MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 3. Buch
23. April 2012 | Kategorie: Artikel, Marc AurelMarc Aurel
Drittes Buch
1. Wir müssen uns nicht bloß sagen, dass das Leben mit jedem Tage schwindet und ein immer kleinerer Teil davon übrig bleibt, sondern auch bedenken, dass es ja ungewiss ist, wenn man ein längeres Leben vor sich hat, ob die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständnis der Dinge, so wie zu all den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen werden, welche uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren machen. Denn wie viele werden nicht im Alter kindisch! Und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vorzustellen und etwas zu begehren, aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe der Pflichten, die ihm obliegen, zu überschauen, die Erscheinungen sich zu Stück für Stück zu verdeutlichen und darüber, ob’s Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden – das ist bei ihm erloschen. Also muss man sich beeilen, nicht bloß weil uns der Tod mit jedem Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.
2. Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch die, welche nur beiläufige Merkmale sind, einen gewissen Reiz ausüben. So machen z.B. die Risse und Sprünge im Brot, die nicht in dieser Absicht vom Bäcker gesetzt waren, die Esslust besonders rege. Ebenso bei den Feigen, die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und bei den Oliven, die gerade wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind faul zu werden. Die niederhängenden Ähren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum am Munde des Ebers und manches andere dergleichen hat freilich keinen Reiz, wenn man es für sich betrachtet; aber weil es uns in den Werken der Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden wir kaum Etwas von solchen Nebenumständen auffinden, das uns nicht angenehm vorkäme. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche Tierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Auge wird mit gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken.
3. Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer Krankheit gestorben. Die Chaldäer prophezeiten vielen den Tod, dann hat sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar, nachdem sie so manche Stadt von Grund auf zerstört und in der Schlacht so viele Tausende ums Leben gebracht hatten, schieden sie selbst aus dem Leben. Heraklit, der über den Weltbrand philosophierte, starb an der Wassersucht, den Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates ein Ungeziefer anderer Art. Kurz, zu einem jeden heißt es einmal: Du bist eingestiegen, gefahren, im Hafen eingelaufen, so steige nun aus! Geht es in ein anderes Leben, so gewiss in keines, das ohne Götter ist. Ist es aber ein Zustand ohne Empfindung, auch gut. Wir hören auf von Leid und Freude hingehalten zu werden und verlassen ein Behältnis von umso schlechterer Art, je edler der Eingeschlossene war; denn der ist Geist und göttlichen Wesens, jenes aber Staub und Materie.
4. Verschwende Deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht, es sei denn, dass Du jemand damit förderlich sein kannst. Du versäumst offensichtlich notwendigere Dinge, wenn Dich nichts weiter beschäftigt, als was der macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt. So etwas zieht den Geist nur ab von der Beobachtung seiner selbst. Man muss alles Eitle und Vergebliche aus der Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vornehmlich alle müßige und nichtswürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über die wir sofort, wenn uns jemand fragt, was wir gerade denken, gern und mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, so dass man gleich sieht, hier ist alles lauter und gut, und so wie es einem Gliede der menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt nichts von Genusssucht und Lüsternheit, nichts von Zank oder Neid oder Misstrauen, nichts von alle dem, wovon der Mensch nur mit Erröten gestehen könnte, dass es seine Seele beschäftige. Und ein solcher Mensch – dem es, nun ja auch nicht an dem Streben nach Auszeichnung fehlen kann – ist ein Priester und Diener der Götter, der sich des Gottes in sich zu bedienen weiß, dass ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz berücken, nichts Böses überhaupt ihn reizen kann. Er ist ein Held in jenem großen Kampfe gegen die Leidenschaft, und eingetaucht in das Wesen der Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüßen. Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine Beste erfordert, an das, was andere sagen oder tun oder meinen. Sondern die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Tuns, so wie das, was ihm das Schicksal gesponnen, im Gewebe des Ganzen der Hauptgegenstand seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in der Tat ist jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen des Schicksals. Stets ist er eingedenk, dass alle Vernunftwesen einander verwandt sind, und dass es zur menschlichen Natur gehört für andere zu sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemäßes Leben führen, da er ja weiß, wie die, die nicht so leben sind, was und mit wem sie zu Hause und außer Haus, am Tage und bei Nacht, ihr Wesen treiben. Das Lob derer also, die sich nicht selber zu genügen wissen, kann ihm nichts sein.
5. Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, nichts ungeprüft, nichts wobei Du noch Bedenken hast. Drücke Deine Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein Vieltuer. Sondern mit einem Worte, der Gott in Dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung Du nun auch angehören magst, so dass Du immer in der Verfassung bist, wenn Du abgerufen werden solltest, gern und willig zu folgen. – Eidschwur und Zeugenschaft musst Du immer entbehren können. – Innerlich aber sei heiter, nicht bedürfend, dass die Hilfe von Außen Dir komme, auch nicht des Friedens bedürftig, den andere uns geben können. – Steh‘, heißt es, nicht: lass` Dich stellen!
6. Kannst Du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Wahrheit, Mäßigung, Tapferkeit oder mit einem Wort, als den Zustand der Seele, wo Du in Allein – was eine Sache der Vernunft und Selbstbestimmung ist – mit Dir selbst, in dem aber, was ohne Dich geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist? Kannst Du, sage ich, etwas entdecken, das noch besser ist als dies, so wende Dich dem mit ganzer Seele zu und freue Dich, dass Du das Beste aufgefunden hast. Es sollte aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in Dir wohnenden Gott, der Deine Begierden sich untertänig zu machen weiß, der die Gedanken prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen sucht, und der sich selbst den Göttern unterwirft und für das Wohl der Menschen Sorge trägt. Solltest Du finden, dass gegen dieses alles andere gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und lass in Deine Seele nichts eindringen, was, wenn es Dich einmal angezogen, an der ungeteilten Pflege jenes herrlichen Schatzes, Deines Eigentums, Dich hindert. Denn diesem Gute, dem Höchsten nach Wesen und Wirkung, irgendetwas anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichtum, Genuss an die Seite setzen zu wollen, wäre Torheit, weil uns all dieses, selbst wenn wir es nur ein wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in Beschlag nimmt und verführt. Darum sage ich, man solle einfach und unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch immer zugleich das Zuträgliche, sei es deswegen, dass es uns gut ansteht als denkenden oder als empfindenden Wesen. Finden, wir nun Etwas, das uns als Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir es festhalten und pflegen. Ist es aber nur unserem Empfinden vereinbar, so haben wir es mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hinzunehmen, und nur dafür zu sorgen, dass wir uns unser gesundes Urteil bewahren und fortgesetzt die Dinge gehörig prüfen. –
7. Bilde Dir nie ein, dass etwas gut für Dich sein könnte, was Dich nötigt, irgendwann einmal die Treue zu brechen, die Scham hintanzusetzen, jemanden zu hassen, argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, Dich zu verstellen oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Türen braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren kultische Würdigung jederzeit die erste Rolle spielen lässt, wird nie zu einer Tragödie Anlass geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder große Gesellschaft suchen, weder auf der Jagd noch auf der Flucht sein, und er wird leben im höchsten Sinne des Worts. Ob seine Seele auf lange oder kurze Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde, auch wenn er bald scheiden müsste, dazu ganz ebenso sich auf den Weg machen, wie wenn es gälte, irgendetwas anderes mit Anstand und mit edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durch das ganze Leben Sorge trägt, ist nur das, dass seine Seele sich stets in einem Zustande befinde, der einem in Bezug auf das Zusammenleben mit andern, angewiesenen vernünftigen Wesen geziemt.
8. In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden und so gehörig geläutert ist, findet man nun auch jene Wunden und Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch nichts Abstoßendes; ihn drückt keine Schuld und Nichts, was ihn zu Heimlichkeiten nötigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich »vollendet«, wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von andern oft nur mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Dramas, dass er ein Tragischer sei, noch wie das Stück geendet hat.
9. Was die Fähigkeit zu urteilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so musst Du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten, dass sich in Deiner Seele irgendeine Ansicht festsetze, welche widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugetan und den Göttern gehorsam.
10. Alles Übrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht völlig hin. Dabei bleibe man sich bewusst, dass jeder eigentlich nur dem gegenwärtigen Augenblicke lebe. Denn alles Übrige ist entweder durchlebt oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist es, was jeder lebt, und ein Kleines, wo er lebt – das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, den er hinterlässt, sei es auch der Größte, damit er sich forterbe in der Kette dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn den, der längst vor ihnen gestorben!
11. Den aufgestellten Maximen ist aber noch eine hinzuzufügen. Von jedem Gegenstande, der sich Deinem Nachdenken darbietet, suche Dir stets einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so dass Du weißt, was er an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit Du ihn selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst. Denn nichts erzeugt in dem Grade hohen Sinn und edle Denkungsart, als wenn man imstande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, dass man bei sich überlegt, in welchem Zusammenhang sie erscheinen und welche Stelle sie in demselben einnehmen, welchen Wert sie für das Ganze haben und was sie dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft verhalten; dass man weiß, was man jedes Mal vor sich hat, von wo es sich überliefert hat und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelnd oder vertrauensvoll, sich hingebend oder in sich selbst ruhend; so dass man von jedem Einzelnen sagen muss, entweder es kommt von Gott oder es ist ein Stück jenes großen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt, oder endlich, dass es von einem unsrer Genossen und Brüder kommt, der nicht gewusst hat, was naturgemäß ist. Du aber weißt es, und darum begegnest Du ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe und Gerechtigkeit. Und auch in den gleichgültigen Dingen zeigst Du ein ihrem Wert entsprechendes Verhalten.
12. Wenn Du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was Dir zu tun gerade obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe tätig bist, ohne dass Dich ein anderer Gedanke dabei leitet, als der, Dein Inneres rein zu erhalten, als solltest Du bald Deinen Geist aufgeben, so ist es recht. Wenn Du Dich auf diese Weise zusammennimmst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern es Dir genügen lässt, an der Dir von Natur aus zu Gebote stehenden Energie und an der Wahrhaftigkeit, die aus jedem Deiner Worte hervorleuchten muss, so wirst Du ein glückliches Leben führen. Und ich wüsste nicht, wer Dich daran hindern sollte.
13. Wie die Ärzte zu raschem Kurieren stets ihre Instrumente und Eisen zur Hand haben, so musst Du zum Zwecke der Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit Du in allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie einer, der sich des Zusammenhanges beider bewusst ist. Denn Menschliches lässt sich ohne Beziehung auf Göttliches ebenso wenig richtig behandeln als umgekehrt.
14. Hör endlich auf, Dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu denken, dass Du dazu kommst, was Du Dir für spätere Zeiten Deines Lebens vorbehalten hattest, dies und jenes zu treiben und zu lesen und wieder hervorzusuchen. Darum gib solche törichte Pläne auf, und wenn Du Dich selber lieb hast, schaffe Dir – noch vermagst Du es – eiligst die Hilfe, derer Du bedarfst!
15. In manchem Wort, das unbedeutend scheint, liegt oft ein tieferer Sinn. Wie Mancher sagt: »Ich will doch sehen, was es gibt«, und denkt nicht daran, dass es dazu eines anderen Schauens bedarf, als des der Augen.
16. Leib, Seele, Geist – das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere Haustiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden Tiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein Nero; in allem sich vom dem Geiste, was vorteilhaft scheint, leiten zu lassen, ist auch die Sache solcher, welche das Dasein der Götter leugnen, welche das Vaterland verraten, welche die schändlichsten Dinge tun, sobald es nur niemand sieht. Wenn insofern also jenes etwas allen Gemeinsames ist, so bleibt als das dem Guten Eigentümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal Bestimmte willkommen zu heißen, das Heiligtum in seiner Brust nicht zu entweihen, sich nicht durch die Mengen der Gedanken zu verwirren, sondern im Gleichmaß zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, nichts zu reden wider die Wahrheit und nichts zu tun wider die Gerechtigkeit. Und dass man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemutes Leben führt, daran sollte eigentlich niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb doch keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.