der an die »Unschuld« glaubt, weil er in diese Illusion verliebt ist. Und in sehr vielen Fällen ist der Mann beides zugleich: ein Masochist, der sich nach einer »Herrin« sehnt, die ihn schulmeistert und bei der er selbst zum »Kinde« werden kann, und ein Sadist, der einen jungfräulichen Kind-Engel sucht, um ihm die »Unschuld« abzuzapfen. Aber nichts hat mit der wirklichen Natürlichkeit des Weibes weniger zu tun als die Vorstellung solcher verstiegenen Erotik vom »Weib als Natur«. Die Natürlichkeit des Weibes — das beste Besitztum unserer armseligen »Kultur« — wird gerade durch den femininen Weibskultus zerstört. Das Ziel einer wahren Kultur wird immer die schroffste Differenzierung von Mann und Weib sein. Die Differenzierung und die unbedingte Suprematie des Mannes ist der wirksamste Schutz der Natürlichkeit und harmonischen Gesundheit des Weibes. Die Anähnlichung und Vermischung der Geschlechtscharaktere — die heute auch auf dem Umwege eines allgemeinen und grundverkehrten Kindeskults herbeigeführt wird — ist der Weg zur schlimmsten Unkultur, zur Verweiblichung des Mannes und zur Vermännlichung des Weibes. Der Mann wird dabei zum Idioten und das Weib zur Hysterikerin. Die Vorstellung vom Kinde — in welchem man eben vor allem die Unschuld und Engel- oder Lammhaftigkeit entdeckt zu haben glaubt — bestimmt aber heute zum größten Teil Richtung, Form und Inhalt der männlichen Erotik, es gibt also neben der kindlichen Erotik auch eine kindische Erotik der — Erwachsenen. Die Frauen passen sich natürlich dem männlichen Bedürfnis an und sind entweder »Engel«, wenn sie das Geschäft mit der Unschuld noch vor sich haben, oder »Herrinnen«, wenn sie mit der Unschuld kein Geschäft mehr machen können: aut virgo — aut virago … Ein Psycholog der Kleidung wird dies nach tausend Jahren noch aus unseren Mädchen- und Frauentrachten erraten können. Die Idee der kindischen Kindlichkeit ist sowohl für die Erziehung wie für die Selbst-Formung des Weibes maßgebend geworden. Unsere Mädchen (man kann dies meines Erachtens nicht oft genug wiederholen) werden anstatt zu Weibern zu erwachsenen Kindern, zu künstlichen Engeln erzogen, weil die Kindlichkeit — das Babyhafte in Kleidung, Haltung, Ausdruck und Sprechweise — die unwiderstehlichste Anziehungskraft auf den Mann von heute verbürgt, dessen sadistischer Passion sie entgegenkommt. Später verwandelt sich dann das Baby in eine »Wanda« — die traurigste und modernste Metamorphose von Semiramis und Kleopatra — und mimt entweder im Pelzmantel die königliche Würde oder posiert die kokett-arrogante »Erzieherin«, adaptiert für ihre Toilette männliche Kleidungsstücke und lässt die großen Kindlein zu sich kommen. Denn nunmehr verleiht ihr dies die sicherste Wirkung auf den Mann, dessen masochistischer Passion es entgegenkommt….

Auch die übertriebene Kinderliebe der Eltern, das unnatürliche Verliebtsein der Eltern in ihre Kinder, das Herausputzen und Stilisieren der Kinder zu lebenden Puppen, zum Spielzeug einer klandestinen Erotik der Erwachsenen, einem Spielzeug, dem wir jetzt Schritt für Schritt begegnen können, das Zurschaustellen dieser lebenden Puppen bei allen Festen und Empfängen, in Ausstellungen und auf Bühnen, die auffallend häufige Verwendung der puppenhaften Kinderfigur auf Plakaten, — alle diese Erscheinungen sind unzweideutige Symptome der tiefgehenden Beherrschung des modernen erotischen Empfindens durch die Idee der kindlichen Puppenunschuld. Und diese Idee ist auch in unsere Vernunftvorstellungen bereits so tief eingedrungen, dass sie sogar unserer Vorstellung vom Genie eine mütterlich-idiotische Färbung gibt, so dass wir uns den äußersten Gegensatz des wirklich Kindlichen — also etwa Goethe, den höchsten Grad von Besonnenheit und männlicher Selbstbeherrschung — mit Vorliebe als »großes und ewiges Kind« vorstellen. Napoleon empfand ihn anders. »Es ist ein Mann!« rief er aus. (Nach Nietzsche soll er sich dabei gedacht haben: — »und ich hatte nur einen Deutschen erwartet.«) Unsere Gesellschaft ist zum Weibe kondeszendiert, hat sich einen Ammeninstinkt zugelegt und degradiert alles, was es liebt, bewundert oder verehrt, zum Kinde. Unsere Vorstellung von Gut und Böse ist wieder bei Rousseau angelangt, dem Vater des modernen Feminismus und Demokratismus, bei Rousseau, dessen Genie wohl auch in der völligen Unfähigkeit bestand, Realitäten zu sehen und zu unterscheiden, der der Menschheit das verlogenste Buch über das Kind — den »Émile« — geschenkt hat. (Und der einzige berühmte Franzose ist, den Herr Nordau in sein schmalziges Herz geschlossen hat.) Unser Gut und Böse ist wieder in den Gleichungen ausgedrückt: Gut = Natur = Unschuld = Kind = Weib; Böse = Kultur = Wissen = Ernst = Mann. Die »Natur« der ersten Gleichung ist jedoch nur romantisch-sentimentale Unnatur.

Unsere Vorstellung vom Kinde ist aber auch an sich — abgesehen davon, dass sie nur eine verlarvte Form einer feministischen Erotik ist, der es an spezifisch männlicher Energie gebricht — die falscheste und verkehrteste, die jemals über das Kind verbreitet war. Das Kind ist eben nicht ein Idealgeschöpf, das den Erwachsenen vorbildlich sein könnte, sondern etwas Unfertiges, Rückständiges und in Entwicklung Begriffenes, ein Stück Natur, das glücklicherweise reeller, kräftiger und entwicklungsfähiger ist als der imaginäre »Engel« des Rousseau’schen Naturaberglaubens. Wenn im Kinde noch all das sich vorfindet, was im erwachsenen Kulturmenschen entweder unterdrückt oder derart verwandelt ist, dass der Ursprung mancher »Tugenden« aus kindlichen »Lastern« den meisten unglaubwürdig erscheint, so ist dies eine notwendige und urnatürliche Entwicklungsstufe und kann selbstverständlich nicht den Inhalt einer »Anklage« gegen das Kind bilden. Das wahre Porträt des Kindes ist nur bei einem ganz ungerechtfertigten Vergleich mit dem vollentwickelten erwachsenen Kulturmenschen unerfreulich. In Hinblick auf die Entwicklung selbst ist im Gegenteil eine recht ausgeprägte Erscheinungsform der kindlichen »Laster« wünschenswert. Jedenfalls ist das Kind in Wirklichkeit das Gegenteil eines Unschuldsengels, es ist in jeder Hinsicht »lasterhafter« als der erwachsene Dutzendmensch. In erotischer Hinsicht ist es eine Mustersammlung aller jener Triebe, die wir beim Erwachsenen »pervers« nennen: speziell die Sekretionsvorgänge und -produkte spielen in der kindlichen Erotik eine hervorragende Rolle. Sein Gefühlsleben ist hauptsächlich reaktiv und wird nur von der Furcht einigermaßen gehemmt und reguliert. Das Kind ist rachsüchtig, schadenfroh, jähzornig, neidisch, habsüchtig und feig, ein Ausbund von Verlogenheit, es wäre ein »Verbrecher«, wenn es handeln könnte. Seine intellektuelle Situation gleicht ungefähr der des Wilden. Es kennt anfänglich keinen Unterschied zwischen äußern Objekten und Ereignissen, Sinneswahrnehmungen und subjektiven — psychischen oder somatischen — Empfindungen. Es schreibt alle wahrgenommenen und empfundenen Veränderungen in und außer ihm imaginären Ursachen zu. Es lebt in einer gewissermaßen aufgelösten, nebelartigen Welt, in einer pittoresken und verworrenen Welt des blinden Zufalls, in der noch keine logisch-fassbare Gesetzmäßigkeit Geltung hat, sondern das Unerwartete, Unfassbare, Widerspruchsvolle und Wunderbare, das Absurde die Regel bildet. (Aussagen von Kindern sind daher immer und unter allen Umständen, besonders vor Gericht, mit dem größten Misstrauen aufzunehmen. Kinder lügen auch dann, wenn sie wahrhaftig sein wollen.) Eine ganz ähnliche Welt ist, nebenbei gesagt, auch die Welt des homo religiosus. Der Katechet hält also das Kind auf der kindlichen Stufe der Intellektualität fest, er verzögert oder verhindert den Eintritt der geistigen Mündigkeit. Wirkliche Typen erwachsener Kindlichkeit sind: mancher »Perverse«, der konstitutionelle Verbrecher und der Frommgläubige, der freiwillige Idiot.

Die aus dem psychischen Habitus des Kindes sich ergebenden Grenzen einer vernünftigen Erziehung sind nicht schwer zu bestimmen. Man soll das Kind zunächst sehen und unterscheiden lehren, es möglichst wenig durch unfruchtbaren, ihm fremden abstrakten Wissensstoff verwirren und verstopfen, man soll es alles möglichst von selbst lernen lassen (das wird jeder Vernünftige auch ohne Rousseau einsehen; unser Gymnasium ist eine beispiellos grausame Vergewaltigung kindlicher Gehirne), man soll es aber auch mit etwas kräftiger Hand anfassen, man soll es durch das Stadium der Kindlichkeit hindurchziehen und nicht auf eine mirakulöse Selbstentfaltung seiner guten, engelsgleichen »Natur« warten. Es soll damit keineswegs einer nutzlosen Härte und Strenge, oder gar einer Prügelerziehung das Wort geredet werden. Ich finde vielmehr den Schutz, den das Kind im »Zeitalter des Kindes« genießt, gänzlich unzureichend. Der Willkür in der Erziehung ist noch immer ein viel zu breiter Raum gewährt, während die verständige Förderung der kindlichen Entwicklung noch viel zu selten ist. Ich bin auch dafür, dass man die Natur des Kindes — so wie sie wirklich ist — sich austoben lässt. Man soll ihm vor allem nicht die Schmerzlichkeit der schlimmen eigenen Erfahrung des Lebens ersparen wollen. Die Hauptsache bei aller Erziehung aber ist ein zielbewusster lenkender Wille! Die verfehlteste Erziehung ist jene für das Kind wehleidige Weichlichkeit, jene weibisch-romantische Empfindsamkeit, die das Kind mit Kindereien langweilt, die Erziehung mit »sezessionistischen« Bilderbüchern und »künstlerischem« Spielzeug, die Erziehung mit »Liebe«, Begeisterung, Snobismus und Unverstand, welche die Kindheit mit einer Gloriole der allerdümmsten Poesie — der Kindheitspoesie — umgibt und die Kindheitsperiode künstlich verlängert, jene jetzt so eifrig propagierte, nicht in Hinsicht auf die Zukunft der Kinder, sondern mit Rücksicht auf die Verzückungen von Tantenseelen erfundene Erziehungsmethode, die nichts so sehr zu fürchten scheint als — das Mündigwerden der Kinder. Ich meine, das Kind ist eine zu wichtige und diffizile Angelegenheit, um dem Poesie- und Spielbedürfnis unbeschäftigter Schwachköpfe zu dienen. Ganz besonders widerwärtig ist die Sorte von Snobs, die heute das Kind durch die Kunst beglücken und veredeln will, was genau so geistreich ist, wie wenn man Fidschi-Insulaner mit den Bildern von Velasquez, Murillo und Tizian zivilisieren wollte. Für die ungeheure Vernunft eines von allen überflüssigen Härten gereinigten spartanischen Erziehungssystems ist heute jeder Sinn abhanden gekommen, wir haben im Gegensatz zu aller Vernunft die zwei unsinnigsten Erziehungssysteme, die es gibt — das alexandrinische und das romantisch-sentimentale —, zur Vollendung gebracht. Unsere Erziehung produziert daher nicht Männer und Frauen, sondern auf der einen Seite verbildete Berufskrüppel, auf der andern Feministen und jungfräuliche mimosae pudicae. Zwar spricht man jetzt da und dort von der Notwendigkeit einer »sexuellen Aufklärung« der Kinder. Bei der allgemeinen stupenden Unwissenheit der Erwachsenen in sexuellen Dingen dürfte aber diese »Aufklärung« eine sehr sonderbare und zweifelhafte sein. Und die sexuelle Aufklärung der Erwachsenen scheint mir vorderhand viel dringender als die der Kinder …

Die moderne und äußerst ideal erscheinende Forderung, das Interesse und Glück der Erwachsenen dem Interesse und Glück der Kinder zu opfern, ist zwar nichts als die groteske Vermummung feministischer Erotik. Nichtsdestoweniger aber ist diese Lehre der eigenartigen modernen Kinderfreunde wahrhaft gefährlich und kann nicht nachdrücklich genug zurückgewiesen werden, denn sie bedroht in gleicher Weise das Interesse und Glück der Erwachsenen sowohl als der Kinder. Im Interesse der Erwachsenen — und das Erwachsensein bedeutet doch auch die Zukunft des Kindes; die Wichtigkeit des Kindes beruht nicht in seiner Kindlichkeit, sondern darin, dass es zu einem tüchtigen Erwachsenen geformt werden soll — im Interesse der Erwachsenen also liegt es, durch die Rücksicht auf die Kinder in ihren Betätigungen und in ihrem Lebensgenusse möglichst wenig behindert zu sein. Und im Interesse der Kinder liegt es, durch stupide Herumerzieherei und verkrüppelnden Schulmechanismus in der Überwindung ihrer natürlichen kindlichen Rückständigkeit und in ihrer natürlichen Lebenslust möglichst wenig gestört zu werden. Die »Liebe« der Eltern und Tanten, die Künsteleien und der Eifer der Erzieher und Lehrer sind für das Kind nichts als eine Quelle nutzloser, seine Entwicklung verzögernder Plagen. Den Armen ist das Kind meist eine Last, sie quälen es daher oft mit ihrem Hass. Den Reichen ist das Kind gewöhnlich ein erotisches Spielzeug, sie quälen es daher mit ihrer Liebe. Dem Kind der Reichen sind nicht selten die Eltern eine Last. Man beginnt jetzt einzusehen, dass die Kinder, die von den Eltern mit Hass verfolgt werden, weil sie ihnen eine Bürde sind, von den Eltern getrennt werden müssen. Man sollte aber endlich auch einsehen, dass die Kinder, die von den Eltern mit einem Übermaß von Liebe verfolgt werden, weil diese ein erotisches Spielzeug brauchen, von den Eltern getrennt werden müssen. Man redet jetzt sehr viel von Kinderschutz und Mutterschutz. Ich glaube, Kinder und Mütter wären in vielen Fällen am besten geschützt, wenn sie getrennt würden. Die altehrwürdige Institution der Familie hat heute zwar keinen praktischen Zweck mehr, ist aber dafür der Hort aller Rückständigkeit, Verkrochenheit und Unsinnigkeit geworden. Diese sehr muffige Institution endlich aufzulassen, wäre nicht nur ein sozialer, ethischer und intellektueller Fortschritt, sondern auch die beste Lösung des Interessenkonfliktes zwischen den Kindern und Erwachsenen. Zu fordern, dass der zur Selbstbestimmung und zur höchsten Fähigkeit des Lebensgenusses Gelangte auf die Befriedigung seiner eigensten Bedürfnisse zugunsten der Unselbständigen und wenig Genussfähigen verzichte, heißt die natürliche Lustmöglichkeit des Menschen in seine unreife, für den vollen Lebensgenuss untaugliche Periode verlegen wollen, heißt auf den größten Teil der Freuden, die das Leben bietet, verzichten wollen, heißt das Leben verarmen wollen. Die Führung des Lebens ist eine Schöpfung des Mannes. Er ist das natürliche Schwergewicht im Gesellschaftsbaue. Verlegt er es — seine Mission verkennend oder vergessend — in die Natur des Weibes, die nur als Material, als bildsames Wachs seines schöpferischen Willens ihren hohen Wert gewinnt, so wird die Führung des Lebens weibisch werden; verlegt er es in einen falschen, dem Kinde selbst schädlichen Kult des Kindes, so wird die Führung des Lebens kindisch werden.

Karl Hauer.