Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen zur Zeit. Eigentlich sollte nur das Volk … . Von Jean Paul Richter

26. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Jean Paul, Notizen zur Zeit

Anlässlich der  großen Stunde des deutschen Parlamentes, das den Einsatz in Afghanistan unter gebetsmühlenartigem Ableiern der unfrommen Lüge verlängerte,  dass dort alles bereits viel besser sei, man schließlich auf der Seite des afghanischen Volkes stehe und getragen von der blinden Zuversicht, es werde nicht so schlimm kommen, wie es längst schon ist;  anlässlich der Tatsache, dass die Vertreter des Volkes das selbstredend nicht für sich persönlich beschlossen, sondern stellvertretend nur für die Soldaten, die am Hindukusch seit zehn Jahren die Freiheit unter anderem des Herrn Struck verteidigen müssen und die der Mandatsverlängerung vermutlich nicht  zugestimmt hätten, da keines der „Kriegsziele“ erreicht wurde und erreicht werden wird; anlässlich der bedeutungsschweren Stunde, da über Leib und Leben immer der Anderen, sowohl der Täter als auch der Opfer, der Krieg weiterhin verhängt wurde; anlässlich dieser traurigen Stunde, da nämlich das Gewissen, auf welches die Abgeordneten im Parlament sich zu berufen geruhten, allein durch die Worte des Herrn Ströbele sich vertreten sehen konnte, seien zwei Kapitel aus alter Zeit zitiert und jenen ins Stammbuch geschrieben, die  mit dem Retortenwort  „alternativlos“ neuerdings jede Schweinerei glauben rechtfertigen zu können, was nichts anderes beschreibt als eine zivilisierte Form der  Menschenverachtung; denn das Land, in das man den Soldaten schickt, wird nicht dasselbe bleiben, und der Mensch, den man schickt, wird nicht derselbe sein, der zurückkehrt. Jean Paul schrieb  die Erziehlehre seinerzeit zwar für Fürsten, aber es spräche für Phantasiearmut würde man nicht in den Wirtschaftsbossen und Politkern der Jetztzeit  ohne Mühe ihre der Erziehung bedürftigen Nachfolger sogleich erkennen, ungemein erleichtert durch das Trio infernale: Bush, Cheney, Rumsfeld.                                              W.K. Nordenham (Hervorhebungen im Folgenden durch mich)

Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 44

Werden Sie gleich mir eine Friedenpredigt vor dem Kriege an den Fürsten, der eben den Brandbrief zum Kriegsfeuer hinwerfen will, etwa so halten: »Bedenk es, ein Schritt über dein Grenzwappen verwandelt zwei Reiche, hinter dir verzerrt sich deines – vor dir das fremde. – Ein Erdbeben wohnt und arbeitet dann unter beiden fort – alle alte Rechtsgebäude, alle Richterstühle stürzen, Höhen und Tiefen werden ineinander verkehrt. – Ein jüngster Tag voll auferstehender Sünder und voll fallender Sterne, ein Weltgericht des Teufels, w o  d i e  L e i b e r  d i e  G e i s t e r  r i c h t e n,  d i e   F a u s t k r a f t   d a s   H e r z . Bedenk es, Fürst! Jeder Soldat wird in diesem Reich der Gesetzlosigkeit dein gekrönter Bruder auf fremdem Boden mit Richtschwert, aber ohne Waage und gebeut unumschränkter als du; jeder feindliche Packknecht ist dein Fürst und Richter, mit Kette und Beil für dich in der Hand! – Nur die Willkür der Faust und des Zufalls sitzt auf dem Doppelthrone des Gewissens und Lichts. – Zwei Völker sind halb in Sklavenhändler, halb in Sklaven verkehrt, unordentlich durcheinander gemischt. – Für höhere Wesen ist das Menschenreich ein gesetz- und gewissenloses, taubblindes Tier- und Maschinenreich geworden, das raubt, frisst, schlägt, blutet und stirbt. – Immerhin sei du gerecht, du lässest doch durch die erste Manifestzeile wie durch ein Erdbeben die gefesselte Ungerechtigkeit aus ihren Kerkern los!  A u c h  i s t  j a  d i e   W i l l k ü r   s o  h e r g e b r a c h t   g r o ß ,  d a s s  d i r  k l e i n e r e  M i s s h a n d-  l u n g e n    g a r   n i c h t ,   u n d     g r o ß e    n u r    d u r c h    i h r e     W i e d e r h o l u n g   v o r  d i e   O h r e n   k o m m e n . Denn die Erlaubnis, zugleich zu töten und zu beerben, schließt jede kleinere in sich. Sogar der waffenlose Bürger tönt in die Miss- und Schreitöne ein, vertauschend alle Lebenspläne gegen Minutengenuss und ungesetzliche Freiheit und von den befreundeten Kriegern als ein halber, von den anfeindenden als ein ganzer Feind behandelt und aufgereizt. Dies bedenke, Fürst, bevor du in die Heuschreckenwolke des Kriegs alles dein Licht verhüllst und in dein bisher so treu verwaltetes Land alle Krieger eines fremden zu Obrigkeiten und Henkern einsetzest, oder deine Krieger ebenso ins fremde!« (Dies hat Karl Kraus  sowohl vorgelesen als auch in DIE FACKEL  Nr. 443-444 , 1916 veröffentlich.)

Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 45

E i g e n t l i c h   s o l l t e    n u r    d a s   V o l k  – dies könnte man wenigstens einem Erbprinzen erziehend sagen – ü b e r  d e n   K r i e g         m i t   e i n e m   a n d e r n , d. h. über die Rückkehr in den   e r s t e n         N a t u r s t a n d, besonders da nur dessen harte Früchte, nicht dessen süße auf dasselbe fallen, a b z u s t i m m e n   h a b e n , ob es sich als Totenopfer dem Gewitter und Sturm des Krieges weihe, oder nicht. Es ist schreiend gen Himmel, der noch nicht hört: dass ein Fürst für den Witzstich eines andern Fürsten zwei Völker unter die Streitaxt treiben darf. Man schaudert in der neuern Geschichte über die kleinen Zündruten der Kriegsminen; wie eine Weiber-Stecknadel, ein Gesandtenfinger oft der Leiter eines länderbreiten Gewitters geworden. Wenigstens sollte der Krieg der neuern Zeiten nur die Krieger treffen, nicht die entwaffneten Stände. Sobald der tätigere Anteil der letzten jene beeinträchtigt, z. B. Schießen aus Häusern: so berufen sie sich gern auf das Recht einer Absonderung und bestrafen und bekriegen zugleich; warum soll dann aber der wehrlose Stand ohne die Vorteile doch alle Leiden des bewehrten, die der Plünderung, Gefangennehmung u. s. w., teilen? – Von drei Zeiten muss einmal nach dieser schlechten vierten eine oder jede kommen, damit die Zukunft die Vergangenheit entsündige: dass es entweder Seekriege ohne Kaperbriefe gibt, und zum Landkrieg man sich, als zu einem vielstimmigen und vielhändigen Zweikampfe, in eine Wüste bestellt – oder dass wieder, wie in eingesunknen oder aufgeflognen Republiken, jeder Bürger Soldat, folglich jeder Soldat auch Bürger ist – oder endlich, dass vom Himmel die ewige Frieden-Fahne herunterflattert und über die Erde im Äther weht. –
Mir ist, als wenn Sie oder einer Ihrer Freunde einmal die Geschichte – diesen langen Kriegsbericht und Bulletin der Menschheit – für eine Kriegsansteckung junger Fürsten erklärt hätten. Fast aber wollt‘ ich ihr die Heilung von der Kriegslust anvertrauen. Karl XII. von Schweden wurde schwerlich bloß durch Curtius‘ Leben des Alexanders ruhm- und länderdurstig, da Alexander selber es gewesen, ohne seinen Biographen gelesen zu haben; wie auch Cäsar, der von Curtius nichts gekannt als dessen Helden. An der Geschichte lässt sich eben die Anker- und Klingenprobe des See- und Landkriegsschwertes machen. Sie allein zeigt dem ruhmdürstigen Prinzen, wie wenig bloße Tapferkeit auslange zum Ruhm.    D e n n   a u f   d e r    E r d e   i s t   e i n   f e i g e s   V o l k   n o c h   s e l t e n e r   a l s   e i n   k ü h n e r   M a n n ; welche Völker der alten und neuen Zeit waren nicht tapfer? Jetzo z. B. fast ganz Europa, die Russen, Dänen, Schweden, Österreicher, Sachsen, Engländer, Hessen, Franzosen, Bayern und Preußen. – Je tiefer Roms freier Geist einsank, desto wilder und kräftiger hob sich der tapfere empor; Katilina, Cäsar, August hatten siegende Knechte. Die häufige Bewaffnung der alten Sklaven (wie in der neuern die der Bettler) beweiset gegen den Wert der gemeinen Faust- und Wunden-Tapferkeit. Der Athener Iphikrates sagte: raub- und lustgierige Soldaten sind die besten; und der General Fischer setzte dazu: Landstreicher. – Kann ein Fürst in die Nachwelt mit nichts als mit den schönen Tigerflecken der Eroberer strahlen wollen, womit ihn die Timurs, Attilas, Dessalines und andere Geißeln Gottes oder Knuten des Teufels überbieten? –  Wie kalt geht man in der Geschichte über die unzähligen Schlachtfelder, welche die Erde mit Todes-Beeten umziehen! Und mit welchen Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche, wie sogenannte Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortsprützenden Wasserstrahl der Fontänen, ebenso nur auf empor- springenden Blutströmen in der Höhe sich erhalten! Wo aber einige Helden davon ein ewiger Nachschimmer überschwebet, wie Marathons Ebene, Thermopyläs Tiefe: da kämpften und opferten andere Geister; – himmlische Erscheinungen, der Freiheit-Mut. U n d   w e l c h e r   E i n z e l n e   i n     d e r     G e s c h i c h t e      g  r o ß   d a s t e h t  u n d   i h r e   R ä u m e   er f ü l l t ,  d e r    t u t   e s   n i c h t     a u f      e i n e r      P y r a m i d e     v o n    T o t e n k ö p f e n   a u s    S c h l a c h t e n  , s o n d e r n   e i n e  g r o ß e     S e e le   s c h w e b e t ,   w i e     di e   G e s t a l t    e i n e r        ü b e r i r d i s c h e n   W e l t ,   v e r k l ä r t   i n   d e r   N a c h t   u n d     b e r ü h r t   S t e r n e   u n d   E r d e .

 


Karl Kraus und die Eitelkeit. Von Richard Schuberth

25. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Über Karl Kraus

Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  erste Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Wie Karl Kraus zitiert Richard Schuberth gern Denker und Zeitgenossen, um das  Wort von dem aus Geistverlassenheit erstandenen Unwort zu scheiden. Auf diese Weise kommt sogar der Literaturfatzki Reich-Ranicki zu zweifelhafter Ehre, dem nicht nur das zu erwartende Missverständnis unterläuft, Karl  Kraus zum Schriftsteller zu pejorisieren, sondern der darüber hinaus auch die Unverfrorenheit besitzt, ihm eignende Charaktereigenschaften flugs jenem zuschreiben zu wollen. Man bleibt unentschieden, ob Bösartigkeit und Verlogenheit  ihn trieben  oder  ob,  angesichts des ersichtlichen Versagens  im Vergleich zu  Karl Kraus, nur ein schlechtes Gedächtnis  unterstellen ist. Wünschte er sich doch weiland laut Fersehinterview in der Nachfolge begriffen zu sehen von  Tucholsky ( wie das?), Alfred Kerr (schon besser) und  Karl Kraus(Chuzpe).  Den letzten Namen  sprach er nach meinem Gedächtnis etwas leiser, damit jener ihn nicht etwa doch gehört und einen  Bannstrahl herabsandt hätte.

Richard Schuberth  beleuchtet in  30 Versuchen zur Anstiftung  das Verhältnis der Person Karl Kraus zu verschiedenen kultur- und gesellschaftspolitischen Themen seiner Zeit wie etwa dem Nationalsozialismus, den »Psychowissenschaften«, Journalismus, Satire, Frauen und Sexualität.Die Essays unterstreichen dabei die Bedeutung Kraus’ als Vordenker der Kritischen Theorie sowie die Wichtigkeit seiner Sprachkritik für zeitgenössische Gesellschaftskritik – »Kraus verstehen lernen hieße in der Sprache denken lernen – und nicht nur mit ungeahnten Schätzen belohnt werden, sondern dort, im sprachlichen Denken, vielleicht das letzte wehrhafte Asyl einer Individualität zu finden, die diesen Begriff einzig verdiente.« (Richard Schuberth)

 

Karl Kraus und die Eitelkeit

„Eitelkeit und Geltungssucht dieses Schriftstellers kannten keine Grenzen, sein Ehrgeiz wurde nur von seiner Selbstgerechtigkeit übertroffen.“           Marcel Reich-Ranicki

„Wenn es die Welt tadelt, dass ich zu viel über mich selbst rede, so tadle ich, dass diese nicht einmal über sich selbst denkt.“                                Michel de Montaigne

 

Reflex der Eitelkeit

Die Welt, die im Gewande lebt,

nach Genuss und Gewinn und nach Würden strebt,

an der Macht und am Schein, an der Meinung klebt,

ihr Nichts erhebt und vor nichts erbebt

und sich dünkt der Schöpfung Scheitel –

sie sagt, weil ich sah, wie sie, diese Welt,

sich täglich mit sich zufrieden stellt

und sich weitaus besser als mir gefällt,

der sie nicht für die beste der Welten hält:

ich sei eitel.           Karl Kraus

„Er war sich das Maß aller Dinge, musste sich das wohl sein, um als orthodoxer Einzelgänger sein Gleichgewicht unerschüttert zu bewahren.“    Alfred Polgar

Es gibt wohl keinen Vorwurf, der das Prinzip der Gegenprojektion in seiner Banalität dermaßen bestätigt, so sehr auf die Vorwerfer zurückfällt wie der der Eitelkeit. Der Eitelkeit, der Egomanie, des Narzissmus. Eine narzisstisch gestörte Gesellschaft muss ihre zwanghafte Sucht nach wechselseitiger Bestätigung, im Drängeln um knappe Güter wie Geltung und Kapital, als sozialen Sinn tarnen, um jeden, dem genug Kraft und Geist geblieben ist, sich dieser Konformität zu entziehen, mit der Eitelkeitskeule zu prügeln. In Abwandlung von Nietzsches Aphorismus sind es interessanterweise nicht die, welche das Licht suchen, um besser gesehen zu werden, sondern immer die, welche besser sehen wollen, denen man Selbstsucht vorwirft. Und wer das Spiegelkabinett der gegenseitigen Anerkennung, in das jegliche gesellschaftliche Ideologie ihre Zerrbilder wirft, zerbricht, der kann dies wohl nur tun – zu mehr reicht der psychologisierende Alltagsverstand nicht –, um sich in sich selbst zu spiegeln. Wer es nicht nötig hat, uns zu genügen, der genügt sich folglich selbst. Dass solch einer oder eine aber ganz anderen Werten, Idealen und Prinzipien genügen will als sich selbst, um eben diese – und mit ihnen sich – vor der Beschmutzung durch falschen sozialen Konsens zu retten, muss einer Gesellschaft, die keine Triebfeder mehr kennt als den Eigennutz, suspekt sein. Nichts erscheint ihr eitler als der freiwillige Verzicht auf Eitelkeit, der uns zu jener unbequemen Wahrhaftigkeit führen könnte, wo wir womöglich nicht mehr verstanden und lieb gehabt werden. Theodor Adorno beschreibt das Missverstehen solch eines Renitenten in seiner „Minima Moralia“: „Um nicht unter die Räder zu kommen, muss er die Welt an Weltlichkeit umständlich überbieten und wird des ungeschickten Zuviel leicht überführt. Argwohn, Machtgier, Mangel an Kameradschaft, Falschheit, Eitelkeit und Inkonsequenz lassen sich zwingend ihm vorhalten. Gesellschaftliche Zauberei macht unausweichlich den, welcher nicht mitspielt, zum Eigennützigen, und der ohne Selbst dem Prinzip der Realität nachlebt, heißt selbstlos.“

Wirklich kritischer Instinkt sucht und findet Selbstlosigkeit aber immer dort, wo höchste Selbstsucht vermutet wird. Bei tieferer Betrachtung entpuppt sich zum Beispiel das frivole Posieren eines Oscar Wilde als zielgenaue Provokation einer heuchlerischen Bürgerwelt, die ihren ökonomischen Egoismus mit einer moralistischen Verachtung alles Dekadenten zu bemänteln versuchte. Nicht anders, wenn sich Kraus einmal selbstironisch „vielgeliebter, schöner, grausamer Mann“ nannte, was die narzisstischen Dummköpfe heute noch bei ihrer Suche nach Beweisen für seinen Narzissmus für bare Münze nehmen. Gerade hinter Wildes Anmaßungen wird man eine selbstvergessene Humanität finden, die all den falsch Bescheidenen die Schamesröte ins Gesicht triebe, brächten sie nur einen Teil davon auf.

Wer nicht mitspielt, ist eitel! Sucht er nach Verständnis, ist das pure Eitelkeit, verzichtet er darauf, erst recht! Selbst die Schüchternheit des Einzelgängers in der letzten Reihe wurde noch in jeder Schulklasse als Arroganz missverstanden; so bekundet der Mehrheitskonsens seine gefährliche Unsicherheit gegenüber der Minorität.

Ambrose Bierce (1842–1913), jenes amerikanische Pendant zu Karl Kraus, definierte in seinem „Devil’s Dictionary“ den „Egoisten“ als „Person minderen Geschmacks, mehr an sich als an mir interessiert“. Und entlarvte den Wunsch nach Bestätigung als den wahren Egoismus. Dieser Wunsch wäre eine sympathische menschliche Schwäche, knüpfte sich an ihn nicht so viel ideologische Konformität. Doch Karl Kraus ist nur insofern an sich interessiert, als er sich zum Prisma seiner Gesellschaftskritik macht: „Ich spreche von mir und meine die Sache. Sie sprechen von der Sache und meinen sich.“

Wem Stil über Mitteilung geht, ist eitel?

Mit dem Vorwurf der Selbstverliebtheit hatte Kraus sein Leben lang zu kämpfen, doch er wuchs an ihm und bescherte der Nachwelt die wohl scharfsinnigsten Reflexionen zum Thema. Gerade im geistigen Schöpfungsakt funktioniert die Retournierung des Eitelkeitsvorwurfs bestens. „Eitel ist bloß die Zufriedenheit, die nie zum Werk zurückkehrt.“ Denn: „Ein guter Stilist muss bei der Arbeit die Lust eines Narzissus empfinden. Er muss sein Werk so objektivieren können, dass er sich bei einem Neidgefühl ertappt und erst durch Erinnerung draufkommt, dass er selbst der Schöpfer sei. Kurzum, er muss jene höchste Objektivität bewahren, die die Welt Eitelkeit nennt.“ So hart an Werk, an Gedanke und Stil zu arbeiten, dass diese würdig werden, sich in sie zu verlieben, ist nicht Hybris, sondern höchste ethische Maxime, ein dermaßen selbstloser Weihedienst am Stoff, dass zur Belohnung auch ein paar Brosamen fürs Ego abfallen. Eitelkeit, für eine höhere Sache gebändigt, wie ein Pferd vor die Kutsche gespannt, hat sich den Hafer brav verdient. Wir hingegen spannen Sache wie Sprache gleich Ackergäulen vor unser Selbst, das wegen als Menschenliebe getarnter Eigenliebe dem stallwarmen Konsens keinesfalls davonpreschen darf – ganz gleich ob wir kommunikativ oder objektiv sein wollen, und beschimpfen jene als eitel, die des Stalls nicht bedürfen.

Kraus will nicht sich, sondern der Sprache gefallen, im Vergleich zu jenen, die Sprache wie Sache nur dazu missbrauchen, um überhaupt „Ich“ zu sagen.

„Ich spreche nie von mir“, bekennt er, „sondern an mir von der Sprache. Ich habe nie einen Satz über mich geschrieben, ohne selbst noch an diesem Stilproblematisches zu erörtern. Ich bin nur das nächstbeste Beispiel für mich. Das nächste, wie ich selbst zugeben muss, das beste, wie auch mein Kritiker zugibt. (…) Ich sagte einmal, dass, ‚wer mit einer Sache verschmolzen ist, immer zur Sache spricht und am meisten, wenn er von sich spricht’. Dass, ‚was sie Eitelkeit nennen, jene nie beruhigte Bescheidenheit ist, die sich am eigenen Maß prüft und das Maß an sich, jener demütige Wille zur Steigerung, der sich dem unerbittlichsten Urteil unterwirft, welches stets sein eigenes ist’.“

Wer auf Ruhm, aber nicht auf Ehre verzichtet, ist eitel?

Niemand hat die intellektuellen Eitelkeiten seiner Zeit so gekränkt wie Karl Kraus, zumal er sich die Objekte seiner Satire nicht einmal als Personen, sondern als Marionetten allgemeiner Missstände vornahm – und zu allem Überdruss mit keiner Zeile auch nur den geringsten Zweifel offen ließ, dass seine Kritik, welche Anhänger ebenso wenig schonte wie Gegner, nicht von persönlicher Ranküne, sondern ethischem Ernst angetrieben wurde. Wie aber, so fragten sich die, welche letztlich nur ihr eigenes Süppchen kochten, konnte er, der sich anmaßte, den Zeitgeist in brodelnder Sintflut zu ertränken, dermaßen konsequent auf Anerkennung verzichten, wenn nicht aus purer Selbstgerechtigkeit. Wer seinen Inhalten nichts entgegenzusetzen wusste, musste sich mit Psychologie, jener Religion der Kleingeister, behelfen und narzisstische Störung an ihm diagnostizieren. Und gemäß dem Axiom der bürgerlichen Bewusstseinsindustrie, dass, worüber nicht berichtet wird, nicht existiert, mehr noch, nicht existieren darf, griff diese zu ihrer effektivsten Waffe: Totschweigen! Ihre Vertreter hielten dieses aber weniger aus als er und schlugen zumeist mit Anspielungen zurück, oft ohne Nennung seines Namens, und wenn doch, dann ohne Nennung des eigenen. Anspielungen auf seinen Misswuchs oder seine jüdische Herkunft reichten aber nicht an die Häufigkeit heran, mit der seine Eitelkeit verspottet wurde. Auf seine indirekten Kritiker traf zu, was der Dichter und Philologe Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845) auch den anonymen Internet-Postern unserer Tage auf den Leib geschrieben haben könnte: „Ein offener, dem Gesicht sich stellender Gegner ist ein ehrlicher, gemäßigter, einer mit dem man sich verständigen, vertragen, aussöhnen kann; ein versteckter hingegen ist ein niederträchtiger, feiger Schuft, der nicht so viel Herz hat, sich zu Dem zu bekennen, was er urtheilt, dem also nicht ein Mal etwas an seiner Meinung liegt, sondern nur an der heimlichen Freude, unerkannt und ungestraft sein Müthchen zu kühlen.“

Karl Kraus charakterisierte die übliche Kritik an seiner Kritik folgendermaßen: „Die Schwäche sieht sich im Spiegel und wirft ihn wütend nach mir und hofft, nun werde es mein Bild sein. Weil mich der Spiegel getroffen hat. (…) Die von mir gekränkte Zeit nimmt das nächste Wort, das ihr zur Hand, als Wurfgeschoß. Mir hat noch nie ein anderes Echo geantwortet, als der unartikulierte Aufschrei.“ Zu dieser Abfolge von Aufschrei und Totschweigen schuf er in der „Fackel“ eine Gegenöffentlichkeit, indem er jeden seiner Auftritte sowie manche publizistische, zumeist aus dem Ausland kommende Reaktion auf sein Wirken dokumentierte – für seine Feinde einmal mehr Beweis seiner Egomanie. Eine der letzten, aber gründlichsten und souveränsten Stellungnahmen zum Eitelkeitsvorwurf gab er 1926 im Text „Ich und Wir“ ab.

„Die Verbreitung des Rufs meiner Eitelkeit, die eine der stärksten Sicherungen gegen die Verbreitung meines Werks bildet, ist die Parole, auf die sich die Würdenträger der geistigen Zentren des deutschen Sprachgebiets geeinigt haben, und sie begründen sie damit, dass ich in Ermangelung ihrer guten Nachrede eben selber von mir spreche.
Aber wenn sie einen freien Augenblick hätten, um einmal nicht zu lügen, müssten sie zugeben, dass ich schon wegen der größeren Unbeliebtheit ein interessanteres Thema bin als sie; dass der, der nur aus sich selbst besteht, es schwerer hat, bei der Betrachtung der Welt von sich abzusehen, als einer, der aus nichts besteht; und dass, was bei mir herauskommt, allgemeiner ist, als wenn die Journalisten von der Welt sprechen, und persönlicher, als wenn sie von sich selbst zu sprechen anhüben. (…) Der der Sache mit seiner Person dient und vor sie tritt, um für sie einzutreten, ist selbstgefällig in den Augen solcher, die ihrer Person mit einer Sache dienen, sie um persönlicher Ziele willen verfolgen, mithin allen Grund haben, ihr dürftiges Ich hinter ihr zu verbergen und denen es auch mühelos gelingt. Sie sind so bescheiden, sich in ein »Wir« zu multiplizieren, das Sicherheit, Kredit und Machtzuwachs gewährt. Sie finden es schicklich, mit ihrer Persönlichkeit hinter den Dreck, den sie schreiben, zurückzutreten — mit Recht, denn wer wollte da auch hineintreten? Außer mir, dem vor nichts graust und der mit seinem Ich noch solche Spur verfolgt! Aber ist dieses Ich nicht gemeinschaftlicher als jenes Wir? (…)

Spiegle ich mich in diesen Erscheinungen oder lasse ich nicht vielmehr sie in mir sich spiegeln? Ist da nicht eine Phrase gegenteiligen Sinnes als Vorwurf gegen mich erstanden, wenn sie sagen, ich spräche von mir selbst, während ich doch eigentlich nichts tue als dass ich von der Welt spreche und dabei allerdings unaufhörlich Gott danke, dass ich nicht bin wie jene – ein Stoßgebet, bei dem ich wohl kaum von meiner Person ganz abstrahieren könnte. Meine Eitelkeit, die ich in gewisser Hinsicht zugebe, ist somit keine solche, die auf irdische Erfolge abzielt, sondern vielmehr eine, die sich in dem Verzicht auf Ehren, welche mir nicht gebühren, genugtut, also die rechte Bescheidenheit, ja wahre Demut, die weiter herauszustreichen ich unterlassen muss, weil es mir den Vorwurf der Eitelkeit eintragen würde.“

Wer der Schwäche, es sich in und mit der Gesellschaft zu richten, widersteht, wird zuerst als Versager gebrandmarkt, und kann er glaubhaft machen, dass er nicht aus Schwäche dieser Schwäche nicht erliegt, als größenwahnsinniger Egomane. „Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt“, schreibt Karl Kraus im Jahre 1908 kokett. „Ich lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft abstoßen, eine einflussreiche Verbindung verlieren könnte. Vielleicht bringe ich’s doch noch zu einer Position.“ Solch Unverfrorenheit, die vor keinem gesellschaftlichen Vorteil, vor keiner Mode das Knie beugt, aber vor dem Ideal kritischer Wahrheit sich demütig in den Staub wirft, die sich von dem, was schlechthin ist, zugunsten dessen, was sein könnte, nie beeindrucken lässt, ist heute undenkbarer als je. Wie damals in der Schule verhält es sich auch jetzt auf dem Bewusstseinsmarkt – ganz gleich, ob links oder rechts: Wer das Konsumangebot an Identitäten verschmäht, kommt sich als was Besseres vor, und behält Recht, wenn die Ich-AGs sich seinen Verzicht auf Eigennutz nicht anders denn als Eigennutz der Selbsterhöhung erklären können. Karl Kraus sprach in Anlehnung an die Worte Montaignes und in dem Wissen, dass jede Stellungnahme zu solchen Vorwürfen als Verteidigung, folglich als Schwäche, folglich als Eitelkeitsproblem ausgelegt würde, ein Machtwort: „Wenn einer es tadelt, dass ich eitel bin, so tadle ich, dass er ein Trottel ist.“


Notizen aus Medienland. Wulff im Schafspelz. Von W.K. Nordenham

24. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Notizen aus Medienland, Wulff

§1 Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie zu missachten und zu benutzen ist Aufgabe aller medialen Gewalt.                                              (Entwurf für ein Grundgesetz der Tagespresse)

Mit der Geburt des Tagschreibers aus der Geistverlassenheit des Dünkels schloss sich der Ring der modernen demokratischen Unkultur.                    Karl Hauer (Das Gehirn des Journalisten.  Aus „Die Fackel“ und DAS ROTE HEFT )

Kölner Stadtanzeiger      05.01.12

Schausten und die 150-Euro-Frage

Bundespräsident Christian Wulff im TV-Interview

Eigentlich sollte es ja um den Bundespräsidenten gehen. Aber der heimliche – und unfreiwillige – Mittelpunkt von Bürogesprächen und Internetforen ist seit der Ausstrahlung des Wulff-Interviews am Mittwochabend Bettina Schausten.(…)

Nach dem Interview des Bundespräsidenten in ARD und ZDF bleibt vor allem eine Frage offen: Zahlt Bettina Schausten wirklich (so viel) Geld für Übernachtungen bei Freunden? (…)

Wulff war nervös, aber gut vorbereitet. (…)

(…)Aber vielleicht passte es auch. Der biederen Mittelmäßigkeit dieses Bundespräsidenten standen die Interviewer an diesem Abend an biederer Mittelmäßigkeit nichts nach. Humorlos, pharisäerhaft, uninspiriert. Mehr als die 150-Euro-Frage wird von diesem Gespräch deshalb nicht bleiben. Und ein schlagkräftiger Bundespräsident hätte das genutzt. (…)

„Bild“ will Nachricht veröffentlichen 05.01.12

Die „Bild“-Zeitung geht in die Offensive und will nun die umstrittene Mailbox-Nachricht veröffentlichen, die der Bundespräsident bei Chefredakteur Kai Diekmann hinterlassen hat. Dazu will das Blatt die Zustimmung von Wulff einholen.

Hamburger Abendblatt   6.1.12

Berlin. „Die Redaktion bedauert diese Entscheidung.“ Kurz nach 16 Uhr am Donnerstag bildete die finale Reaktion der „Bild“-Zeitung den Schlusspunkt eines Briefwechsels, der für Bundespräsident Christian Wulff noch ein Nachspiel haben könnte. Einer Veröffentlichung seines Anrufs auf der Mobilbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann stimmte der Präsident trotz der Bitte Diekmanns nicht zu.

Hamburger Abendblatt   16.01.2012

Dem „Spiegel“ liegt nach eigenen Angaben eine Hotelrechnung vor, die Groenewold während des Oktoberfestes beglichen habe. Dieser habe damit nach eigener Aussage auch einen Teil der Kosten für die Unterbringung des Ehepaares Wulff übernommen. Wulffs Anwalt sagte dem Magazin dazu, sein Mandant habe eine eigene Hotelrechnung bekommen.(…) Groenewolds Anwalt sagte dem Blatt: „Mein Mandant hat dafür, dass Herr Wulff eine bessere Zimmerkategorie erhält, 200 Euro pro Übernachtung bezahlt. Es waren insgesamt zwei Nächte, also 400 Euro.“ Von der Kostenübernahme habe Wulff nichts gewusst.

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Der nette Kalauer „Wulff im Schafspelz“ ist mir, anders herum gedacht, auch eingefallen; spielt Herr Wulff eben nicht den verkleideten Wolf, sondern gibt die Rolle des Schafs, das mit seinem Blöken die Aufmerksamkeit nimmersatter Pressewölfe auf sich zieht. Aber lassen wir den Mann mal einen Augenblick beiseite, der es offensichtlich nicht recht kann und auch für sich selbst nichts. Ebenso zu vernachlässigen ist die „biedere Mittelmäßigkeit“ obiger Artikel, deren vollständige Lektüre ich dem Leser deshalb erspare. Auch das verkniffene, blutleere Geschwafel eines Hubertus Heil oder eines Oppermann zu dem Thema sei übergangen; denn ein Skandal ist immer zuerst ein Skandal des Journalismus, wie auch die obigen Zeilen zum Präsidenteninterview belegen. In anderen Gazetten findet sich Ähnliches. Da werden die Fragen an den Präsidenten kritisiert, die Art der Formulierung und dessen Antworten, versteht sich. Was hat er getan? Er hat sich einen Privatkredit mit Hilfe der Frau eines Freundes beschafft, dem er keinen Posten oder Auftrag verschafft hat und einen Bankkredit zu Konditionen, die er – als Präsident – bei etwas Nachdenken nicht hätte annehmen sollen. Aber der Präsident war und ist eben nur der Herr Wulff.  Dazu leistete er sich als Präsident einen unbeherrschten Anruf, was nur insofern unter seiner Würde war, als der  ihm gut bekannte Angerufene des Anrufs unwürdig war; handelte es sich doch um einen der Vordenker des gemeinen Bundesbürgers. Da versteht der Bundesblätterwald, in den man nichts hineinrufen muss, damit um so mehr herausschallt, keinen Spaß. Die selbsternannte Generalinquisition der Organe der Presse in Wort, Bild und Bild-Zeitung, der keine Organtransplantation gegen den täglichen Aussatz hülfe, wo die undeutlichste Ahnung für eine deutliche Meinung ausreicht und deren Falschheit die Bigotterie des mittelalterlichen Originals um Längen überragt, vertritt eine Anklage, der kein anderes Gesetz zugrunde liegt, als das ihrer Selbstgerechtigkeit. Eine Spezies, die noch für jede Veranstaltung Freikarten bekommt und verlangt, sich überall mit Presseausweis vordrängt, hohe Spezialrabatte bei Autokauf, bei Banken, Versicherungen, für Reisen, in Geschäften, Hotels, bei insgesamt 1700 Firmen von weit über 400 € erhält und selbstverständlich für lau als geladener Gast in fast jedem Regierungsflugzeug für sitzt, spielt sich auf als arbiter elegantiarum. Dass der Bundespräsident im dritten Wahlgang gewählt wurde, sich naiv und dumm verhalten hat und dass er, wie man da sieht, der zweitbeste Kandidat war, das ist ab sofort ganz allgemein bekannt und nachweisbar. Der Journaille reicht aber noch nicht, was mir schon bis oben hin steht, dass sich nämlich die Bild-Zeitung zum Kronzeugen seriöser Berichterstattung stilisiert sehen darf. Eine Pressefreiheit, die sich ohne Gewissensbisse überall und immer herausnimmt, was sie nichts angeht, soll durch einen dümmlichen, aber keineswegs strafbaren Anruf bei ausgerechnet der Bild-Zeitung bedroht worden sein, die täglich ungeahndet den Geist der Leser allein durch ihr bloßes Erscheinen nicht nur bedroht, sondern Seite für Seite mit Phrase und Halbwahrheit massakriert? Wie zum Beweis dessen streckte das Produkt fortlaufender  Enthirnung vor Schloss Bellevue Schuhe in die Höhe und hielt diese Beleidigung aus Geistesschwäche für eine Demonstration, über die das Fernsehen betroffenheitschuldigst berichtete. Schon über das unlautere Motiv, von der Nachricht auf dem Anrufbeantworter gezielt verspätet zu sprechen, muss man nicht spekulieren, weil es Absicht war. Zwar hatte Herr Wulff hat sich bei Herrn Diekmann umgehend entschuldigt, und der hatte die Entschuldigung akzeptiert, aber das bedeutet nichts im Journalismus, weil akzeptierte Entschuldigungen eine Charakterschwäche darstellen, wenn dadurch die Steigerung der Auflage behindert wird, und diese Charakterschwäche kann sich kein Journalist erlauben, der einen Charakter hat, wie ein Journalist. Dennoch darf  die  Bild-Zeitung auf präsidiales Veto hin, das mitgeschnittene Telefonat nicht veröffentlichen, wo doch der Chefredakteur persönlich den Bundespräsidenten gebeten hatte, gewissermaßen auf  Augenhöhe. Warum hatte er gebeten, der angenommenen Entschuldigung zum Trotz? Um für Transparenz zu sorgen. Transparenz mit Hilfe der Bildzeitung? Das bedeutete die Wendung des Begriffs ins Gegenteil. Der geschäftstüchtige Täter gibt sich als selbstloser Zeuge  und erhofft, wie ein  ertappter Dieb, durch Verlage des vertraulichen Guts den zu Bestehlenden zu blamieren. Privatsphäre? Da könnte jeder kommen, und jeden hätte man gar nicht erst gefragt. Was Herr Wulff  losgelassen hat, kann sich ein jeder denken. Nur ein Redakteur  und der  Bundes-Bild-Bürger denken nicht. Der eine muss verweigern wegen der Auflage, der andere wegen der Geisteslage. Der Wortlaut wurde beiden auch nur solange erspart, bis die Diskretion der Bild-Zeitung dafür gesorgt hatte, dass der eher belanglose Inhalt unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekannt wurde. Inzwischen weiß man, dass es nichts wirklich Überraschendes nur Ungeschicktes auf Band gab, und also zieht vor-Bild-lich investigativ das Extrablatt für den Nachrichtengourmet, der „Spiegel“, eine alte Hotelrechnung aus dem journalistischen Verdauungstrakt, zu Nutz und Frommen jenes Blattes, das Meinung produzieren muss, weil es sich zum ordentlichen Urteil schon immer unfähig wusste, damit auch die Leserschaft  nichts genau weiß und immer mehr von dem wissen will, was man nicht weiß und nicht wissen muss, und es  deshalb glaubt und daher immer ganz genau weiß, was kaum zu glauben ist.

Was auch nicht zu glauben ist, ist allerdings das, was sich die geballte Seriosität der journalistischen Diagonalintelligenz in Form von Herrn Deppendorf – der sich in Zukunft endgültig von Wilfried Schmickler vertreten lassen sollte – und vor allem Frau Schausten im Interview mit Christian Wulff leistete, beide legitimiert durch nichts, aber auch gar nichts, als ihr berufsbedingtes Dasein in Berlin. Über vierhundert Fragen der Presse zu den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hatte Herr Wulff nach eigener Aussage im Vorfeld des Interviews zu bearbeiten und musste sich des Vorwurfs der Verzögerung erwehren, dass er es nicht schnell genug hinbekommen hätte mit seinen Antworten, wohingegen die ihm gegenüber sitzenden Nachrichtenhyänen, jeden auch nur Druckfehler umgehend zum Charakterdefizit erhoben hätten. Wer legitimierte überhaupt die Fragen auch nach Privatestem?  Wie schon gesagt, Herr Wulff war und ist Herr Wulff, und er ist Bundespräsident, aus welchen Gründen auch immer. Er ist der, von dem man wissen konnte und musste, dass er so ist, wie er ist und dass Angela Merkel ihn eben deshalb zum Präsidenten wählen ließ:  Als Biedermann für den deutschen Biedermann in all seiner Mittelmäßigkeit, und ohne jedes Genie gerät Anstand zur Minimalanforderung. Fast hat man den Eindruck, man nähme ihm eben das übel, „einfach“ – in des Wortes doppelter Bedeutung – nur so zu sein, wie das Schlitzohr von nebenan, dem man sich selbst auch ähnlich weiß oder es gern wäre. Er sagte im Interview das, was man sagen muss, wenn man bei Unanständigem erwischt wurde und sich zunächst vor unangenehmen Nachfragen drücken will. Das tat er im Rahmen seiner Möglichkeiten so überzeugend, wie sein jeweiliges Gegenüber Überzeugenderes umfänglich verabsäumte. Von Anbeginn spürte man bei allen  Fragen die unlautere  Absicht, einen Bundespräsidenten vorzuführen, vor allem bei Frau Schausten. Das war nicht degoutant, sondern einfach zum Kotzen. „Präsident auf Bewährung“ war noch die gelungenste der  missratenen Metaphern. Aber wenn die Dame vorwurfsvoll-gelogen, mit treuem Augenaufschlag mitteilt, „Ja,“ sie zahle bei ihren „Freunden“  für eine Übernachtung und zwar 150 €, dann wird es hochnotpeinlich. Inzwischen hat sie „relativiert“, was genügen muss für eine Journalistin, die schlicht gelogen und nicht nur  relativiert hat, wie etwa ein Bundespräsident, der nicht gelogen, kein Gesetz sicher gebrochen hat, wie ein Kanzler Kohl, aber alles relativiert und erst zu wenig gesagt und dann zu viel verschwiegen hat. Frau Schausten darf beim Fernsehen bleiben, Herr Wulff soll gehen. Das ZDF, dem es wohl die Sprache verschlagen hatte, mochte dazu  nichts sagen, weil es „um Herrn Wulff“ gehe. Ach so!  Ich bezahle übrigens Freunde nie, weil ich damit nachwiese, dass ich keine Freunde hätte und mich die, die ich habe, schon beim Angebot einer Bezahlung rauswerfen würden. Zugegeben, eine Ausnahme würde ich machen und würde Frau Schausten immer bezahlen, aber nie hereinlassen und wenn doch, dann hätte sie tatsächlich zu zahlen und zwar im Voraus. Man muss kein Prophet sein, um weitere, Enthüllung genannte Halbwahrheiten der Medien vorherzusagen, die sich um den Anstand, den sie bei anderen einfordern, keine Sorgen machen, weil dessen Missachtung das Pfund ist, mit dem sie Wucher treiben. Die Frage bleibt, wer oder was diese unkontrollierte Macht und ihr Unwesen legitimiert, die Leben umgehend aussaugt, wo sie allenfalls zu informieren gehabt hätte. Sie werden das Kind wie üblich in den von ihnen aufgedeckten Brunnen stürzen lassen, dann den Deckel wieder drauflegen, bis zum nächsten Mal. Sie werden alles darüber berichten und – mit Peinlichkeitsabstand – irgendwann später davon, dass sie sich für ihr Tun entschuldigt haben. Die Person Wulff ist mir mehr oder weniger gleichgültig, die Rolle der Presse nicht.  Wie gesagt, ein Skandal ist immer zuerst ein Skandal des Journalismus.


Entwicklung. Von Karl Kraus.

22. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Entwicklung, Notizen zur Zeit

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen.    Karl Kraus

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Entwicklung.

Kürzlich las ich einen Vorschlag zur Abschaffung der deutschen Satire. Hätte ein Greisler nachgewiesen, dass auch der gesalzene Kaviar keine Volksnahrung sei, ich wär’s zufrieden gewesen. Aber er sagte, das Volk verlange bessere Nahrung. Die Satire auf vaterländische Übel habe sich überlebt, denn das Vaterland habe kein Übel mehr. Die bösen Zeiten der kulturellen Zerrissenheit seien vorüber und seit genau fünf Jahren sei die Entwicklung abgeschlossen. Und da es keinen Schwindel und keine Hässlichkeit mehr gibt, so ist auch kein ersichtlicher Grund für die geringste satirische Anstrengung vorhanden. Also ein Vorschlag zur Güte, der annehmbar wäre, wenn er nicht selbst die Satire auf ein noch wenig bebautes Feld verwiese, nämlich auf die Dummheit.

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Nicht einmal die Entwicklung eines Kindes, geschweige denn die eines Volkes. Wenn ich nach fünf Jahren in ein Familienhaus kam, so war es wohl nicht zu verkennen, dass der kleine Rudolf inzwischen gewachsen war, aber ich fragte mich sogleich, ob mir der Unterschied zwischen einst und jetzt auch aufgefallen wäre, wenn ich die ganze Zeit dabei gestanden, meine Hand auf seinem Kopfe gehalten oder wenigstens jeden Morgen nachgesehen hätte, ob er größer geworden sei. Ich glaube, um eine Entwicklung recht zu genießen, muss man sich von ihr überraschen lassen. Aber fünf Jahre im Leben eines Volkes sind vielleicht nicht einmal so viel wie ein Tag im Leben eines Kindes, und wenn man dort alle fünf Jahre nachsieht, so fällt einem keine Veränderung auf. Die Fähigkeit, eine Entwicklung zu übersehen, wächst mit der Entfernung, in der man von ihr steht, und nur dem sogenannten »historischen Sinn« ist es gegeben, sie aus unmittelbarer Nähe aufzuspüren. Der historische Sinn ist aber eine Eigenschaft, die man gerade bei den jüngeren Zeitgenossen antrifft, weil für sie jede Erfahrung den Reiz des Ungewohnten hat, jedes zeitliche Erlebnis zum Ereignis wird und jeder Glockenschlag eine Ewigkeit einläutet. Gewiss wäre der kleine Rudolf, von dessen Entwicklung ich mir erst Rechenschaft geben kann, wenn sie abgeschlossen sein wird, schon jetzt imstande, die Entwicklung des deutschen Volkes von gestern auf heute festzustellen. Die Häufigkeit dieser Erscheinung ist selbst wieder eine Tatsache der kulturellen Entwicklung, die man nicht übersehen darf. Denn seitdem die Zeitgeschichte täglich zweimal erscheint,  ist jeder in die Lage versetzt, Phrasen zu gebrauchen,  die sonst erst nach einem Jahrhundert in der Leute Mund kämen. So kann einer zum Beispiel behaupten, die deutsche Nation sei bis vor fünf Jahren in der Umbildung begriffen gewesen, seit damals aber habe sie pünktlich die Verpflichtung erfüllt, eine »aus heterogensten Ständen plötzlich nach außen einsgewordene Gemeinschaft innerlich zur homogenen Rasse zu verarbeiten«. Wer sollte leugnen, dass dies ein Ziel sei, aufs innigste zu wünschen? Wer außer den Satirikern ist so blind, nicht zu sehen, dass es über Nacht erreicht wurde? Jene glauben noch immer, an der Tafel einer Kultur zu sitzen, in deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Wie Petron vom Gastmahl des Trimalchio sagt: »Nun folgte ein Gang, welcher unserer Erwartung nicht entsprach, doch zog er durch seine Neuheit aller Augen auf sich«, so sehen sie Wunder über Wunder,  und sind unzufrieden. Ein »Mischmasch von einem Spanferkel und anderem Fleische«, »ein Hase mit Flügeln, damit er dem Pegasus gleiche«, und »in den Ecken des Aufsatzes vier Faune, aus deren Schläuchen Brühe auf die Fische herunterfließt, die in einem Meeresstrudel schwimmen«. Zum Lob der Brühe singt ein ägyptischer Sklave mit abscheulicher Stimme ein Liedchen. Aber die satirischen Gäste finden sie trotzdem nicht schmackhaft und erdreisten sich, all ihr Salz hineinzuschütten. Und nachdem sie sich noch an der protzigen Aufschrift des hundertjährigen Falerners berauscht haben, träumen sie diesen Traum:

Die Entwicklung ist eine G. m. b. H., das Schicksal ist ein Kaufhaus des Westens, das Leben ist eine Stehbierhalle. Um die Seele des Menschen ringen Wertheim und Tietz. Zweimal täglich löst eine Generation die andere ab, aber die Zeitrechnung beginnt mit der Einführung der orthozentrischen Kneifer, der Reformglücksehe und der Eröffnung der Halenseer Terrassen. Alles, was vorher geschah, hat nur dazu gedient, die sogenannte Entwicklung vorzubereiten, wenn es sich nicht etwa zum Beweise der Homosexualität des Fürsten Eulenburg heranziehen lässt. Nicht nur die Geschichte, auch die Bibelforschung hat wertvolles Material geliefert, aus dem klar hervorgeht, wie seit Erschaffung der Welt alles auf eine Entwicklung hingearbeitet hat, die erst jetzt abgeschlossen vor uns liegt. Schon die Häufigkeit der Bemerkung »Und der Herr sprach« scheint darauf hinzudeuten. »Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom, das ist groß und ihre Sünden sind schwer … Da ließ der Herr Schwefel regnen auf Sodom …« Merkwürdig ist auch der Hinweis auf die Affäre von Loths Töchtern: »Also gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in dieser Nacht … Und sie wurden schwanger von ihrem Vater. Und die älteste gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter, bis auf den heutigen Tag«. Und dann war wieder eine Leiter da, »die stand auf Erden und rührete mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel des Herrn stiegen daran auf und nieder«, denn es waren Flügeladjutanten Gottes … Hier verlässt der Traum die logische Linie und ist plötzlich an dem Punkt, wo die eigentliche Entwicklung ansetzt. Es braust ein Ruf wie Donnerhall:

Pauline, au au, au au, au au
Wie haben sie dir verhaun!

Fünf Jahre später schon ist der Spieß umgekehrt:

Und er rief: Geliebte Krause — immer mit der Hand lang
Machen Se doch ’ne kleine Pause — immer mit der Hand lang!

Die Entwicklung ist im Zuge, wir wissen, wie viel’s geschlagen hat. Zuerst hieß es bloß: Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt! Bald aber wird schüchtern hinzugesetzt: Und höchstens noch die strengen Masseusen! Es ist nicht schimpflich, sich im Frieden schlagen zu lassen, und kriegerische Tüchtigkeit steht nach wie vor in hohem Ansehen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher versicherte die Schangsonette:

Ja, so ein Leudenant, so fesch und sauber,
Wirkt auf ein Mädchenherz als wie ein Zauber.

Jetzt singt zwar noch immer eine ganze Kompagnie:

Ja, wir sind doch ’ne eigne Rasse,
Zivil ist ganz ’ne faule Klasse!

Aber die es singen, sind uniformierte Mädchen … Die Satiriker träumen weiter. Von einer Politik, die durch eine eifrige Ausnützung der Verkehrsmittel, wie Post und Telegraph, sich in der ganzen Welt Geltung verschafft, da man einsehen gelernt hat, dass das gesprochene Wort nicht ausreicht. Von einer Justiz, die den Tod eines Angeklagten für keinen Vertagungsgrund hält, von einem Lauf der Gerechtigkeit, bei dem zuerst sie vor den Fürsten und dann die Fürsten vor ihr ohnmächtig werden, und überhaupt von all den Dingen, die man Schmutzereien nennt. Der Schlaf der Satiriker wird unruhig, aber sie haben nichts zu fürchten, denn zu ihren Häupten stehen die Schutzmänner Michael und Gabriel. Sie träumen von einer Welt der Speisehäuser, deren Portiers auf die Frage, was die Göttinnen im Stiegenraum mit der Verdauung zu tun haben, prompt die Auskunft geben: Herr, das hat doch den Zweck, um dem Schönheitssinne Rechnung zu tragen! … Die Satiriker wälzen sich auf ihrem Lager. Da sehen sie Böcklins Toteninsel mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Es ist erreicht. Die Entwicklung ist soeben auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Nation zur homogenen Rasse verarbeitet. Und fünfundzwanzig Jahre hat es gebraucht, bis das Volk in den Besitz der unentbehrlichsten Schmutzereien gelangte, und nur fünf,  bis es die Kultur bekam … Die Satiriker erwachen. Die Polizeihunde Edith und Ruß bellten so laut.

Karl Kraus.


Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer

07. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

DIE FACKEL

Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr. S. 6-13

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Das Gehirn des Journalisten.

»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.

Tausend Jahre Zeitungen — es ist ein Gedanke, den man nur mit Grauen denken mag! Wird es, kann es nach dreißig Generationen von Zeitungslesern noch eine Vernunft, einen Geist auf Erden geben? Einen Geist, der mehr ist als die tote, verschliffene Hülse geistloser Gemeinheit? Die schlimmsten Befürchtungen sind hier immer noch nicht schlimm genug. Mit der Geburt des Tagschreibers aus der Geistverlassenheit des Dünkels schloss sich der Ring der modernen demokratischen Unkultur. Und diese Spottgeburt, die sich durch Lumpen und Schwärze fortpflanzt, musste notwendigerweise erfolgen, sobald die unseligsten aller Erfindungen die Voraussetzungen hierzu geschaffen hatten. Der Zwang, in irgend einer Hinsicht ein Fürsichstehender, ein Eigner seiner selbst zu sein, ist dem Massenmenschen jederzeit eine unerträgliche Last gewesen; immer hat dieser es als Wohltat empfunden, sich sein Denken, Handeln und Fühlen vorschreiben zu lassen. Aber niemals — auch nicht zur Zeit der kirchlichen Allmacht — ist die intellektuelle und ethische Kastration der Menschheit mit so durchschlagendem Erfolg versucht worden wie von den unverfrorenen Faiseuren, die jetzt mit Hilfe einer wahrhaft schwarzen Kunst der Masse das lästige eigene Denken und Betrachten abnehmen und das Surrogat hierfür täglich zweimal ins Haus schicken. Gab es jemals ein glänzenderes Geschäft? Der hungernde Philister versagt sich ein Stück Brot, um ein Zeitungsblatt zu kaufen. Heute bereits ist die Lesemanie so allgemein verbreitet, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer Muße mit dem Verschlingen von Nachrichten und Betrachtungen ausfüllen, zu denen sie nicht die geringste innere Beziehung haben. Sie verschlingen die fragwürdigste geistige Kost ohne jede Not und ohne jede Möglichkeit der Verdauung, die schon wegen der übermäßigen Quantitäten ausgeschlossen ist, auch wenn die Nahrung selbst verdaulich wäre. Gibt es ein besseres Rezept zur schnellsten Erlangung der gründlichsten Stupidität? Und nun denke man an die Folgen dieser immer mehr sich verbreitenden und immer intensiver sich gestaltenden Praxis nach tausend Jahren! …

Die Kirche, die Vorgängerin der Presse in der Herrschaft über den Intellekt der Masse, hatte wenigstens ein Ideal, wenngleich ein lebensfeindliches. Sie besaß auch einen Geist, obgleich nur einen kranken, sie erschuf auch eine unvergängliche Kunst. Innerhalb der kirchlichen Allmacht war noch eine Kultur möglich. Der Kastratismus der Kirche war wenigstens ein System, der Kastratismus der Presse aber ist Unsinn und Gemeinheit als »Selbstzweck«, wie der Ausdruck für alle moderne Sinn- und Systemlosigkeit lautet. Die Kirche stand allezeit über den Gläubigen, die Presse kann ihre Macht nur erhalten, wenn sie den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. Die Popularität der Kirche war Klugheit, die Popularität der Presse ist wirkliche Gemeinheit, die Presse ist des Pöbels. Was der Zeitungsleser in den Blättern sucht und findet, ist der Abklatsch seiner eigenen Niedrigkeit, welche Welt und Leben von gesicherter Futterkrippe aus als ein weitläufiges Panoptikum für nimmersatte Gaffer betrachtet. Der Genius der Kultur wandte sich ab, als die Menschheit die Religion mit der Zeitung vertauschte. Aber dieser Tausch war ein unabweisliches Schicksal. Die Presse ist da, sie wächst, sie überwuchert alle Gebiete des Lebens, und der Tagschreiber löst den Pfaffen ab. Die Welt muss sich dafür interessieren, wie es in dem Gehirn aussieht, aus dem sie neu erschaffen ward: in dem Gehirn des Journalisten.

Es ist eine wenig erfreuliche Spezies Mensch, aus der die Tagschreiber sich rekrutieren. Es sind bestenfalls Menschen mit Ehrgeiz und Unternehmungslust ohne Rückgrat und Willen, Leute mit einem Zuviel an Phantastik und Überhebung, um es in einer bürgerlichen Nützlichkeitsexistenz auszuhalten, und mit einem Zuwenig an Verstandeskraft, Geschmack und Bildung, um im Geistigen und Kulturellen auch nur Kleines zu bedeuten. Es sind im bürgerlichen Sinne Deklassierte, im geistigen Sinne sterile Parasiten der wirklichen Bildung, Nebelgehirne, undisziplinierte Wildlinge mit Vandaleninstinkten. Wer irgendeine tiefere Bildung, wer auch nur das bescheidenste intellektuelle und ethische Reinlichkeitsgefühl besitzt, kann kein tauglicher Journalist werden. Bildung ist nämlich ein Hindernis für die journalistische Fixigkeit, sie untergräbt die dreiste Selbstgefälligkeit, die über alles so leicht und sicher urteilt. Bildung ist ein retardierendes Prinzip: die Erziehung zur Vorsicht im Urteil. Sie hält davon ab, einen Einzelfall bedenkenlos zu verallgemeinern oder eine Regel auf jeden Einzelfall zu beziehen. Die Bildung hat mit einem Wort Vorurteile, der Journalismus aber ist ‚vorurteilsfrei‘. Bildung verantwortet Urteile schwer und zögernd, der Journalismus verantwortet ohne weiteres alles und jedes.

Mit wirklicher Bildung kein Journalist, mit wirklicher Bildung daher auch kein Schriftsteller, kein Dichter, kein Künstler, kein Gelehrter nach dem Herzen der Zeitungskritiker. Es ist leicht zu erraten, was für eine Art von Literatur, Kunst und Wissenschaft die Presse propagiert, was für Leute sie am begeistertsten lobt: Alles, was mit ihr verwandt ist. Es gibt viele und darunter nicht wenig berühmte Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, die ihren Ruhm nur ihrem Mangel an tieferer Bildung und Einsicht verdanken. Aus diesem Mangel stammt jenes leichte Urteil, jene Bedenkenlosigkeit der Dummheit, jene kecke Geschwätzigkeit und aufdringliche Schamlosigkeit, die von der Ignoranz immer wieder mit Temperament, Mut des Geistes und künstlerischer Naivität verwechselt wird. Solche Berühmtheiten wirken im Grunde mit den Mitteln des Journalismus, sie sind dem Tagschreiber verwandt, — es sind vielfach nur entsprungene Tagschreiber …

Die Bildung ersetzt der Tagschreiber durch ein spezifisches Gedächtnis, durch ein Notizbuch oder einen Zettelkasten. Aus aufgeschnappten Namen und Aussprüchen, schlechtgehörten Urteilen und schlechtgelesenen Berichten, zusammenhangslosen Begriffen und Historien, aus schiefgesehenen Tatsachen, aus fünfzig gangbaren Phrasen und mit dem Zubehör des eigenen Fetzenwissens webt er die Ellen seiner Arbeit. Man darf billigerweise nicht übersehen, dass auch unser moderner Schulmechanismus kein anderes als ein solches Phrasenwissen hervorbringt, dass die Schule alles tut, die unheilvolle Verwechslung von Bildung (d. h. Zucht der Sinne und des Intellekts, um richtig sehen und denken zu lernen) mit wertlosem Gedächtnisballast und papageienhafter Nachplapperei vorzubereiten. Die Schule, die von jeder Ecke der Welt einen Theoriefetzen und von jedem Ding wenigstens den Namen in uns hineinstopfen will, verführt die Masse dazu, die Zeitungslektüre für die natürlichste Fortsetzung der »Bildung« zu halten. Der Tagschreiber hält heute den Posten für »Ausbau der Bildung« besetzt. Die Zeitung ist das Schulbuch der Erwachsenen. Und der Tagschreiber ist der Lehrer der großen Masse.

Allem, was heute als Bildungsfaktor gilt, der  Zeitung, der Schule, der Reisewut, den Ausstellungen, dem unmäßigen und sterilen Kunstbetrieb, all dem haftet der Fluch des Vielzuviel an. Wir liegen vor der Quantität auf dem Bauch, wir haben völlig vergessen, dass die eigentliche Geistigkeit, die innere Kultur gerade in der Abwehr des Zuvielen, des Angehäuften, in der Beschränkung auf das Wenige, das Verdauliche besteht. Wir haben die Bildung zu einem Kinematographentheater umgestaltet, in dem auf einem endlosen Film eine Kette von wahl- und zusammenhangslosen Momentbildern sich abhaspelt. Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen, Flüchtigen und Halbgesehenen …

Der Journalist ist nicht ein Schriftsteller aus innerem Zwang, sondern ein Schreiber, der einem Druck von außen gehorcht. Er schreibt nicht, weil er etwas zu sagen hat, sondern er sagt immerfort etwas, weil er schreiben muss. Und er hat beim Schreiben das Gefühl, nicht das sagen zu müssen, was er für richtig hält, sondern das, was »man« heute für richtig hält und was übermorgen bestimmt nicht mehr wahr ist. Der Tagschreiber hält beim Schreiben nicht Gericht mit sich selbst und jenem »Man«, sondern schielt ängstlich nach dem Leser, den er schon über seine Schulter gucken sieht. Beim Schriftsteller besteht zwischen Person, Stoff und Form ein organischer Zusammenhang. Das Verhältnis des Tagschreibers zu seinem Stoff aber ist ein durchaus widernatürliches und gezwungenes. Die Auswahl des Stoffes ist bereits ohne ihn vollzogen: er ist abhängig von der Augenblicksgegenwart, von der Aktualität, vom Vordergrund; er hat nur innerhalb des Heute, des »Modernsten« eine Auswahl. Das Heute, der Gischt der Unmittelbarkeit, ist aber gerade das Noch-nicht-zu-Beurteilende, ist dasjenige, was von einem Betrachter, der die Wahrheit und das Wesen einer Sache zu ergründen sucht, mit der feinfühligsten Behutsamkeit und dem kühlsten Misstrauen aufgenommen werden muss. Dem Tagschreiber ist es nicht im Geringsten um die Wahrheit zu tun — er führt dieses Wort, wie alle schönen Worte, im Munde —, sondern nur um Urteile überhaupt, um Urteile, die lediglich durch die Aktualität der beurteilten Substanz interessieren. Was weiß er von der vorsichtigen Gelassenheit, mit der ein geschulter Denker seinem Problem gegenübertritt, von der unbeirrbaren Geduld und zarten Unerbittlichkeit, mit der er es allmählig entwirrt und fasslich macht? Wie hätte der Schreiber des Tages auch nur die Muße zu wirklicher Denkarbeit! Er hat zu schreiben, nicht zu denken. Er kriecht auf den schwierigsten Problemen so geschäftig herum wie die Made auf dem Käse, um sich davon zu nähren und sie überdies noch zu beschmutzen. Der Ernst einer Sache schreckt ihn niemals ab; er hat nur einen Ernst: mit den Brocken, die er der Masse hinwirft, ihren Geschmack zu treffen, vor der Masse recht zu behalten, maßgebend zu sein, eine Macht zu sein, mit der man sich verhalten muss! Er sagt mit Pilatus: Was ist Wahrheit! Er fühlt sich als Anwalt einer Majorität, er stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf die Mode, auf das unisone Geschrei des Tages.

Die Presse hat mit Vernunft und Wahrheit nichts zu tun, sie schlägt ihnen täglich ins Gesicht;  sie sorgt für den Obskurantismus besser noch als die Kirche. Dass die Presse, die sich fortschrittlich nennt, irgendwie Aufklärung verbreite oder den Fortschritt fördere, das glauben nur solche, die durch Zeitungslektüre bereits hoffnungslos verdummt sind. Das Hauptargument für die »Berechtigung« oder »Notwendigkeit« der Presse ist jetzt dieses, dass sie die liberalen Institutionen in Schutz nehme. Nun, man mag über die liberalen Institutionen denken wie man will; was würde aber — gesetzt, es wäre wahr — der Schutz einzelner verbriefter (und trotz Presse meist eben nur verbriefter) persönlicher Freiheiten bedeuten gegen die scheußliche Tyrannei der Masse, welche gerade durch die Presse gefestigt und geheiligt wird! Schließlich steckt hinter jedem liberalen Ding immer ein Tyrann. Die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird, ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die illiberalste aller Institutionen. Die Presse wird immer den Erfolg anbeten und — um selbst daran teil- zunehmen — dem huldigen, der die Macht hat, oder dem, welchem die Macht winkt. Nein, die Presse hat nichts mit der Freiheit zu tun, die »freiheitliche« am wenigsten! Und mögen Präsidenten, Minister, Zelebritäten und Streber sie noch so oft als segensreiche Macht verhimmeln! Sie wissen, warum sie’s tun ….

Aber der Mensch ist ein zähes Tier. Vielleicht wird die Presse sich selbst ad absurdum führen und wie jener Frosch, der sich zum Ochsen aufblähen wollte, krepieren, noch ehe der menschliche Intellekt und die menschliche Würde ganz zuschanden werden. Eines aber wird schon in kurzer Zeit unwiederbringlich verloren sein: das lebendige Sprachgefühl. Der Tagschreiber, dem fast ausschließlich nur der Zufall Artikel diktiert, der sich für alles  interessieren Muss und daher für nichts interessiert, ist von vornherein zu einer affektierten Schreibweise verurteilt. Er schreibt nicht als Fachmann eines Gebietes, sondern über alles nach unzureichender Information. Er verwendet die Termini und Formeln aller Berufe und Wissenszweige, ohne deren Sinn zu kennen, er ist ein Ignorant, ein typischer Oberflächenmensch und drückt sich daher am liebsten verschwommen und zweideutig aus. Da er immer eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer übertrieben, ist er — nolens, volens — ein Liebhaber des Extrem-Expressiven. Er beherrscht, da er keinen eigenen Stil haben kann, alle Stilarten und hetzt jedes klingende Wort erbarmungslos zu Tode. Der Tagschreiber aber ist der einzige, der von einer ungeheuren Majorität gelesen wird. Die totale Korruption des Wortes ist unabwendbar, wenn es nur noch drei Generationen Tagschreiber und Zeitungsleser geben wird. Denn die Zeitungsleser sind Wiederkäuer! Anschaulicher, als lange Reden es vermöchten, malt Nietzsches Gedichtchen »Das Wort« — selbst ein sprachliches Kleinod — das trübselige Geschick, mit dem Sprache und Wort von ihren Schmarotzern und Würgern bedroht werden. Dem frommen Wunsch, in den es ausklingt, stimmen alle besorgten Schützer der Kultur zu, denen der Tag nicht in Morgen- und Abendblatt zerfällt:

»Pfui allen hässlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!«

K a r l H a u e r.

*
* *

Es ist unzulässig, dass Leute der Wissenschaft Tiere zu
Tode quälen; mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern
experimentieren.

I b s e n.

*

Die Zeitungsschreiber haben sich ein hölzernes Kapellchen
erbaut, das sie auch den Tempel des Ruhms nennen, worin sie
den ganzen Tag Porträts anschlagen und abnehmen, und ein
Gehämmer  machen, dass man sein eigenes Wort nicht hört.

L i c h t e n b e r g.

Aus „Die Fackel“ Doppel-Nummer Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr.                             Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer.

 

»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.

Selbst nach über einhundert Jahren bleibt nur ungläubiges Staunen vor der Weitsicht dieses Denkers. Würde es heute jemand wagen können bei eintausend Fernsehkanälen eine auch nur fünfzigjährige  Konklusion zu ziehen, wo die multimediale Entmündigungsmaschine auf Hochtouren läuft? In Unmengen werden scheinbare Antworten auf  erfundene Fragen gegeben, die  niemand je stellen wollte und deren Beantwortung  so sinnlos ist wie die Frage selbst. Der Journaille  hat die Bescheidenheit  zur Frage von je her gefehlt, da sie  implizit vorher glaubt,  hinterher sowieso, alles besser zu wissen. Wieviel muss man wissen, um von sich zu behaupten zu dürfen, dass man nichts weiß? Meine Bewunderung gilt der Demut des Sokrates, die aus seiner lakonischen Bemerkung spricht. Dem Gehirn des Journalisten muss das  ein Rätsel bleiben.  Man kann sicher fragen, ob nun alle Journalisten gemeint seien. Nein,  nicht die Denker unter ihnen, die ihre Verantwortung kennen und wollte man Besipiele nennen, fiele einem Hermann Gremliza ein, Hans-Ulrich Jörges oder  eventuell noch  Klaus Kleber vom ZDF und manchmal sogar „Die Zeit“. Aber jene sind  in der Masse  selten , wie die Anderen  häufig und man muss lange suchen bevor man auf einen trifft, der spricht oder schreibt, weil er etwas zu sagen hat und nicht, um der Redaktion einen normierten  Beitrag  zu liefern. Nachhilfe kann  jedermann unter anderem bei Montaigne, den französischen Moralisten und bei Karl Kraus erhalten.   W.K. Nordenham

 

 

 

 



Der Löwenkopf oder Die Gefahren der Technik. Von Karl Kraus

02. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

(…) Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn
sie nackt sind, auffallend gekleidet gehen. Jede Gebärde eine Arabeske,
jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist
notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen
würde: mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem
Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies
Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe       und die Herzen von Katzen!                                                          Karl Kraus

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DIE FACKEL Nr. 384/385 13. OKTOBER 1913 XV. JAHR

Der Löwenkopf
oder
Die Gefahren der Technik

Eine ernste Nachricht, die eine Zeitung bringt, ohne dass sie einen Witz dazu macht, und keine andere, die es liest, macht einen Witz dazu:

[Die schweren Autobusse eine Gefahr für die Gebäude.]
Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die durch das Gewicht der Autobusse hervorgerufene Erschütterung des Bodens nicht ohne Einfluss auf Bauten bleibt, die sich in den Straßenzügen befinden, in denen die Autobusse verkehren …. Nun hatte sich die Bezirksvertretung Leopoldstadt vorgestern mit einem Antrage zu befassen, dessen Veranlassung beweist, dass unsere Forderung, es müsse bei der bevorstehenden Automobilisierung des Stellwagenverkehres vor allem das Gewicht der Wagen in Berücksichtigung gezogen werden, vollkommen berechtigt ist. Es haben sich nämlich mehrere Hausbesitzer der Praterstraße wiederholt beschwert, dass durch den Verkehr der ungemein schweren Autobustypen die Erschütterung der Häuser derart heftig sei, dass sich dadurch die Verzierungen an den Häusern lockern und leicht ein Unglück herbeiführen können. Um dieser Gefahr zu begegnen, soll die Praterstraße asphaltiert werden. — Außer der Bezirksvertretung Leopoldstadt haben sich ja auch schon andere Gemeindefunktionäre mit dieser Frage beschäftigen müssen, und man sieht, dass es gut sein wird, wenn bei der kommenden Automobilisierung die leichten Typen bevorzugt werden ….

Man hat keine Ahnung, von welchen Gefahren man stündlich bedroht ist. Wie leicht können sich die Ornamente lockern, wenn man gerade vorübergeht, und das Unglück ist geschehen.Ehedem war von den Ziegelsteinen das Ärgste zu befürchten, wiewohl sie viel fester saßen als die Ornamente. Aber wenn ein Ziegelstein an einem Kopf kaput geht, so ist das weiter kein Malheur, während durch die Vernichtung eines Ornaments unabsehbares Unglück herbeigeführt werden kann. Die schweren Autobusse sind eine Gefahr für die Gebäude, an
denen die Menschen vorbeigehen. Gewiss wird vielfach nicht nur an die Erhaltung der Ornamente, sondern auch an die Sicherheit der Passanten gedacht, wenn man den heutigen Zustand unhaltbar findet.Ein frivoler Mensch würde sogar den Vorschlag machen, die Ornamente abzuschaffen und Gott zu danken, dass die Autobusse uns die Trennung erleichtern, und diese Trennung lieber freiwillig vorzunehmen als sie von der Erschütterung durch die Autobusse herbeiführen zu lassen. Ja, man könnte geradezu sagen, die Gefahren der Technik seien ein wahres Glück und die Erfindung der Autobusse sei ein Fingerzeig der Vorsehung, der die Abschaffung der Ornamente dringend empfiehlt: die technische Entwicklung bringe doch die eine geistige Entschädigung mit sich, dass sie den Schnickschnack gefährdet! In dieser großstädtischen Zeit aber findet sich keine Bezirksvertretung, die den Konflikt zwischen der Technik und der Ästhetik zugunsten der ersten entscheidet. Denn jede hat ein Gemüt für die Ornamente und schafft lieber die Autobusse ab, die so viel brum brum machen, dass die Ornamente nicht schlafen können, sondern erschrecken und, bumstinazi, unten liegen. Ein frivoler Mensch würde den Vorschlag machen, durch sämtliche Straßen Wiens in derselben Stunde Autobusse zu jagen, auf dass dem Unfug ein jähes Ende bereitet werde, auf die Gefahr hin, dass ein paar Schock Verfasser von Zuschriften über »die Berge, die Eltern und die Gefahren« unter Ornamenten begraben würden und noch etliche andere unnütze oder verkehrshinderliche Existenzen dazu, und in der Hoffnung, dass die Erfinder der Ornamente selber darunter wären, wobei jeder jeweils den Vorzug hätte, seine eigene Pletschen auf sein eigenes Dach zu bekommen. Als der Erbauer des Michaelerhauses, dieser leibhaftige Autobus, der mit der Schönheit tabula rasa macht, von den Bezirksvertretern gemartert wurde, hätte er ihnen einfach einen Lohengrin und eine Leda mit je einem Schwan hinpappen sollen, damit die Seele eine Ruh hat, und dann einen tüchtigen Akkumulator arbeiten lassen sollen, um darzutun, dass die mythologischen Persönlichkeiten mit Pferdekräften doch noch schneller fortkommen. Ich wohnte einmal in einem Hause auf der Dominikanerbastei, da betete ich täglich, es möge endlich ein Autobus durchrasen, mich würde er nicht stören, denn ich wohnte in einem Zimmer mit Aussicht auf eine herrliche Feuermauer, auf die nichts gemalt war, so dass der Teufel noch Platz hatte, aber die Aeskulapschlangen, Gorgonenhäupter und sonstigen Utensilien, die auf der Fassade aufgeklebt waren, stierten mirs. Es war schwer, nachhause zu gehen. Zumal wegen der immer auftauchenden Sorge, was der Herr Wassertrilling, der das Haus erbaut hatte, nur mit der Mythologie habe. Eines Tages, ich saß geborgen vor meiner Feuerwand, — Riss es an der Klingel. Ich glaubte, es sei ein Leser, der mir einen Übelstand mitteilen wolle, es war aber ein Mann, der ganz echauffiert mir zurief: »Schaun S’ zum Fenster außi!« Ich erwiderte, dass es in meinem Hof Gottseidank nichts zu sehen gebe, worauf er unwillig versetzte: »Was, Sie wohnen gar nicht auf die Straßen?« Ich: »Nein, was ist denn geschehn?« Er: »Die Parteien, die was auf die Straßen wohnen, sollen außischaun!« »Ja, warum denn?« »’s Haus wird doch photographiert!« Ich warf die Tür mit einem so heftigen Wurf zu, dass ich einen Augenblick hoffte, die Aeskulapschlangen hätten sich von innen gelockert, das Haus werde nun kein freundliches Gesicht mehr machen und der Photograph erklären, unter solchen Umständen könne er nicht weiter arbeiten. Ich erfuhr aber, dass nichts passiert war, und ich ersah, dass es Menschen gibt, die sich zum Fenster hinausbeugen, wenn solch ein Haus photographiert wird, und die den Ehrgeiz haben, anstatt ihren Ursprung zu verleugnen, auf solche Platte zu kommen. Und kein Autobus fuhr durch. Das Haus, wiewohl ein neues Haus, steht noch heute, es ist eine Sehenswürdigkeit und vom Franz Josefskai leicht zu erreichen. Das Publikum, welches sich dort tummelt und das sichere Gefühl hat, dass dieses Haus das schönste auf der ehrwürdigen Dominikanerbastei ist, geht gern Samstag abends ins Café Imperial, des Staunens voll über die Pracht, die dort zu schauen ist. Als das freundliche alte Café von einem jungen Meister erneuert werden sollte und man lange nichts sah, da sah man zwar noch nicht die Klaue des Löwen, aber ein Löwenkopf hing doch schon an der Fassade und hielt einen Ring im Maul. Er hat einen Zweck, dachte ich mir. Er wird der künftigen Beleuchtung dienen. Geduld, dachte ich, zum Beleuchten einer finstern Gegend gehört vor allem ein Löwenkopf. Den hat man und dann wird man sich schon durchfretten. Vom Bauernschreck hat man auch nicht mehr und er erfüllt doch seinen Zweck. Genug, der Löwenkopf war da und er blieb durch Monate, als alles noch im Finstern lag. Schon aber kamen die entzückten Besucher aus der Leopoldstadt, wo sie für die Ornamente zittern, die vor den Autobussen zittern, und bewunderten den Löwenkopf. Ein Dorfschulbub wird bekanntlich gefragt, wie man eine Planke mache. Er weiß Bescheid, und wenn das Gestell so weit sei, schreibe er noch schnell  Lekmimoasch drauf und die Planke sei fertig.
Die Besucher des Café Imperial aber waren schon zufrieden, weil es drauf stand, noch ehe das Gestell so weit war. Die Planke ist auch heute mehr schön als brauchbar, aber die Wucherer haben einen so ausgeprägten Schönheitssinn, dass ihnen Löwenköpfe, Gottheiten oder Spargelbünde, die Licht geben, weiß Gott lieber sind, als eine Sitzgelegenheit. Den Schmutz der Gasse haben sie zuhause, und selbst der ist von Hoffmann. Je schöner aber die Welt wird,  desto mehr Wucherer ziehen in sie ein und bewundern die Arabesken. Es ist keine kleine Angelegenheit, dass einem der letzte Lebenswinkel austapeziert wird und die Verschönerung der Wände die Verschlechterung der Betrachter zur Folge hat. Die Welt der Autobusse ist nicht die, die man mit der Seele sucht. Aber man muss in ihr leben, um eine bessere zu finden, und eine schlechtere wird einem so zur Qual, dass man wünscht, ein Autobus möge nicht nur an einem renovierten Kaffeehaus vorbei, sondern auch durch seine Pracht hindurchfegen und alle Ornamente, die dort an den Wänden sitzen, und alle Bärte, die dort an den Ohren kleben, glatt mitnehmen. Denn allerorten drängen sich jetzt die Löwenköpfe, die Wände haben Ohren und es tauchen Menschen auf, die den Bauch wie einen Erker tragen und die Nase wie einen Risalit, und deren Hängebart sich im nächsten Augenblick, wenn die Arbeiten weiter fortgeschritten sind, als Beleuchtungskörper oder als Briefbeschwerer oder als  Bettvorleger entpuppen kann. Es muss etwas zu bedeuten haben, denn das Ding an sich kann es unmöglich sein. Wer wird denn mit so etwas im Gesicht herumgehen und es noch  offerieren,  wenn nicht was dahinter wäre? Aber man wartet vergebens, es wird nichts draus. Nun, praktisch ist so ein Vollbart nicht, »aber schen is«, sagt meine Bedienerin in solchen Fällen. Da ist ein Sprachlehrer, dessen Bild herumgetragen wird, Dienstmänner haben es auf dem Rücken, wo man jetzt hinkommt, sieht man diese Arabeske, selbst auf Zündsteinen, die sonst nur der Unterstützung des gefährdeten Deutschtums in der Ostmark dienen, taucht sie auf. Schön und stattlich, das ist der Eindruck. Man sieht es gern. Aber ein rasiertes Gesicht  hat auch seine Vorzüge, man kommt auf der Straße schneller vorbei, und wenn ich französischen Unterricht zu nehmen hätte, wegen des Fortkommens, würde ich geradezu darauf bestehen. Der Friseur am Lido, ein Idealist, der zwischen den Kapannen umherirrt und dessen Lebenslüge darin besteht, dass man nur von »manicure, pedicure!« leben könne,  verlangte drei Kronen für das Rasieren. Ich bot ihm dreihundert für den Bart des Bahr, der mir schon lange im Weg ist. Weiß der liebe Gott, ich mag solche Barben nicht! Man verstehe  mich recht. Der Löwe ist ein Löwe, er hat nicht nur einen Löwenkopf, sondern auch ein Löwenherz und man bleibt nicht stehen und sagt: Gut frisiert, Löwe! Ich weiß, wo die Manneszier den Mann beweist, und ich möchte um keinen Preis mir Tolstoi, Lear oder den Moses des Michelangelo rasiert wünschen. Aber wenn ein Wels aus Linz in der Adria vorkommt und sich in diesem Zustand gar photographieren lässt, sind physiognomische Beschwerden erlaubt. So möchte ich beim Barte des Propheten schwören, dass der des Bahr keine organische Notwendigkeit ist, sondern nur ein feuilletonistischer Behelf, ein Adjektiv,  eine Phrase. Es muss nicht sein. Oder vielmehr: es muss sein,  denn schon der gestutzte Schnurrbart verrät, wie dieses Gesicht aussähe, wenn es nicht phrasiert, sondern rasiert wäre. Die Augen sind gut, sie leuchten wie Rubine, aber man trägt nicht Rubine in einer Kartoffel. Ich möchte behaupten: gerade jene Gesichter, die des Vollbartes nicht wert sind, brauchen ihn. Es ist ein Dilemma. Köpfe gibt es, die dem Friseur nicht mit der Kundschaft weitergehen können, weil sie vom Raseur entlarvt würden. Der Historiker Friedjung hat einen Voll- und Ganzbart; man stelle sich vor, er hätte ihn nicht. Der Dichter Beer-Hofmann muss wie ein Hohepriester aussehen; sonst wär’s gefehlt, denn er sähe am Ende wie der Dichter Beer-Hofmann aus. Der Denker Bahr muss wie der liebe Gott aussehen; man stelle sich vor, wie er sonst aussehen würde. Und die Ähnlichkeit ist so zwingend, dass man sich, wenn man nur einmal am Lido geweilt hat, den lieben Gott künftig als Kapannenbewohner vorstellt, der binnen einer Stunde in vier verschiedenen Bademänteln an den Gläubigen vorüberwallt, in einem roten, in einem braunen, in einem blauen und in einem schwarzweißen, welcher der schönste ist, immer wechselnd, zieht an, zieht aus, zieht an, zieht aus, als ob der liebe Gott der Rothschild selber wäre. Ich habe Wunder über Wunder in diesem Sommer geschaut. Richard Wagner liebte Samt und Seide. Aber er brauchte nur zum Schreiben, was die Wiener Meister zum Baden brauchen. Und Schiller hat die faulen Äpfel nicht gegessen. Wunder über Wunder habe ich gesehn an jenem Strand. Quallen, die im Kaffeehaus arg darniederliegen, aber hier zu leuchten begannen, wenn jenes Gottes Sonne sie beschien, und alle Farben spielten, wenn ich in die Nähe kam. Tintenfische trugen Rezensionsexemplare in die Kapanne Nr. 20, liebe Schnecken, die im Winter plaudern, wanden sich vor mir, wenns  niemand sah, aber die ganze Fauna stand habtacht, wenn ihrer aller S. Fischer auftauchte. Der Bartsch fehlte mir in dem Aquarium. Aber wenn es Menschen waren, waren es Hohepriester. Nichts als Hohepriester sah ich, die nach dem Wetter auslugten und nach den Tantiemen. Sie wandelten nicht nur, sie badeten gern, denn wo sie hintraten, war das Meer seicht. Meine Anwesenheit störte sie nicht in den Geschäften, wenngleich sie unruhiger waren, als es Hohepriestern ansteht. Die Sonne war verhängt von farbigen Draperien und sie selbst schienen dahinter Schutz zu suchen. Aber solche Mimikry, dachte ich, macht nicht unkenntlich und schützt nicht vor Verfolgung, sondern im Gegenteil. Ich bin noch nüchtern genug, einen Hohepriester von einem Librettisten unterscheiden zu können. Ich trau mir’s zu. Ich weiß schon, wer die sind. Ihre Hülle verrät sie und über ihre Krücke straucheln sie. So leben sie. Wenn sie sterben, werden sie einem Hervorruf Folge leisten. Dass sie fünfzig Jahre alt werden, glaubt man ihnen zur Not, den Tod nicht, und nicht einmal wenn sie ihn erleben sollten, statt ihn bei S. Fischer erscheinen zu lassen. Es sind die Künstler, von denen, so wie sie da in ihrer Formen Fülle schreiten, das »Künstler-Beinfleisch« kommt, das jetzt in einem neuwienerischen Beisl angepriesen wird, und es ist jene Bohème, die das beliebte »Bohème-Gullasch« liefert. Der Bürger hat Geschmack, die Kunst schmeckt schon fast so gut wie Beinfleisch, und seitdem Gedichte vomiert werden, ist das Essen ein Gedicht. Die Landschaft ist malerisch, die Maler sind malerisch, alles ist malerisch bis auf das Malen. Alles ist wie wenn; es ist, wie wenn es wäre. Du liebe Zeit, verlange ich einen Scheiterhaufen, bringt man mir eine Mehlspeise. Wie gut wirs haben, sehen wir die Schönheit alter Formen so dem  weck gepaart! Ich lebe fern den Dominikanern und wohne jetzt in einem Hause, das ein Scheiterhaufen mit Schlagobers ist, der ein Gedicht ist. Nein, eine Symphonie von Bäuchen und Nasen,  und hat es gleich keine Aeskulapschlangen, die immer ein apartes Tragen sind, so meint es doch alles, was es sagt, anders und sagt es allegorisch. Wie reich ist die Welt und wie überbietet sie das Maß der Schöpfung! Wo das Auge sich umtut, findet es Schönheit. Nur in den Seelen macht die Technik Fortschritte. Der Mensch ist  außer sich geraten. Kein Wort lebt, keine Farbe — denn alles ist sowieso laut und bunt. Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn sie nackt sind, auffallend gekleidet  gehen. Jede Gebärde eine Arabeske, jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen würde: mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe und die Herzen von Katzen! Der Autobus ist kein Ziel, aber eine Rettung. Ich kann tabula rasa machen. Ich fege die Straßen, ich lockere die Bärte, ich rasiere die Ornamente!