Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Karl Kraus und der Sozialismus I: Die Sozialdemokraten. Von Richard Schuberth

17. Mai 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Sozialismus

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Karl Kraus und der Sozialismus I: Die Sozialdemokraten

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 18

„Nur die Krawatte, die Krawatte mit den wimmelnden weißen Bohnen, die den Blick förmlich faszinieren! – So eine Krawatte ist ein Scheidungsgrund.“

Rosa Luxemburg über Karl Kautsky, um 1900

„Jede Annäherung an die Parteibande hinterlässt in mir ein derartiges Unbehagen, dass ich mir jedes Mal danach vornehme: drei Seemeilen weiter vom tiefsten Stand der Ebbe! (…) Nach jedem Zusammensein mit ihnen wittere ich so viel Schmutz, sehe so viel Charakterschwäche, Erbärmlichkeit etc., dass ich zurückeile in mein Mauseloch.“

Rosa Luxemburg, um 1900

„In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. (…) Sie ist in keinem Geist zuhause – sie geht uns nichts mehr an.“

Karl Kraus, 1932

Die Frage, wie links oder rechts, wie progressiv oder reaktionär Karl Kraus war, lässt sich schwer beantworten, denn so er überhaupt ein Programm verfolgte, dann das, alle die nach seiner Farbe fahndeten, konsequent vor den Kopf zu stoßen. Ein Schleichpfad jedoch zum Begreifen seines politischen Bewusstseins führt über sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Zu keiner politischen Kraft hatte sich Kraus expliziter geäußert, zu keiner war er in wechselhafterem Verhältnis gestanden.
Die ersten Jahrgänge der „Fackel“ sind noch von erwartungsvollem Wohlwollen für die junge Sozialdemokratie gekennzeichnet. Darin flankiert Karl Kraus deren Bestrebungen auch noch mit sozial engagierten Artikeln, z. B. gegen die Ausbeutung der Minenarbeiter in Schlesien, die ihm das Lob Rosa Luxemburgs eintragen. Als Kraus die Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ kritisiert, Annoncen der Privatwirtschaft abzudrucken – August Bebel hatte nicht lange zuvor den Parteiausschluss solcher Redakteure verlangt –, erteilt ihm der von ihm geschätzte Viktor Adler einen Rüffel, der eine Tradition sozialdemokratischer Kritikabwehr initiiert, die bis in die Gegenwart fortwirkt: Wann immer Karl Kraus die Sozialdemokratie von links kritisierte, will heißen, an ihren eigenen Ansprüchen maß, würde diese einen Parteiintellektuellen ins Feld schicken, der ihm vorwirft, ein bourgeoiser Gefühlssozialist zu sein, von Theorie keine Ahnung zu haben und mit seiner Sprach-, Presse- und Kunstkritik lediglich im gesellschaftlichen Überbau herumzuirren. In den 20er Jahren übernimmt Oscar Pollack diese Aufgabe, und Mitte der 70er Jahre rächt sich die Sozialdemokratie für die Wahrheiten, die ihr Kraus eintätowiert hatte und immer noch unter ihrer Haut brennen, durch das ambitionierte Werk eines jungen Politologen. Alfred Pfabigans Buch „Karl Kraus und der Sozialismus“, erschienen im ÖGB-eigenen Europa Verlag, versteht sich als linke Kritik des „Fackel“-Herausgebers, enthält viel Wahres, strotzt vor Verkürzungen, und beruht auf dem Missverständnis vieler Krausverehrer, das Objekt ihrer Verehrung für einen Sozialisten zu halten. Ein Missverständnis, dass weniger Kraus’ Unkenntnis marxistischer Theorie als die seiner sozialistisch gesinnten Anhänger bekundet. Bereits 1909 wusste der Sozialist Robert Scheu in seiner Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der „Fackel“: „Er ist kein Sozialdemokrat, kein Anarchist, aber am allerwenigsten Bourgeois.“
Folgende Worte Kraus’ schallen all die 37 Jahre, die die Fackel bestand, als Kampfruf mit unverminderter Lautstärke (selbst wenn sie erst 1923 formuliert wurden): „Ich, der allem Missverstand zum Trotz weit von jeder Möglichkeit steht, es mit einer Partei zu halten, aber nie vor der Gefahr, um nicht für einen Politiker zu gelten, die Partei der Menschlichkeit zu verlassen, behaupte in diesen Dingen doch den einen unverrückbaren Standpunkt, das Bürgertum in allen Gestalten und in seinem ganzen Ausdruck in Presse und Staatsleben mit einem Hasse zu hassen, der ihm durch Generationen anhaften wird.“
Anders als die liberale Presse, die es nicht zu verbessern, sondern zu vernichten galt, hatte er in der „Inseratenaffäre“ die „Arbeiter-Zeitung“ mit besorgter Anteilnahme zur Einstellung dieser bürgerlichen Praxis gemahnt. Seit Viktor Adlers Polemik distanzierte sich Kraus von der Partei, für die er fortan, zum Zeitpunkt seiner Hinwendung von „Gesellschaftskritik zur Kulturkritik“ (R. Scheu) nur noch Spott übrig haben würde. So folgte eine Phase in seinem Schaffen, die Pfabigan und andere lediglich mit Ästhetizismus, Elitarismus, Antidemokratismus sowie Hang zu Reaktion und Aristokratie zu assoziieren wissen. Wie eigenartig nimmt sich da ein Artikel des Eisenbahnergewerkschaftsblatts „Verkehrs-Zeitung“ aus dem Jahr 1910 aus, den Karl Kraus vollständig in der „Fackel“ abdruckte, von Pfabigan jedoch mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt wird. Dessen Autoren geben im Grunde Karl Kraus’ elementare Kritik der Parteileitung späterer Jahre wieder, die sich keineswegs nur auf deren kulturelle Verbürgerlichung beschränken, sondern durchaus ihre politische Praxis ins Visier nehmen würde. „Die Logik der Sozialdemokratie“, konstatieren sie, „wird immer famoser, immer befremdender für gewöhnliche Arbeiter. Die Logik der Sozialdemokratie wird immer mehr die Logik der Verwaltungsratsliberalen und der Geldmännercliquen.“ So kritisieren die Autoren unter anderem, dass Viktor Adler „ nicht durch Streiks und Gewerkschaftstätigkeit (…) für den Metallarbeiter höhere Löhne erzielen“ wolle, „sondern einzig und allein durch Bittgänge für die Industriellen“. Der Artikel endet mit einem Aufruf, der sich mit Kraus’ Intentionen gedeckt haben dürfte: „Das alles gefällt selbst den Folgsamsten unter den Sozialdemokraten nicht mehr. Mögen diese stutzig gewordenen Leute auf die Stimmen im Innern hören lernen. Wir wollen hoffen, dass diese Leute wieder Sozialisten werden, wirklich freie Gewerkschaftler, welche (…) bei den Worten ‚parlamentarische Intervention’, ‚einflussreiche Tagespresse’ und ‚große politische Partei’ einfach ausspucken.“

Hühneraugenoperation an Krebskranken

Auch Karl Kraus sparte nicht mit radikalen Breitseiten, die marxistische Opportunismus- und Revisionismuskritik zu überdonnern schienen, wenn er zum Beispiel schrieb, dass „Sozialpolitik der verzweifelte Entschluss“ sei, „an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen.“ – oder aber im Ton Jack London’scher Kraftmeierei feststellte, dass es „… auf Erden unter allen Lebewesen, die sich nach rechts und links zugleich krümmen können, nebst dem Regenwurm nichts annähernd so Erbärmliches wie einen Rechtssozialisten gebe“. Doch wusste er nur zu gut, wovon er da schrieb. Bereits am Vorabend des I. Weltkriegs war die europäische Sozialdemokratie dem nationalistischen Taumel erlegen – einzig der französische Sozialistenchef Jean Jaurès bildete eine rühmliche Ausnahme, die er mit dem Leben bezahlen musste. Die österreichischen Sozialdemokraten revidierten ihre anfängliche Kriegsbegeisterung und reiften zur neben Kraus einzigen pazifistischen und oppositionellen Kraft innerhalb der Habsburger-Monarchie. Aus dem Zweckbündnis wurde wechselseitige Sympathie, zur Liebe aber reichte es nie. Auf den Trümmern der Habsburgermonarchie agitierte Karl Kraus, der es weiter vorzog, als kritische Instanz „parteimäßig unverschnitten“ zu bleiben, nun eifrig für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), rief zweimal zu ihrer Wahl auf, führte ihr viele junge bürgerliche Intellektuelle zu und fand in den Arbeitern Wiens sein bislang enthusiastischstes Publikum. Die Sympathie für die Proletarier sollte ihm bleiben, jene für die Partei sich jedoch alsbald in wechselseitige Aggression auflösen. Kraus’ Popularität bei den Arbeitern und vielen linken Intellektuellen war der Parteibürokratie ein Dorn im Auge. Die Vorwürfe ihrer Funktionäre (wie Oscar Pollak) lassen sich in der hier gebotenen Kürze darauf reduzieren, Kraus sei ein unmarxistischer bürgerlicher Individualist, worauf dieser konterte, sie seien weder individualistisch noch marxistisch, dafür aber bürgerlich, kleinbürgerlich sogar. Am übelsten nahm ihnen Kraus, die Arbeiterschaft – per Eintrittskartenermäßigung – zum Konsum der verhassten bürgerlichen Populärkultur zu animieren, deren Überwindung, wie in der jungen UdSSR, ihr Ziel hätte sein sollen. „Aber ehe Sie mit dem vorliebnehmen, was aus den Garküchen des bürgerlichen Geschmacks Ihnen gegönnt wird und was Sie schmecken müssen, wenn die verwöhnteren Kostgänger nicht mehr zusprechen wollen – sollen Sie lieber zum Hungerstreik entschlossen sein!“
Und Sie sollen getrost glauben, dass sogar in der Kneipe der Lebensgenüsse Ihre Menschenwürde besser bewahrt bleibe als beim Fusel der neuzeitlichen Operette! Nein, ich könnte darin kein Kennzeichen revolutionärer Gesinnung erblicken, dass man Sie animiert, an den Zerstreuungen der Bourgeoisie teilzunehmen, sich mit den Todfeinden im Gelächter über deren Hanswurste zu begegnen und im Einverständnis der Zoten, mit denen jene, für einen Abend Freigelassene ihrer Heuchelei, die Knechtschaft ihres Geschlechtslebens begrinsen.“
1926 war Kraus, vor allem nachdem sie ihn im Kampf gegen den kriminellen Medientycoon Békessy im Stich gelassen hatte, fertig mit der SDAP. Als aber am 15. Juli 1927 Sicherheitskräfte auf Befehl des Polizeipräsidenten Schober, im Laufe einer spontanen Demonstration gegen den Freispruch der Mörder von Schattendorf, 84 Demonstranten töteten und über tausend verletzten, sistierte Kraus seinen Bruch mit der Partei und nahm für kurze Zeit noch deren Assistenz im leidenschaftlich geführten Kampf gegen den „Arbeitermörder“ Schober in Anspruch.
Danach würde, gemäß der kritischen Krausforschung, die Phase folgen, in der Karl Kraus wieder zum Reaktionär, ja zum Austrofaschisten wurde, was alle seine linken Verbalradikalismen rückwirkend entwertete, wäre da nicht jene berühmte Rede unter dem Titel „Hüben wie Drüben“ aus dem Jahr 1932, die er der SPDA, jener „staatlich konzessionierten Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien“ als Abschiedsgeschenk hinterließ und deren starke Echos noch immer unerträglich durch die Parteibüros der SPÖ hallen müssten. Seine Kritik der Verbürgerlichung der Partei wurde darin ein letztes Mal an Intensität gesteigert, nun aber durch seine spezifische Variante der Sozialfaschismusthese ergänzt: Die Sozialdemokraten – so Kraus – trügen Mitschuld am Siegeszug des Nationalsozialismus. Dass sie seit 1919 immer wieder den Anschluss an Deutschland als einen weiteren Schritt in Richtung Internationalismus anstrebten, wertete Kraus als Selbstbetrug – „… doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müsste sie ganz ebenso die österreichische und die französische Arbeiterklasse vereinen.“
Ganz gleich, ob Kraus ein „romantischer Sozialist“ (Ernst Fischer) war oder den „Sozialismus des Kavaliers“ (Ernst Bloch) pflegte, wenn sich die Linke dem Antisemitismus, jenem „Sozialismus der dummen Kerle“, als den ihn August Bebel bezeichnet hatte, oder dem Nationalstolz annäherte, wenn also Marx „Turnunterricht bei Vater Jahn“ nahm, bekannte er nicht nur Persönlichkeit, sondern Farbe. Und mit kräftigen Farben malte er sein Bild von einer Sozialdemokratie, welche ihre Resignation vor den Kapitalinteressen durch kleinbürgerliche Vereinsmeierei, bürokratischen Korpsgeist, allerhand Wimpeln, Fahnen und Arbeiterfolklore kompensiere, die nahtlos in die echte Folklore, die Bodenständigkeits- und Deutschtümelei übergehe. Somit stelle sie die Weichen für eine Entwicklung, an deren Ende ihr die Nazis den Rang abliefen.

Gebot der Reinlichkeit

„Wäre Kraus ein diszipliniertes Parteimitglied gewesen, hätte er sich – im Guten wie im Schlechten – nie zu dem entwickeln können, was er wurde. Umgekehrt wäre eine Sozialdemokratie, der Kraus, ohne seinen Überzeugungen untreu zu werden, hätte beitreten können, ein sicherlich hochinteressantes, romantisches, politisch jedoch völlig ineffizientes Gebilde gewesen“, folgert Alfred Pfabigan im Jahr 1976 durchaus plausibel. Nun, eine klassische No Win/NoWin-Situation, wie man heute sagen würde, denn die europäischen Sozialdemokratien sind auch 30 Jahre später weder romantisch noch interessant, hingegen – gemessen an ihrer einstigen Programmatik – noch ineffizienter, als es ihnen Kraus seinerzeit aufgerechnet hatte. Natürlich wusste er um die Inhumanität eines totalitären Kommunismus, zudem wusste er jedoch, dass selbst sozialpolitische Errungenschaften in demokratischem Rahmen nicht durch Kuschen vor liberalen Interessen, sondern allein durch den unerbittlichen Kampf gegen diese durchzusetzen sind. Ein Kapitalismus, den keine Gegenkraft das Fürchten lehrt, schwingt sich, wie’s geschieht und geschehen ist, zu totaler Herrschaft auf. Kraus wies aber der Sozialdemokratie auch ihre fast naturhafte Neigung nach, vor diesen Widersprüchen in Rechtspopulismus zu flüchten, nicht durch Anbiederung an nationale Sentimentalität etwa, sondern durch bewusstes Schüren dieser – hüben wie drüben, 1932 wie 1992. Denn wie der Politologe Peter Zuser in einer Studie detailliert nachgewiesen hat, war es nicht die FPÖ, sondern die SPÖ, welche die Anti-Ausländer-Hetze Anfang der 90er Jahre vom Zaun gebrochen hatte. Haiders Yuppie-Faschisten war danach zwar nicht das Wasser abgegraben, aber gemeinsam mit der SPÖ setzten sie den Rassismus fort. Karl Kraus hielt den Antinationalismus für die edelste Errungenschaft der Linken; lassen wir uns also ruhig von einem Nichtsozialisten lehren, dass man eine linkspolitische Kraft, die die Interessen der Wirtschaft erfüllt und Modernisierungsverlierern am Stammtisch Heimatliebe und Ausländerhass beibringen will, links liegen zu lassen hat.