Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Pro domo et mundo. Von Karl Kraus

03. Januar 2013 | Kategorie: Artikel

Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.

Die Fackel Nr. 300   1910   S. 17 -32

Pro domo et mundo

Die meisten Schreiber sind so unbescheiden, dass sie immer von der Sache sprechen, wenn sie von sich sprechen sollten.

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Ich habe es so oft erlebt, dass einer, der meine Meinung teilte, die größere Hälfte für sich behielt, dass ich jetzt gewitzt bin und den Leuten nur noch Gedanken anbiete.

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Die Sprache Mutter des Gedankens? Dieser kein Verdienst des Denkenden? O doch, er muss jene schwängern.

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Ein Werk der Sprache in eine andere Sprache übersetzt, heißt, dass einer ohne seine Haut über die Grenze kommt und drüben die Tracht des Landes anzieht.

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Man kann einen Leitartikel, aber kein Gedicht übersetzen. Denn man kann zwar nackt über die Grenze kommen, aber nicht ohne Haut, weil die im Gegensatz zum Kleid nicht nachwächst.

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Ein Edelmann deutscher Prosa erlässt ein Manifest demokratischen Denkens. In einem Almanach, den ein sozialpolitisches Komitee in Lausanne herausgibt, ist es erschienen, und Voltaire behält darin wieder einmal Recht gegen Goethe. Dieser ohne Menschlichkeit, sieht »aus der gespensterhaften Höhe, wo die deutschen Genien einander vielleicht verstehen, unbewegt auf sein unbewegtes Land hinab«.  Voltaires Stimme, noch in Zola lebendig, befeuert das Tempo der Freiheit und Wahrheit. Fanatiker singen auf dem Hügel von Valmy die Marseillaise, Goethe »wendet sich ab und verachtet«. Mit seinem Namen »decken faule Vergnüglinge ihr leeres Dasein«, es gibt keine Kultur ohne Menschlichkeit … Der Bekenner ist Heinrich Mann. Also hat Goethe selbst dem Börne die Hand geführt, als er sie gegen Goethe erhob. — Ich aber glaube, dass im Kunstwerk aufgespart ist, was die Unmittelbarkeit geistiger Energien vergeudet. Nicht die erste, sondern die letzte Wirkung der Kunst ist Menschlichkeit. Goethes Menschlichkeit ist eine Fernwirkung. Sterne gibt es, die nicht gesehen werden, solange sie sind. Ihr Licht hat einen weiten Weg, und längst erloschen leuchten sie der Erde. Sie sind den Nachtbummlern vertraut: was kann Goethe für die Ästheten? Es ist ihr Vorurteil, dass sie ohne sein Licht nicht nach Hause finden. Denn sie sind nirgend zu Hause und für sie ist die Kunst so wenig da, wie der Kampf für die Maulhelden. Auch der Ästhet ist zu feig zum Leben; aber der Künstler geht aus der Flucht vor dem Leben siegreich hervor. Der Ästhet ist ein Maulheld der Niederlagen; der Künstler steht ohne Anteil am Kampf. Er ist kein Mitgeher. Aber seine Sache ist es nicht, mit der Gegenwart zu gehen, da es doch Sache der Zukunft ist, mit ihm zu gehen. Und soll Heinrich Manns Prosa eine Marseillaise entfesseln, damit man Heinrich Manns Prosa nicht mehr hört?

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Es ist aber immer noch besser, dass die Künstler für die gute Sache, als dass die Journalisten für die schöne Linie eintreten.

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Wenn den Ästheten die Gebärde freut, mit der einer aus der Staatskasse fünf Millionen stiehlt, und er es öffentlich ausspricht, dass die Belustigung, die der Skandal den »paar Genießern« bringt, mehr wert sei als die Schadenssumme, so muss ihm gesagt werden: Wenn die Gebärde dieser Belustigung ein Kunstwerk ist, so sind wir nobel und es kommt uns auf eine Million mehr oder weniger, die der Staat verliert, nicht an. Wenn aber ein Leitartikel daraus wird, so erwacht unser soziales Gefühl und wir bewilligen nicht fünf Groschen für das Gaudium. Wird nämlich aus dem Staatsbankerott ein Kunstwerk, so macht die Welt ein Geschäft dabei. Im andern Fall spüren wirs im Haushalt und verdammen die populäre Ästhetik, welche die Diebe entschuldigt, ohne die Bestohlenen zu entschädigen.

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Die Idee, die unmittelbar übernommen und zur populären Meinung reduziert wird, ist eine Gefahr. Erst wenn die Revolutionäre hinter Schloss und Riegel sitzen, hat die Reaktion Gelegenheit, an der Entstofflichung der Idee zu arbeiten.

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Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.

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Es gibt ebenso Journalisten der Stimmung wie es Journalisten der Meinung gibt. Jene sind die Lyriker, die heute dem Publikum ins Ohr gehen. Sie möchten sich unserer Verachtung dadurch entziehen, dass sie schützend den Reim vorhalten. Aber da fassen wir sie erst. Denn sie wehren sich gegen den Verdacht, Diebe zu sein, durch den Beweis, dass sie Betrüger sind.

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Ein Original, dessen Nachahmer besser sind, ist keines.

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Ein Reichtum, der aus hundert Hintergründen fließt, erlaubt es der Presse, sich an hohen Feiertagen den Luxus der Literatur zu leisten. Wie fühlt sich diese, wenn sie als goldene Kette auf dem Annoncenbauch eines Protzen glänzen darf?

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Die Politik betrügt uns mit deutsch-österreichischen Sympathiewerten. Aber außer Trinksprüchen und Libretti gibt es nichts, was ein geistiges Einverständnis zwischen den Völkern bewiese. Diplomaten und Theateragenten sind um die Annäherung bemüht. Die draußen wissen denn auch von einem geheimnisvollen Reich, wo Itzig und Janosch den Ton angeben, und lieben uns für den Zuschuss von Husarenblut und Zigeunerliebe, den der Berliner Arbeitstag empfängt. Ein zwischen der Ringstraße und den Linden fluktuierendes Theaterjudentum bezeugt und vertritt unser Geistesleben vor Deutschland. Was sagt die Politik dazu, dass kein österreichisches Buch hinauskommt, wenn es nicht in Musik gesetzt ist? Die Wiener Provenienz ist so odios, dass man sie nur den Erzeugnissen des Schwachsinns und der Lumperei verzeiht. An diesen erkennt man wenigstens den Ursprung und gibt die Echtheit zu. Aber welch übermenschliche Anstrengung kostet es, einem Kolporteur österreichische Literatur als Geschenk aufzudrängen! Was sagt die Politik dazu, dass die ‚Fackel‘, die längst danach ringt, in Österreich nicht mehr notorisch zu sein, nach elf Jahren erst das zu werden beginnt, was sie ist: eine deutsche Tatsache?

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Die Zwischenaktsmusik verlangt nicht, dass man schweige, sie verlangt nicht, dass man höre, aber sie erlaubt, nicht zu hören, was gesprochen wird. Dummköpfe wollen sie abschaffen. Und sie ahnen nicht, wie sehr gerade sie ihrer bedürfen. Denn die einzige Kunst, vor der die Masse ein Urteil hat, ist die Kunst des Theaters. Aber eben nur die Masse. Wehe, wenn die Urteilssplitter im Zwischenakt gesammelt würden: sie ergäben kein Ganzes. Ohne die Zwischenaktsmusik könnten sich die einzelnen Dummköpfe vernehmlich machen, deren Meinung sich während des Spiels zum maßgebenden Eindruck und nach dem Spiel zum Applaus zusammenschließt. Die Zersplitterung zu verhindern, ist die Zwischenaktsmusik da, die im rechten Moment mit Tusch in die Dummheit einfällt. Auf die Qualität dieser Musik kommt es nicht an, nur auf das Geräusch. Die Zwischenaktsmusik dient dazu, das Lampenfieber des Publikums zu vertreiben. Ihre Gegner wollen sich selbst preisgeben.

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Wie ungemäß die Literatur dem Theater ist, zeigt die Inkongruenz von szenischem Apparat und der geistigen Geringfügigkeit seiner Anweisung:  — »im Hintergrund stürzt der Kampanile ein.« An den stärksten Leistungen der Bühne hat der Autor das kleinste Verdienst: ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde! (Wäre der Satz keine Dialogstelle, sondern eine szenische Bemerkung im Don Carlos, so würde man seine Richtigkeit erst erkennen.) Nun sind solche Taten dem Theater selbst nicht organisch. Aber hat der Autor vielleicht an der schauspielerischen Leistung höheren Anteil? Hundert Seiten Psychologie und Witz können verpuffen, bis endlich unter Applaus geschieht, was jener mit   den Worten vorgeschrieben hat: »geht rechts ab und bricht an der Tür schluchzend zusammen«.

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Wenn in einem Satz ein Druckfehler stehen geblieben ist und er gibt doch einen Sinn, so war der Satz kein Gedanke.

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Das Wort hat einen Feind, und das ist der Druck. Dass ein Gedanke dem Leser der Gegenwart
nicht verständlich ist, ist dem Gedanken organisch. Wenn er aber auch dem ferneren Leser nicht verständlich ist, so trägt eine falsche Lesart die Schuld. Ich glaube unbedingt, dass die Schwierigkeiten der großen Schriftsteller Druckfehler sind, die wir nicht mehr zu finden vermögen. Weil man bisher im Bann der journalistischen Kunstauffassung gemeint hat, die Sprache diene dazu, irgend etwas »auszudrücken«, so musste man auch glauben, dass Druckfehler nebensächliche Störungen seien, welche die Information des Lesers nicht verhindern können. Den Stoff könnten sie nicht durchlöchern, die Tendenz nicht durchbrechen, der Leser erfahre, was der Autor gemeint hat, und dieser sei ein Pedant oder ein auf die äußere Form bedachter Ästhet, wenn er mehr verlange. Sie wissen nichts von dem, was der Autor erlebt, ehe er zum Schreiben kommt; sie verstehen nichts von dem, was er im Schreiben erlebt: wie sollten sie etwas von dem ahnen, was sich zwischen Geschriebenem und Gelesenem ereignet? Dies Gebiet romantischer Gefahren, wo alle Beute des Gedankens wieder vom Zufall oder dem lauernden Intellekt der Mittelsperson abgenommen wird, ist unerforscht. Der Journalismus, dem dort aus einer freiwilligen Plattheit wenigstens eine unfreiwillige Drolligkeit entstehen mag, für die er dankbar sein sollte, spricht mit  scherzendem Vorwurf von einem Druckfehlerteufel. Aber solche Seelen fängt er nicht. Sie leisten ihm ihren Tribut, es kommt ihnen nicht drauf an, denn ihr Reichtum ist unverlierbar. Arm ist der Gedanke. Er hat oft nur ein Wort, nur einen Buchstaben, nur einen Beistrich. Eine Tendenz lebt, auch wenn der Teufel ihr ganzes Gehäuse davontrüge. Wenn er aber an eine Perspektive nur anstreift, dann hat er sie auch geholt.

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Das Zeichen der Künstlerschaft: Für sich aus dem Selbstverständlichen ein Problem machen und die Probleme der andern entscheiden; für andere wissen und sich selbst in die Hölle zweifeln; einen Diener fragen und einem Herrn antworten.

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Vom Künstler und dem Gedanken gelte das Nestroy’sche Wort: Ich hab’ einen Gefangenen gemacht und er lässt mich nicht mehr los.

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Es gibt eine Originalität aus Mangel, die nicht imstande ist, sich zur Banalität emporzuschwingen.

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Wer nicht Temperament hat, muss Ornament haben. Ich kenne einen Schriftsteller, der es sich nicht zutraut, das Wort »Skandal« hinzuschreiben, und der deshalb »Skandalum« sagen Muss. Denn es gehört mehr Kraft dazu, als er hat, um im gegebenen Augenblick das Wort »Skandal« zu sagen.

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Der längste Athem gehört zum Aphorismus.

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Er meint nicht mich. Aber seine Unfähigkeit, sich so auszudrücken, dass er mich nicht gemeint hat, ist doch ein Angriff gegen mich.

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Die Dorfbarbiere haben einen Apfel, den stecken sie allen Bauern ins Maul, wenns ans Balbieren geht. Die Zeitungen haben das Feuilleton.

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Auch hängt noch über mancher Bauerntafel ein Klumpen Zucker, an dem sie gemeinsam lecken. Ich möchte lieber dort eingeladen sein, als ein Konzert besuchen.

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Moderne Architektur ist das aus der richtigen Erkenntnis einer fehlenden Notwendigkeit erschaffene Überflüssige.

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Kultur kommt von Kolo, aber nicht auch von Moser.

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Die anderen sind Reißbrettkünstler. Loos ist der Architekt der tabula rasa.

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Kokoschka hat ein Porträt von mir gemacht. Schon möglich, dass mich die nicht erkennen werden, die mich kennen. Aber sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen.

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Der rechte Porträtmaler benützt sein Modell nicht anders als der schlechte Porträtmaler die Photographie seines Modells. Eine kleine Hilfe braucht man.

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Der Dummkopf, der an keinem Welträtsel vorübergehen kann, ohne entschuldigend zu bemerken, dass es seine unmaßgebliche Meinung sei, heimst das Lob der Bescheidenheit ein. Der Künstler, der seine Gedanken an einem Kanalgitter weidet, überhebt sich.

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Die Wissenschaft könnte sich nützlich machen. Der Schriftsteller braucht jedes ihrer Fächer, um daraus den Rohstoff seiner Bilder zu beziehen, und oft fehlt ihm ein Terminus, den er ahnt, aber nicht weiß. Nachschlagen ist umständlich, langweilig und lässt einen zu viel erfahren. Da müssten denn, wenn einer beim Schreiben ist, in den andern Zimmern der Wohnung solche Kerle sitzen, die auf ein Signal herbeieilen, wenn jener sie etwas fragen will. Man läutet einmal nach dem Historiker, zweimal nach dem Nationalökonomen, dreimal nach dem Hausknecht, der Medizin studiert hat, und etwa noch nach dem Talmudschüler, der auch das philosophische Rotwelsch beherrscht. Doch dürften sie alle nicht mehr sprechen als wonach sie gefragt werden, und hätten sich nach der Antwort sogleich wieder zu entfernen, weil ihre Nähe über die Leistung hinaus nicht anregt. Natürlich könnte man auf solche Hilfen überhaupt verzichten, und ein künstlerischer Vergleich behielte seinen Wert, auch wenn in seiner Bildung die Lücke der Bildung offen bliebe und einem Fachmann zu nachträglicher Rekrimination Anlass gäbe. Aber es wäre eine Möglichkeit, die Fachmänner des Verdrusses zu überheben und sie schon vorher einer ebenso nützlichen wie bravourösen Beschäftigung zuzuführen.

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Nach der Entdeckung des Nordpols und nachdem sich wieder einmal gezeigt hat, wie leichtfertig die Menschheit wissenschaftliche Verpflichtungen eingeht, hat sie es wohl verdient, wegen weltgerichtlich erhobenen Schwachsinns unter die Kuratel der Kirche gestellt zu werden.

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Und wenn die Erde erst ahnte, wie sich der Komet vor der Berührung mit ihr fürchtet!

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Die christliche Moral hat es am liebsten, dass die Trauer der Wollust vorangeht und diese ihr dann nicht folgt.

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Der Unterschied zwischen der alten und der neuen Seelenkunde ist der, dass die alte über jede Abweichung von der Norm sittlich entrüstet war und die neue der Minderwertigkeit zu einem Standesbewusstsein verholfen hat.

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Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf sexuelle Ursachen zurückführen mit Ausnahme ihrer Beschäftigung.

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Kinder psychoanalytischer Eltern welken früh. Als Säugling muss es zugeben, dass es beim Stuhlgang Wollustempfindungen habe. Später wird es gefragt, was ihm dazu einfällt, wenn es auf dem Weg zur Schule der Defäkation eines Pferdes beigewohnt hat. Man kann von Glück sagen, wenn so eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen Traum beichten kann, in dem er seine Mutter geschändet hat.

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Sie haben die Presse, sie haben die Börse, jetzt haben sie auch das Unterbewusstsein!

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Medizinischer Sinnspruch: Was den Vätern alte Hosen, sind den Söhnen die Neurosen.

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Die neue Seelenkunde hat es gewagt, in das Mysterium des Genies zu spucken. Wenn es bei Kleist und Lenau nicht sein Bewenden haben sollte, so werde ich Torwache halten und die medizinischen Hausierer, die neuestens überall ihr »Nichts zu behandeln?« vernehmen lassen, in die Niederungen weisen. Ihre Lehre möchte die Persönlichkeit verengen, nachdem sie die Grenzen der Unverantwortlichkeit erweitert hat. Solange das Geschäft private Praxis bleibt, mögen sich die Betroffenen wehren. Aber Kleist und Lenau werden wir aus der Ordination zurückziehen!

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Das wissen weder Mediziner noch Juristen: Dass es in der Erotik weder ein erweislich Wahres gibt, noch einen objektiven Befund. Dass uns kein Gutachten von dem Wert des Gegenstands überzeugen und keine Diagnose uns enttäuschen kann. Dass man gegen alle tatsächlichen Voraussetzungen liebt und gegen den eigentlichen Sachverhalt sich selbstbefriedigt. Kurzum, dass es die höchste Zeit ist, aus einer Welt, die den Denkern und den Dichtern gehört, die Juristen und Mediziner hinauszujagen.

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In der erotischen Sprache gibts auch Metaphern. Der Analphabet nennt sie Perversitäten. Er verabscheut den Dichter.

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Der Voyeur besteht die Kraftprobe des natürlichen Empfindens: er setzt die Lust, das Weib mit dem Mann zu sehen, gegen den Ekel durch, den Mann mit dem Weib zu sehen.

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Wer wird denn einen Irrtum verstoßen, den man zur Welt gebracht hat, und ihn durch eine adoptierte Wahrheit ersetzen?

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Um einen Irrtum gutzumachen, genügt es nicht, ihn mit einer Wahrheit zu vertauschen. Sonst lügt man.

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Wenn sich ein Schneider in den Wind begibt, muss er das Bügeleisen in die Tasche stecken. Wer nicht Persönlichkeit hat, muss Gewicht haben. Es ist aber von geringem Vorteil, dass sich der Schneider den Bauch wattiert und der Journalist sich mit fremden Ideen ausstopft. Zu jenem gehört ein Bügeleisen, und dieser muss sich des Philisteriums nicht schämen, das ihn allein noch auf zwei Beinen erhält. Sie glauben aber, dem Wind zu begegnen, indem sie Wind machen.

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Wann wird diese arg verkannte Stadt das Lob endlich verdienen, das sie erntet? Sie hat sich nie zu einem flotten Müßiggang aufgerafft. Sie müsste mit der Unsitte brechen, dass ihre Leute den ganzen lieben Tag spazieren stehen.

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Gegen das Buch gegen Berlin: Ein Kulturmensch wird lieber in einer Stadt leben, in der keine Individualitäten sind, als in einer Stadt, in der jeder Trottel eine Individualität ist.

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Es gibt ein Zeitgefühl, das sich nicht betrügen lässt. Man kann auf Robinsons Insel gemütlicher leben als in Berlin; aber nur, solange es Berlin nicht gibt. 1910 wirds auf Robinsons Insel ungemütlich. Automobildroschke, Warmwasserleitung und ein Automat für eingeschriebene Briefe beginnen zu fehlen, auch wenn man bis dahin keine Ahnung hatte, dass sie erfunden sind. Es ist der Zeit eigentümlich, dass sie die Bedürfnisse schafft, die irgendwo in der Welt schon befriedigt sind. Um das Jahr 1830 wars ja schöner, und darum sind wir Feinschmecker dabei geblieben. Aber indem wir uns bei der Schönheit beruhigen, macht uns das Vacuum von achtzig Jahren unruhig.

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Ein Knockabout warf einen Zahnstocher hinter die Kulisse. Da gab es einen Krach. Dann warf er eine Stecknadel hinter die Kulisse. Da gab es einen Krach. Dann warf er ein Stückchen Papier hinter die Kulisse. Da gab es wieder einen Krach. Da nahm er eine Flaumfeder, hob die Hand auf und — da gab es abermals einen Krach. Aber er hatte noch gar nicht geworfen. Da machte er Ätsch! und freute sich, wie er die Kausalität gefoppt hatte. Das Wesen dieses Humors ist, dass das Echo menschlicher Dinge stärker ist als ihr Ruf, und dass man dem Echo seine Vorlautheit am besten beweist, wenn man ihm mit keinem Ruf antwortet.

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Es gibt Menschen, die ganz genau so aussehen, wie unser aller Gymnasialkollege aus der letzten Bank.

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Einer, der mir Erinnerungen zu erzählen anfieng, hatte dabei eine Stimme, die knarrte wie das Tor der Vergangenheit.

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Wie ungeschickt das böse Gewissen ist! Wenn nicht mancher den Hut vor mir zöge, wüsste ich nicht, dass er Butter auf dem Kopf hat.

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Welche Plage, dieses Leben in Gesellschaft! Oft ist einer so entgegenkommend, mir ein Feuer anzubieten, und ich muss, um ihm entgegenzukommen, mir eine Zigarette aus der Tasche holen.

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Fürs Kind. Man spielt auch Mann und Weib fürs Kind. Das ist noch immer der wohltätige Zweck, zu dessen Gunsten die Unterhaltung stattfindet und vor dem selbst die Zensur ein Auge zudrückt.

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Wenn Lieben nur zum Zeugen dient, dient Lernen nur zum Lehren. Das ist die zweifache teleologische Rechtfertigung für das Dasein der Professoren.

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Wenn die Moral nicht anstieße, würde sie nicht verletzt werden.

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Die Gesetzlichkeit spricht sowohl die Verantwortlichen schuldig als die, die nichts dafür können.

Die Humanität spricht die Verantwortlichen schuldig und die Unverantwortlichen frei.

Die Anarchie spricht beide frei.

Die Kultur spricht die Unverantwortlichen schuldig und die frei, die etwas dafür können.

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Vor Erschaffung der Welt wird das letzte Menschenpaar aus dem Spitalsgarten vertrieben werden.

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Wer die Gesichte und Geräusche des Tages sich nicht nahe kommen lässt, dem lauern sie auf, wenn er zu Bette geht. Es ist die Rache der Banalität, die sich in meinen Halbschlaf drängt und weil ich mich mit ihr nicht einlassen wollte, mir die Rechnung zur Unzeit präsentiert. Schon hockt sie auf den Stufen des Traumes, dreht mir eine Shylocknase und raunt mir eine Redensart, von so irdischer Leere, dass in ihr der Schall einer ganzen Stadt enthalten scheint. Wer mischt sich da in mein Innerstes? Wen traf ich mit diesem Gesicht, wen, der solche Stimme hatte? Sie sägt den Himmel entzwei, ich falle durch die Ritze und wie ich so unten daliege, finde ich das Wort: »Jetzt bin ich aus dem Himmel gefallen«, ganz so als ob es keine der Redensarten wäre, die längst zum irdischen Schall verloren sind.

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Zwei Läufer laufen zeitentlang,
der eine dreist, der andre bang:
Der von Nirgendher sein Ziel erwirbt;
der vom Ursprung kommt und am Wege stirbt.
Der von Nirgendher das Ziel erwarb,
macht Platz dem, der am Wege starb.
Und dieser, den es ewig bangt,
ist stets am Ursprung angelangt.

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Weh der Zeit, in welcher Kunst die Erde nicht unsicher macht und vor dem Abgrund, der den
Künstler vom Menschen trennt, dem Künstler schwindlig wird und nicht dem Menschen!