Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 4. Buch.

19. Juni 2019 | Kategorie: Artikel, Marc Aurel

Marc Aurel

Mach den Versuch – vielleicht gelingt es Dir – zu leben wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.

Viertes Buch

1. Wenn der in uns herrschende Geist so ist wie er sein soll, so kann es uns – den Ereignissen gegenüber – nicht schwer fallen, auf jede Möglichkeit vorbereitet zu sein und das Gegebene hinzunehmen. Das Festbestimmte, Abgemachte wofür wir Interesse haben, ist es überhaupt nicht; sondern das, was uns gut und wünschenswert scheint, ist doch immer nur mit Vorbehalt ein Gegenstand unseres Strebens; was sich uns aber geradezu in den Weg stellt, betrachten wir als ein Mittel zu unsrer Übung, der Flamme gleich, die sich auch solcher Stoffe zu bemächtigen weiß, deren Berührung ein kleineres Licht verlöschen würde, aber ein helles Feuer nimmt in sich auf und verzehrt, was man ihm zuführt, und wird nur grösser dadurch.

2. Bei Allem, was Du tust, gehe besonnen zu Werke und so, dass Du dabei die höchsten Grundsätze im Auge hast!

3. Man liebt es, sich zu Zeiten aufs Land, in das Gebirge, an die See sich zurückzuziehen. Auch Du sehnst Dich vielleicht dahin. Im Grunde genommen aber steckt dahinter eine große Beschränktheit. Es steht Dir ja frei, zu jeglicher Stunde Dich in Dich selbst zurückzuziehen, und nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele, sobald wir nur etwas von dem in uns tragen, was wir nur anzuschauen brauchen, um uns in eine vollkommen ruhige und glückliche Stimmung versetzt zu sehen – eine Stimmung, die nach meiner Ansicht freilich ein anständiges, sittliches Wesen bedingt. Auf diese Weise also ziehe Dich beständig zurück, um Dich immer wieder aufzufrischen. Einfach und klar und bestimmt aber seien jene Ideen, deren Vergegenwärtigung aus Deiner Seele so Manches hinwegspülen und Dir eine Zuflucht schaffen soll, aus der Du nicht übelgelaunt zurückkehrst. Und was sollte Dich auch alsdann verdrießen können? »Die Schlechtigkeit der Menschen?« Aber wenn Du bedenkst, dass die vernünftigen Wesen für einander geboren sind, dass das Ertragen des Unrechts zur Gerechtigkeit gehört, dass die Menschen unfreiwillig sündigen, und dann – wie viel streitsüchtige, argwöhnische, gehässige und gewalttätige Menschen mussten dahin und sind nun ein Raub der Verwesung – wirst Du da Deine Abneigung nicht los werden? »Oder ist es Dein Schicksal?« So erinnere Dich nur jenes Zwiefachen: entweder wir sagen, es gibt eine Vorsehung oder wir sehen uns als Teile und Glieder eines Ganzen an, und unserer Betrachtung der Welt liegt die Idee eines Reiches zu Grunde. »Oder ist es Dein Leib, der irgendwie betroffen ist?« Aber Du weißt ja, der Geist, wenn er sich selbst begriffen und seine Macht kennen gelernt hat, hängt nicht ab von sanfteren oder rauheren Lüften; auch weißt Du, wie wir über Schmerz und Freude denken, und bist einverstanden damit. »Oder macht Dir der Ehrgeiz zu schaffen?« Aber wie schnell breitet Vergessenheit über alles ihren Schleier! Wie unablässig drängt eins das andere in dieser Welt ohne Anfang und ohne Ende! Wie nichtig ist jeder Nachklang unseres Tuns! Wie veränderlich und wie urteilslos ist jede Meinung, die sich über uns bildet und wie eng der Kreis, in dem sie sich bildet! Die ganze Erde ist ja nur ein Punkt im All, und wie klein nun wieder der Winkel auf ihr, wo von uns die Rede sein kann! Wie viele können es sein, und was für welche, die unseren Ruhm verkünden? In der Tat also gilt es sich zurückzuziehen auf eben diesen kleinen Raum, der unser ist, und hier sich weder zu zerstreuen, noch einspannen zu lassen, sondern sich frei zu bewegen und die Dinge anzusehen wie ein Mensch, wie ein Glied der Gesellschaft, wie ein sterbliches Wesen. Unter all den Wahrheiten aber, die Dir am Geläufigsten sind, müssen jedenfalls die beiden sein. Die eine, dass die Außendinge die Seele nicht berühren dürfen, sondern wirklich Außendinge sein und bleiben müssen; denn Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält. Die andere, dass Alles, was Du siehst, sich bald verwandeln und nicht mehr sein werde, wie Du selbst schon eine Menge Wandlungen durchgemacht hast, mit einem Wort, dass die Welt auf dem Wechsel, das Leben auf der Meinung darüber beruhe.

4. Haben wir alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft, dann auch die Stimme, die uns sagt, was wir tun und lassen sollen, dann auch eine Gesetzgebung. Wir sind also alle Bürger ein und desselben Reiches. Und daraus würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein? – Stammt nun etwa jene Denkkraft, jenes Vernünftige und Gesetzgebende aus diesem uns allen gemeinsamen Reiche oder sonst woher? Denn gleich wie die verschiedenen Stoffe, jeder seine besondere Quelle hat – denn es ist nichts, was aus dem Nichts entstände, so wenig wie etwas in das Nichts übergeht-, so muss auch das Geistige irgendwoher stammen.

5. Mit dem Tode verhält es sich wie mit der Geburt, beides Geheimnisse der Natur. Dieselben Elemente, welche hier sich einigen, werden dort gelöst. Und das ist nichts, was uns unwürdig vorkommen könnte. Es widerspricht weder dem vernünftigen Wesen selbst, noch dem Prinzip seiner Entstehung.

6. Es liegt freilich in der Natur der Sache, dass gewisse Leute einen solchen Widerspruch darin finden. Aber wer dies nicht will, will nicht, dass die Traube Saft habe.

7. Ändere Deine Ansicht und – Du hörst auf Dich zu beklagen. Beklagst Du Dich nicht mehr, ist auch das Übel weg.

8.  Der Begriff des Heilsamen und des Schädlichen schließt es schon ein, dass das, was den Menschen nicht verdirbt, auch sein Leben nicht verderben oder verbittern kann, weder äußerlich noch innerlich.

9. Weil es nützlich ist, handelt die Natur notwendigerweise so, wie sie handelt.

10. Alles was geschieht, geschieht mit Recht; einer genauen Beobachtung kann das nicht entgehen. Auch sage ich bloß nicht, `Es ist in der Ordnung`, sondern, `Es ist recht `, d.h.  so, als käme es von einem, der alles nach Recht und Würdigkeit austeilt. Setze Deine Beobachtungen nur fort, und Du selbst, was du auch tust, sei gut, gut im eigentlichsten Sinne des Worts! Denke daran bei jeder Deiner Handlungen!

11.  Wie derjenige denkt, der dich verletzt, oder wie er will, dass du denken sollst, so denke gerade nicht. Sondern sieh die Sache an, wie sie in Wahrheit ist.

12. Zu Zweierlei müssen wir stets bereit sein, einmal, zu handeln einzig den Forderungen gemäß, welche das in uns herrschende Gesetz an uns stellt – und das heißt immer auch zugleich zum Nutzen der Menschen handeln. Sodann auf unserer Meinung nicht zu beharren, wenn einer da ist, der sie berichtigen und uns so von ihr abbringen kann. Doch muss jede Sinnesänderung davon ausgehen, dass die neue Ansicht die Richtige und Gute sei, nicht davon, dass sie Annehmlichkeiten und Äußere Vorteile verschaffe.

13. Wenn Du Vernunft hast, warum gebrauchst Du sie nicht? Tut sie das Ihrige, was kannst Du Mehr verlangen?

14. Was Du bist, ist doch nicht das Ganze. So wirst Du denn auch einst aufgehen in den, der Dich erzeugte; oder vielmehr, nach geschehener Wandlung wirst Du wieder aufgenommen werden in seine Erzeugernatur.

15. Weihrauch auf dem Altar der Gottheit – das ist des Menschen Leben. Wie viel davon schon gestreut ist, wie viel noch nicht, was liegt daran?

16. Sobald Du Dich zu den Grundsätzen und dem Dienst an der Vernunft bekehrst, kannst Du denen ein Gott sein, denen Du jetzt so verächtlich erscheinst.

17. Richte Dich nicht ein, als solltest Du Hunderte alt werden. Denn wie nahe vielleicht ist Dein Ende! Aber solange Du lebst, solange es in Deiner Macht steht – sei gut!

18. Welch  ein Gewinn, wenn man auf anderer Leute Worte, Angelegenheiten und Gedanken nicht achtet, sondern nur auf das eigene Tun achtet, ob es gerecht und fromm und gut sei ,» – das Auge abgewendet vom Pfuhl des Lasters, nur der eigenen Bahn nachgehend, grad‘ und unverrückt.«

19. Der Ruhmbegierige bedenkt nicht, dass auch die in aller Kürze nicht mehr sein werden, die seiner gedenken, und dass es sich mit jedem folgenden Geschlecht ebenso verhält, bis endlich die Erinnerung, durch solche fortgepflanzt, die nun auch erloschen sind, selber erlischt. Aber gesetzt auch, die Deinen Namen nennen wären unsterblich und unsterblich dieses Namens Gedächtnis: was nützt es Dir? Dir, der Du bereits gestorben bist? Aber auch, was nützt Dir’s zu Lebzeiten? Es sei denn, dass Du ökonomische Vorteile dabei hast. Sind also Ruhm und Ehre Dir zuteil geworden, achte dieser Gabe nicht! Sie macht Dich eitel und abhängig vom Geist und Wort der andern.

20. Jegliches Schöne ist schön durch sich selbst und in sich vollendet, so dass für ein Lob kein Raum in ihm ist. Wird es doch durch Lob weder schlechter noch besser. Dies gilt auch von dem, was man in der Regel schön nennt, von dem körperlich Schönen und den Werken der Kunst. Das wahrhaft Schöne bedarf des Lobes ebenso wenig wie das göttliche Gesetz, die Wahrheit, die Güte, die Scham. Oder vermag daran etwa das Lob etwas zu bessern oder der Tadel Etwas zu verderben? Wird die Schönheit des Edelsteins, des Purpurs, des Goldes, des Elfenbeins, die Schönheit eines Instruments, einer Blüte, eines Bäumchens geringer dadurch, dass man sie nicht lobt?

21. Wenn die Seelen fortdauern, wie vermag sie der Luftraum von Ewigkeit an zu fassen? Aber wie ist denn die Erde im Stande, die toten Leiber so vieler Jahrtausende zu fassen? Die Leiber, nachdem sie eine Zeit lang gedauert haben, verwandeln sie sich und lösen sich auf, und so wird andern Leibern Platz gemacht, ebenso wie die in den Äther versetzten Seelen Platz machen. Eine Zeit lang halten sie zusammen, dann verändern sie sich, dehnen sich aus, verbrennen und gehen in das allgemeine Schöpferwesen auf, so dass ein Raum für neue Bewohner entsteht. So etwa ließe sich die Ansicht von der Fortdauer der Seelen erklären. Was aber die Leiber betrifft, so kommt hier nicht bloß die Menge der auf jene Weise untergebrachten, sondern auch die der täglich von uns und von den Tieren verzehrten Leiber in Betracht. Welch eine Menge verschwindet und wird so gleichsam begraben in den Leibern derer, die sich davon nähren, und immer derselbe Raum ist’s, der sie fasst, durch Verwandlung in Blut, in Luft- und Wärmestoffe. Das Prinzip oder die Summe aller dieser Erscheinungen ist also  die Auflösung in die Materie und in den Urgrund aller Dinge.

22. Stets entschieden, gilt es, zu sein und das Rechte im Auge zu haben bei jeglichem Streben. Indem Gedankenleben aber sei das Begreifliche Dein Leitstern.

23. Was Dir harmonisch ist, o Welt, ist es auch für mich! Nichts kommt zu früh für mich und nichts zu spät, wenn’s bei Dir heißt: »zu guter Stunde.« Eine süße Frucht ist mir alles, was Du gezeitigt hast, Natur. Von Dir und in Dir und zu Dir ist Alles. – Als jener Theben wiedersah, rief er: »Du liebe Stadt des Cekrops!« und ich, ich sollte mit dem Blick auf Dich nicht sagen: »Du liebe Stadt des höchsten Gottes?«

24. Nur auf wenige Dinge, heißt es, darf sich Deine Tätigkeit erstrecken, wenn Du Dich wohl befinden willst. Aber wäre es nicht besser, sie auf das Notwendige auszurichten, auf das, was wir als Wesen, die auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen sind, tun sollen? Denn das hieße nicht bloß das Vielerlei, sondern auch das Schlechte zu vermeiden und müsste uns also doppelt glücklich machen. Gewiss würden wir ruhiger und zufriedener sein, wenn wir das Meiste von dem, was wir zu reden und zu tun pflegen, überflüssig hießen. Ist es doch durchaus notwendig, dass wir in jedem einzelnen Falle, ehe wir handeln, eine  warnende Stimme vernehmen, und sollte die von etwas ausgehen können, das an sich selbst unnötig ist? Zuerst aber befreie Deine Gedanken von allem, was unnütz ist, dann wirst Du auch nichts Unnützes tun.

25. Mach den Versuch – vielleicht gelingt es Dir – zu leben wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.

26.  Willst Du? So höre noch dies: Rege Dich nicht selbst auf, und bleibe immer bei Dir. Hat sich jemand an Dir vergangen, hat er sich an sich selbst vergangen. Ist Dir etwas Trauriges widerfahren: es war Dir von Anfang an bestimmt. Was geschieht, ist alles Fügung. Und in Summa: das Leben ist kurz. Die Gegenwart ist es, die wir nutzen sollen, durch rechtschaffenes und überlegtes Handeln, und wenn wir ausruhen wollen, durch ein besonnenes Ausruhen.

27. Wenn der ein Fremdling ist in der Welt, der nicht weiß, was auf ihr ist und geschieht, so nenne ich den einen Flüchtling, der sich den Ansprüchen des Staates entzieht; einen Blinden, der das Auge seines Geistes schließt; einen Bettler, der eines Andern bedarf und nicht in sich alles zum Leben Nötige trägt; einen Auswuchs des Weltalls, der von dem Grundgesetz der Allnatur abweicht und – hadert mit dem Schicksal! Als hätte sie, die Dich hervorgebracht, nicht auch dieses erzeugt, ein abgehauenes Glied der menschlichen Gesellschaft, der mit seiner Seele von dem Lebensprinzip der einen, alle Vernunftwesen umfassenden Gemeinde geschieden ist.

28. Es gibt Philosophen, die keinen Rock anzuziehen haben und halbnackt einhergehen. »Nichts zu essen, aber treu der Idee.« Auch für mich ist die Philosophie kein Brotstudium.

29. Liebe immerhin die Kunst, die Du gelernt hast, und ruhe Dich aus in ihr. Doch gehe durch das Leben nicht anders wie Einer, der alles, was er hat von ganzem Herzen den Göttern weiht, sei niemandes Tyrann und niemandes Knecht.

30. Betrachten wir die Geschichte, z.B. die Zeiten Vespasians, so finden wir Menschen, die sich freien, Kinder zeugen, krank liegen, sterben, Krieg führen, Feste feiern, Handel treiben, Ackerbau treiben, finden Schmeichler, Freche, Misstrauische, Listige, oder solche, die ihr Ende herbeiwünschen, die sich über die schlimmen Zeiten beklagen, finden Liebhaber, Geizhälse, Ehrgeizige, Herrschsüchtige. Denn etwas anderes tritt uns doch wahrlich nicht entgegen. Gehen wir über auf die Zeiten des Trajan: Alles ganz ebenso, und auch diese Zeit ging zu Grabe. – So betrachte die Grabschriften aller Zeiten und Völker, damit Du siehst, wie viele, die sich aufschwangen, nach kurzer Zeit wieder sanken und vergingen. Namentlich muss man immer wieder an die denken, bei denen wir es mit eignen Augen gesehen haben, wie sie nach eitlen Dingen trachteten, wie sie nicht taten, was ihrer Bildung entsprach, daran nicht unablässig fest hielten und sich daran nicht genügen ließen. Und fällt uns dann die Regel ein, dass die Behandlung einer Sache ihren Maßstab in dem Wert der Sache selbst hat, so wollen wir sie doch ja beobachten, damit wir uns vor dem Ekel bewahren, der die notwendige Folge davon ist, dass man den Dingen mehr Wert beilegt, als sie verdienen.

31. Worte, die ehemals in Gebrauch waren, sind nun veraltet. So sind auch die Namen einst hochberühmter Männer, eines Camillus, Scipio, Cato, dann eines Augustus, dann Hadrians, dann Antoninus Pius, später gleichsam veraltete Worte. Sie verbleichen bald und nehmen das Gewand der Sage an, bald sind sie gar versunken in Vergessenheit. Dies gilt von denen, die ehemals so wunderbar geleuchtet haben. Denn von den Andern, sind sie nur tot, weiß man nichts mehr, hat man nie mehr etwas gehört. Also ist Unvergesslichkeit ein leeres Wort. Aber was ist es denn nun, wonach es sich lohnt zu streben? Nur das Eine: eine tüchtige Gesinnung, ein Leben zum Besten anderer, Wahrheit in jeder Äußerung, ein Zustand des Gemüts, wonach Dir Alles, was geschieht, notwendig scheint und Dir befreundet, aus einer Quelle fließend, mit der Du vertraut bist.

32. Gib Dich dem Schicksal willig hin, und erlaube ihm, Dich mit den Dingen zu verflechten, die es Dir irgend zuerkennt.

33. Eintagsfliegen sind beide: er, der  gedenkt und der, dessen gedacht wird.

34. Alles entsteht durch Verwandlung, und die Natur liebt Nichts so sehr, wie das Vorhandene umzuschaffen und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen. Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines Zukünftigen, und es wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird.

35. Wie bald wirst Du tot sein, und noch immer bist Du nicht ohne Falsch, nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, dass Äußeres dem Menschen schaden könne, nicht sanftmütig gegen jedermann, und noch immer nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit sei.

36. Sieh sie Dir an, diese weisen Männer und wie ihre Geister beschaffen sind, was sie fliehen und was sie verfolgen.

37. In der Seele eines andern sitzt es nicht, was Dich unglücklich macht, auch nicht in der Wendung Deiner äußeren Verhältnisse. Wo denn, fragst Du? In Deinem Urteil! Halte es nicht für ein Unglück, und alles steht gut. Und wenn, was Dich zunächst umgibt, Deine Haut, verwundet, geschnitten, gebrannt wird, doch muss der Teil Deines Wesens, der über solche Dinge urteilt, in Ruhe sein, d.h. er muss denken, dass das, was ebenso den Guten wie den Bösen treffen kann, unser Unglück oder unser Glück unmöglich ausmacht. Denn was bald der erfährt, der gegen die Natur lebt, bald wieder der, der ihrer Stimme folgt, das kann doch selbst nicht widernatürlich oder natürlich heißen.

38. Die Welt ist ein einiges lebendiges Wesen, ein Weltstoff und eine Weltseele. In dieses Weltbewusstsein wird alles absorbiert, so wie aus ihm alles hervorgeht, so jedoch, dass von den Einzelwesen eines des anderen Mitursache ist und auch sonst die innigste Verknüpfung unter ihnen stattfindet.

39. Nach Epiktet ist der Mensch – eine Seele mit einem Toten auf dem Rücken.

40. Was zu dem Wandlungsprozess gehört, dem wir Alle unterworfen sind, das kann als solches weder gut noch böse sein.

41. Ein Strom des Werdens, wo Eins das Andre jagt, ist diese Welt. Denn ein jegliches Ding – verschlungen  ist es, kaum da es aufgetaucht. Aber kaum ist das Eine dahin, trägt die Woge schon wieder ein Anderes her.

42. Wie die Rose des Sommers Vertraute und die Früchte die Freunde des Herbstes sind, so ist das Schicksal uns freundlich gesonnen, mag es nun Krankheit oder Tod oder Schimpf und Schande heißen. Denn Kummer machen solche Dinge nur dem Toren.

43. Das Folgende entspricht immer dem Vorangehenden, nicht  in der Weise des Nacheinander mit bloß äußerer Verknüpfung, sondern durch ein inneres geistiges Band. Denn wie im Reiche des Gewordenen alles harmonisch gefügt ist, so tritt uns auch auf dem Gebiete des Werdens keine bloße Aufeinanderfolge, sondern eine wunderbare innere Verwandtschaft entgegen.

44. Mag es richtig sein, was Heraklit sagt, dass in der Natur das eine des andern Tod sei, der Erde Tod das Wasser, des Wassers die Luft, der Luft das Feuer und umgekehrt; doch hat er nicht gewusst, wohin Alles führt. Aber es lässt sich auch von solchen Leuten lernen, die das Ziel ihres Weges aus dem Gedächtnis verloren haben, auch von solchen, die, je mehr sie mit dem alles beherrschenden Geiste verkehren, tatsächlich sich desto mehr von ihm entfernen, auch von denen, welchen gerade das fremd ist, was sie täglich beschauen,  oder die wie im Traume handeln und reden (denn auch das nennt man noch Tätigkeit), oder endlich von solchen, die wie die kleinen Kinder alles nachmachen.

45. Wenn Dir ein Gott weissagte, Du werdest Morgen, höchstens Übermorgen sterben, so könntest Du Dich über dieses »Übermorgen« doch nur freuen, wenn gar nichts Edles in Dir stecke. Denn was ist’s für ein Aufschub! Ebenso gleichgültig aber müsste es Dir sein, wenn man Dir prophezeite: nicht Morgen, sondern erst nach langen Jahren!

46. Wie viele Ärzte sind gestorben, nachdem sie an wie vielen Krankenbetten bedenklich den Kopf geschüttelt; wie viele Astrologen, die erst anderen mit großer Wichtigkeit den Tod verkündigten; wie viele Philosophen, nachdem sie über Tod und Unsterblichkeit ihre tausenderlei Gedanken ausgekramt; wie viele Kriegshelden mit dem Blute anderer bespritzt; wie viele Fürsten, die ihr Recht über Leben und Tod mit großem Übermut  brauchten, als wären sie selbst nicht auch sterbliche Menschen; wie viele Städte – Helion, Pompeji, Herkulanum und andere – sind, sozusagen gestorben! Dann die Du selbst gekannt hast, einer nach dem andern! Der jenen begrub, wurde dann selbst begraben, und das binnen Kurzem. Denn alles Menschliche ist nichtig und vorübergehend, das Gestern eine Seifenblase, das Morgen, erst eine einbalsamierte Leiche, dann ein Haufen Asche. Darum nutze das Heute so wie Du sollst, dann scheidet es sich leicht, wie die Frucht, wenn sie reif gewollt abfällt – preisend den Zweig, an dem sie hing, dankend dem Baum, der sie hervorgebracht!

47. Wie der Fels im Meere, an dem die Wellen unaufhörlich rütteln – aber er steht, und ringsum legt sich der Brandung Ungestüm: so stehe auch Du! Nenne Dich nicht unglücklich, wenn Dir ein »Unglück« widerfuhr! Nein, sondern preise Dich glücklich, dass, obwohl es Dir widerfahren ist, der Schmerz Dir doch nichts anhat und weder Gegenwärtiges Dich mürbe machen, noch Zukünftiges Dich ängstigen kann. Jedem könnte es begegnen, aber nicht jeder hätte es so ertragen. Und warum nennst Du das eine ein Unglück, das andere ein Glück? Nennst Du nicht das ein Unglück für den Menschen, was ein Fehlgriff seiner Natur ist? Aber wie sollte das ein Fehlgriff der menschlichen Natur sein können, was nicht wider ihren Willen ist? Und Du kennst doch ihren Willen? Kann Dich denn irgend ein Schicksal hindern, gerecht zu sein, hochherzig, besonnen, klug, selbstständig in Deiner Meinung, wahrhaft in Deinen Reden, sittsam und frei in Deinem Betragen, hindern an dem, was wenn es vorhanden ist so recht dem Zweck der Menschen-Natur entspricht? So oft also etwas Schmerzhaftes Dir nahe tritt: denke, es sei kein Unglück; aber ein Glück sei’s, es mit edlem Mute zu tragen.

48. Es ist zwar ein lächerliches aber wirksames Hilfsmittel, wenn man den Tod verachten lernen will, sich die Menschen zu vergegenwärtigen, welche mit aller Inbrunst am Leben hingen. Denn was war ihr Los, als dass sie zu früh starben? Begraben liegen sie alle, die Fabius, Julianus, Lepidus oder wie sie heißen mögen, die allerdings so manche andere überlebten, dann aber doch auch einreihen mussten. – Wie klein ist dieser ganze Lebensraum, und unter wie viel Mühen, mit wie schlechter Gesellschaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es ist nicht der Rede wert. Hinter Dir eine Ewigkeit und vor Dir eine Ewigkeit: dazwischen – was für ein Unterschied, ob Du drei Tage oder drei Jahrhunderte zu leben hast?

49. Daher begrenze den Weg, den Du zu gehen hast! Du wirst Dich auf diese Weise von mancher Sorge und von manchem Ballast befreien. Das Begrenzte ist der Natur gemäß, Begrenzung die Gesundheit unseres Tuns und Denkens!


MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 3. Buch

23. April 2012 | Kategorie: Artikel, Marc Aurel

Marc Aurel

Drittes Buch

1. Wir müssen uns nicht bloß sagen, dass das Leben mit jedem Tage schwindet und ein immer kleinerer Teil davon übrig bleibt, sondern auch bedenken, dass es ja ungewiss ist, wenn man ein längeres Leben vor sich hat, ob die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständnis der Dinge, so wie zu all den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen werden, welche uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren machen. Denn wie viele werden nicht im Alter kindisch! Und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vorzustellen und etwas zu begehren, aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe der Pflichten, die ihm obliegen, zu überschauen, die Erscheinungen sich zu Stück für Stück zu verdeutlichen und darüber, ob’s Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden – das ist bei ihm erloschen. Also muss man sich beeilen, nicht bloß weil uns der Tod mit jedem Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.

2. Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch die, welche nur beiläufige Merkmale sind, einen gewissen Reiz ausüben. So machen z.B. die Risse und Sprünge im Brot, die nicht in dieser Absicht vom Bäcker gesetzt waren, die Esslust besonders rege. Ebenso bei den Feigen, die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und bei den Oliven, die gerade wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind faul zu werden. Die niederhängenden Ähren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum am Munde des Ebers und manches andere dergleichen hat freilich keinen Reiz, wenn man es für sich betrachtet; aber weil es uns in den Werken der Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden wir kaum Etwas von solchen Nebenumständen auffinden, das uns nicht angenehm vorkäme. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche Tierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Auge wird mit gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken.

3. Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer Krankheit gestorben. Die Chaldäer prophezeiten vielen den Tod, dann hat sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar, nachdem sie so manche Stadt von Grund auf zerstört und in der Schlacht so viele Tausende ums Leben gebracht hatten, schieden sie selbst aus dem Leben. Heraklit, der über den Weltbrand philosophierte, starb an der Wassersucht, den Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates ein Ungeziefer anderer Art. Kurz, zu einem jeden heißt es einmal: Du bist eingestiegen, gefahren, im Hafen eingelaufen, so steige nun aus! Geht es in ein anderes Leben, so gewiss in keines, das ohne Götter ist. Ist es aber ein Zustand ohne Empfindung, auch gut. Wir hören auf von Leid und Freude hingehalten zu werden und verlassen ein Behältnis von umso schlechterer Art, je edler der Eingeschlossene war; denn der ist Geist und göttlichen Wesens, jenes aber Staub und Materie.

4. Verschwende Deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht, es sei denn, dass Du jemand damit förderlich sein kannst. Du versäumst offensichtlich notwendigere Dinge, wenn Dich nichts weiter beschäftigt, als was der macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt. So etwas zieht den Geist nur ab von der Beobachtung seiner selbst. Man muss alles Eitle und Vergebliche aus der Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vornehmlich alle müßige und nichtswürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über die wir sofort, wenn uns jemand fragt, was wir gerade denken, gern und mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, so dass man gleich sieht, hier ist alles lauter und gut, und so wie es einem Gliede der menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt nichts von Genusssucht und Lüsternheit, nichts von Zank oder Neid oder Misstrauen, nichts von alle dem, wovon der Mensch nur mit Erröten gestehen könnte, dass es seine Seele beschäftige. Und ein solcher Mensch – dem es, nun ja auch nicht an dem Streben nach Auszeichnung fehlen kann – ist ein Priester und Diener der Götter, der sich des Gottes in sich zu bedienen weiß,  dass ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz berücken, nichts Böses überhaupt ihn reizen kann. Er ist ein Held in jenem großen Kampfe gegen die Leidenschaft, und eingetaucht in das Wesen der Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüßen. Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine Beste erfordert, an das, was andere sagen oder tun oder meinen. Sondern die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Tuns, so wie das, was ihm das Schicksal gesponnen, im Gewebe des Ganzen der Hauptgegenstand seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in der Tat ist jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen des Schicksals. Stets ist er eingedenk, dass alle Vernunftwesen einander verwandt sind, und dass es zur menschlichen Natur gehört für andere zu sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemäßes Leben führen, da er ja weiß, wie die, die nicht so leben sind, was und mit wem sie zu Hause und außer Haus, am Tage und bei Nacht, ihr Wesen treiben. Das Lob derer also, die sich nicht selber zu genügen wissen, kann ihm nichts sein.

5. Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, nichts ungeprüft, nichts wobei Du noch Bedenken hast. Drücke Deine Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein Vieltuer. Sondern mit einem Worte,  der Gott in Dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung Du nun auch angehören magst, so dass Du immer in der Verfassung bist, wenn Du abgerufen werden solltest, gern und willig zu folgen. – Eidschwur und Zeugenschaft musst Du immer entbehren können. – Innerlich aber sei heiter, nicht bedürfend, dass die Hilfe von Außen Dir komme, auch nicht des Friedens bedürftig, den andere uns geben können. – Steh‘, heißt es, nicht: lass` Dich stellen!

6. Kannst Du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Wahrheit, Mäßigung, Tapferkeit oder mit einem Wort, als den Zustand der Seele, wo Du in Allein – was eine Sache der Vernunft und Selbstbestimmung ist –  mit Dir selbst, in dem aber, was ohne Dich geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist? Kannst Du, sage ich, etwas entdecken, das noch besser ist als dies, so wende Dich dem mit ganzer Seele zu und freue Dich, dass Du das Beste aufgefunden hast. Es sollte aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in Dir wohnenden Gott, der Deine Begierden sich untertänig zu machen weiß, der die Gedanken prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen sucht, und der sich selbst den Göttern unterwirft und für das Wohl der Menschen Sorge trägt. Solltest Du finden, dass gegen dieses alles andere gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und lass in Deine Seele nichts eindringen, was, wenn es Dich einmal angezogen, an der ungeteilten Pflege jenes herrlichen Schatzes, Deines Eigentums, Dich hindert. Denn diesem Gute, dem Höchsten nach Wesen und Wirkung, irgendetwas anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichtum, Genuss an die Seite setzen zu wollen, wäre Torheit, weil uns all dieses, selbst wenn wir es nur ein wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in Beschlag nimmt und verführt. Darum sage ich, man solle einfach und unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch immer zugleich das Zuträgliche, sei es deswegen, dass es uns gut ansteht als denkenden oder als empfindenden Wesen. Finden, wir nun Etwas, das uns als Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir es festhalten und pflegen. Ist es aber nur unserem Empfinden vereinbar, so haben wir es mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hinzunehmen, und nur dafür zu sorgen, dass wir uns unser gesundes Urteil bewahren und fortgesetzt die Dinge gehörig prüfen. –

7. Bilde Dir nie ein, dass etwas gut für Dich sein könnte, was Dich nötigt, irgendwann einmal die Treue zu brechen, die Scham hintanzusetzen, jemanden zu hassen, argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, Dich zu verstellen oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Türen braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren kultische Würdigung jederzeit die erste Rolle spielen lässt, wird nie zu einer Tragödie Anlass geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder große Gesellschaft suchen, weder auf der Jagd noch auf der Flucht sein, und er wird leben im höchsten Sinne des Worts. Ob seine Seele auf lange oder kurze Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde, auch wenn er bald scheiden müsste, dazu ganz ebenso sich auf den Weg machen, wie wenn es gälte, irgendetwas anderes mit Anstand und mit edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durch das ganze Leben Sorge trägt, ist nur das, dass seine Seele sich stets in einem Zustande befinde, der einem in Bezug auf das Zusammenleben mit andern, angewiesenen vernünftigen Wesen geziemt.

8. In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden und so gehörig geläutert ist, findet man nun auch jene Wunden und Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch nichts Abstoßendes; ihn drückt keine Schuld und Nichts, was ihn zu Heimlichkeiten nötigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich »vollendet«, wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von andern oft nur mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Dramas, dass er ein Tragischer sei, noch wie das Stück geendet hat.

9. Was die Fähigkeit zu urteilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so musst Du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten, dass sich in Deiner Seele irgendeine Ansicht festsetze, welche widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugetan und den Göttern gehorsam.

10. Alles Übrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht völlig hin. Dabei bleibe man sich bewusst, dass jeder eigentlich nur dem gegenwärtigen Augenblicke lebe. Denn alles Übrige ist entweder durchlebt oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist es, was jeder lebt, und ein Kleines, wo er lebt – das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, den er hinterlässt, sei es auch der Größte, damit er sich forterbe in der Kette dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn den, der längst vor ihnen gestorben!

11. Den aufgestellten Maximen ist aber noch eine hinzuzufügen. Von jedem Gegenstande, der sich Deinem Nachdenken darbietet, suche Dir stets einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so dass Du weißt, was er an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit Du ihn selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst. Denn nichts erzeugt in dem Grade hohen Sinn und edle Denkungsart, als wenn man imstande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, dass man bei sich überlegt, in welchem Zusammenhang sie erscheinen und welche Stelle sie in demselben einnehmen, welchen Wert sie für das Ganze haben und was sie dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft verhalten; dass man weiß, was man jedes Mal vor sich hat, von wo es sich überliefert hat und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelnd oder vertrauensvoll, sich hingebend oder in sich selbst ruhend; so dass man  von jedem Einzelnen sagen muss, entweder es kommt von Gott  oder es ist ein Stück jenes großen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt, oder endlich, dass es  von einem unsrer Genossen und Brüder kommt, der nicht gewusst hat, was naturgemäß ist. Du aber weißt es, und darum begegnest Du ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe und Gerechtigkeit. Und auch in den gleichgültigen Dingen zeigst Du ein ihrem Wert entsprechendes Verhalten.

12.  Wenn Du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was Dir zu tun gerade obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe tätig bist, ohne dass Dich ein anderer Gedanke dabei leitet, als der, Dein Inneres rein zu erhalten, als solltest Du bald Deinen Geist aufgeben, so ist es recht. Wenn Du Dich auf diese Weise zusammennimmst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern es Dir genügen lässt, an der Dir von  Natur aus zu Gebote stehenden Energie und an der Wahrhaftigkeit, die aus jedem Deiner Worte hervorleuchten muss, so wirst Du ein glückliches Leben führen. Und ich wüsste nicht, wer Dich daran hindern sollte.

13. Wie die Ärzte zu raschem Kurieren stets ihre Instrumente und Eisen zur Hand haben, so musst Du zum Zwecke der Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit Du in allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie einer, der sich des Zusammenhanges beider bewusst ist. Denn Menschliches lässt sich ohne Beziehung auf Göttliches ebenso wenig richtig behandeln als umgekehrt.

14. Hör endlich auf, Dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu denken, dass Du dazu kommst, was Du Dir für spätere Zeiten Deines Lebens vorbehalten hattest, dies und jenes zu treiben und zu lesen und wieder hervorzusuchen. Darum gib solche törichte Pläne auf, und wenn Du Dich selber lieb hast, schaffe Dir – noch vermagst Du es – eiligst die Hilfe, derer Du bedarfst!

15. In manchem Wort, das unbedeutend scheint, liegt oft ein tieferer Sinn. Wie Mancher sagt: »Ich will doch sehen, was es gibt«, und denkt nicht daran, dass es dazu eines anderen Schauens bedarf, als des der Augen.

16. Leib, Seele, Geist – das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere Haustiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden Tiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein Nero; in allem sich vom dem Geiste, was vorteilhaft scheint, leiten zu lassen, ist auch die Sache solcher, welche das Dasein der Götter leugnen, welche das Vaterland verraten, welche die schändlichsten Dinge tun, sobald es nur niemand sieht. Wenn insofern also jenes etwas allen Gemeinsames ist, so bleibt als das dem Guten Eigentümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal Bestimmte willkommen zu heißen, das Heiligtum in seiner Brust nicht zu entweihen, sich nicht durch die Mengen der Gedanken zu verwirren, sondern im Gleichmaß zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, nichts zu reden wider die Wahrheit und nichts zu tun wider die Gerechtigkeit. Und dass man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemutes Leben führt, daran sollte eigentlich niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb doch keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.


MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 2. Buch

12. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Marc Aurel

Das erste Buch enthält im Wesentlichen autobiographische  Einzelheiten und bleibt deshalb zunächst unberücksichtigt.

Marc Aurel

Zweites Buch

1.Morgens früh sagst Du Dir: Ich werde einen aufdringlichen, undankbaren, frechen, falschen, missgünstigen, unfreundlichen Menschen treffen.  All diese Eigenschaft haben sie ja nur, weil sie sich im Unklaren darüber sind, was gut und was böse ist. Ich aber, der das Wesen des Guten erkannt hat, dass es schön ist und des Bösen, dass es hässlich ist, wie auch die Natur des gegen mich Zuwiderhandelnden. Das heißt zwar, dass er mit mir verwandt ist-   hat er auch nicht an demselben Blut oder der Keimzelle mit mir teil, so doch an demselben Geist und der gleichen göttlichen Abkunft-, aber ich kann von ihm keine Schaden erleiden. Denn in Schande kann mich keiner stürzen. Ich kann auch meinem Verwandten nicht zürnen oder ihm ein feindlich gesinnt sein. Denn wir sind zur Zusammenarbeit bestimmt, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne. Einander entgegenzuarbeiten ist daher wider die Natur. Wir arbeiten uns aber entgegen, wenn wir einander zürnen oder uns meiden.

2. Was ich auch sein mag, dieses Gebilde hier: es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft. Weg mit den Büchern! Lass Dich durch sie nicht länger ablenken! Das darfst Du nicht! Sondern verachte das elende Fleisch, als wenn Du schon sterben müsstest.  Es ist nur  Unrat des Darms und Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. Bedenke  auch, was für ein Ding Dein Atem ist. Ein Lufthauch nur, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick wird er ausgestoßen und wieder eingezogen. Das Dritte in Dir ist also die herrschende Vernunft. Das bedenke nun, Du bist ein alter Mann. Lass sie also nicht länger Sklavin sein,  sich nicht länger durch selbstsüchtige Triebe hin und her gezerrt werden lassen, sich nicht länger aufzuregen über das Dir vom Schicksal Auferlegte  oder über Deine jetzige Lage  oder über das Kommende jammern.

3. Das Walten der Götter lässt überall die Vorsehung erkennen. Das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne die Verkettung der Verflechtung mit dem  Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und das Wohl des ganzen Kosmos, von dem Du ein Teil bist. Für jedes Teil der Natur aber ist gut, was die Natur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Wandlungen der Elemente wie auch die der zusammengesetzten Körper.- Diese Einsichten müssen Dir genügen und stets Grundsätze sein. Den Durst nach Büchern aber wirf ab, damit Du nicht irgendwann murrend stirbst, sondern guten Mutes und von Herzen dankbar gegen die Götter.

4. Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie genutzt hast. Du musst doch endlich einmal einsehen, was das für eine Kosmos ist, dem Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist und dass Dir eine Zeit zugemessen ist, die vergangen sein wird wie Du selbst, wenn Du sie nicht dazu verwendest Dich abzuklären, und die nicht wiederkommt.

5. Immer sei darauf bedacht, bei allem was es zu tun gibt,  eine entschiedene und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut und Gerechtigkeit zu üben, wie es einem Manne geziemt, und  dabei alle Nebengedanken von Dir fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die Letzte im Leben ansiehst, fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran anhängt.  Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht mehr.

6. Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück außer Dir verlegst in die Seelen anderer.

7. Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und Dein unstetes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Außendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur so festhältst. Denn das bleibt die größte Torheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Denken und Trachten ausrichtet.

8. Wenn man nicht herausbekommen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.

9. Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Teil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Teil Du bist.

10. Theophrast in seinem Vergleich der menschlichen Fehler – wie diese denn jeweils verglichen werden können – sagt, schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet, es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht mit unversehrter Haut.

11. Jegliches Tun bedenken wie einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Übel hört dann doch wohl gerade auf. Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind, und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Mehr noch, sie haben, was die Übel betrifft, und zwar die eigentlichen, sie ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Übel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst für die bloße Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen – ist gewiss, dass sie nicht vermag, dem Übel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen. Auch hätte sie dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteilwerden hieß. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen, also sind sie auch weder gut noch böse, weder ein Glück noch ein Unglück.

12. Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber, in der Welt der Geister deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht, wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, tot! – Man folge dem Zuge des Geistes, man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben, man untersuche, was eigentlich sterben heißt, und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken gestattet, darin nichts anderes als ein Werk der Natur erkennen. Kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten. Man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.

13. Nichts Elenderes als ein Mensch, der um alles und jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Mutmaßungen anzustellen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie es sich gebührt. Das aber ist sein Dienst, ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so viele nicht wissen, was Güter und was Übel sind;  eine Blindheit, nicht geringer als die, wie wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.

14. Und wenn Du  dreitausendJahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, hat doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als das, was er einmal verlieren wird. Und so läuft das Längste wie das Kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem niemand verlieren kann, weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken. Einmal, dass alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand etwas verlieren kann, was er nicht hat.

15. Alles beruht nur auf  Meinung. Denn klar ist der Ausspruch des Kynikers Monimos. Auch der Wert des Ausspruches ist klar, wenn man  den Kern erfasst.

16. Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie sich von der Allnatur abzusondern, gleichsam aus ihr geschwürartig herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgendetwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu tun, wie üblicherweise im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas tut oder spricht oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist, den Prinzipien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.

17. Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Endpunkt, des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch, sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er nichts ohne Überlegung tue, nichts erlüge und erheuchle und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, dass er alles, was ihm widerfährt und zugeteilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemäße, und das Naturgemäße ist niemals vom Übel.