Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Hüben und Drüben . Von Karl Kraus .

15. Februar 2013 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Als im Herbst 1932 bei den Reichstagswahlen über 100 Sitze an die Nationalsozialisten fielen, deren Wahnwitzigkeit Karl Kraus immer wieder in der Fackel  aufgezeigt hatte, waren die Politiker in Österreich  und Deutschland, insbesondere die Sozialdemokratie als bedeutendstes Gegengewicht nicht in der Lage, der braunen Gefahr wirksam  zu trotzen, zumal die Kommunisten sich seit 1928 abgewandt hatten. Spätestens Potempa hätte sie aufwecken müssen. Aber die notwendige „Einheitsfront“ gegen Hitler kam nicht zustande. Karl  Kraus war kein Politiker und vertrat gerade  deshalb durchaus politisch und unbedingt  die Sache einer Menschheit, deren  Bedrohung durch die braune Flut immer deutlicher Gestalt annahm, die Gestalt  eines von ihm befürchteten  neuen Walpurgisnacht und eines großen  Krieges. Man  darf zu dem Wirken der Sozialdemokratie gewiss Meinung anderer sein. Fakt bleibt für mich, dass sie  Hitler nicht ernst genug nahm, wäre sie ansonsten doch  jeden Pakt auch mit  bürgerlichen Parteien eingegangen, um Hitler zu verhindern. In seiner berühmten Rede „Hüben und Drüben“  spiegelt sich die Enttäuschung über den fehlenden Widerstand und wirkt wie ein Abgesang auf eine Sozialdemokratie, die nur ein halbes Jahr später in Deutschland aufhören wird zu existieren.  Karl Kraus  hellsichtige  Analyse mit unverblümten Worten zu den Nazis verdient auch heute noch größte Aufmerksamkeit.  Als ihm 1933 nach der Machtergreifung, wie er schrieb, zu Hitler nichts mehr einfiel, war es das Eingeständnis, dass alle seine Warnungen, das Wort also, den Verderber nicht hatten aufhalten können,  dass es nun zu spät war. ( W.K.Nordenham)

DIE FACKEL

Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR

Hüben und Drüben

Gesprochen am 29. September 1932

… da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins.

… da obsiegte hüben und drüben das Gefühl,  daß Österreich ein Teil Deutschlands ist.

… Nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

… treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben ….

Und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wär’ — an  deren Erschaffung ja der Sozialdemokratie, hüben und drüben, das Hauptverdienst gebührt —:  wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist. Ohne den geringsten Anspruch der Möglichkeit, solche Klarstellung an ein Forum heranzubringen, worin etwas von den beklagenswerten Massen Platz hätte (ohne es zu wünschen, weil ja an den Fristgedanken des Bonzendaseins leider auch der letzte sozialpolitische Bettel geknüpft ist, den das Bürgertum gewährt) — wird es doch nachgerade unabweislich, an eine kleine Schar wohlmeinender und gutgläubiger Jugend eine Frage zu stellen. Sie betrifft nicht solche, die der Zugehörigkeit zu dieser Partei lediglich den Sinn erteilen, einen Rest sozialer Errungenschaft außerhalb ihrer nicht  verteidigen oder nicht beanspruchen zu können. Sie betrifft nur solche, die sich darüber hinaus noch immer mit einer seelischen Hoffnung gebunden fühlen. Diese Jugend ist es, der die Frage gilt: ob sie es noch immer für vorstellbar erachtet, die Zugehörigkeit zu dieser Partei und die Anhänglichkeit an den Namen eines bekannten »Einzelgängers« in veritabler Vereinigung zu umschließen. Ob sie nicht endlich merkt, daß sich zwischen ihm und dem, was er als getünchten und umso scheußlicheren Schmutz der Bürgerwelt erkennt, eine Unvereinbarkeit ergeben hat: anstoßend wider ein sittliches Fühlen und Denken, welches in der Sphäre geistiger Unerbittlichkeit etwas Widerstandskraft gegen Entmannung erworben haben muß und gegen Versuche, sich das logische Einmaleins hinwegdisziplinieren und hinwegpharisäern zu lassen. Erkennt sie nicht doch einmal, daß die politische Jammergestalt, der sie ihr Ideal anvertraut hat, ganz und gar, nein voll und ganz der abgetakelten Welt zugehört, der es widerstrebt? Wie es an jedem Tag zur Phrase entehrt wird von einem Macht- und Würdepopanz, der aus Urväterhausrat politischen Lugs und Trugs die Mittel schöpft, sich durch die Generation zu fristen; dem Disziplin als Schutzvorrichtung dient gegen die Erkenntnis seiner Hinfälligkeit; der den Glauben einem System der Zucht unterworfen hat, mit dem verglichen alle Satzung und Dienstvorschrift, aller Komment der Generalstäbe, Burschenschaften und Bürgerklubs eine Revolution der Geister bedeutet! Sieht sie es nicht, wie diese Obmänner eines Menschheitsvereins im Zwiespalt von Tat und Bekenntnis wohnen, lebend von dem, was sie verleugnen, Heuchler bis zum letzten Hauch! Wie ihre Taktik ganz die ist jener Selbstgerechtigkeit, die als oberste Instanz die deutsche Sache im Weltkrieg vertrat; ganz das beruhigte Gewissen: tue unrecht und scheue niemand; die Haltung der verfolgenden Unschuld; die Fähigkeit, Niederlagen zu erringen, die Wahrheit »umzugruppieren« für beide Berichte, beide Lügen: um hinter der Anklage, oft hinter der Fiktion feindlichen Tuns es selbst zu verüben! Hört sie nicht diesen Tonfall eines Zurechtlegertums für jede Halbschlächtigkeit und jede ganze Lumperei, von keinem andern Fonds bezogen als von der Phraseologie altliberaler Burschenherrlichkeit, ohne doch eine Faser von deren moralischem Inhalt zu bewähren? Spürt Jugend nicht die Vertröstung in dem Schwall von Sonnensängen, nicht den Verschub in der Parole »Wir sind jung, und das ist schön!«, die der leibhaftige Marasmus ungeduldigen Erben gewährt? Biedermanns Trug, ob derlei in der Region der Turniere leben möchte, wo man »mit offenem Visier« leitartikelt und »Ihr Herren!« sagt, oder ob’s »Hooruck — nach links« geht und statt des Kampfs die Beziehung zu einem Handwerk vorgetäuscht wird, bei dem sich die Proleten anstrengen und die Komptoiristen schmunzeln. Doch welches Geschäft immer zur Abgabe dürftiger Metaphern hilft — das einzig Wirkliche und Wahre: die Lüge, quillt dieser Geistigkeit aus allen Poren. Und die vorrätigste aller Metaphern, die von altersher verderblichste: die Fahne — die Fahne, die alle Farben spielt, mit jeder die Gesamtheit blendend, deren Einzelne unbewegt blieben oder abgewendet dem tödlichen Ziel, dem sie winkt — welcher Verein von Kriegern, Bürgern, Turnern hätte jemals den Plunder toller entfaltet als der der Weltumstürzer, wenn er der Jugend Sehnsucht und Ungeduld abgewöhnen möchte, den Drang zur Idee oder den Wunsch nach Kontrolle, damit sie nur ja nicht erfahre, daß mancherlei nicht so schön ist, als jung zu sein! Ganz Hohenzollern hat nicht so viel Verbrauch von Hurrah und Feindschaft in der Welt gehabt, wie die österreichische Sozialdemokratie von einer »Freundschaft«: daß deren erklügelte Harmonie durch keinen Mißton getrübt sei.

Alles Talmi, alles Mumpitz wie eh und je, Urväter Unrat, circenses für panem und vor allem für das geistige Brot. Surrogat und ältestes, um der Neugier etwas zu bieten; eingestandener Neid auf andere politische Firmen, die mit so etwas wie einem Ideal arbeiten. Altösterreichische Generale, die ausnahmsweise nicht giftig sind auf solche, die »halt a Urganisation hab’n«, sondern die sie selber haben, aber halt a Romantik braucheten. Das Hakenkreuz hat die der Entmenschtheit, jegliche Art von Gesundbetern hat eine, selbst ein so niedriges Geschäft wie die Psychoanalyse beruht auf etwas Seelischem: dem hysterischen Defekt, der zwar nicht geheilt, aber behandelt werden kann, das Heilgewerbe ermöglicht, Beschäftigung
und Unterhalt gewährt; denn jeder Patient kann Arzt sein, jeder Betrogene Betrüger: jeder Geführte Führer; ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode, entspricht als Neuro-Mantik einem Trieb, beschäftigt eine schäbige Phantasie und nährt seinen Mann. Bei der Sozialdemokratie frommt’s nur der herrschen den Klasse (der Bourgeoisie innerhalb und außerhalb der Partei); und den Geführten wird, im Leerlauf der Organisation, vor der ewigen Taktikerfrage: »Also was tan mr jetzt?« — bald die Antwort einfallen: »Jetzt tan uns die Füß’ weh«. Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt, der sich von der katholischen Springprozession, wo es drei Schritt vorwärts und zwei zurück geht, dadurch unterscheidet, daß es zwei vorwärts geht und drei zurück — eine Strapaz’, die schier unbegreiflich wäre, wenn sie nicht doch die Chance böte, einmal am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Und erfolgt abwechselnd der animierende Zuruf: Hoo—ruck!, oder jener taktische Zuspruch, der den Rückschritt als die Bedingung des Fortschritts klarmacht, so wird man noch müder. Aber die Visage dieser Anführung — welch unabsetzbare Posse eines Optimismus: »Morgen gehts uns gut«! Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts erlitt, indem er alles litt; wiewohl man von der Sozialdemokratie doch wieder nicht sagen könnte, sie habe keine Rente als den muntern Geist, um sich zu nähren und zu kleiden. In einem Erpresserblatt — und diese Partei war, wie es Stützen der Gesellschaft ziemt, Erpressern ausgeliefert, publizistischen und bureaukratischen — erschien durch lange Zeit immer dasselbe Cliché, das ein frohgemutes Bonzenantlitz zeigte; so verdächtig der Pranger, so richtig die Ansicht und so witzig die Beharrlichkeit der Reproduktion: Ausdruck des steten Würdebewußtseins mit vergnügten Sinnen, das von den Zinnen der Partei wie von einem Lug- und Truginsland auf alles Untertänige hinabschaut. Schmunzelnd wie jene ständige Aufschrift Arbeitersang, deren Frakturbuchstaben ausgewechselt werden mußten, weil man das s für ein f gehalten hatte. Charakterologisch taugt unsere Sozialdemokratie gewiß zur Vertretung dessen, was sie so gern deutsch-österreichische Schicksalsgemeinschaft nennt, indem sie nicht nur Disziplin mit Schlamperei vereinigt, sondern auch jene materialistische Geschichtsauffassung, die in dem Trost beruht: »Da kann man nix machen«, mit der Technik der Herrichtung auf den Glanz. Ihr kann wirklich nicht mehr viel geschehn, selbst wenn die Begleithandlung zu jedem Hooruck sich umgekehrt vollzieht — macht nichts, wir Pharisäer sind Schriftgelehrte und können von rechts nach links lesen. Und entschädigt denn nicht jeder Rückschritt durch die Pünktlichkeit, mit der er ein-trifft, wenn man ihn, die Uhr in der Hand, tiktaktisch auskalkuliert hat? Daß der Zeiger rückwärts geht, liegt an der Zeit, nicht an der Uhr, denn die ist ein Präzisionsapparat! So mag es wahr sein: diese Partei von Republikanern, welche auf den Trümmern einer Monarchie die Methode jenes Fortwurstelns erbeutet hat, das die Wartezeit bis zum Untergang ausfüllt — sie kann, vermöge programmatisch festgelegter Weitsichtigkeit (Rückschläge inbegriffen), länger bis zur Machtergreifung durchhalten als der Nationalsozialis-
mus, der sich durch Kompromisse erledigt und der die Gewalt, die er nicht ergreift und nicht einmal anwendet, verliert. Gleichwohl: der Zeitvertreib, den die Sozialdemokratie ihren Anhängern, bis zum Ziel, bis zum Ende garantiert, ist der tödlichste ihrer Rückschläge; solches wieder nach deutschem Kriegsmuster: Taktik der Zermürbung unser selbst! Die geistige Welt des Kommunismus — in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte — sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben. So widermenschlich alles Parteiische sein mag, an jeglichem hat die Natur, noch mit Blut oder Schlamm, ihren Anteil. In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den, meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. Ich verleugne mein Blut! Nicht fremder Spott, mit dem sie ihrer selbst spottet, nicht die Zutat der optimistischen Phrase, nicht Kampf noch Hoffnung ziemt Lemuren, die ihr eigenes Grab schaufeln. Sie ist in keinem Geist zu Hause — sie geht uns nichts mehran! Sie wirkt fort als die staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien: seit sie aus dem Weltbrand hervorging als der Treuhänder bürgerlicher Zuversicht, daß »alles gerettet« ist bis auf zwölf Millionen und ein großer Aufwand schmählich vertan. Nichts wöge der verlorne Krieg, hätte die Sozialdemokratie nicht den Frieden verloren! Sie hat ihr Verdienst überlebt — ihre Schuld wird sie überleben. Denn sie ist schuldig, daß alles, was wert war, daß es zugrundegeht, fortbesteht und in Phönixfarben prangt. Schuld ist sie an einem Umsturz, der so beschaffen war, daß ihn die Schieber mit der Formel quittierten: »geht in Ordnung«. Schuld ist sie — und der die »Letzten Tage der Menschheit« schrieb, sagt es —, daß gegenüber einer Demokratie, die jeglichen Aussatz der Vorkriegswelt zu tropischem Gedeihen fördert, das Leben in der Staatsform, die den Fluch entfesselt hat, rehabilitiert erscheint; daß uns ein kulturelles Heimweh ergreift nach dem verjährten Übel, und daß die politische Freiheit, vergewaltigt und verhöhnt von ihren Lippenbekennern, aufgehört hat, ein geistiges Problem zu sein! Alles ist geblieben, wie es war, alles ist schlechter geworden, als es war, doch so identisch links und rechts, daß es der Sozialdemokratie gewährt ist, durch den geringern Grad an bürgerlicher Korruption aufzufallen!

Aber der höhere an bürgerlicher Heuchelei ist beträchtlicher. Ihre Taten oder Nichttaten mögen sie gesellschaftsfähig gemacht haben — ihre Sprache entlarvt sie und bekehrt den Freund ihres Wollens zum Feind ihres Seins. Das ist der Gestus, der nicht wahr haben will, was er tut, und den Beweis als Lüge ächtet. Das ist die Taktik jenes Generalstabs, der gewußt hat, daß man am besten lügt, wenn man den, der die Wahrheit sagt, verdächtigt, und was mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören ist, so bestreitet, daß einem Hören und Sehen vergeht. Das ist der Tonfall, der eszurechtbringt, das, was man schwarz auf weiß besitzt, als Phantom wirken zu lassen. Von einer Kriegsschuld, die sich zur Not durch Ultimaten nachweisen ließe, durchhaltend bis zur Entrüstung über eine »Kriegsschuldlüge«, scheint er zu sagen: ich habe es zwar getan, aber ihr dürft es nicht  glauben, denn die andern haben es getan; wohl dem, der lügt und rein ist von Schuld und Fehle!  Das ist der speiwürdige Biedermannston, der für alle politische Witterung vorgesorgt hat; zu jeder Niederlage die Attitude bereit hat und, wenn es neunzig tote Proletarier zu vergessen gilt, die Einteilung in »Gefühlssozialisten« und »geschulte Marxisten«. Das ist die  unwiderrufbare Selbstgerechtigkeit, die anders denkt als handelt, anders politisiert als agitiert; Umzüge für den »Anschluß« veranstaltet, während sie bei anschlußfeindlichem Ausland um Schutz gegen die Heimwehr bittlich wird, und wieder mit dem Anschluß im Herzen, mit der Nation im Munde, Lausanne in Ordnung bringt. Das ist die Überzeugtheit, die doppelt besser hält, so daß die bürgerlichen Kostgänger einer Creditanstalt Lumpen sind und die Annoncen ihrer Generalversammlungen in einem Organ Lassalles die plausibelste Sache von der Welt; die vorne »den Kampf gegen die Krupniks« führt, wenn hinten »Krupnik voran« schreitet; die einem bußfertigen Lippowitz, seit er sich die Unzucht abkaufen ließ, das »Massageblatt« vorwirft, während der Redaktionsetat eines Schwesterorgans von eben den achtzig Wohltäterinnen bestritten wird, die jener dem Heimatgedanken zum Opfer brachte; die so schamfrei ist, einen »Kraus-Jargon« zu verwerfen, den sie durch ein Lustrum als die Sprache unantastbarer Wahrhaftigkeit verherrlicht hat und noch heute bestiehlt; die die »Sieghart-Husaren« höhnt, wiewohl ein General der Eigenen nach Siegharts Pfeife Shimmy tanzte; die den Mordbestien des Hakenkreuzes flucht, sie aber auch als »faszistische Söldner« brandmarkt, von deren Berliner Publizistik ein Redakteur der Arbeiter-Zeitung Sold bezog. (Und ihr Chef hatte, wie ich weiß, die Stirn,einem ehrlichen Sozialisten, der diese Schande   unerträglich fand, die Ehre abzusprechen! Aber ob er es nun noch wagen wird, einen Ton in dieser Richtung von sich zu geben oder das Nichtmucksen, auf das er verwiesen würde, vorzieht — der stärkste Fall von sozialdemokratischem Doppelverdienertum an Bürgerehre wird nicht unerörtert bleiben. Meinetwegen auch vor der bürgerlichen Justiz, für welche die  Hörer ihre Aufmerksamkeit schärfen mögen, damit ja nicht wieder einer bezeuge, ich hätte auch nur um ein Jota anders gesprochen als gedruckt! Es handelt sich, wie man erkannt haben dürfte, nomina sunt odiosa, um jenen Musikfachmann, der etwas von Mozart hat, nämlich einen Vornamen, und dessen Fähigkeit, aus revolutionärer Marschmusik für die Leserschaft Viktor Adlers den ehernen Tritt der Arbeiterbataillone herauszuhören, für die Leserschaft Hitlers aber nicht — dessen musikalisches Taktgefühl in so verschiedenen Lagen also von der bürgerlichen Justiz keineswegs als Beweis für »Schlieferlpraktiken«, von der Parteijustiz jedoch als honorig erkannt ward. Und es handelt sich um jene »Berliner Börsenzeitung«, deren nach jüdischem Kapital, also ganz unverdächtig klingender Name noch zu einer Zeit die Mitarbeit eines Sozialisten harmlos machen sollte, als ihr Chefredakteur schon als Wirtschaftsberater und Ressortminister des Hakenkreuzes ausersehen war. Der Tonfall hätte zu erwidern: Wie, ihr könnt glauben, daß sie ein Hakenkreuzlerblatt ist und daß ein Sozialdemokrat an so einem mitarbeitet? Erstens ist sie bloß ein Blatt des Finanzkapitals, zweitens arbeitet er nicht mit, denn drittens hat er soeben die Mitarbeit aufgegeben, weil es ein Hakenkreuzlerblatt ist und ein Sozialdemokrat so etwas nicht tut, ihr Herren, wenn man ihm draufkommt!) Die Fähigkeit zu allem, was dem andern verübelt wird, und die unanfechtbare Selbstverständlichkeit einer doppelten moralischen Buchhaltung —solcher Wesenszug könnte vielleicht die sonderbarste Erscheinung erklären helfen, die das klinische Bild dieses Staatslebens aufweist: des deutschnationalen Hangs unserer Sozialdemokratie, ihrer Zuneigung zu jenem folkloristisch interessanten Typus, der weder im Weltkrieg noch  später die Welt dahinbringen konnte, an seinem Wesen zu genesen. Rassenmäßig besteht keine Verbindung. Auffällig ist der Unterschied, daß es sich drüben um die neudeutsche Form einer Entartung handelt, die ursprünglicher Wert durch den zivilisatorischen Betrieb erleiden mußte, den er »letzten Endes« nicht verträgt; während hüben aus dem Fonds jener altfränkischen Vorstellungen geschöpft wird, die das einstige Deutschtum hinterlassen hat. Der Biedermannston unserer Sozialdemokratie, im Gaudeamus ältester Burschenherrlichkeit verankert, bedient sich für seinen Bedarf an Phrasen der Anregungen, die ein völkisches Leben bietet, das in dieser Fasson in Deutschland gar nicht mehr vorhanden ist. Aber weil es  auch eine Lage der Deutschen in Österreich insofern nicht mehr gibt, als sie sich nur noch in dieser befinden, so hat unsere Sozialdemokratie, die die Überlieferungen der weiland  Deutschen Fortschrittspartei hochhält sowie die Ideale, zu deren Vertretung die Großdeutschen zu schwach waren, einen Ersatz im »Anschluß« gefunden, der bekanntlich zugleich ein  Gedanke und eine Herzenssache ist, wenn er nicht eine handelspolitische Maßnahme bedeutet, vor deren Zwang auch jeden, der kein Österreicher von Beruf ist, das Schicksal behüten möge. Es mag wahr sein, daß Österreich von den Siegermächten über die Schuld hinaus verkürzt wurde, die sein Rest an dem Verbrechen der Monarchie trägt; aber sie haben es doch einigermaßen durch das Verbot, sich an Deutschlandanzuschließen, entschädigt. Unsere Sozialdemokratie, deren Gefühlsleben anders tendiert und deren Gedankenleere auf weite Sicht abgesteckt ist, muß dieses Verbot als Fessel einer Entwicklung empfinden, die sie andauernd im Auge hat. Und bei allem Geschick, mit dem sie sich im Bereich sozialer Tatsachen den »Gegebenheiten« anzupassen pflegt, die sie herbeigeführt hat, bedeutet eine außenpolitische Unmöglichkeit für sie kein Hindernis, von einer vorrätigen Phraseologie den Gebrauch zu machen, der eine romantische Ablenkung der enttäuschten Gefolgschaft ermöglicht. Darauf eben hat sie es abgesehen, weil man doch in einer Zeit, wo es mit dem Sozialen so schwer vorwärtsgeht und für ein primitiver gewordenes Geistesleben der Nation das Nationale seine Zugkraft hat, auch etwas von der Art bieten muß. Es gibt — und dies ist leider Gottes die stärkste aller Gegebenheiten, die wir herbeigeführt haben — es gibt Nationalsozialisten: da bleibt uns nichts übrig, als Sozialnationalisten zu werden, und uns zu gebärden, als wären wir die echten. Wäre in der Politik etwas wie eine Wirklichkeit vorhanden, so müßte man glauben, daß unser Sozialnationalismus, dessen Geistigkeit tief im Frankfurter Parlament wurzelt, einem nicht mehr zu bezähmenden Drang der proletarischen Seele gehorche. Aber es ist ein bis auf Widerruf freiwillig eröffneter Vulkan. Alles Sache der Zurechtlegung, die die Chancen der Konkurrenz abschätzt; und die Juden können nach Bedarf noch altfränkischer sein. Hat die Freiheit den Schillerkragen, so trägt die Brüderlichkeit den Kalabreser. Mehr als das: Marx nimmt Turnunterricht bei Vater Jahn, eine Spezialität, wie sie die Kulturgeschichte bisher kaum aufzuweisen hatte. Und nicht zu sagen, wieviel Elan unsere Taktiker entwickeln! So nüchtern sie im Sozialen Wellenberge als die Vorläufer von Wellentälern und viceersa abzuschätzen wissen, im Nationalen schwelgen sie, können nachempfinden, was in den Gemütern einer Trautenauer Stammtischrunde vor sich geht, und haben jedenfalls schon den Anschluß an die Sudeten vollzogen. Da kehren denn die Termini wieder und immer wieder, mit denen der Protest gegen die Zumutung, »Vasallen Frankreichs« zu werden, der Abscheu vor den »Französlingen« bekundet wird, und dergleichen treue Ladenhüter mehr, wahre Eckarts politischer Mythologie. Natürlich unbeschadet des Umstandes, daß wir die Nationalsozialisten wegen der gleichen, aber glaubhafteren Aversion gegen den »Erbfeind« verhöhnen (denn wir wollen lieber freie Pharisäer sein, als »eine Kolonie von Frankreich«!). Ich, der sich einbildet, zur deutschen Sprache annähernd so gute Beziehungen zu unterhalten wie ein Leitartikler der Arbeiter-Zeitung, ja sogar der schlechthin Deutschösterreichischen, habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich eben im Hinblick auf das Sprachgut einem Anschluß an schießende Koofmichs die Aussicht vorzöge, von Frankreich kolonisiert zu werden (von den »französischen Kapitalisten«, die wenigstens das sind, was sie scheinen, und trotzdem oder eben deshalb vielleicht menschenähnlicher sind als deutsche Arbeiterführer; mögen sie auch als Kapitalisten einer Internationale angehören, die leider Gottes besser zusammenhält als die andere). Der richtige Anschluß, den ich den deutschen Brudervölkern mein Lebtag gewünscht habe, wäre der an die Sprache, die sie im Munde führen. Deutsches Fühlen, sich selbst-berufend bis zum Nichts der Redensart — hätte es denn nicht in der Wiedereroberung des wahren »Bodens«, in dem es wurzelt, die einzige Politik zu suchen, die Kampf und Opfer aller Parteiung lohnt? Wenn es ein überirdisches Wesen gibt, das einer Nation das Geheimnis der tiefsten Sprache anvertraut hat, so muß es sich doch sterblich lachen über die tägliche Preisgabe durch sie und durch den üblen Haufen der Wortführer, die da sagen und vielleicht glauben, ihr Wollen wäre deutsch. Denn es ist ein Greuel und ein Spott vor dem Herrn, wie diese Sprache, deutlicher als jede andere, zu dem Nachteil wurde, den die Menschen vor den Tieren voraushaben!

Können aber die Kopfjäger, die seit dem Irrsinn des Weltkriegs auf die Reste von Menschheit losgelassen sind und es Politik nennen — können sie uns denn nicht umbringen, ohne uns vorher blöd zu machen? Soll es uns nicht mehr gewährt sein, die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Menschenwürde zu erkennen? Und wenn ich es mir gewähre, weil ich mich weder von berufenen noch von unberufenen Agenten der dementia nationalis blöd machen lasse, so frage ich: Was hat ein Konsumverein mit Pathos zu schaffen?  Und wäre es nicht    der menschlichen Vegetation  zuträglicher,  daß wir ökonomisch von Frankreich versorgt werden, als dieses kulturell von Newyork, Budapest und Berlin? S. P. D., K. P. D., D. N. P.,         N. S. D. A. P. — all diese Verschwörerformeln, die Gut und Blut kosten, all dies W. E. H. E. wollte ich freien Herzens, offenbachschen Sinnes, vom Hohn einer zeitlosen Musik  herabgewürdigt hören auf jenes A. B. C. der Natürlichkeit! Vaterlandsfrei bekennen, daß mir, wiewohl auch dort die Zeit das ihre getan hat, das Lebensklima unter der Formel s. v. p. begehrenswerter erscheint: dem s’il vous plait, das es noch gibt und das selbst den Ämtern im Verkehr mit den Menschen vorgeschrieben ist, der Redensart, die im Gegensatz zu unseren Phrasen eine Lebensart bedeutet! Und diese Formel, deren Äußerlichkeit doch auf den Inbegriff der Freiheit weist: vom Nebenmenschen zu verlangen, was ihm gefällt; dies Gebot, nach welchem sich jegliche Politik zu orientieren hätte — es hat durch allen zeitlichen Verfall die dortige Volksnatur widerstandsfähig erhalten: gegen die Freiheit nicht minder als gegen die Sklaverei. Solche Bewahrung vollzieht sich durch einen Nationalismus, den der deutsche Widerpart nicht nur falsch sieht, sondern auch zum falschen machen könnte, der sich aber immer noch in dem Bewußtsein sprachlichen Besitzes erfüllt und in der Verantwortung vor einer Sprache, zu der es freilich die Nation nicht so weit hat wie wir zu der unsern, mit der sie jedoch umso vertrauter ist, in der Schrift wie im täglichen Umgang, welchen sie gleichsam mit ihr selbst pflegt. Deshalb wird der, dem Politik nicht die letzte Beziehung zur  Menschheit kompromittieren könnte, die Harmonie zwischen dieser und dem Begriff eines »Patriotismus« am ehesten dort gegeben finden. Mein Drüben — wenn’s schon nicht mein Hüben sein kann — ist dort! Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt; wo man zu Hause ist, ist man es nicht immer; und bestimmt nicht dort, wo der Tod drauf steht, solches zu bekennen! Es ist die erbärmlichste aller Verlogenheiten, die das parteijournalistische Lager vorrätig hat, wenn Intelligenzler, deren einziger Vorzug bisher darin bestand, vaterlandslose Gesellen zu sein, bei dem Klang des Namens »Deutschland« zu bibbern beginnen, Verengung des Wamses durch Herzerweiterung vortäuschen und Gefühlstöne, die bodenständigen Höhlenbewohnern ziemen, mit Auskennerschaft praktizieren. Gewiß wäre eine Geistesbildung, die zur politischen Praxis als solcher taugt, im Grunde keiner Enttäuschung wert; aber daß Leute, die immerhin ein paar nationalökonomische Bücher gelesen und vielleicht sogar Marx verstanden haben, sich auf ein Gedankenleben reduzieren können, das in der Inschrift  eines Bierkrügels, eines Gablonzer Wandtellers, einer Schlummerrolle Platz hat; daß Sozialisten rot werden wie erhitzte Kegelbrüder ob der »Nichtswürdigkeit« einer Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre, während doch der einzige Sinn jeglichen Fortschritts, der einzigewahre Gewinn des Weltkriegs in der Ausrottung dieses unseligsten aller Ehrbegriffe  gelegen sein müßte — das wäre tragisch, wenn es wahr wäre, es ist aber nur zum Speien, weil es gelogen ist! Denn man vergegenwärtige sich bloß die Schmach, die Vasallen Bauer und Pollack als die Vertreter der besiegten deutschen Nation, womöglich durch ein Spalier spottlustiger Französlinge (worunter ich), im Triumph aufgeführt und dem Genossen Blum vorgeführt zu sehen. (Während die Anbiederung ans Völkische nur das bekannte Erlebnis nach sich ziehen könnte, das jenem Großstädter widerfuhr, der sich in der Tiroler Tracht wohl fühlte, einem ihm begegnenden Landmann frohgemut »Grüaß Gott!« zurief und die loyale Antwort bekam: »Grüaß Gott, Herr Jud!«) Was die Wortführer der österreichischen Sozialdemokratie immer wieder antreibt, uns mit diesem Gejodel zu überraschen und mit ihrer Sehnsucht nach »deutscher Freiheit«, »deutscher Demokratie« und sonstigen Herzenssachen zu amüsieren, mag vielleicht einer Erkenntnis des Freiheitskämpfers Heine entsprechen, der freilich zu französischen Kapitalisten ganz gute Beziehungen unterhielt: »Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen«. Sicher aber ist es Ersatz durch eine Ideologie, die den Anhängern die Wartezeit bis zur Verwirklichung des programmgemäßeren Ideals erträglich machen könnte: aus dem kümmerlichen Drang, es mit der Attraktion des echten Nationalsozialismus aufzunehmen. Manche sozialdemokratische Bestrebung hat ja ihr Motiv nicht an der Oberfläche, wo ihr Gedanke liegt; selbst die programmatische des Antiklerikalismus wurde mir einmal von Frank Wedekind auf eine ungeahnte Triebkraft zurückgeführt: die des moralbürgerlichen Anstoßes an der freiheitlichen Institution der Pfarrersköchin. Eine keinesfalls abzuweisende Erklärung, wenn man die Hypokrisie bedenkt, die die Partei durch Jahrzehntevor Problemen des Menschendaseins bewährt hat, die noch vitaler sind als die Brotfrage, bis endlich jüngere Kräfte und talentierte Lehrlinge der Fackel für etwas sexuelle Aufklärung der sozialdemokratischen Väter sorgten. Aber noch nachdem ich selbst meine Schriften vor Arbeiterauditorien vertreten hatte (immer möchte ich solches Publikum, nie wieder solche Veranstalter!), konnte ich von dem Ärgernis hören, das der Gebrauch des Wortes »Hure« bei den Familien von Parteifunktionären erregt hatte. Leichter haben sie sich mit der Einführung des bürgerlichen Sexualtratsches in die Gerichtssaalrubrik befreundet.

Eine weit populärere Tendenz jedoch als die Freiheit der Geschlechter dürfte bei ihnen noch heute die Vermittlung zwischen Stämmen sein, die Anschluß suchen. Die Christlichsozialen  — und mögen sie hinter der Abneigung gegen ein Hitlerdeutschland ihr eigenes Österreich verteidigen, ihre eigene politische Ambition verfolgen — haben natürlich ganz recht, jetzt gegen solchen Anschluß rühriger zu werden und aus ihrem Herzen nicht die Mördergrube zu machen, in die wir längst hineingefallen wären, wenn eben Frankreich dem  außenpolitischen Drang unserer Sudetensozialisten  (wie zuletzt der Zollvereinsmeierei) nicht Kandare angelegt hätte. Anstatt nun das Wort »Anschluß«, das ja im Annoncenteil des Zentralorgans vorläufig noch keine Sehnsucht befriedigt, im redaktionellen Teil höchstens für Bahnfahrten innerhalb des Bundes zu verwenden, unternehmen es jene, mit dem gewissen »Nun erst recht!« — mit der Zuversicht aller Bankrotteure, die, vom Weltkrieg bis zur Zollunion, eine Dummheit zum zweiten Male machen würden —, die  Herzenssache, die keine Gehirnsache ist, ausgerechnet jetzt aufs Tapet zu bringen. Nicht was die Christlichsozialen da in Versammlungen geäußert, sondern was ihnen die Sozialdemokraten zum deutschen Wahltag geantwortet haben — der ja inkeinem Fall der Entscheidung eine für den »Anschluß« sein konnte —: es ist aufhebenswert, wie jeder dieser Leitartikel, die der ausgeliehenen und ausgeleierten Walze einer deutschen Gemeinbürgschaft Kopftöne des Gemütes entlocken. Da ist jedes Wort unerlebter als der Handgriff des Setzers, den doch ein Gefühl des Grausens angeht, wenn sein Parteischreiber sich in Gefilden gütlich tut, die so weit von der Welt proletarischer Sorgen liegen. Verarbeitet wird die endlich unabwendbare Erkenntnis, daß der »Anschluß« an ein faszistisches Deutschland unmöglich wäre. Aber freilich, dort wo der Hund begraben ist, dort hat der Taktiker noch lange nicht die Hoffnung begraben, die er eben an diesem Grabe aufpflanzt. Heute also fällt die Entscheidung: entweder nämlich siegen die faszistischen Söldner (in welchem Fall einer unserer Redaktionsgenossen deutscher Offiziosus werden könnte, wenn ihn jene nicht von dem Gesinnungskonflikt befreien — was aber soeben wir getan haben, lange nachdem die Berliner Börsenzeitung als eine der drei nominiert war, die im dritten Reich zensurfrei erscheinen dürfen); entweder siegen sie also — was ihnen nach langjähriger Vorarbeit der deutschen Sozialdemokratie ja gelingen könnte — oder, man hat es erraten: sie unterliegen. Dieses Entweder — Oder enthält nicht nur alle Prophetie des Zurechtlegers, sondern auch einen Trost:

Was immer aber dieser Tag bringe —                                                                                                                                                                                                                                                                                                            es wird eine Entscheidung von geschichtlicher Größe sein.

Das ist wahr; eine Entscheidung nicht nur »für unser großes deutsches Volk«, sondern auch eine, die das Gesicht Europas usw. Und nun kommt, aus Wellenbergen und Wellentälern zusammengeballt, der ganze Gefühlsozean, der Hüben und Drüben verbindet. Aber nicht daß eine Barbarei einbrechen würde, die mit dem zu entbehrenden Pofel einer Prominentenkulturauch allen Wert, ja das werteschaffende Leben selbst begrübe; nicht daß dann der Untergang einer Freiheit, deren Begriff die Sozialdemokratie bloß zum Hohn gemacht hat, besiegelt wäre — nicht solches wird nun erörtert. Sondern was? Die dann noch bleibenden und die immer bleibenden Chancen des »Anschlusses«.

Als im Novembersturm von 1918 die republikanische Demokratie in
Deutschland und in Österreich obsiegte,

um mit den von ihr besiegten Mächten zu packeln und deren Erholung vorzubereiten,

da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins. Da
erlebte am 12. November 1918 — — da obsiegte hüben und
drüben das Gefühl — —

»Selbst die Klerikalsten der Klerikalen«, was taten sie da? Sie

haben es seither nie gewagt, ihre innere Gegnerschaft gegen den
Anschluß offen zu bekennen. Sie haben es nicht gewagt,
bis — — Sie haben es nicht gewagt, bis — — Sie haben
es nicht gewagt, bis — — Jetzt aber wittern unsere
Schwarzgelben wieder —

na was läßt man den Gegner in solchem Fall wittern?

Morgenluft.

Seitdem nämlich die Phraseure sämtlicher Parteien sich des Leitartikels bedienen, werden die Gespenster, die selbstverständlich immer nur im feindlichen Lager umgehen, am Morgen aktiv, während es doch zu den verbrieften Lebensgewohnheiten von Gespenstern gehört, sich zur Ruhe zu begeben, sobald sie Morgenluft wittern. Diese verkehrte Lebensweise haben sie mit mir gemeinsam, der aber noch rasch den Leitartikel durchfliegt und, sooft er das mißverstandene Zitat findet, mit einem beruhigten »Schon faul!« sich schlafen legt. Auf diese  Art nehme ich Kenntnis davon, daß abwechselnd die »Marxisten« und die »Antimarxisten« Morgenluft wittern und einander wittern lassen. Aber die klerikalen Gespenstersind eben »jetzt« aktiv, und wenn sie es bisher viermal nicht gewagt haben, so müssen sie jetzt doch mindestens fünfmal etwas unternehmen. Da wären also zuerst die Unbilden jener Witterung (oder vielmehr die Unbildung jenes Witterns); und dann gehts los:

Jetzt fühlen sie: ein Deutschland, das seine Bürger wieder zu Untertanen der ostpreußischen Barone erniedrigt, verliert seine Anziehungskraft. Jetzt jubelt das christlichsoziale Hauptorgan — —   Jetzt spielt Herr Kunschak — — Jetzt erklärt Herr Dr. Aigner — —

Aber ganz mit Recht, da eben jetzt die ostpreußischen Barone gefährlicher sind als die französischen Kapitalisten, geschieht das alles jetzt, während die Sozialdemokraten sich mit ihrer Anschlußdummheit schon immer hervorgewagt haben. Ist es nicht, als ob sie »jetzt« dem Gegner die eigene Einsicht ankreiden wollten? Nein, pharisäischer, ihm die eigene Blamage vorwürfen?

Oh, wir wissen sehr genau, welch erbärmliche Heuchelei darin steckt,

nämlich immer in dem, was der Gegner tut. Nun wird diesem noch ein fehlender »Trennungsstrich« entgegengehalten, und dann heißt es nur dreimal:

die Partei der Herren Vaugoin und Rintelen, die Partei, die — —
die Partei, die — —

»Aber so erbärmlich die Heuchelei sein mag«, die solcher Tonfall überzeugend dartut — das Zentralorgan muß gestehen, und zwar bloß zweimal: daß diese »Wendung«, die der Sozialdemokratie offenbar unverhofft kommt, »doch eine eindringliche Lehre« ist. Immerhin hat nämlich »die Partei, die« recht, daß sie sich klerikal, wie sie ist, jetzt vor dem Anschluß zu bekreuzigen wagt. Die Begründung der Aversion mag den Sozialdemokraten verdächtig sein — daß diese endlich laut wird, ist ersprießlich.  Die eindringliche Lehre, die selbst jene  empfangen, besteht also in der Erkenntnis:

wie jeder Sieg der Reaktion in Deutschland die Anziehungskraft   Deutschlands dermaßen schwächt,  daß die, die ihre innere Feindschaft gegen die deutsche Einheit aus Furcht vor der öffentlichen Meinung ein Jahrzehnt lang zähneknirschend verbergen mußten, sie jetzt offen zu bekennen wagen können!

Das immerhin beträchtliche Fazit wäre, daß eine durch Leitartikel nicht nur blöd, sondern auch feig gemachte Öffentlichkeit aufgerüttelt wurde, nachdem sie des kompletten Ausbruchs eines allzeit drohenden nationalen Irrsinns bedurft hat, um dessen Anziehungskraft geschwächt zu finden. Die Nibelungentreue, mit der sie sich aushelfen, hat sich ja öfter in einem  gegenseitigen Opfer des Intellekts bewährt, vorbildlich im Jahre des Unheils 1914, als der große Blutsbruder in schimmernder Wehr einem Kadaver sekundierte. Dieser mußte nur den entsprechenden Gehorsam leisten und durchhalten, solange jenem beliebte, auf verlorenem Posten auszuharren. Man erinnert sich noch der grausigen Metapher von dem »Irrsinnigen auf dem Einspännergaul«, den er als Schlachtroß antrieb. Nach solcher Tour, in solchem Zustand sollen wir uns nun »anschließen«, der ärmste aller Klepper sucht seinen Herrn,  nachdem der imperialistische Wahnwitz dem weit tolleren Platz gemacht hat — diesem Produkt eines faulen Friedens nach einem verpfuschten Krieg, der mit Emblemen begonnen und mit Reparationen beendet wurde: statt mit einem Strafgericht an den Schuldigen mit einer Pfändung ihrer Opfer. Zwischen solchen Siegern und solchen Sozialdemokraten gewann die  unbesiegliche Denkart, die sich nie für besiegt halten könnte, Nahrung. Während hüben ein gutartiges Volk das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben — wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave! — nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat. Vor einer Entscheidung, die der Ausgang der Wahlen bestenfalls verzögern konnte, muß selbst die österreichische Sozialdemokratie eine Chimäre aufs Eis legen.

Aber was drüben zum Blutrausch wird, bleibt hüben ein Hirngespinst; gläubiger als »die Klerikalsten der Klerikalen«, die sich schließlich mit dem, was Gott gegeben und Gott genommen hat, abfinden, faßt man die »Gegebenheiten«, die Genommenheiten, als Unterpfand des Schicksals auf und weiß noch hier einem fatalistischen »Obzwar« ein optimistisches »Und wenn schon« entgegenzusetzen. Gewiß, die Anziehungskraft Deutschlands ist ausnahmsweise derzeit geschwächt:

Wir aber denken anders.

Nicht sehr tief, aber anders. Denn was bedeutet drüben ein Jahrzehnt Bürgerkrieg gegenüber den Äonen der Entwicklung, in denen wir hüben denken? Die »deutschösterreichische« Sozialdemokratie (welche sich so nennt) hat sich »immer als ein abgesondertes Korps der großen Armee des deutschen Sozialismus gefühlt«. Das ist aber nicht etwa eine Anspielung darauf, daß diese Armee 1914 den Fahnen Wilhelms, des Eroberers, sondern daß sie »Lassalles großen Worten« gefolgt ist, die »auch die österreichischen Arbeiter geweckt« haben. Zwar nicht so sehr, daß sie den Widerspruch zwischen Lassalles großen Worten über die Annoncenpresse und den großen Annoncen Krupniks bemerkt hätten. Doch als Krieg zwischen Preußen und Österreich war, »haben die Wiener Arbeiter Wilhelm Liebknecht zugejubelt«.  Nicht mehr später, als er in der Fackel die Wahrheit über die falschen Freiheitskämpfer schrieb. Aber 

nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

Drüben und hüben ist eine Abwechslung; doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müßte sie ganz ebenso die österreichische und die  französische Arbeiterklasse vereinen. Und welche Wendung durch Gottes Fügung läßt uns Materialisten an ein Geschick glauben, das wir doch bisher nur von der Seite des Ungeschicks kennen gelernt haben? Nun kommt die abgetakelte Redensart, daß der Sozialismus nur »werden« kann »in größerer, durch Volkszahl und Wirtschaftskraft und räumliche Ausdehnung selbständigerer Gemeinschaft«. Das wäre ja sogar bis zu der Erfüllung des Wunsches richtig, daß sich die Proletarier aller Länder vereinigen mögen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel dürfte der nationale Vorspann eher hinderlich sein, indem er die Nationalisierung der anderen Proletarier, welche der Anschluß nicht umfaßt, fördern könnte. Doch da wir ja anders  denken, bedarf es nur noch eines Wellenberges der Entwicklung, damit »unser Boden« ein Teil »des großen, freien Deutschland« sei, »des Deutschland der Arbeiter«, welches das  »Deutschland von morgen oder übermorgen« sein wird. (Sagen wir vorsichtshalber von übermorgen.)

Denn wir kennen die deutsche Arbeiterklasse. Sie war noch jung und schwach, als Bismarck sie vor einem halben Jahrhundert mit dem Sozialistengesetz zerschmettern wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Bismarck ist tot, und die Deutsche Sozialdemokratie lebt!

Wir denken wirklich anders. Denn anderen könnte etwa einfallen: Lassalle ist tot und die Deutsche Reaktion lebt! Es könnte ihnen sogar einfallen, daß eben das, was Bismarck mit dem Sozialistengesetz mißlungen ist, einem preußischen Leutnant mit drei Mann Reichswehr gelang, von denen die Machthaberder deutschen Arbeiterklasse sich widerstandslos jeder weitern amtlichen Strapaze entheben ließen. Aber uns Volksgenossen ficht dergleichen nicht an; und wir denken auch insofern anders, als wir gleich darauf den Hitler wegen des  Arguments verhöhnen, daß er Hindenburg überleben werde. »Eine politische Konzeption von erstaunlicher Genialität«, spotten wir da. Denn wir meinen es doch metaphysisch. Und mag es offenbar sein, daß die Sozialdemokratie älter als Bismarck wurde, wir können sie auch anders  messen:

Sie war noch ungleich schwächer als heute, als Wilhelm Hohenzollern sie vernichten wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Wilhelm ist in Verbannung und die Deutsche Sozialdemokratie lebt und kämpft!

Ob man das ein Leben und gar ein Kämpfen nennen kann, mag dahingestellt bleiben; es möchte kein Hund so länger leben und kämpfen. Aber der ‚Vorwärts‘, der ja nicht immer lügt, meldet beharrlich, daß Wilhelm demnächst aus der Verbannung heimkehren werde. (Um Pate zu stehn, wenn der Sohn Reichspräsident wird.) Sei’s drum, ihr Herren — »was immer der heutige Tag bringe und was immer die nächsten Jahre bringen mögen« (Morgen- oder Übermorgenluft wittern wir also nicht): die Deutsche Sozialdemokratie wird »schließlich doch sieghaft die Fesseln brechen!« Wie wird das geschehen? Sehr einfach, durch Unwiderstehlichkeit:

Man löse ihre Organisationen auf — morgen muß doch die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln.

Das nennt man Fesseln brechen! Da lachen die Rebhühner der ostpreußischen Barone, und diese sagen, es sei zum Schießen. Welch ein Anders-Gedanke! Welche Vorstellung von der Gottgewolltheit einer politischen Macht, die sogar noch mit dem Verzicht auf den Generalstreik imponiert! Als ob es Hindenburg oder Hitler verdrießen würde, daß die Arbeiter in die Fabrik gehen und daß man keine Streikbrecher brauchen wird. Als ob es nicht ihr Triumph wäre, daß nur noch solche Sirene und nicht mehr die parteiamtliche die Arbeiter versammelt. Das ist ja noch größer als der Stolz auf die Abbruchsparole von 1927!  Man erinnert sich vielleicht, wie exakt damals alles ging: Ein Ruck — schon war die Arbeit nieder gelegt; wieder ein Ruck — und schon war sie wieder aufgenommen! Wohlan! Wie klaglos der Apparat der Niederlagen funktioniert — ein Griff ein Gfrett —; und wie wir, beneidet von Bruderparteien, im Rückschritt vorangehen, das rechtfertigt schon ein erhöhtes Selbstbewußtsein, vollends wenn es unmöglich erscheint, noch mehr abzuwirtschaften. Und nichts ist dieser Genügsamkeit
unerschwinglich, die generalstäblerisch Pech in pures Gold verwandelt und aus dem unerschöpflichen Born der Selbstgerechtigkeit Beruhigung spendet; je größer die Verluste, umso klingender das Kleingeld, das ihr herauskommt; es fehlt nur noch, daß man bei erklärter Pleite »heißa« sagt. Wahrlich ein Seelenleben, das den Hang zum Anschluß beglaubigen könnte! Die Gewißheit, daß die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln wird, nachdem man sie entrechtet hat, als Raumgewinn zu imaginieren: solche Verzückung taktischer Nüchternheit ist selten. Man denke, hier wird nicht etwa das Wellental als Gewähr des Wellenberges, sondern dieser selbst zum Greifen vorgestellt. Denn nun folgt Konkretes. Verheißung — heißa — des gelobten Landes, das, wenn erst die Arbeiter zu Paaren und in die Fabrik getrieben sind, endlich betreten sein wird. Nun reißt es den Seher der Entwicklung zu einer Vision hin, die wohl das Stärksteist, was entsagende Größe einer dennoch ungebeugten Parteimacht bisher über sich gebracht hat.
Wortwörtlich:

Man unterdrücke ihre Presse — im Fabriksaal raunt doch ein Arbeiter dem andern die Botschaft des Sozialismus zu.

Ja! Und sogar die Verachtung der Presse, die sie dann nicht mehr haben! Und ihrer pensionierten Anführer, denen es gelungen ist, den Sozialismus auf mündliche Überlieferung anzuweisen, nein auf Raunen, und die, wenn selbst dieses verboten wäre, allerletzten Endes stolz darauf sein werden, daß sie im Kampf gegen die Reaktion die Zollfreiheit der
Gedanken erobert haben! Denn, wortwörtlich:

Das Erbe eines halben Jahrhunderts sozialistischer Erziehung ist nicht auszurotten. Das gebildetste Volk Europas wird nicht ein Volk von Untertanen sein.

Daß es ein solches ist, daran hat leider das Maß der Bildung (falls es eben so sicher nachweisbar wäre) nicht das geringste ändern können. Aber weil selbst wir Andersdenkenden den Zustand hinnehmen müssen, dem wir mit deutschen Redensarten nicht abzuhelfen vermögen, so werden wir beherzt, indem wir zwar weichen, aber nicht wanken:

Ja, wir wollen dieses unser Österreich abriegeln gegen die braune Pest, die in Deutschland so verhängnisvoll die Köpfe verseucht.

(Des gebildetsten Volkes Europas!)

Ja, wir wollen alles daran setzen — —

(Nur zweimal.)

Aber deshalb bleiben wir trotzdem, was wir immer gewesen
sind — —:

nicht das, was man glaubt, sondern:

treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben — —                                                                                                                                                                    für das sozialistische Großdeutschland der Zukunft! Darum schlagen unsere Herzen so stürmisch mit an diesem Kampftag — —

Mit einem Wort, die Großdeutschen müßten vor Neid vergehen, wenn sie nicht eben darum schon vergangen wären, weil sie ihr Lebtag nicht über so viel deutsche Gesinnung mit so schlechtem Deutsch zu verfügen hatten.

Was nun soll man zu Sozialisten sagen, die diese Sprache sprechen können? Zu den Auffrischern einer Ideologie und Phraseologie, deren Verlust wir als die kulturelle Entschädigung in all dem Unheil zu erlangen hofften, das eben dieser Geistestypus über uns verhängt hat! Zu den Vertretern einer Internationale, die jenen Anschluß ans Vaterland propagieren, dessen Verbot wir als die einzige Wohltat einem schonungslosen Siegerwillen danken! Drüben, wo eine Menschenart haust, die die Freiheit nur als das Recht erfaßt hat, einander aufzufressen, und deren Wesen eher die Welt anstecken wird, bevor sich ihr Wahn, daß diese an ihm genesen werde, erfüllt — drüben ist die Hölle ausgespien; hüben, wo das Dasein auf das Problem herabgesetzt ist, wie es zu fristen sei, betrügt man das Volk mit der Erwartung des nationalen Paradieses.Aber eine Hemmung wird doch bemerkbar: aus der schwelgerischen Vorstellung von einer Schicksalsgemeinschaft, die für alle Zukunft zum Gedeih auch den Verderb garantiert, wird mit taktischer Klugheit, ja sogar mit Takt, die des Weltkriegs ausgeschaltet. Denn  da hat Hüben denn doch etwas vor Drüben voraus: vor der Region, wo man noch heute mit Pathos dem Vorwurf begegnet, nicht treu pariert zu haben, als Wilhelm, der in Verbannung  ist, das Schwert zog; wo dem leisesten Verdacht defaitistischen Denkens von anno dazumal der Veteranenstolz antwortet; und wo noch heute die Gesinnung vorrätig ist, der 1914 für alle Zeiten der Stempel aufgedrückt ward: jener Max Stempel, mit dem Bekenntnis einer Parteilyrik, die den Begriff »Vorwärts« als Parole für Gott und Vaterland ausgab. Und weil sich  damals Bebel auf Säbel reimte, so ist es kein Wunder, daß heute Hindenburg den Severing nicht brauchen kann. Aber die Tragik der Zeitläufte ist es dafür, daß solche Gestalten wie dieser noch zu Märtyrern werden können, und daß man vor der Gefahr, die allem Bessern droht, den Angriff gegen sie so »relativ« halten muß, wie sie sich selbst zeitlebens hielten, die um des Verrats an der eigenen Sache vom Feind gefällt wurden. Doch in seinem Angesicht noch darf es nicht ungesagt bleiben, daß gemeinsame Feindschaft nicht gemeinsame Sache bedeutet; daß man, vor dem Übel neben dem Üblen stehend, nicht die Gesinnung teilt, die er nicht hat. Nie könnte Kampfnot Zorn und Hohn entwaffnen gegen die Erbärmlichkeit, die sie bewirkt  hat. Es bleibe Raum für den Abstand vom Genossen! Braucht er ihn nicht, um auf die Knie zu fallen? Verrät er uns nicht im Augenblick der Entscheidung? Jener Severing, in  privatisiertem Zustand, hat — wenn ich dem Hakenkreuzlerblatt glauben darf, das mit unserer Sozialdemokratie den Beiträger teilte — er hat als Wahlkandidat vor deutschen Rundfunkhörern Klage geführt, daß die Sozialdemokratie als Partei, als Gesamtheit, nicht die Rechtswohltat jedes einzelnen Staatsbürgers genieße — sonst hätte sie längst den Schutz der  Justiz gegen den schimpflichsten aller Vorwürfe, der noch heute gegen sie von politischen Gegnern erhoben werde, gesucht und gefunden: 1914 nicht mit Begeisterung ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllt zu haben! Heißt das nicht Leben und Kämpfen, seit Wilhelm in Verbannung ist? Aber dieser Severing, an den wir uns anschließen möchten, hatte recht: noch nie  hat Verleumdung die Wahrheit schmählicher entstellt. Die Bruderpartei, mit der wir Schicksalsgemeinschaft pflegen, sie kann ihre vaterländische Ehre durch den Beweis der Gefühle rehabilitieren, die sie 1914 beseelt haben. Er ist gedruckt und lautet:

Und besonders unser Kaiser —
Ede, stier’ mich nicht so an,
Deshalb sag’ ich’s doch nicht leiser —
Ist ein echter deutscher Mann!

Hörte täglich August Bebel
Jetzt den Jubel in Berlin:
Mensch, er zöge gleich den Säbel,
Und so forsch, wie ich, für ihn.
—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —

Quatscht mir nicht vom Zukunftsstaate!
Republike her und hin!
Schöner ist’s, daß ich Soldate,
Und ein kaiserlicher, bin.

Und genügt nicht drüben noch heute der Ruf nach Waffen, der einem einzigen Zivilisten einfiel: ein Volk zu begeistern und die Führer einer Arbeiterpartei in das Lager der  ostpreußischen Barone zu treiben? Sie könnten wieder Landstürmer sein — und man wagt es, ihren Veteranenstolz zu kränken? Der Appell an deutsche Herzen, der Hinweis auf das Kriegsverdienst, der Anspruch einer Bürgerehre, die es sich nicht schmälern läßt, war das, was die deutsche Sozialdemokratie in die Wagschale zu werfen hatte, war die ultima ratio der  stärksten Abwirtschaftspartei am Kampftag — und unsere Herzen schlugen stürmisch mit.

Aber es ist nicht wahr! Ihr Schlag gehorcht nicht der Parole des papiernen Hirns, und der Ramsch nationalliberaler Geistigkeit wird dort nicht zu brauchen sein, wo Bestialität und Technik über Leben und Tod entscheiden. Hüben würde man das eigene Verdienst gegen den  Weltkrieg entehren, wollte man stürmisch mitmachen, wie drüben heute der Schlachtruhm reklamiert wird. Hüben hat doch immer hin vor Drüben ein Stück der antibürgerlichen Ehre voraus, nach dem Kopfsturz in die Raserei der Welt die sozialistische Besinnung gewonnen zu haben und den Mut zum Abscheu, wie er in den Angriffen gegen die Helfer der  Schlachtbank, gegen Militärrichter und Generalstäbler, sich bekundet hat: in der Tat eines Verstorbenen, dessen Gedenken dem schlechten Gewissen der Nachlebenden in den Ohren gellt, des Mannes, dessen Ausgang — und hier ist Schicksalsgemeinschaft — ähnlich, jedoch tragischer war als der jenes Wilhelm Liebknecht. (Denn hüben wurde Wahrheitsliebe von  dem Augenblick an, wo sie in Konflikt zu kommen drohte mit der Liebe zur Partei, davor bewahrt: ent-mündigt im eigentlichen Sinn des Wortes, entmannt und von der Übermacht in  jenen heillosen Wirbel getrieben einer Haßliebe gegen den, der mit um die Wahrheit wußte, und den er als Richtmaß der Wahrhaftigkeit eingesetzt hatte. Hüben wurde Festigkeit zerbrochen, Gradheit dazu gebracht, Krummes zu dulden, das sich nun für Existenz und Fortbestehn auf Pietät beruft. Dann und wann von der Stimme des Toten geweckt, an Gedenktagen, gibt das Schuldgefühl so stark sie wieder, als wäre sein Wirken bis zum Ende selbstherrlich gewesen. Doch dann und wann gedenkt auch Frechheit eines Erpressers, der nicht mehr da ist, als wäre es immer erlaubt gewesen, die Wahrheit über ihn auszusprechen, und nicht eben das Verbot die Ursache jenes seelischen Zusammenbruchs. Wenn die Wahrheit über eine Partei, der sich einer geopfert hat und der er sich opfern ließ, auch keinem letzten Willen zu entnehmen ist, wie er so tragischem Erlebnis gemäß wäre, so weiß ich doch um den letzten Willen, dessen er fähig war, als er im Begriffe stand, sich gegen die Partei und für die Wahrheit zu entscheiden: bevor ihn der Zwang ergriff und der Mut verließ, den er gegen Generalstäbler zu bewähren pflegte.)

Die Haltung im Krieg gegen den Krieg — seither, und insbesondere seit jenem Hingang, hundertmal wettgemacht durch Feigheit vor dem innern Feind, durch eine Haltung im Frieden, deren jeder Atemzug Kriegslüge ist —; das damals weithin sichtbare Verdienst war das Zeichen, in dem ich, in den Tagen trügerischer Hoffnung, hunderte junger Herzen einer Partei zugeführt habe, der ich nicht angehörte, die ich im Verhängnis politischer Übel für das kleinere nahm und die heute nichts ist als die zur Not und durch Not erhaltene Organisation einer Alterserscheinung. Solches hat damals mein Wort vermocht. Sollte es heute nicht mehr vermögen, jene der Sache, zu der sie als der Sache von damals stehen wollen, abzuwenden; sollte der Glaube an mich schwächer sein als der Glaube, den er geweckt hat, so würde es mir nicht über mich zu denken geben. Denn meiner Ohnmacht, auch vor dem wenigen, das ich vermocht habe, bin ich mir bewußt; ihr stolzes Gefühl ist in mein Wirken einbezogen, dem keine Wirkung zugehört. Diejenige, auf die ich stets am schnellsten verzichtet habe, ist die Verehrung solcher, deren Zwiespalt in ihr sich offenbart. Dagegen darf ich sagen, daß die Aussicht, von der Sozialdemokratie nicht mehr verehrt zu werden, etwas ist, was meinen Lebensabend verschönert, während der ihre vergällt wird durch den Zwang, noch hin und wieder von meinem Dasein Notiz zu nehmen, und durch den Krampf des Bestrebens, sich von der Bürgerwelt, die mich totschweigt, in meinen Augen vorteilhaft zu unterscheiden. Da ich den Unterschied gleichwohl nicht bemerke und zufrieden bin, in der sozialdemokratischen Presse ungenannt fortzuleben, so wäre vollends alles in Ordnung, wenn ich ihr auch noch diese Sorge abnehmen könnte. Nichts freilich, was immer die Sozialdemokratie mit mir vor hat, könnte sie, solange mir die Greuel des gesellschaftlichen Daseins noch Anreiz gewähren, davor schützen, von mir beachtet zu werden! Nichts mich verhindern, gegen sie wie gegen eine lästige Regierung, die kein Mißlingen vom Ruder bringt, zu Haß und Verachtung aufzureizen— ob sie nun als Partei, als Gesamtheit, mit Sack und Pack, den Schutz der bürgerlichen Justiz gegen Kränkung anrufen könnte oder stumm leiden müßte, wie sie stumm gelitten hat vor jenem, der die Macht hatte, von ihren Übeln zu schweigen. Was aber die betrifft, über  die sie selbst Macht hat, diejenigen, denen ich zum Anschluß an sie verholfen habe, so gehöre ich keineswegs zu der Sorte, die, stolz auf eine Dummheit, sie zum zweiten Male machen würde, und halte für eine solche auch die Bejahung des Hoffens, gegen die Übel einer Partei, die aus nichts anderm mehr besteht als Übeln, innerhalb ihrer wirken zu können. Trage ich  Schuld noch an solcher Betörung Gläubiger, so bin ich ihrer ledig, wenn ich ihnen gesagt habe, daß der Glaube nur durch die Abkehr von einer Kirche zu retten ist, die die Priester  entweiht haben. Wie sich die Treue zu diesen fortan mit der zu mir verbinden könnte, wäre ein Problem, das mir so lange Unbehagen schafft, als nicht da oder dort die Lösung erfolgt.  Nie würde es mir in den Sinn kommen, den reinlichen Austritt aus meiner schwachen Organisation, die nichts zu bieten hat als etwas geistige Nahrung und keine soziale oder gar  nationale Hoffnung, mit dem Wunsch zu belohnen, die, die ihn vollziehen, möge der Teufel holen — einer von denen, deren die Welt nun voll ist und an deren Erschaffung der Sozialdemokratie das Hauptverdienst gebührt. Drüben und hüben!


Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR