Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Karl Kraus und der Sozialismus II: Zu Unbotmäßigkeit und Adel verpflichtet … . Von Richard Schuberth

29. Mai 2013 | Kategorie: Artikel

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Karl Kraus und der Sozialismus II: Zu Unbotmäßigkeit und Adel verpflichtet …

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 20

„Sie sagen: Wer nicht arbeit’t, der soll auch nicht essen – und wissen gar nicht, wen Sie allen mit diesem Ausspruch zum Hungertod verurteilen.“

Johann Nepomuk Nestroy

„Die Demokratie teilt die Menschen in Arbeiter und Faulenzer. Für solche, die keine Zeit zur Arbeit haben, ist sie nicht eingerichtet.“

Karl Kraus

„Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als die Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falsch gerichteten Eifer sehr ernsthaft und gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht; sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit.“

Oscar Wilde

1924 schickte sich der sozialdemokratische Parteipublizist Oskar Pollak mit dem Artikel „Ein Künstler und Kämpfer“ an, der großen linken Anhängerschaft von Karl Kraus die Augen für dessen wahren ideologischen Standort zu öffnen. Sein Hauptvorwurf zielte auf Kraus’ vermeintlich konservative Kapitalismuskritik. Er verwerfe „den Liberalismus als den Zerstörer einer vergangenen, aus der beschaulichen Primitivität der feudalen Ausbeutung erwachsenden Einzelkultur, anstatt ihn als die Halbheit künftiger allgemeiner Höhe ungenügend zu finden.“ Pollak billigt Kraus’ moralische Gesellschaftskritik bloß als probate Durchgangsphase zu einem theoretisch fundierten sozialistischen Bewusstsein, denn die „Schlacht, die jetzt kommt, wird nicht mehr um die Vorstellungen der bürgerlichen Geistigkeit, sondern um die Hauptstellungen der kapitalistischen Wirtschaftsmacht geschlagen. Dieser Kampf gegen das Kapital findet Karl Kraus nicht mehr an der Front.“ – Die folgenden zehn Jahre sollte Kraus dieser Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt nachweisen, dass sie es sei, welche die Front habe zusammenbrechen lassen, und dass die Schlacht um die „Vorstellungen der bürgerlichen Geistigkeit“ nicht abgeblasen wurde, um besser gegen’s Kapital zu kämpfen, sondern um die Operettenränge eben dieser „Geistigkeit“ zu usurpieren.
Aus marxistischer Perspektive mag vieles an Kraus’ Kritik tatsächlich wie eine bürgerliche Vorstufe der sozialistischen Gesellschaftskritik wirken, doch – und hier die These des Artikels – gibt Kraus so viel her und passt so schlecht in nur irgendeine Konservatismus-Schablone, dass er ebenso zu einer Weiterentwicklung jener Kritik taugt, und diese ehrenvolle Rolle gilt es herauszustreichen.
Es mag stimmen, dass er der „great civilizing influence of capitalism“ (Marx) mit Skepsis begegnet, doch nicht um sich zivilisierenden Einflüssen allgemein zu versagen. Denn keinesfalls ist Kraus ein Apologet einer vorkapitalistischen Gesellschaft, seine Ansichten über Architektur, Technik und soziale Ungleichheit weisen ihn als pessimistischen Modernisten aus; er flieht nicht vor der Stadt aufs Land, sondern vor den Wienern, und dankt es der Erfindung des Automobils; er verherrlicht nicht die Vergangenheit, sondern fahndet in ihr nach den Momenten, als sie noch eine Zukunft hatte. Sein Faible für Aristokratie gilt auch vor dem Weltkrieg weniger einer Klasse und ihren Angehörigen als dem normativen Habitus von Ritterlichkeit, Stil und stolzer Unbeugsamkeit, einem ideellen Adel, den er zeitlebens in allen Klassen, bei Proletariern wie bei Revolutionären suchen, finden und ehren wird.
Selbst sein Antiparlamentarismus der Vorkriegszeit lässt sich weniger mit nietzscheanischem Elitarismus oder der Loyalität zum K.u.k.-Absolutismus erklären als mit seiner Verachtung gegen die liberalen Repräsentanten des Reichsrats. Zur Erreichung sozialer Ziele sympathisiert er wiederholt mit außerparlamentarischem Aktionismus, mit Streik und syndikalistischen Tendenzen, sein Anarchismus ist also weit entfernt von jenem bürgerlich-romantischen, der die spätmittelalterliche Handwerkerkommune zum gesellschaftlichen Maß nimmt. Allerdings hört sich’s mit seinem Anarchismus bei der Kritik des Staates auf, dessen Rolle als Bändiger der Kartelle, Trusts und Monopole ihm unerlässlich scheint: „Und so bekenne ich, dass ich den Standpunkt des Staatsfreundes, der von der Gesetzgebung immer wieder das verlangt, was der manchesterliche Schwindelgeist höhnisch ‚Bevormundung’ nennt, ausschließlich dann beziehe, wenn ich das Geltungsgebiet ökonomischer Werte betrachte.“
Karl Kraus sucht weder außerhalb noch vor noch nach der bürgerlichen Welt das soziale Ideal, doch scheint ihm nicht nur als polemische Volte jede Gesellschaft besser, deren Vorstellungskraft und Denkpotenzial noch nicht von Markt, Wissenschaft und Presse formatiert ist – anhand vieler Beispiele belegt er etwa die Überlegenheit des geistigen Bewusstseins im Vormärz, als Journalismus noch eher in schnörkelloser Berichterstattung denn in feuilletonistischer Meinungsbildung bestanden haben soll.
Kraus ist sich des zivilisatorischen Fortschritts der liberalen Epoche wohl bewusst. Wann immer diese aber ihre Überlegenheit anhand ihrer ökonomischen Verfasstheit behauptet, ein Fortschritt, in dem er bloß ein Fortschreiten der Barbarei erblickt, weiß er, wo er zu stehen hat. Als zum Beispiel der Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Jansen begann, seine Schilderung der Eskimositten und die daraus abgeleitete Zivilisationskritik auf ein sozialpolitisches Fundament zu stellen, erntete er von vielen Seiten Spott und Empörung. Kein Wunder, hatte er doch geschrieben: „… fast kommunistisch sind ihre Leitmotive. Ihre Regel heißt: ‚Ich habe heute einen schlechten Fang getan, gib mir von deinen Fischen; morgen, wenn es dir schlecht geht, will ich aushelfen.’“ Den Spöttern spottete Kraus in einer Glosse: „Was diese Europäer anlangt, so haben sie allerdings mehr Kunst und leben nicht sich selbst, sondern vom Nebenmenschen. Ihre Regel heißt: ‚Ich habe heute einen guten Fang getan, indem ich mir von deinen Fischen nahm; morgen, wenn es dir schlecht geht, will ich mir aushelfen.’“

Wohltätigkeit und Weltanschauung

Kraus gab von seinen Fischen gerne ab. Durch Erbschaft zeitlebens vom Überlebenskampf entlastet, ließ er seine Einkünfte aus Lesungen stets karitativen Zwecken zukommen, konterkarierte diese Praxis aber mit Aphorismen wie: „Man sollte die Wohltätigkeit aus Weltanschauung bekämpfen, nicht aus Geiz.“ Die christlich-soziale Ethik fundiert die Barmherzigkeit auf individueller, die Sozialdemokratie auf nationaler, die Antiglobalisierungsbewegung fundiert sie auf internationaler Basis – was den Kapitalismus abmildern mag, aber in seiner Totalität nicht in Frage stellt. Kraus wusste, dass Mitgefühl strukturelle Kritik nicht ersetzen könne, aber gleichfalls wusste er, dass es sich mit einer solchen Kritik leicht vorm Mitgefühl drücken ließ. Sein Zweifel an der Wohltätigkeit ist nicht von Marx inspiriert, sondern vom Dandy und „Lilienpoeten“ Oscar Wilde, dessen kaum beachteten Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ er 1904 in der „Fackel“ als „das Tiefste, Adeligste und Schönste, das der vom Philistersinn gemordete Genius geschaffen“ habe, als „das wahre Evangelium modernen Denkens“ bezeichnete. Wiewohl man Wilde solch ein Werk nicht zugetraut hat, enthält es viele Stellen, welche den antiliberalistischen Sternsingern dringlicher denn je ins Poesiealbum geschrieben gehören – wie die folgende: „…aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, unbotmäßig und aufsässig. Sie haben ganz Recht, so zu sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens der Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. (…) Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit.“

Gott erhalte uns den Kommunismus!

Es gibt viele Verbindungen zwischen Kraus’ Gedankenwelt und der des Linksradikalismus, gerade dort aber sind sie nicht zu finden, wohin linke Kraus-Verwehrer gerne verweisen, zu seiner Sympathie für Einzelmenschen, für Luxemburg, Liebknecht Vater und Sohn, Brecht, zu Mühlen oder Dimitrov, die er nicht wegen ihres Kommunismus verehrt, sondern wegen jenes Surplus, den ihre Persönlichkeiten auf ihre Doktrinen draufschlagen – Doktrinen, mit denen sich Brecht zum Beispiel – in Kraus’ Worten – „als eigener Vampir das Blut abzapfe“. Dass der Musikwissenschaftler Georg Knepler, der Kraus vier Jahre lang bei seinen Offenbach-Rezitationen am Klavier begleitet hat, Marxist war, beweist auch nicht viel. Der bulgarische Kommunist Georgi Dimitrov wird von Kraus als der „wertvollste Vertreter der eigenen Sache“ geachtet, nicht jedoch der Sache wegen, sondern aufgrund seiner heroischen Beweislastumkehr gegen die Nazis als Angeklagter beim Reichstagsbrandsprozess 1933. Und die kommunistische Schriftstellerin Hermynia zu Mühlen, weil sie „ihren Adel verloren, aber nicht eingebüßt und auch nichts davon an die Gesellschaft abgegeben hat, die sie genössisch umgibt“. Wenn er Rosa Luxemburg in seiner „Antwort auf die Unsentimentale“ aber als „Bändigerin von Menschenbestien“ und „Gäterin menschlichen Unkrauts“ ehrt, erweitert das seine Sympathie für den „Adel“ ihrer Person bereits auf ihre politische Funktion und erhellt sein zwiespältiges Verhältnis zum Kommunismus.
Kraus’ Ablehnung der revolutionären Bestrebungen nach dem I. Weltkrieg speist sich aus dem Vorurteil, bei den Revolutionären handele es sich durchwegs um zweitklassige Journalisten und Dichter, die ihre Chance witterten, nicht mehr in den Cafés, sondern in Arbeiter- und Soldatenräten zu posieren. Nur zu gern glaubte er jede Propaganda der bürgerlichen Presse über deren Gewaltbereitschaft.
Die Fortsetzung jenes Ungeistes, den er schon an der bürgerlichen Gesellschaft verabscheut hatte, erblickte er in der technokratischen Verzahnung von Verwissenschaftlichung, Verwaltung und Zurichtung des Menschen, mit dem die vulgärmarxistische Praxis ihre idealistischen Ziele umzusetzen trachtete. Diese Praxis dürfte kaum dem entsprochen haben, was Kraus mit der Befreiung des „Lebenszwecks“ vom „Lebensmittel“ gemeint hatte. Am widerlichsten war ihm aber der marxistische Fachjargon, mit dessen Verspottung als „Moskauderwelsch“ er den Konservativen einen ihrer Lieblingskalauer in die Hände spielte.
Jedoch in zweierlei Hinsicht – einer ethischen und einer pragmatischen – verneigt sich Kraus vor dem Linksradikalismus. So gilt seine Hochachtung dem aufrichtigen Idealismus vieler seiner Aktivisten, besonders wenn sie als Bürgerliche ihr eigenes Klasseninteresse opfern, also aus Tugend, nicht aus Not Linke werden. „Ein Hungerleider, der Anarchist wird“, schreibt er, „ist ein verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinnloser, als sich über die Söhne besitzender Bürger lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen. Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jedenfalls verdächtigt kein abgerissenes Gewand die geistige Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen.“ – „Die geistige Welt des Kommunismus“, konzediert Kraus diesen Eiferern, ob mit oder ohne abgerissenem Gewand, „– in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte – sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben.“
So bleibt der Kommunismus die angsteinflößendere und effizientere Rute im Fenster: „Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck – der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle anderen zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bett gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen.“
Und Karl Kraus bleibe einer Linken als geistiger Stachel erhalten, damit sie Wohltätigkeit aus Weltanschauung bekämpfe, Weltanschauung aus kritischer Vernunft und diese, falls zum Selbstzweck sie gefriert, aus Menschlichkeit. Damit aus seiner Haltung sie die Lehre ziehe, dass Repression man nicht mit Regression beikommt, die Underdogs nicht aufrichtet, indem man sich ihnen auf allen Vieren nähert und im Schritt beschnüffelt; dass sich der Erniedrigung des Menschen zur Massenware nicht mit fertig verpackter Diskont-Sprache widerstreben lässt, weder mit Moskauderwelsch noch mit Post-Französeln noch mit knalligem Untergrundeln; dass – und jetzt das dicke Ende – Adel nicht erbens-, doch erwerbenswert ist.


Karl Kraus und der Sozialismus I: Die Sozialdemokraten. Von Richard Schuberth

17. Mai 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Sozialismus

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Karl Kraus und der Sozialismus I: Die Sozialdemokraten

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 18

„Nur die Krawatte, die Krawatte mit den wimmelnden weißen Bohnen, die den Blick förmlich faszinieren! – So eine Krawatte ist ein Scheidungsgrund.“

Rosa Luxemburg über Karl Kautsky, um 1900

„Jede Annäherung an die Parteibande hinterlässt in mir ein derartiges Unbehagen, dass ich mir jedes Mal danach vornehme: drei Seemeilen weiter vom tiefsten Stand der Ebbe! (…) Nach jedem Zusammensein mit ihnen wittere ich so viel Schmutz, sehe so viel Charakterschwäche, Erbärmlichkeit etc., dass ich zurückeile in mein Mauseloch.“

Rosa Luxemburg, um 1900

„In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. (…) Sie ist in keinem Geist zuhause – sie geht uns nichts mehr an.“

Karl Kraus, 1932

Die Frage, wie links oder rechts, wie progressiv oder reaktionär Karl Kraus war, lässt sich schwer beantworten, denn so er überhaupt ein Programm verfolgte, dann das, alle die nach seiner Farbe fahndeten, konsequent vor den Kopf zu stoßen. Ein Schleichpfad jedoch zum Begreifen seines politischen Bewusstseins führt über sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Zu keiner politischen Kraft hatte sich Kraus expliziter geäußert, zu keiner war er in wechselhafterem Verhältnis gestanden.
Die ersten Jahrgänge der „Fackel“ sind noch von erwartungsvollem Wohlwollen für die junge Sozialdemokratie gekennzeichnet. Darin flankiert Karl Kraus deren Bestrebungen auch noch mit sozial engagierten Artikeln, z. B. gegen die Ausbeutung der Minenarbeiter in Schlesien, die ihm das Lob Rosa Luxemburgs eintragen. Als Kraus die Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ kritisiert, Annoncen der Privatwirtschaft abzudrucken – August Bebel hatte nicht lange zuvor den Parteiausschluss solcher Redakteure verlangt –, erteilt ihm der von ihm geschätzte Viktor Adler einen Rüffel, der eine Tradition sozialdemokratischer Kritikabwehr initiiert, die bis in die Gegenwart fortwirkt: Wann immer Karl Kraus die Sozialdemokratie von links kritisierte, will heißen, an ihren eigenen Ansprüchen maß, würde diese einen Parteiintellektuellen ins Feld schicken, der ihm vorwirft, ein bourgeoiser Gefühlssozialist zu sein, von Theorie keine Ahnung zu haben und mit seiner Sprach-, Presse- und Kunstkritik lediglich im gesellschaftlichen Überbau herumzuirren. In den 20er Jahren übernimmt Oscar Pollack diese Aufgabe, und Mitte der 70er Jahre rächt sich die Sozialdemokratie für die Wahrheiten, die ihr Kraus eintätowiert hatte und immer noch unter ihrer Haut brennen, durch das ambitionierte Werk eines jungen Politologen. Alfred Pfabigans Buch „Karl Kraus und der Sozialismus“, erschienen im ÖGB-eigenen Europa Verlag, versteht sich als linke Kritik des „Fackel“-Herausgebers, enthält viel Wahres, strotzt vor Verkürzungen, und beruht auf dem Missverständnis vieler Krausverehrer, das Objekt ihrer Verehrung für einen Sozialisten zu halten. Ein Missverständnis, dass weniger Kraus’ Unkenntnis marxistischer Theorie als die seiner sozialistisch gesinnten Anhänger bekundet. Bereits 1909 wusste der Sozialist Robert Scheu in seiner Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der „Fackel“: „Er ist kein Sozialdemokrat, kein Anarchist, aber am allerwenigsten Bourgeois.“
Folgende Worte Kraus’ schallen all die 37 Jahre, die die Fackel bestand, als Kampfruf mit unverminderter Lautstärke (selbst wenn sie erst 1923 formuliert wurden): „Ich, der allem Missverstand zum Trotz weit von jeder Möglichkeit steht, es mit einer Partei zu halten, aber nie vor der Gefahr, um nicht für einen Politiker zu gelten, die Partei der Menschlichkeit zu verlassen, behaupte in diesen Dingen doch den einen unverrückbaren Standpunkt, das Bürgertum in allen Gestalten und in seinem ganzen Ausdruck in Presse und Staatsleben mit einem Hasse zu hassen, der ihm durch Generationen anhaften wird.“
Anders als die liberale Presse, die es nicht zu verbessern, sondern zu vernichten galt, hatte er in der „Inseratenaffäre“ die „Arbeiter-Zeitung“ mit besorgter Anteilnahme zur Einstellung dieser bürgerlichen Praxis gemahnt. Seit Viktor Adlers Polemik distanzierte sich Kraus von der Partei, für die er fortan, zum Zeitpunkt seiner Hinwendung von „Gesellschaftskritik zur Kulturkritik“ (R. Scheu) nur noch Spott übrig haben würde. So folgte eine Phase in seinem Schaffen, die Pfabigan und andere lediglich mit Ästhetizismus, Elitarismus, Antidemokratismus sowie Hang zu Reaktion und Aristokratie zu assoziieren wissen. Wie eigenartig nimmt sich da ein Artikel des Eisenbahnergewerkschaftsblatts „Verkehrs-Zeitung“ aus dem Jahr 1910 aus, den Karl Kraus vollständig in der „Fackel“ abdruckte, von Pfabigan jedoch mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt wird. Dessen Autoren geben im Grunde Karl Kraus’ elementare Kritik der Parteileitung späterer Jahre wieder, die sich keineswegs nur auf deren kulturelle Verbürgerlichung beschränken, sondern durchaus ihre politische Praxis ins Visier nehmen würde. „Die Logik der Sozialdemokratie“, konstatieren sie, „wird immer famoser, immer befremdender für gewöhnliche Arbeiter. Die Logik der Sozialdemokratie wird immer mehr die Logik der Verwaltungsratsliberalen und der Geldmännercliquen.“ So kritisieren die Autoren unter anderem, dass Viktor Adler „ nicht durch Streiks und Gewerkschaftstätigkeit (…) für den Metallarbeiter höhere Löhne erzielen“ wolle, „sondern einzig und allein durch Bittgänge für die Industriellen“. Der Artikel endet mit einem Aufruf, der sich mit Kraus’ Intentionen gedeckt haben dürfte: „Das alles gefällt selbst den Folgsamsten unter den Sozialdemokraten nicht mehr. Mögen diese stutzig gewordenen Leute auf die Stimmen im Innern hören lernen. Wir wollen hoffen, dass diese Leute wieder Sozialisten werden, wirklich freie Gewerkschaftler, welche (…) bei den Worten ‚parlamentarische Intervention’, ‚einflussreiche Tagespresse’ und ‚große politische Partei’ einfach ausspucken.“

Hühneraugenoperation an Krebskranken

Auch Karl Kraus sparte nicht mit radikalen Breitseiten, die marxistische Opportunismus- und Revisionismuskritik zu überdonnern schienen, wenn er zum Beispiel schrieb, dass „Sozialpolitik der verzweifelte Entschluss“ sei, „an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen.“ – oder aber im Ton Jack London’scher Kraftmeierei feststellte, dass es „… auf Erden unter allen Lebewesen, die sich nach rechts und links zugleich krümmen können, nebst dem Regenwurm nichts annähernd so Erbärmliches wie einen Rechtssozialisten gebe“. Doch wusste er nur zu gut, wovon er da schrieb. Bereits am Vorabend des I. Weltkriegs war die europäische Sozialdemokratie dem nationalistischen Taumel erlegen – einzig der französische Sozialistenchef Jean Jaurès bildete eine rühmliche Ausnahme, die er mit dem Leben bezahlen musste. Die österreichischen Sozialdemokraten revidierten ihre anfängliche Kriegsbegeisterung und reiften zur neben Kraus einzigen pazifistischen und oppositionellen Kraft innerhalb der Habsburger-Monarchie. Aus dem Zweckbündnis wurde wechselseitige Sympathie, zur Liebe aber reichte es nie. Auf den Trümmern der Habsburgermonarchie agitierte Karl Kraus, der es weiter vorzog, als kritische Instanz „parteimäßig unverschnitten“ zu bleiben, nun eifrig für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), rief zweimal zu ihrer Wahl auf, führte ihr viele junge bürgerliche Intellektuelle zu und fand in den Arbeitern Wiens sein bislang enthusiastischstes Publikum. Die Sympathie für die Proletarier sollte ihm bleiben, jene für die Partei sich jedoch alsbald in wechselseitige Aggression auflösen. Kraus’ Popularität bei den Arbeitern und vielen linken Intellektuellen war der Parteibürokratie ein Dorn im Auge. Die Vorwürfe ihrer Funktionäre (wie Oscar Pollak) lassen sich in der hier gebotenen Kürze darauf reduzieren, Kraus sei ein unmarxistischer bürgerlicher Individualist, worauf dieser konterte, sie seien weder individualistisch noch marxistisch, dafür aber bürgerlich, kleinbürgerlich sogar. Am übelsten nahm ihnen Kraus, die Arbeiterschaft – per Eintrittskartenermäßigung – zum Konsum der verhassten bürgerlichen Populärkultur zu animieren, deren Überwindung, wie in der jungen UdSSR, ihr Ziel hätte sein sollen. „Aber ehe Sie mit dem vorliebnehmen, was aus den Garküchen des bürgerlichen Geschmacks Ihnen gegönnt wird und was Sie schmecken müssen, wenn die verwöhnteren Kostgänger nicht mehr zusprechen wollen – sollen Sie lieber zum Hungerstreik entschlossen sein!“
Und Sie sollen getrost glauben, dass sogar in der Kneipe der Lebensgenüsse Ihre Menschenwürde besser bewahrt bleibe als beim Fusel der neuzeitlichen Operette! Nein, ich könnte darin kein Kennzeichen revolutionärer Gesinnung erblicken, dass man Sie animiert, an den Zerstreuungen der Bourgeoisie teilzunehmen, sich mit den Todfeinden im Gelächter über deren Hanswurste zu begegnen und im Einverständnis der Zoten, mit denen jene, für einen Abend Freigelassene ihrer Heuchelei, die Knechtschaft ihres Geschlechtslebens begrinsen.“
1926 war Kraus, vor allem nachdem sie ihn im Kampf gegen den kriminellen Medientycoon Békessy im Stich gelassen hatte, fertig mit der SDAP. Als aber am 15. Juli 1927 Sicherheitskräfte auf Befehl des Polizeipräsidenten Schober, im Laufe einer spontanen Demonstration gegen den Freispruch der Mörder von Schattendorf, 84 Demonstranten töteten und über tausend verletzten, sistierte Kraus seinen Bruch mit der Partei und nahm für kurze Zeit noch deren Assistenz im leidenschaftlich geführten Kampf gegen den „Arbeitermörder“ Schober in Anspruch.
Danach würde, gemäß der kritischen Krausforschung, die Phase folgen, in der Karl Kraus wieder zum Reaktionär, ja zum Austrofaschisten wurde, was alle seine linken Verbalradikalismen rückwirkend entwertete, wäre da nicht jene berühmte Rede unter dem Titel „Hüben wie Drüben“ aus dem Jahr 1932, die er der SPDA, jener „staatlich konzessionierten Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien“ als Abschiedsgeschenk hinterließ und deren starke Echos noch immer unerträglich durch die Parteibüros der SPÖ hallen müssten. Seine Kritik der Verbürgerlichung der Partei wurde darin ein letztes Mal an Intensität gesteigert, nun aber durch seine spezifische Variante der Sozialfaschismusthese ergänzt: Die Sozialdemokraten – so Kraus – trügen Mitschuld am Siegeszug des Nationalsozialismus. Dass sie seit 1919 immer wieder den Anschluss an Deutschland als einen weiteren Schritt in Richtung Internationalismus anstrebten, wertete Kraus als Selbstbetrug – „… doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müsste sie ganz ebenso die österreichische und die französische Arbeiterklasse vereinen.“
Ganz gleich, ob Kraus ein „romantischer Sozialist“ (Ernst Fischer) war oder den „Sozialismus des Kavaliers“ (Ernst Bloch) pflegte, wenn sich die Linke dem Antisemitismus, jenem „Sozialismus der dummen Kerle“, als den ihn August Bebel bezeichnet hatte, oder dem Nationalstolz annäherte, wenn also Marx „Turnunterricht bei Vater Jahn“ nahm, bekannte er nicht nur Persönlichkeit, sondern Farbe. Und mit kräftigen Farben malte er sein Bild von einer Sozialdemokratie, welche ihre Resignation vor den Kapitalinteressen durch kleinbürgerliche Vereinsmeierei, bürokratischen Korpsgeist, allerhand Wimpeln, Fahnen und Arbeiterfolklore kompensiere, die nahtlos in die echte Folklore, die Bodenständigkeits- und Deutschtümelei übergehe. Somit stelle sie die Weichen für eine Entwicklung, an deren Ende ihr die Nazis den Rang abliefen.

Gebot der Reinlichkeit

„Wäre Kraus ein diszipliniertes Parteimitglied gewesen, hätte er sich – im Guten wie im Schlechten – nie zu dem entwickeln können, was er wurde. Umgekehrt wäre eine Sozialdemokratie, der Kraus, ohne seinen Überzeugungen untreu zu werden, hätte beitreten können, ein sicherlich hochinteressantes, romantisches, politisch jedoch völlig ineffizientes Gebilde gewesen“, folgert Alfred Pfabigan im Jahr 1976 durchaus plausibel. Nun, eine klassische No Win/NoWin-Situation, wie man heute sagen würde, denn die europäischen Sozialdemokratien sind auch 30 Jahre später weder romantisch noch interessant, hingegen – gemessen an ihrer einstigen Programmatik – noch ineffizienter, als es ihnen Kraus seinerzeit aufgerechnet hatte. Natürlich wusste er um die Inhumanität eines totalitären Kommunismus, zudem wusste er jedoch, dass selbst sozialpolitische Errungenschaften in demokratischem Rahmen nicht durch Kuschen vor liberalen Interessen, sondern allein durch den unerbittlichen Kampf gegen diese durchzusetzen sind. Ein Kapitalismus, den keine Gegenkraft das Fürchten lehrt, schwingt sich, wie’s geschieht und geschehen ist, zu totaler Herrschaft auf. Kraus wies aber der Sozialdemokratie auch ihre fast naturhafte Neigung nach, vor diesen Widersprüchen in Rechtspopulismus zu flüchten, nicht durch Anbiederung an nationale Sentimentalität etwa, sondern durch bewusstes Schüren dieser – hüben wie drüben, 1932 wie 1992. Denn wie der Politologe Peter Zuser in einer Studie detailliert nachgewiesen hat, war es nicht die FPÖ, sondern die SPÖ, welche die Anti-Ausländer-Hetze Anfang der 90er Jahre vom Zaun gebrochen hatte. Haiders Yuppie-Faschisten war danach zwar nicht das Wasser abgegraben, aber gemeinsam mit der SPÖ setzten sie den Rassismus fort. Karl Kraus hielt den Antinationalismus für die edelste Errungenschaft der Linken; lassen wir uns also ruhig von einem Nichtsozialisten lehren, dass man eine linkspolitische Kraft, die die Interessen der Wirtschaft erfüllt und Modernisierungsverlierern am Stammtisch Heimatliebe und Ausländerhass beibringen will, links liegen zu lassen hat.