19. Mai 2014 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Leseempfehlung
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Die einzige eines höheren Menschen würdige Einstellung ist das beharrliche Festhalten an einer Tätigkeit, die er als nutzlos erkennt, das Unterwerfen unter eine Disziplin, von der er weiß, dass sie fruchtlos ist, und das rigorose Anwenden philosophischer und metaphysischer Denknormen, deren Bedeutungslosigkeit er erkannt hat.
Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe Fischer Taschenbuchverlag 2006
Das ist der vollständige Text der neunundachtzigsten Aufzeichnung. „Zitierer“ des gehobenen Boulevards wie etwa „Die Zeit-online“ vom 31. August 2006, beenden den Satz schon mal mit einem Punkt nach den Worten „nutzlos erkennt“, vermeiden so die nachfolgend geforderte Disziplin, verweigern sich erst recht der Rigorosität philosophischer Denknormen und verweisen mit der Verkürzung unabsichtlich, wenn auch durchaus wünschenswert, auf ihre eigene Bedeutungslosigkeit.
01. Juli 2013 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Leseempfehlung, Ringelnatz, Verdichtetes
„Joachim Ringelnatz (* 7. 8.1883 † 17.4.1934, eigentlich Hans Gustav Bötticher) war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler , der vor allem für humoristische Gedichte um die Kunstfigur Kuttel Daddeldu bekannt ist.“ So klingt das bei wikipedia. Damit wird jener vor nunmehr 130 Jahren Geborene vorgestellt, der eben weit mehr als „Daddeldu“ und vor allem Dichter war. Dies sei hier zum Geburtsjubiläum mit den folgenden Gedichten nachgewiesen und seine gesammelten Werke zur Lektüre empfohlen.
Kindersand
Das Schönste für Kinder ist Sand.
Ihn gibt´s immer reichlich,
Er rinnt unvergleichlich
zärtlich durch die Hand.
Weil man seine Nase behält,
wenn man auf ihn fällt –
ist ja so weich.
Kinderfinger fühlen,
wenn sie in ihm wühlen,
nichts und das Himmelreich.
Denn kein Kind lacht
über gemahlene Macht.
*
Vor einem Kleid
Karo ist in deinem Kleid,
eine ganze Masse
Karo-Asse.
Wieviel Karos ihr wohl seid
in dem Kleid? – Das Kleid ist nett.
Karos sind im armen Bett.
Nun, ich habe nicht gezählt,
wenn mich auch die Frage,
wieviel es wohl sind, doch quält.
(Immer wieder seh ich hin.)
Weil ich männlich bin,
Rock und Hose trage,
passt solch Muster nicht für mich.
Karo ist zu munter.
Aber ich bestaune dich,
fremdes Mädchen, hübsche Maid.
Karo ist in deinem Kleid.
Ist ein Coeur darunter?
*
Zu dir
Sie sprangen aus rasender Eisenbahn
und haben sich gar nicht weh getan.
Sie wanderten über Geleise,
und wenn ein Zug sie überfuhr,
dann knirschte nichts. Sie lachten nur,
und weiter ging die Reise.
Sie schritten durch eine steinerne Wand,
durch Stacheldrähte und Wüstenbrand,
durch Grenzverbote und Schranken
und durch ein vergehaltnes Gewehr;
durchzogen viele Meilen Meer –
meine Gedanken.
Ihr Kurs ging durch, ging nie vorbei.
Und als sie dich erreichten,
da zitterten sie und erbleichten
und fühlten sich doch unsagbar frei.
*
Ich habe dich so lieb!
Ich hab dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen schenken.
Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
leuchtet der Ginster so gut.
Vorbei – verjährt –
doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
ist leise.
Die Zeit entstellt
alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
an einem Sieb.
*
Und auf einmal steht es neben dir
Und auf einmal merkst du äußerlich:
wieviel Kummer zu dir kam,
wieviel Freundschaft leise von dir wich,
alles Lachen von dir nahm.
Fragst verwundert in die Tage.
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert deine Klage …
Du fragst niemanden mehr.
Lernst es endlich, dich zu fügen,
von den Sorgen gezähmt,
willst dich selber nicht belügen,
und erstickst es, was dich grämt.
Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
längst zu lang ausgedehnt. –
Und auf einmal –: Steht es neben dir,
an dich gelehnt –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.