Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Joachim Ringelnatz, vor 130.Jahren geboren: Und auf einmal steht es neben Dir…

01. Juli 2013 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Leseempfehlung, Ringelnatz, Verdichtetes

„Joachim Ringelnatz (* 7. 8.1883 17.4.1934, eigentlich Hans Gustav Bötticher) war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler , der vor allem für humoristische Gedichte um die Kunstfigur  Kuttel Daddeldu bekannt ist.“ So klingt das bei wikipedia. Damit wird jener vor nunmehr 130 Jahren Geborene vorgestellt, der eben weit mehr als „Daddeldu“ und vor allem  Dichter war. Dies sei hier zum Geburtsjubiläum mit den folgenden Gedichten nachgewiesen und seine gesammelten Werke zur Lektüre empfohlen.

Kindersand

Das Schönste für Kinder ist Sand.
Ihn gibt´s immer reichlich,
Er rinnt unvergleichlich
zärtlich durch die Hand.

Weil man seine Nase behält,
wenn man auf ihn fällt –
ist ja so weich.
Kinderfinger fühlen,
wenn sie in ihm wühlen,
nichts und das Himmelreich.

Denn kein Kind lacht
über gemahlene Macht.

*

Vor einem Kleid

Karo ist in deinem Kleid,
eine ganze Masse
Karo-Asse.

Wieviel Karos ihr wohl seid
in dem Kleid? – Das Kleid ist nett.
Karos sind im armen Bett.

Nun, ich habe nicht gezählt,
wenn mich auch die Frage,
wieviel es wohl sind, doch quält.
(Immer wieder seh ich hin.)

Weil ich männlich bin,
Rock und Hose trage,
passt solch Muster nicht für mich.
Karo ist zu munter.

Aber ich bestaune dich,
fremdes Mädchen, hübsche Maid.
Karo ist in deinem Kleid.
Ist ein Coeur darunter?

*

Zu dir

Sie sprangen aus rasender Eisenbahn
und haben sich gar nicht weh getan.

Sie wanderten über Geleise,
und wenn ein Zug sie überfuhr,
dann knirschte nichts. Sie lachten nur,
und weiter ging die Reise.

Sie schritten durch eine steinerne Wand,
durch Stacheldrähte und Wüstenbrand,

durch Grenzverbote und Schranken
und durch ein vergehaltnes Gewehr;
durchzogen viele Meilen Meer –
meine Gedanken.

Ihr Kurs ging durch, ging nie vorbei.
Und als sie dich erreichten,
da zitterten sie und erbleichten
und fühlten sich doch unsagbar frei.

*

 

Ich habe dich so lieb!

Ich hab dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen schenken.

Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei – verjährt –
doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
ist leise.

Die Zeit entstellt
alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.

Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
an einem Sieb.

*

Und auf einmal steht es neben dir

Und auf einmal merkst du äußerlich:
wieviel Kummer zu dir kam,
wieviel Freundschaft leise von dir wich,
alles Lachen von dir nahm.

Fragst verwundert in die Tage.
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert deine Klage …
Du fragst niemanden mehr.

Lernst es endlich, dich zu fügen,
von den Sorgen gezähmt,
willst dich selber nicht belügen,
und erstickst es, was dich grämt.

Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
längst zu lang ausgedehnt. –
Und auf einmal –: Steht es neben dir,
an dich gelehnt –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.


Geselligkeit. Von Karl Kraus

05. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 279 – 280  13. Mai 1909   XI. Jahr aus Tagebuch

Geselligkeit. Was mich zum Fluch der Gesellschaft macht, an deren Rain ich lebe, ist die Plötzlichkeit, mit der sich Renommeen, Charaktere, Gehirne vor mir enthüllen, ohne dass ich sie entlarven müsse. Jahrelang trägt einer an seiner Bedeutung, bis ich ihn in einem unvorhergesehenen Augenblick entlaste. Ich lasse mich täuschen, solange ich will. Menschen zu »durchschauen« ist nicht meine Sache, und ich stelle mich gar nicht darauf ein. Aber eines Tages greift sich ein Schwachkopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und hasst mich. Die Schwäche flieht vor mir und sagt, ich sei unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit gewähren, weil sie mir nicht schaden kann; einmal, wenn’s um ein ja oder nein geht, wird sie von selbst kaputt.  Ich brauche nur irgendwann Recht zu haben, etwas zu tun, was nach Charakter riecht, oder mich sonst wie verdächtig zu machen, und automatisch offenbart sich die Gesinnung. Wenn es wahr ist, dass schlechte Beispiele gute Sitten verderben, so gilt das in noch viel höherem Maße von den guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Beispiel zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form, und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Gefahr, verdorben zu werden. Die Ledernheit lässt sich mein Temperament gefallen, solange es in akademischen Grenzen bleibt; bewähre ich es aber an einer Tat, so wird sie scheu und geht mir durch. Ich halte es viel länger mit der Langweile aus, als sie mit mir. Man sagt, ich sei unduldsam. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mit den ödesten Leuten verkehren, ohne dass ich es spüre. Ich bin so sehr in jedem Augenblick mit mir selbst beschäftigt, dass mir kein Gespräch etwas anhaben kann. Die Geselligkeit ist für die meisten ein Vollbad, in dem sie mit dem Kopf untertauchen; mir benetzt sie kaum den Fuß. Keine Anekdote, keine Reiseerinnerung, keine Gabe aus dem Schatzkästlein des Wissens, kurz, was die Leute so als den Inbegriff der Unterhaltung verstehen, vermöchte mich in meiner inneren Tätigkeit aufzuhalten. Schöpferische Kraft hat der Impotenz noch allezeit mehr Unbehagen bereitet, als diese ihr. Daraus erklärt sich, dass meine Gesellschaft so vielen Leuten unerträglich wird, und dass sie nur aus einer übel angebrachten Höflichkeit an meiner Seite ausharren. Es wäre mir ein leichtes, solchen, die immerfort angeregt werden müssen, um sich zu unterhalten, entgegenzukommen. So ungebildet ich bin und so wahr ich von Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus weniger verstehe als ein neugeborenes Kind, so wäre ich doch wohl imstande, durch geschickt eingeworfene Fragen ein Interesse zu heucheln und eine oberflächliche Kennerschaft zu bewähren, die den Polyhistor mehr freut als ein Fachwissen, das ihn beschämen könnte. Aber ich, der in seinem ganzen Leben Bedürfnissen, die er nicht als geistfördernd erkennt, noch keinen Schritt entgegen getan hat, erweise mich in solchen Situationen als vollendeten Flegel. Und nicht etwa als Flegel, der gähnt — das wäre menschlich —, nein, als Flegel, der denkt! Dabei verschmähe ich es, von meinen eigenen Gaben dem Darbenden mitzuteilen, der vor seinen Lesefrüchten Tantalusqualen leidet und in den ägyptischen Kornkammern des Wissens verhungern muss. Hartherzig bis zur Versteinerung, mache ich sogar schlechtere Witze als mir einfallen, und verrate nichts von dem, was ich mir so zwischen zwei Kaffeeschlucken in mein Notizbuch schreibe. Einmal, in einem unbewachten Moment, wenn mir gerade nichts einfallen wird und Gefahr besteht, dass die Geselligkeit in mein Gehirn dringt, werde ich mich erschießen.


Reflexion. Von Friedrich Hölderlin

06. Februar 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Hölderlin, Verdichtetes

In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.

Reflexion. Von Friedrich Hölderlin

Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn, der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, gibt es eine unendliche Stufenleiter. Auf dieser auf- und abzusteigen, ist Beruf und Wonne des Dichters.
Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten angehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.
Das ist das Maß Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, dass der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nötigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben, als er will. Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das letztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt. Das Gefühl ist aber wohl die beste Nüchternheit und Besinnung des Dichters, wenn es richtig und warm und klar und kräftig ist. Es ist Zügel und Sporn dem Geist. Durch Wärme treibt es den Geist weiter, durch Zartheit und Richtigkeit und Klarheit schreibt es ihm die Grenze vor und hält ihn, dass er sich nicht verliert; und so ist es Verstand und Wille zugleich. Ist es aber zu zart und weichlich, so wird es tötend, ein nagender Wurm. Begrenzt sich der Geist, so fühlt es zu ängstlich die augenblickliche Schranke, wird zu warm, verliert die Klarheit, und treibt den Geist mit einer unverständlichen Unruhe ins Grenzenlose; ist der Geist freier, und hebt er sich augenblicklich über Regel und Stoff, so fürchtet es eben so ängstlich die Gefahr, dass er sich verliere, so wie es zuvor die Eingeschränktheit fürchtete, es wird frostig und dumpf, und ermattet den Geist, dass er sinkt und stockt, und an überflüssigem Zweifel sich abarbeitet. Ist einmal das Gefühl so krank, so kann der Dichter nichts besseres, als dass er, weil er es kennt, sich, in keinem Falle, gleich schrecken lässt von ihm, und es nur so weit achtet, dass er etwas gehaltener fortfährt, und so leicht wie möglich sich des Verstands bedient, um das Gefühl, es seie beschränkend oder befreiend, augenblicklich zu berichtigen, und wenn er so sich mehrmal durchgeholfen hat, dem Gefühle die natürliche Sicherheit und Konsistenz wiederzugeben. Überhaupt muss er sich gewöhnen, nicht in den einzelnen Momenten das Ganze, das er vorhat, erreichen zu wollen, und das augenblicklich Unvollständige zu ertragen; seine Lust muss sein, dass er sich von einem Augenblicke zum andern selber übertrifft, in dem Maße und in der Art, wie es die Sache erfordert, bis am Ende der Hauptton seines Ganzen gewinnt. Er muss aber ja nicht denken, dass er nur im crescendo vom Schwächern zum Stärkern sich selber übertreffen könne, so wird er unwahr werden, und sich überspannen; er muss fühlen, dass er an Leichtigkeit gewinnt, was er an Bedeutsamkeit verliert, dass Stille die Heftigkeit, und das Sinnige den Schwung gar schön ersetzt, und so wird es im Fortgang seines Werks nicht einen notwendigen Ton geben, der nicht den vorhergehenden gewissermaßen überträfe, und der herrschende Ton wird es nur darum sein, weil das Ganze auf diese und keine andere Art komponiert ist.

Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im Ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle setzt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Dies ist auch die höchste Poesie, in der auch das Unpoetische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hierzu ist schneller Begriff am nötigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brauchen, wenn du noch scheu darüber verweilst, und nicht weißt, wie viel an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, dass man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen setzt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisiertes Gefühl keine Vortrefflichkeit, kein Leben.
Muss denn der Mensch an Gewandtheit der Kraft und des Sinnes verlieren, was er an vielumfassendem Geiste gewinnt? Ist doch keines nichts ohne das andere!
Aus Freude musst du das Reine überhaupt, die Menschen und andern Wesen verstehen, »alles Wesentliche und Bezeichnende« derselben auffassen, und alle Verhältnisse nacheinander erkennen, und ihre Bestandteile in ihrem Zusammenhange so lange dir wiederholen, bis wieder die lebendige Anschauung objektiver aus dem Gedanken hervorgeht, aus Freude, ehe die Not eintritt, der Verstand, der bloß aus Not kommt, ist immer einseitig schief.
Da hingegen die Liebe gerne zart entdeckt, (wenn nicht Gemüt und Sinne scheu und trüb geworden sind durch harte Schicksale und Mönchsmoral,) und nichts übersehen mag, und wo sie sogenannte Irren oder Fehler findet, (Teile, die in dem, was sie sind, oder durch ihre Stellung und Bewegung aus dem Tone des Ganzen augenblicklich abweichen,) das Ganze nur desto inniger fühlt und anschaut. Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen. Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern. Übrigens ist auch Schwärmerei und Leidenschaft gut, Andacht, die das Leben nicht berühren, nicht erkennen mag, und dann Verzweiflung, wenn das Leben selber aus seiner Unendlichkeit hervorgeht. Das tiefe Gefühl der Sterblichkeit, des Veränderns, seiner zeitlichen Beschränkungen entflammt den Menschen, dass er viel versucht, übt alle seine Kräfte, und lässt ihn nicht in Müßiggang geraten, und man ringt so lange um Chimären, bis sich endlich wieder etwas Wahres und Reelles findet zur Erkenntnis und Beschäftigung. In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.
Es kommt alles darauf an, dass die Vortrefflichen das Inferieure, die Schönern das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschließen, sich aber auch nicht zu sehr damit vermischen, dass sie die Distanz, die zwischen ihnen und den andern ist, bestimmt und leidenschaftslos erkennen, und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden. Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter. Vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich, denn entweder sprechen und handeln sie gegen die andern, wie gegen ihresgleichen, und übersehen den Punkt, wo diesen es fehlt, und wo sie zunächst ergriffen werden müssen, oder sie richten sich zu sehr nach diesen, und wiederholen die Unart, die sie reinigen sollten, in beiden Fällen wirken sie nichts und müssen vergehen, weil sie entweder immer ohne Widerklang sich in den Tag hinein äußern, und einsam bleiben mit allem Ringen und Bitten oder auch, weil sie das Fremde, Gemeinere zu dienstbar in sich aufnehmen und sich damit ersticken.


Tagebuch I. Von Karl Kraus

13. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 251—52. 28. April 1908. X. Jahr.  S . 34-45


Tagebuch

Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören möchte.

*

Das Talent ist ein aufgeweckter Junge. Die Persönlichkeit schläft länger, erwacht von selbst und gedeiht darum besser.

*

Wenn ich sicher wüsste, dass ich mit gewissen Leuten die Unsterblichkeit zu teilen haben werde, so möchte ich doch eine separierte Vergessenheit vorziehen.

*

Ich bin jederzeit bereit, was ich einem Freunde unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitteile, zu veröffentlichen.

*

Geheimnisse vor Einzelnen müssen nicht Geheimnisse vor der Öffentlichkeit sein. Bei dieser sind sie besser aufgehoben, weil man hier selbst die Form der Mitteilung bestimmt. Wem die Form den Inhalt bedeutet, der gibt das Wort nicht aus der Hand. Er kann sich getrost Geheimniskrämerei oder äußerste Schamlosigkeit vorwerfen lassen, oder beides zugleich.

*

Ich kann mit Stolz sagen, dass ich Tage und Nächte daran gewendet habe, nichts zu lesen, und dass ich mit eiserner Energie jede freie Minute dazu benützte, mir nach und nach eine  enzyklopädische Unbildung anzueignen.

*

Sittlichkeit hilft immer. Ein diebisches Dienstmädchen droht, sie werde der Polizei erzählen, dass die Dame Herrenbesuche empfange, und entgeht der Anzeige. Die Moral ist ein  Einbruchswerkzeug, das den Vorzug hat, dass es nie am Tatort zurückgelassen wird.

*

Wenn Frauen, die sich schminken, minderwertig sind, dann sind Männer, die Phantasie haben, wertlos.

*

Kosmetik ist die Lehre vom Kosmos des Weibes.

*

Die Frauen haben wenigstens Toiletten. Aber womit decken die Männer ihre Leere?

*

Nacktheit ist wahrhaftig kein Erotikum, sondern Sache eines Anschauungsunterrichts. Je weniger eine an hat, umso weniger kann sie der kultivierten Sinnlichkeit anhaben.

*

Kunstwerke sind überflüssig. Es ist zwar notwendig, sie zu schaffen, aber nicht sie zu zeigen. Wer Kunst in sich hat, braucht den stofflichen Anlass nicht. Wer sie nicht hat, sieht nur den  stofflichen Anlass. Dem einen drängt sich der Künstler auf, dem andern prostituiert er sich. In jedem Fall sollte er sich schämen.

*

Auch mir wird manchmal Trost und Freude. Wenn mir nämlich einer schreibt, dass ich sie ihm bereitet habe.

*

Preußen: Freizügigkeit mit Maulkorb. Österreich: Isolierzelle, in der man schreien darf.

*

Die Ratten verlassen das sinkende Schiff und haben sich vorher am Speck den Magen verdorben. Das gilt vom Anhang und vom Stil eines deutschen Publizisten.

*

Um Verwechslungen vorzubeugen, unterscheidet der Wiener: »isst« und »is«.

*

Deutsche Literaten: Die Lorbeern, von denen der eine träumt, lassen den andern nicht schlafen. Ein anderer träumt, dass seine Lorbeern wieder einen andern nicht schlafen lassen, und  dieser schläft nicht, weil der andere von Lorbeern träumt.

*

Die Schauspielkunst sollte sich wieder selbstständig machen. Der Darsteller ist nicht der Diener des Dramatikers, sondern der Dramatiker ist der Diener des Darstellers. Dazu ist freilich  Shakespeare zu gut. Wildenbruch würde genügen. Die Bühne gehört dem Schauspieler, und der Dramatiker liefere bloß die Gelegenheit. Tut er mehr, so nimmt er dem Schauspieler, was  des Schauspielers ist. Die Dichtung, der das Buch gehört, hat seit Jahrhunderten mit vollem Bewusstsein an der Szene schmarotzt. Sie hat sich vor der Phantasiearmut des Lesers  geflüchtet und spekuliert auf die des Zuschauers. Sie sollte sich endlich der populären Wirkungen schämen,  zu denen sie sich herbeilässt. Kein Theaterpublikum hat noch einen  Shakespeare-Gedanken erfasst,  sondern es hat sich stets nur vom Rhythmus, der auch Unsinn tragen könnte, oder vom stofflichen Gefallen betäuben lassen. »Des Lebens Unverstand  mit Wehmut zu genießen, ist Tugend und Begriff«: damit kann ein Tragöde so das Haus erschüttern, dass jeder glaubt, es sei von Sophokles und nicht von Wenzel Scholz. Heil Alexander Girardi, der in der Wahl unliterarischer Gelegenheiten seine schöpferische Selbstherrlichkeit betont!

*

Auch der Maler ist auf der Bühne als eine dort nicht beschäftigte Person zu behandeln. Das literarische und malerische Theater ist ein amputierter Leichnam,  dem betrunkene  Mediziner den Arm eines Affen und das Bein eines Hundes angesetzt haben. Wenn auf der Bühne die Dichter und Maler hausen, dann bleibt nichts übrig, als Schauspielkunst in  Bibliotheken und Galerien zu suchen. Vielleicht haben sie die Hanswurste der Kultur dort inzwischen eingeführt.

*

Endlich sollte einmal zu lesen sein: Die Ausstattung des neuen Stückes hat alles bisher Übertroffene geboten.

*

Man gewöhne sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem  Gedanken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe ein Opfer; hier ein Akt der Feindseligkeit.

*

Mit Frauen muss man, wenn sie lange fort waren, Feste des Nichtwiedererkennens feiern.

*

Er hat sie mit Lustgas betäubt, um eine schwere Gedankenoperation an ihr vorzunehmen.

*

Ihr Gatte erlaubt ihr, Theater zu spielen — die Bohème hätte ihr nicht erlaubt, verheiratet zu sein. Also ist in der Gesellschaft noch immer mehr Freiheit als in der Bohème, die ihre  unumstößlichen Gesetze hat.

*

Zwei haben nicht geheiratet und leben seit damals in einer Art gegenseitiger Witwerschaft.

*

Die Schätzung einer Frau kann nie gerecht sein; aber die Über- oder Unterschätzung geschieht immer nach Verdienst.

*

Kann man aus der Büchse der Pandora auch eine Prise Schnupftabak nehmen? Wohl bekomm’s,  mein Freund!

*

Hysterische soll man vorsichtshalber vor einer Operation, die an einem andern ausgeführt wird,  narkotisieren. Und um ihnen jeden Schmerz zu ersparen, auch vor einer Operation, die  an dem andern nicht ausgeführt wird.

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Was war doch der bayrische König, der allein im Theater saß, ein Freund der Geselligkeit! Ich würde auch selbst spielen.

*

Ich sehe durch ein Fenster und der Horizont ist mir durch ein Laffengesicht verlegt. Das ist tragisch. Ich habe nichts dagegen, dass es abscheuliche Gesichter gibt. Aber warum hat es  die Natur mit den Gesetzen der Optik so eingerichtet, dass ein vorgehaltener Spazierstock einen Menschen und — was schlimmer ist — ein Mensch einen Hintergrund verdecken kann?  Wenn der optische Effekt eines Scheusals nur den Raum einnähme, den das Scheusal einnimmt, man könnte zufrieden sein. Aber er nimmt einen breiteren Raum ein. Das hat die Optik  schlecht gemacht. Die Lichtstrahlen dienen nur der Vermehrung des Menschenhasses.

*

Höchster Überschwang der Gefühle: Wenn Du wüsstest, welche Freude Du mir mit Deinem Kommen bereitest — Du tätest es nicht, ich weiß, Du tätest es nicht!

*

Ich stehe immer unter dem starken Eindruck dessen, was ich von einer Frau denke.

*

Aller Spott über Schauspielereitelkeit, Applausbedürfnis und dergleichen ist philiströs. Die Theatermenschen brauchen den Beifall, um besser zu spielen;  und dazu genügt auch der  künstliche. Das Glücksgefühl, das mancher Darsteller zeigt, wenn ihm die applaudieren, die er dafür bezahlt hat, ist ein Beweis von Künstlerschaft. Kaum einer wäre ein großer Schauspieler geworden, wenn der Claquechef ohne Hände auf die Welt gekommen wäre.

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Talent haben — Talent sein: das wird immer verwechselt.

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Wenns die Religion gilt, so erzählt mir ein Orientreisender, gibts keinen Bakschisch. Im Abendland kann man das auch der liberalen Presse nachsagen.

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Nicht Jeder, der von einer Frau Geld nimmt, darf sich deshalb einbilden, ein Strizzi zu sein.

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Kein Zweifel, der Hund ist treu. Aber sollen wir uns deshalb ein Beispiel an ihm nehmen? Er ist doch dem Menschen treu und nicht dem Hund.

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Treu und Glauben im Geschlechtsverkehr ist eine Börsenusance.

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Im Dunstkreis des Geschmacks jüdischer Anekdoten war der Selbstmord eine unbekannte Pointe. Soll die gute Gesellschaft den Glauben an ihre Lustigmacher verlieren? Sie sagten, er  müsse die Tat in einem Anfall von Geistesgestörtheit begangen haben. Aber am Ende war sie in einem Anfall von geistiger Klarheit begangen. Die Lustigmacher überlegen sichs manchmal anders. In solch einem könnte so viel Leben gewesen sein, dass er das eine unbedenklich hingeben durfte. Das heißt gewiss, ihn überschätzen;  aber nicht jeder ist wert,  überschätzt zu werden. Selbstmord kann das Aderlassen einer Vollblutnatur bedeuten. Die gute Gesellschaft, die der Lederbranche näher steht als dieser Auffassung, dürfte der  ungünstigen Konjunktur die ganze Schuld geben. Ich habe ihn nur von fern gekannt, bin deshalb zum Urteil berufen. Sein Blick gefiel mir, denn der hatte nichts vom Krämer oder  Kunden. Ich glaube, es war Einer,  der dem Leben nichts herunterhandelt und dem es nichts herunterhandeln kann. Das schafft zu jeder Zeit glatte Rechnung. Es mag Lederhändler  geben,  die sentimentaler sind. Aber wenn es ein Ziel dieser schäbigen Tage ist, mit Ziegenhäuten Glück zu haben,  so könnte sich schon Einer, der kein Glück damit hatte, der  Betrachtung empfehlen. Und wer sich so ruhig den Mund von den Genüssen des Lebens abwischt, um ihn für immer zu verschließen, hebt sich von den Tafelgenossen ab; und wer sich  nur vom Gewimmel der Wohlhabenden unterschied, denen der Schneider die Kultur und der Sportlehrer die Persönlichkeit beibringt, den soll man sich merken. Überhaupt werde ich  den Verdacht nicht los, dass einer schon ein Kerl sein muss, wenn ihn das heutige Leben zu Fall bringen soll. Was Feuer hat und einen leichten Zug, verbrennt. Nur Männer ohne Mark  und Weiber mit Hirn sind der sozialen Ordnung gewachsen.

*

Dass eine Frau bei näherer Betrachtung verliert, ist ein Vorzug, den sie mit jedem Kunstwerk gemein hat, an dem man nicht gerade Farbenlehre studieren will. Nur Frauen und Maler  dürfen sich untereinander mikroskopisch messen und ihre Technik prüfen. Wen die Nähe enttäuscht, der verdient es nicht besser. Solche Enttäuschungen lösen ihm die Rosenketten des Eros. Der Kenner aber versteht es, sie erst daraus zu flechten. Ihn enttäuscht nur die Frau,  die in der Entfernung verliert.

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Es kann aber eine Wohltat der Sinne sein, von Zeit zu Zeit einem komplizierten Räderwerk nahezustehen. Die Anderen sehen nur das Gehäuse mit dem schönen Ziffernblatt; und es ist  bequem, zu erfahren, wie viel’s geschlagen hat. Aber ich habe die Uhr aufgezogen.

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»Sich keine Illusionen mehr machen«: da beginnen sie erst.

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Den Inhalt einer Frau erfasst man bald. Aber bis man zur Oberfläche vordringt!

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Man muss das Temperament einer Schönen so halten, dass sich Laune nie als Falte festlegen kan. Das sind Geheimnisse der seelischen Kosmetik, deren Anwendung leider die Eifersucht verbietet.

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Künstler haben das Recht, bescheiden, und die Pflicht, eitel zu sein.

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Wenn der Dieb in der Anekdote stehlen geht, so hält ihm der Wächter das Licht. Eine solche Situation ist auch den Frauen nicht unerwünscht.

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Wer nicht will, hat schon. Wer nicht will, wird erst. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Mann und Weib.

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Ihre Brauen waren Gedankenstriche — manchmal wölbten sie sich zu Triumphbogen der Wollust.

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Unter Dankbarkeit versteht man gemeinhin die Bereitwilligkeit, lebenslänglich Salbe aufzuschmieren, weil man einmal einen Ausschlag gehabt hat.

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Die Schriftgelehrten können noch immer nur von rechts nach links lesen; so kommt es, dass sie Leben als Nebel sehen.

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Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.

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Es herrscht Not an Kommis. Alles drängt der Sozialdemokratie und der Journalistik zu.

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Der Zuhälter ist eine soziale Stütze der Frau. Verliert sie ihn, so kann es leicht geschehen, dass sie herunterkommt.

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Nervenpathologie: Wenn einem nichts fehlt, so heilt man ihn am besten von diesem Zustand, indem man ihm sagt, welche Krankheit er hat.

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»Der Besuch Sr. Majestät des Königs Friedrich August von Sachsen in der Leipziger Zementindustrie in Markranstädt.« Oder: »Dr. Peters verlässt das Gerichtsgebäude« oder »Präsident Roosevelt auf dem Wege ins Weiße Haus«. Was immer es vorstellen mag, die Leute sehen aus, als ob sie nach mehrmonatiger Bettlägerigkeit die ersten Gehversuche machten. Und der Adjutant sieht dem König vonSachsen dabei genau auf die Füße und sagt: Eins,  zwei, Majestät, eins, zwei, immer los, immer rin ins Vergniechen! Es wird schon gehen! (Er könnte auch
vade-mecum, vade-mecum sagen, wie einst der sächsische Justizrat, der die Villa der Louise umschlich.) Und das deutsche Volk freut sich an dem Schauspiel, das in Wahrheit auf einer  roben Fälschung beruht. Es mag ja interessant sein, zu sehen, wie die interessanten Leute gehen. Aber dann halte man sich an den Kinematographen. Ein einzelnes Momentbild zeigt nicht, wie der König von Sachsen geht, sondern bloß, dass sein Schuh eine Sohle hat. Das zu wissen, scheint freilich für das deutsche Volk auch wichtig zu sein.

*

Wenn ein Priester plötzlich erklärt, dass er nicht an das Paradies glaube und dass er diese Erklärung niemals widerrufen werde, dann ist die liberale Presse begeistert, deren Redakteure sich bekanntlich auch nicht ihre Überzeugung nehmen lassen. Aber würde nicht doch ein Verlegerpapst seinen Angestellten sofort a divinis entheben, der sichs einfallen ließe, vor den  Lesern zu bekennen, er glaube an das Paradies? Es ist der widerlichste Anblick, den die Neuzeit bietet: ein vernunftbesessener Priester von Presskötern umheult, denen er Adams Rippe zuwirft.

*

Die Modernisten sind die einzigen strenggläubigen Katholiken, die es noch gibt. Sie glauben sogar, dass die Kirche an die Lehren glaubt, die sie verkündet, und glauben, dass es auf den Glauben derer ankomme, die ihn zu verbreiten haben.

*

Die Orthodoxie der Vernunft verdummt die Menschheit mehr als jede Religion. Solange wir uns ein Paradies vorstellen können, geht es uns immer noch besser, als wenn wir  ausschließlich in der Wirklichkeit einer Redaktion leben müssen. In ihr mögen wir die Überzeugung, dass der Mensch vom Affen abstammt, in Ehren halten. Aber um einen Wahn,  der ein Kunstwerk ist, wär’s schade.

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Kompilatoren sind Wissenschaftlhuber.

*

Besser, es wird einem nichts gestohlen. Dann hat man wenigstens keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei.

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Ein Mann, dem in einem öffentlichen Lokal ein Winterrock abhanden kam, musste oft zur Behörde. Der Beamte sagte zu ihm: »Beschreiben Sie den Täter!« Hat man das notwendig?

*

Das Wesen der Prostitution beruht nicht darauf, dass sie sichs gefallen lassen müssen, sondern dass sie sichs missfallen lassen können.

*

Nur der liebt eine Frau wahrhaft, der auch eine Beziehung zu ihren Liebhabern gewinnt. Im Anfang bildet das immer die größte Sorge. Aber man gewöhnt sich an alles, und es kommt die Zeit, wo man eifersüchtig wird und es nicht verträgt, wenn ein Liebhaber untreu wird.

*

Die Frau spürt die Schmerzen nicht, die der Mann ihr zufügt. Der Mann sogar die.

*

Ein Dichter, der liest. Ein Anblick, wie ein Kellner, der speist.

*

Er beherrscht die deutsche Sprache — das gilt vom Kommis. Der Künstler ist ein Diener am Wort.

*

Zu seiner Belehrung sollte ein Schriftsteller mehr leben als lesen. Zu seiner Unterhaltung sollte ein Schriftsteller mehr schreiben als lesen. Dann können Bücher entstehen, die das  Publikum zur Belehrung und zur Unterhaltung liest.

*

»Ich war gestern in Melk — das war a Wetter«, sagt einer plötzlich auf der Eisenbahn zu mir. »Der Eder soll g’storben sein, der kaiserliche Rat«, sagt einer plötzlich vom Nebentisch zu  mir. »Großer Mann geworden!« sagt einer in etwas anderm Tonfall plötzlich auf der Elektrischen zu mir und zeigt nach einem,  der soeben ausgestiegen und auf dessen Bekanntschaft er  offenbar stolz ist. Ich erfahre also,  ohne dass ich es verlangt habe, was im Innersten dieser Zeitgenossen vor sich geht. Dass ich ihre äußere Hässlichkeit schaue, genügt ihnen nicht. In  den fünf Minuten, die wir die Lebensstrecke miteinander gehen, soll ich auch darüber unterrichtet werden, was sie bewegt, beglückt, enttäuscht. Das, und nur das ist der Inhalt unserer  Kultur: die Rapidität, mit der uns die Dummheit in ihre Wirbel zieht. Auch wir sind von irgendetwas bewegt: aber hastdunichtgesehn sind wir in Melk, an der Bahre des Eder, in der Karriere des großen Mannes. Nie würde unsereinem eine ähnliche Wirkung auf den Nebenmenschen gelingen. Ich bleibe gebannt stehen, weil die Sonne blutrot untergeht wie noch nie,  und einer bittet mich um Feuer. Ich beschäftige mich gerade mit dem Problem der Gedankenübertragung, und hinter mir ruft’s: »Fia—ker!« Solange ein Heurigenwirt und ein Schuster Plakate bleiben, wäre das Leben erträglich. In Gottesnamen, prägen wir uns ihre Gesichter ein! Aber plötzlich stehen sie vor uns, legen die Hand auf unsere Schulter und wir brechen  zusammen wie Don Juan, wenn die Statue lebendig wird.

*

Mein Wunsch, man möge meine Sachen zweimal lesen, hat große Erbitterung erregt. Mit Unrecht,  Der Wunsch ist bescheiden. Ich verlange ja nicht dass man sie einmal liest.

K a r l     K r a u s .


Mein Widerspruch. Von Karl Kraus

01. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR 1927 XXVIII. JAHR


S.36

Mein Widerspruch

Wo Leben sie der Lüge unterjochten, war ich Revolutionär.

Wo gegen Natur sie auf Normen pochten, war ich Revolutionär.

Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.

 

Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten, war ich Reaktionär.

Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten, war ich Reaktionär.

Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.


Halbschlaf. Von Karl Kraus

29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL.

NR. 484—498 OKTOBER 1918 XX. JAHR   S. 81

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Halbschlaf

Bevor ich war und wenn ich nicht mehr bin,
wie war ich da, wie werde ich da sein?
Zuweilen dringen Duft und Rausch und Schein
vom Ende her und von dem Anbeginn.

Hab’ ich geschlafen? Eben schlaf’ ich ein,
und nun verwaltet mich ein andrer Sinn,
noch bin ich außerhalb, schon bin ich drin,
noch weiß ich es, und füge mich schon drein.

Dies Ding dort ruft, als hätt’ ich’s oft geschaut,
und dies da blickt wie ein vertrauter Ton,
und an den Wänden wird es bunt und laut.

Dort wartet lang’ mein ungeborner Sohn,
hier stellt sich vor die vorbestimmte Braut,
und was ich damals war, das bin ich schon.


Du bist so sonderbar in eins gefügt. Von Karl Kraus

29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 640—648 MITTE JANUAR 1924 XXV. JAHR S. 63

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Du bist so sonderbar in eins gefügt

Du bist so sonderbar in eins gefügt
aus allem, was an allen mir behagte.
Du hast etwas von einer, die belügt,
und von der andern, die die Wahrheit sagte.

Du hast den Blick, der mir zum Glück genügt,
die Stimme, die es fühlte und nicht sagte;
begrenzt wie die, an die der Wunsch sich wagte,
unendlich an Erfüllung angeschmiegt.

Die Züge der Besiegten, die besiegt,
sind Spiegel aller Wonne, die mich plagte,
und allen Zwistes, der am Herzen nagte,

und daß ich mich vergnügte und verzagte,
und wie ich im Gewinn Verlust beklagte
von Federleichtem, das ein Leben wiegt.

 


Strophen zur Zeit. Was ist das für ein Tier, die Gier? Von Wilfried Schmickler

21. November 2011 | Kategorie: Strophen zur Zeit, Verdichtetes, Wilfried Schmickler, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

In der Rubrik Strophen zur Zeit werden Gedichte veröffentlicht.                     Das erste stammt von dem Kabarettisten und wie  man sehen wird               Dichter   Wilfried Schmickler  geb. 28. November 1954


Was ist das für ein Tier, die Gier?


Was ist das für ein Tier, die Gier?

Es frisst an mir,

Es frisst in dir,

Will mehr und mehr

Und frisst uns leer.

 

Wo kommt das her,

Das Tier, und wer

Erschuf sie nur,

Die Kreatur?

 

Wo ist das finstre Höllenloch,

Aus dem die Teufelsbestie kroch,

Die sich allein dadurch vermehrt,

Indem sie dich und mich verzehrt?

 

Und wann fängt dieses Elend an,

Dass man genug nicht kriegen kann

Und plötzlich einfach so vergisst,

Dass man doch längst gesättigt ist

Und weiter frisst und frisst und frisst?

 

Und trifft dann so nein Nimmersatt

Auf jemanden, der etwas hat,

Was er nicht hat und gar nicht braucht,

Dann will er’s auch.

 

Wie? Das soll’s schon gewesen sein?

Nein, einer geht bestimmt noch rein!

Und überhaupt – da ist doch wer,

Der frisst tatsächlich noch viel mehr.

Und plötzlich sind sie dann zu zweit:

Die Gier und ihre Brut der Neid.

 

Das bringt mich noch einmal ins Grab,

Dass der was hat, das ich nicht hab,

Dass der wo ist, wo ich nicht bin,

Das will ich auch, da muss ich hin!

 

Warum denn der?

Warum nicht ich?

Was der für sich,

Will ich für mich!

 

Der lebt in Saus

Und lebt in Braus

Mit Frau und Hund und Geld und Haus

Und hängt den coolen Großkotz raus.

 

Wahrscheinlich alles auf Kredit,

Und unsereiner kommt nicht mit.

Der protzt und prahlt

Und strotzt und strahlt.

Wie der schon geht.

Wie der schon steht.

Wie der sich um sich selber dreht.

 

Und wie der aus dem Auto steigt

Und aller Welt den Hintern zeigt.

 

Blasierte Sau!

Und seine Frau

Ist ganz genau

So arrogant

Und degoutant!

 

Und diese Blagen,

Die es wagen

Die Nasen so unendlich hoch zu tragen!

 

Dann hört er aber auf, der Spaß! –

So kommt zu Neid und Gier der Hass.

 

Und sind die erst einmal zu dritt,

Fehlt nur noch ein ganz kleiner Schritt,

Bis dass der Mensch komplett verroht

Und schlägt den anderen halbtot.

 

Und wenn ihr fragt:

 

Wer hat ihn bloß so weit gebracht?

Das hat allein die Gier gemacht!

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Es gibt den Text in einem Buch: Wilfried Schmickler „Es war nicht alles schlecht“   erschienen bei WortArt

Oder gesprochen auf CD: Wilfried Schmickler „Weiter“ ebenfalls erschienen bei WortArt


Nächtliche Stunde. Von Karl Kraus

06. Oktober 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 622  1923  XXIV. Jahrgang S.150

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Nächtliche Stunde

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod


Literatur ist … .Von Karl Kraus

25. September 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 294—295 ERSCHIENEN AM 4. FEBRUAR 1910 XI. JAHR  S. 37- 38

Eine Entschuldigung:*)

Literatur ist, wenn ein Gedachtes zugleich ein Gesehenes  und ein Gehörtes ist. Sie wird mit Aug’  und Ohr geschrieben. Aber Literatur muß gelesen sein, wenn ihre Elemente sich binden sollen. Nur dem Leser (und nur dem, der ein Leser ist) bleibt sie in der Hand. Er denkt, sieht und hört, und empfängt das Erlebnis in derselben Dreieinigkeit, in der der Künstler das Werk gegeben hat. Man muß lesen, nicht hören, was geschrieben steht. Zum Nachdenken des Gedachten hat der Hörer nicht Zeit, auch nicht, dem Gesehenen nachzusehen. Wohl aber könnte er das Gehörte überhören. Gewiß, der Leser hört auch besser als der Hörer. Diesem bleibt ein Schall. Möge der stark genug sein, ihn als Leser zu werben,damit er nachhole, was er als Hörer versäumt hat.

*) Als Einleitung des ersten und des zweiten Leseabends gesprochen.