Tagebuch I. Von Karl Kraus
13. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", VerdichtetesDIE FACKEL
Nr. 251—52. 28. April 1908. X. Jahr. S . 34-45
Tagebuch
Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören möchte.
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Das Talent ist ein aufgeweckter Junge. Die Persönlichkeit schläft länger, erwacht von selbst und gedeiht darum besser.
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Wenn ich sicher wüsste, dass ich mit gewissen Leuten die Unsterblichkeit zu teilen haben werde, so möchte ich doch eine separierte Vergessenheit vorziehen.
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Ich bin jederzeit bereit, was ich einem Freunde unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitteile, zu veröffentlichen.
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Geheimnisse vor Einzelnen müssen nicht Geheimnisse vor der Öffentlichkeit sein. Bei dieser sind sie besser aufgehoben, weil man hier selbst die Form der Mitteilung bestimmt. Wem die Form den Inhalt bedeutet, der gibt das Wort nicht aus der Hand. Er kann sich getrost Geheimniskrämerei oder äußerste Schamlosigkeit vorwerfen lassen, oder beides zugleich.
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Ich kann mit Stolz sagen, dass ich Tage und Nächte daran gewendet habe, nichts zu lesen, und dass ich mit eiserner Energie jede freie Minute dazu benützte, mir nach und nach eine enzyklopädische Unbildung anzueignen.
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Sittlichkeit hilft immer. Ein diebisches Dienstmädchen droht, sie werde der Polizei erzählen, dass die Dame Herrenbesuche empfange, und entgeht der Anzeige. Die Moral ist ein Einbruchswerkzeug, das den Vorzug hat, dass es nie am Tatort zurückgelassen wird.
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Wenn Frauen, die sich schminken, minderwertig sind, dann sind Männer, die Phantasie haben, wertlos.
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Kosmetik ist die Lehre vom Kosmos des Weibes.
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Die Frauen haben wenigstens Toiletten. Aber womit decken die Männer ihre Leere?
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Nacktheit ist wahrhaftig kein Erotikum, sondern Sache eines Anschauungsunterrichts. Je weniger eine an hat, umso weniger kann sie der kultivierten Sinnlichkeit anhaben.
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Kunstwerke sind überflüssig. Es ist zwar notwendig, sie zu schaffen, aber nicht sie zu zeigen. Wer Kunst in sich hat, braucht den stofflichen Anlass nicht. Wer sie nicht hat, sieht nur den stofflichen Anlass. Dem einen drängt sich der Künstler auf, dem andern prostituiert er sich. In jedem Fall sollte er sich schämen.
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Auch mir wird manchmal Trost und Freude. Wenn mir nämlich einer schreibt, dass ich sie ihm bereitet habe.
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Preußen: Freizügigkeit mit Maulkorb. Österreich: Isolierzelle, in der man schreien darf.
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Die Ratten verlassen das sinkende Schiff und haben sich vorher am Speck den Magen verdorben. Das gilt vom Anhang und vom Stil eines deutschen Publizisten.
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Um Verwechslungen vorzubeugen, unterscheidet der Wiener: »isst« und »is«.
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Deutsche Literaten: Die Lorbeern, von denen der eine träumt, lassen den andern nicht schlafen. Ein anderer träumt, dass seine Lorbeern wieder einen andern nicht schlafen lassen, und dieser schläft nicht, weil der andere von Lorbeern träumt.
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Die Schauspielkunst sollte sich wieder selbstständig machen. Der Darsteller ist nicht der Diener des Dramatikers, sondern der Dramatiker ist der Diener des Darstellers. Dazu ist freilich Shakespeare zu gut. Wildenbruch würde genügen. Die Bühne gehört dem Schauspieler, und der Dramatiker liefere bloß die Gelegenheit. Tut er mehr, so nimmt er dem Schauspieler, was des Schauspielers ist. Die Dichtung, der das Buch gehört, hat seit Jahrhunderten mit vollem Bewusstsein an der Szene schmarotzt. Sie hat sich vor der Phantasiearmut des Lesers geflüchtet und spekuliert auf die des Zuschauers. Sie sollte sich endlich der populären Wirkungen schämen, zu denen sie sich herbeilässt. Kein Theaterpublikum hat noch einen Shakespeare-Gedanken erfasst, sondern es hat sich stets nur vom Rhythmus, der auch Unsinn tragen könnte, oder vom stofflichen Gefallen betäuben lassen. »Des Lebens Unverstand mit Wehmut zu genießen, ist Tugend und Begriff«: damit kann ein Tragöde so das Haus erschüttern, dass jeder glaubt, es sei von Sophokles und nicht von Wenzel Scholz. Heil Alexander Girardi, der in der Wahl unliterarischer Gelegenheiten seine schöpferische Selbstherrlichkeit betont!
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Auch der Maler ist auf der Bühne als eine dort nicht beschäftigte Person zu behandeln. Das literarische und malerische Theater ist ein amputierter Leichnam, dem betrunkene Mediziner den Arm eines Affen und das Bein eines Hundes angesetzt haben. Wenn auf der Bühne die Dichter und Maler hausen, dann bleibt nichts übrig, als Schauspielkunst in Bibliotheken und Galerien zu suchen. Vielleicht haben sie die Hanswurste der Kultur dort inzwischen eingeführt.
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Endlich sollte einmal zu lesen sein: Die Ausstattung des neuen Stückes hat alles bisher Übertroffene geboten.
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Man gewöhne sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedanken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe ein Opfer; hier ein Akt der Feindseligkeit.
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Mit Frauen muss man, wenn sie lange fort waren, Feste des Nichtwiedererkennens feiern.
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Er hat sie mit Lustgas betäubt, um eine schwere Gedankenoperation an ihr vorzunehmen.
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Ihr Gatte erlaubt ihr, Theater zu spielen — die Bohème hätte ihr nicht erlaubt, verheiratet zu sein. Also ist in der Gesellschaft noch immer mehr Freiheit als in der Bohème, die ihre unumstößlichen Gesetze hat.
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Zwei haben nicht geheiratet und leben seit damals in einer Art gegenseitiger Witwerschaft.
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Die Schätzung einer Frau kann nie gerecht sein; aber die Über- oder Unterschätzung geschieht immer nach Verdienst.
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Kann man aus der Büchse der Pandora auch eine Prise Schnupftabak nehmen? Wohl bekomm’s, mein Freund!
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Hysterische soll man vorsichtshalber vor einer Operation, die an einem andern ausgeführt wird, narkotisieren. Und um ihnen jeden Schmerz zu ersparen, auch vor einer Operation, die an dem andern nicht ausgeführt wird.
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Was war doch der bayrische König, der allein im Theater saß, ein Freund der Geselligkeit! Ich würde auch selbst spielen.
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Ich sehe durch ein Fenster und der Horizont ist mir durch ein Laffengesicht verlegt. Das ist tragisch. Ich habe nichts dagegen, dass es abscheuliche Gesichter gibt. Aber warum hat es die Natur mit den Gesetzen der Optik so eingerichtet, dass ein vorgehaltener Spazierstock einen Menschen und — was schlimmer ist — ein Mensch einen Hintergrund verdecken kann? Wenn der optische Effekt eines Scheusals nur den Raum einnähme, den das Scheusal einnimmt, man könnte zufrieden sein. Aber er nimmt einen breiteren Raum ein. Das hat die Optik schlecht gemacht. Die Lichtstrahlen dienen nur der Vermehrung des Menschenhasses.
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Höchster Überschwang der Gefühle: Wenn Du wüsstest, welche Freude Du mir mit Deinem Kommen bereitest — Du tätest es nicht, ich weiß, Du tätest es nicht!
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Ich stehe immer unter dem starken Eindruck dessen, was ich von einer Frau denke.
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Aller Spott über Schauspielereitelkeit, Applausbedürfnis und dergleichen ist philiströs. Die Theatermenschen brauchen den Beifall, um besser zu spielen; und dazu genügt auch der künstliche. Das Glücksgefühl, das mancher Darsteller zeigt, wenn ihm die applaudieren, die er dafür bezahlt hat, ist ein Beweis von Künstlerschaft. Kaum einer wäre ein großer Schauspieler geworden, wenn der Claquechef ohne Hände auf die Welt gekommen wäre.
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Talent haben — Talent sein: das wird immer verwechselt.
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Wenns die Religion gilt, so erzählt mir ein Orientreisender, gibts keinen Bakschisch. Im Abendland kann man das auch der liberalen Presse nachsagen.
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Nicht Jeder, der von einer Frau Geld nimmt, darf sich deshalb einbilden, ein Strizzi zu sein.
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Kein Zweifel, der Hund ist treu. Aber sollen wir uns deshalb ein Beispiel an ihm nehmen? Er ist doch dem Menschen treu und nicht dem Hund.
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Treu und Glauben im Geschlechtsverkehr ist eine Börsenusance.
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Im Dunstkreis des Geschmacks jüdischer Anekdoten war der Selbstmord eine unbekannte Pointe. Soll die gute Gesellschaft den Glauben an ihre Lustigmacher verlieren? Sie sagten, er müsse die Tat in einem Anfall von Geistesgestörtheit begangen haben. Aber am Ende war sie in einem Anfall von geistiger Klarheit begangen. Die Lustigmacher überlegen sichs manchmal anders. In solch einem könnte so viel Leben gewesen sein, dass er das eine unbedenklich hingeben durfte. Das heißt gewiss, ihn überschätzen; aber nicht jeder ist wert, überschätzt zu werden. Selbstmord kann das Aderlassen einer Vollblutnatur bedeuten. Die gute Gesellschaft, die der Lederbranche näher steht als dieser Auffassung, dürfte der ungünstigen Konjunktur die ganze Schuld geben. Ich habe ihn nur von fern gekannt, bin deshalb zum Urteil berufen. Sein Blick gefiel mir, denn der hatte nichts vom Krämer oder Kunden. Ich glaube, es war Einer, der dem Leben nichts herunterhandelt und dem es nichts herunterhandeln kann. Das schafft zu jeder Zeit glatte Rechnung. Es mag Lederhändler geben, die sentimentaler sind. Aber wenn es ein Ziel dieser schäbigen Tage ist, mit Ziegenhäuten Glück zu haben, so könnte sich schon Einer, der kein Glück damit hatte, der Betrachtung empfehlen. Und wer sich so ruhig den Mund von den Genüssen des Lebens abwischt, um ihn für immer zu verschließen, hebt sich von den Tafelgenossen ab; und wer sich nur vom Gewimmel der Wohlhabenden unterschied, denen der Schneider die Kultur und der Sportlehrer die Persönlichkeit beibringt, den soll man sich merken. Überhaupt werde ich den Verdacht nicht los, dass einer schon ein Kerl sein muss, wenn ihn das heutige Leben zu Fall bringen soll. Was Feuer hat und einen leichten Zug, verbrennt. Nur Männer ohne Mark und Weiber mit Hirn sind der sozialen Ordnung gewachsen.
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Dass eine Frau bei näherer Betrachtung verliert, ist ein Vorzug, den sie mit jedem Kunstwerk gemein hat, an dem man nicht gerade Farbenlehre studieren will. Nur Frauen und Maler dürfen sich untereinander mikroskopisch messen und ihre Technik prüfen. Wen die Nähe enttäuscht, der verdient es nicht besser. Solche Enttäuschungen lösen ihm die Rosenketten des Eros. Der Kenner aber versteht es, sie erst daraus zu flechten. Ihn enttäuscht nur die Frau, die in der Entfernung verliert.
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Es kann aber eine Wohltat der Sinne sein, von Zeit zu Zeit einem komplizierten Räderwerk nahezustehen. Die Anderen sehen nur das Gehäuse mit dem schönen Ziffernblatt; und es ist bequem, zu erfahren, wie viel’s geschlagen hat. Aber ich habe die Uhr aufgezogen.
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»Sich keine Illusionen mehr machen«: da beginnen sie erst.
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Den Inhalt einer Frau erfasst man bald. Aber bis man zur Oberfläche vordringt!
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Man muss das Temperament einer Schönen so halten, dass sich Laune nie als Falte festlegen kan. Das sind Geheimnisse der seelischen Kosmetik, deren Anwendung leider die Eifersucht verbietet.
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Künstler haben das Recht, bescheiden, und die Pflicht, eitel zu sein.
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Wenn der Dieb in der Anekdote stehlen geht, so hält ihm der Wächter das Licht. Eine solche Situation ist auch den Frauen nicht unerwünscht.
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Wer nicht will, hat schon. Wer nicht will, wird erst. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Mann und Weib.
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Ihre Brauen waren Gedankenstriche — manchmal wölbten sie sich zu Triumphbogen der Wollust.
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Unter Dankbarkeit versteht man gemeinhin die Bereitwilligkeit, lebenslänglich Salbe aufzuschmieren, weil man einmal einen Ausschlag gehabt hat.
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Die Schriftgelehrten können noch immer nur von rechts nach links lesen; so kommt es, dass sie Leben als Nebel sehen.
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Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.
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Es herrscht Not an Kommis. Alles drängt der Sozialdemokratie und der Journalistik zu.
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Der Zuhälter ist eine soziale Stütze der Frau. Verliert sie ihn, so kann es leicht geschehen, dass sie herunterkommt.
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Nervenpathologie: Wenn einem nichts fehlt, so heilt man ihn am besten von diesem Zustand, indem man ihm sagt, welche Krankheit er hat.
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»Der Besuch Sr. Majestät des Königs Friedrich August von Sachsen in der Leipziger Zementindustrie in Markranstädt.« Oder: »Dr. Peters verlässt das Gerichtsgebäude« oder »Präsident Roosevelt auf dem Wege ins Weiße Haus«. Was immer es vorstellen mag, die Leute sehen aus, als ob sie nach mehrmonatiger Bettlägerigkeit die ersten Gehversuche machten. Und der Adjutant sieht dem König vonSachsen dabei genau auf die Füße und sagt: Eins, zwei, Majestät, eins, zwei, immer los, immer rin ins Vergniechen! Es wird schon gehen! (Er könnte auch
vade-mecum, vade-mecum sagen, wie einst der sächsische Justizrat, der die Villa der Louise umschlich.) Und das deutsche Volk freut sich an dem Schauspiel, das in Wahrheit auf einer roben Fälschung beruht. Es mag ja interessant sein, zu sehen, wie die interessanten Leute gehen. Aber dann halte man sich an den Kinematographen. Ein einzelnes Momentbild zeigt nicht, wie der König von Sachsen geht, sondern bloß, dass sein Schuh eine Sohle hat. Das zu wissen, scheint freilich für das deutsche Volk auch wichtig zu sein.
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Wenn ein Priester plötzlich erklärt, dass er nicht an das Paradies glaube und dass er diese Erklärung niemals widerrufen werde, dann ist die liberale Presse begeistert, deren Redakteure sich bekanntlich auch nicht ihre Überzeugung nehmen lassen. Aber würde nicht doch ein Verlegerpapst seinen Angestellten sofort a divinis entheben, der sichs einfallen ließe, vor den Lesern zu bekennen, er glaube an das Paradies? Es ist der widerlichste Anblick, den die Neuzeit bietet: ein vernunftbesessener Priester von Presskötern umheult, denen er Adams Rippe zuwirft.
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Die Modernisten sind die einzigen strenggläubigen Katholiken, die es noch gibt. Sie glauben sogar, dass die Kirche an die Lehren glaubt, die sie verkündet, und glauben, dass es auf den Glauben derer ankomme, die ihn zu verbreiten haben.
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Die Orthodoxie der Vernunft verdummt die Menschheit mehr als jede Religion. Solange wir uns ein Paradies vorstellen können, geht es uns immer noch besser, als wenn wir ausschließlich in der Wirklichkeit einer Redaktion leben müssen. In ihr mögen wir die Überzeugung, dass der Mensch vom Affen abstammt, in Ehren halten. Aber um einen Wahn, der ein Kunstwerk ist, wär’s schade.
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Kompilatoren sind Wissenschaftlhuber.
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Besser, es wird einem nichts gestohlen. Dann hat man wenigstens keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei.
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Ein Mann, dem in einem öffentlichen Lokal ein Winterrock abhanden kam, musste oft zur Behörde. Der Beamte sagte zu ihm: »Beschreiben Sie den Täter!« Hat man das notwendig?
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Das Wesen der Prostitution beruht nicht darauf, dass sie sichs gefallen lassen müssen, sondern dass sie sichs missfallen lassen können.
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Nur der liebt eine Frau wahrhaft, der auch eine Beziehung zu ihren Liebhabern gewinnt. Im Anfang bildet das immer die größte Sorge. Aber man gewöhnt sich an alles, und es kommt die Zeit, wo man eifersüchtig wird und es nicht verträgt, wenn ein Liebhaber untreu wird.
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Die Frau spürt die Schmerzen nicht, die der Mann ihr zufügt. Der Mann sogar die.
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Ein Dichter, der liest. Ein Anblick, wie ein Kellner, der speist.
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Er beherrscht die deutsche Sprache — das gilt vom Kommis. Der Künstler ist ein Diener am Wort.
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Zu seiner Belehrung sollte ein Schriftsteller mehr leben als lesen. Zu seiner Unterhaltung sollte ein Schriftsteller mehr schreiben als lesen. Dann können Bücher entstehen, die das Publikum zur Belehrung und zur Unterhaltung liest.
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»Ich war gestern in Melk — das war a Wetter«, sagt einer plötzlich auf der Eisenbahn zu mir. »Der Eder soll g’storben sein, der kaiserliche Rat«, sagt einer plötzlich vom Nebentisch zu mir. »Großer Mann geworden!« sagt einer in etwas anderm Tonfall plötzlich auf der Elektrischen zu mir und zeigt nach einem, der soeben ausgestiegen und auf dessen Bekanntschaft er offenbar stolz ist. Ich erfahre also, ohne dass ich es verlangt habe, was im Innersten dieser Zeitgenossen vor sich geht. Dass ich ihre äußere Hässlichkeit schaue, genügt ihnen nicht. In den fünf Minuten, die wir die Lebensstrecke miteinander gehen, soll ich auch darüber unterrichtet werden, was sie bewegt, beglückt, enttäuscht. Das, und nur das ist der Inhalt unserer Kultur: die Rapidität, mit der uns die Dummheit in ihre Wirbel zieht. Auch wir sind von irgendetwas bewegt: aber hastdunichtgesehn sind wir in Melk, an der Bahre des Eder, in der Karriere des großen Mannes. Nie würde unsereinem eine ähnliche Wirkung auf den Nebenmenschen gelingen. Ich bleibe gebannt stehen, weil die Sonne blutrot untergeht wie noch nie, und einer bittet mich um Feuer. Ich beschäftige mich gerade mit dem Problem der Gedankenübertragung, und hinter mir ruft’s: »Fia—ker!« Solange ein Heurigenwirt und ein Schuster Plakate bleiben, wäre das Leben erträglich. In Gottesnamen, prägen wir uns ihre Gesichter ein! Aber plötzlich stehen sie vor uns, legen die Hand auf unsere Schulter und wir brechen zusammen wie Don Juan, wenn die Statue lebendig wird.
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Mein Wunsch, man möge meine Sachen zweimal lesen, hat große Erbitterung erregt. Mit Unrecht, Der Wunsch ist bescheiden. Ich verlange ja nicht dass man sie einmal liest.
K a r l K r a u s .