Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Neonazis + Hitler = „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott.“ Konrad Heiden

22. August 2022 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Da schon wieder oder immer noch die geistige Schwäche, diesmal sogar in Form einer deutschen Parlamentspartei, auf angebliche nazi-onale Größe sich beruft und über einen ihrer Vordenker auf Vogelschiss sich herausreden wollte, wird hier für ewig Gestrige eine historische Abrechnung aus dem Jahre 1935  exhumiert, die keineswegs als nachträgliches braunes Sakrament daherkommt, sondern der Klärung der geistigen Exkremente ewig Gestriger dient.

Karl Kraus beschrieb bereits 1933 in „Dritte Walpurgisnacht“  die Terrorwelt im dritten Reich. Er hatte als Quelle nur die jedermann zugänglichen Berichte aus Zeitungen. Sie beschrieben das Grauen im NS-Staat, als jeder Gegner nicht nur sprichwörtlich wie Freiwild zum Abschuss freigegeben wurde. „Wir haben es nicht gewusst…“, dabei musste man nur die Zeitungen in Nazideutschland aufschlagen. Auschwitz begann 1933. 

Zwei Jahre danach veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine Biographie des aus Österreich stammenden Führers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an Versager oder Verbrecher waren, also schon lange vor der sog. Machtergreifung und es auch blieben. „Nationalsozialismus: Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“.  So 1935 Konrad Heiden und ich möchte hinzufügen: Tat ohne Moral.

Konrad Heidens Hitlerbiographie wird hier in wesentlichen Auszügen vorgelegt zur Standortbestimmung gegen pseudonational Verwirrte für alle Zukunft. Für die im Denken Kurzen leider etwas länger als besagter Vogelschiss, aber es lohnt der Klarheit wegen.

Der geistige Ziehvater der neuen Rechten, Adolf Hitler, war ein kompletter Versager im bürgerlichen Leben, wie sehr viele seiner damaligen Mit- und heutigen Nachläufer auch. Er war ein nichtsnutziges Rednertalent, körperlich schwach und überaus faul, deshalb begrenzt gebildet, ausgestattet mit den darwinistischen Instinkten des Obdachlosenasyls, ohne Moral und Anstand, persönlich feige, ein Menschenverächter aus Überheblichkeit und Neid, als Mensch untauglich, ein notorischer Lügner für seinen Vorteil, skrupellos gegen Andersdenkende bis zum vielfachen Mord in den eigenen Reihen schon 1934. So machte er sich auf dem Weg zur Entfesselung des Weltenbrandes, in Begleitung des Abschaums der Gesellschaft und den zu allen Zeiten bereiten, korrupten Karrieristen.  Mehr war das nicht mit diesem Hitler und bedauerlicherweise nicht weniger, allen ähnlich gearteten Epigonen zum Trotz.

 Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte Flachköpfe sie immer aufs Neue mit dem Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den jene mit der Verrichtung ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen.  Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes. Man muss nicht von dieser grausigen Ausgeburt sprechen, aber man soll und man muss von ihren Opfern sprechen.  Diese Albtraumspottfigur ist es nicht wert, außer man liest Konrad Heiden. Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden. Und: Es gibt nichts wirklich Neues über den Verführer nach Konrad Heiden. Das trifft auf alle Biographien Hitlers der folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu.

Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte Heiden die Rückführung des „Phänomens“ Hitler auf die banale Wirklichkeit. Man erinnert Hannah Arendts Wort von der Banalität des Bösen.

Eine Neuauflage erschien dankenswerterweise 2011  im Europaverlag Zürich. Erhältlich ist sie bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage und lohnt mehr als alle anderen postmortalen telegenen Erklärungsversuche des großen Verderbers.

Konrad Heiden, *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im allerbesten Sinne.

„Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.“

KONRAD HEIDEN

ADOLF  HITLER

DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT

    EINE BIOGRAPHIE          EUROPAVERLAG  ZÜRICH 1936

Am Furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe; ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, dass der hellere Teil der Menschheit sie als Betrogene oder Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen.

Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zwanzigstes Buch

Vorwort

Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Bedürfnis auszusprechen, was ist. In Deutschland ist das heute unmöglich, weil dort die Interessen des Staates der objektiven Erforschung der Wahrheit entgegenstehen. Außerhalb Deutschlands erschweren es zunächst jene natürlichen Irrtümer, die aus Fremdheit und Entfernung entspringen. Ein System schließlich, dass mit soviel Intelligenz und Leidenschaft über seine Grenzen hinauswirkt und das andererseits wie mit magnetischer Kraft soviel Intelligenz und Leidenschaft feindlich gegen sich sammelt, ist durch das bloße Bestehen eine ernste Gefahr für den Wahrheitssinn in der ganzen Welt. Die Hingabe von Kämpfern an hohe Ziele kann ebenso wie der niedrige Einfluss von Interessen das reine Gefühl für die Wahrheit trüben.

Die Lüge ist wie der Krieg ein Unheil, das einseitig entfesselt werden kann, aber dann alle verdirbt. Wahrheit ist auf die Dauer die schärfste Waffe, und das Erz, aus dem sie geschmiedet wird, heißt Tatsache. Das vorliegende Buch basiert auf fünfzehnjähriger  Beschäftigung mit dem Thema, auf Beobachtung aus der Nähe, schon in der frühesten Stunde; auf Durchsicht aller erreichbaren Quellen, offener und vertraulicher; schließlich auf  Auskünften mancher eingeweihter Personen, von denen heute noch einige in der Nähe Hitlers an wichtiger Stelle tätig sind. Die aller Welt bekannten Umstände machen es leider unmöglich, diese Gewährsmänner zu nennen; ich muss mich mit der Hoffnung zufrieden geben, dass die belegten Teile des Buches ausreichendes Vertrauen  auch für die notgedrungenerweise  nicht belegten  erwecken werden.

Auf Grund dieses Materials habe ich in meiner „Geschichte des Nationalsozialismus“ den Aufbau der Hitlerbewegung, in „Geburt des dritten Reiches“  den Aufbau des Hitlerstaates darzustellen versucht. Die Schilderung der Hauptperson musste dabei zu kurz kommen; das Menschliche, Private, vieles Anekdotische wegfallen. In diesem Buche versuche ich es zu geben. Ich halte das für gerechtfertigt. „Adolf Hitler ist Deutschland“ wurde von maßgebender Stelle verkündet, nun, so versuche ich, in Adolf Hitler dies heutige Deutschland zu erklären. Der „Held“ dieses Buches ist weder ein Übermensch noch ein Popanz, sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse  und, zahlenmäßig betrachtet, der größte Massenerschütterer der Weltgeschichte. Man hat mich früher wegen der Überschätzung dieses Gegners getadelt; ich muss heute solche Tadler von ehemals vor Überschätzung warnen. Es scheint an dem eigentümlichen Magnetismus dieser Persönlichkeit zu liegen, dass sie die Urteile nach oben oder nach unten  verrückt. Ob ich grade getroffen habe mag der Leser entscheiden. Wenn man einen Abgrund zuschütten will, muss man seine Tiefe kennen.

Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.

Zürich, 20. August 1935  Konrad Heiden

Vorwort zum 18. Bis 20. Tausend

Nach dem Erscheinen des Buches gingen mir, wie zu erwarten war, von vielen Seiten  Mitteilungen zu, die dem Bilde Adolf Hitlers weitere Einzelzüge hinzufügen wollten. Ändern konnten sie es nicht. Lücken oder gar Irrtümer, mit denen eine zeitgenössische Darstellung rechnen muss, berichtigt zum Teil die Geschichte, indem sie die Figuren von den Plätzen stößt und Verborgenes bloßlegt; völlige Klarheit bleibt das unerreichte Ziel  jeder Geschichtsschreibung. Künftige Forscher werden vieles sehen, was uns heute noch entzogen ist; manches werden sie aus ihrer Ferne kaum glauben, was die Gegenwart breit erlebt, aber selten lang bewahrt. Dies rechtfertigt den Versuch zeitgenössischer Geschichtsschreibung.

Die Notwenigkeit fortwährenden Neudrucks legte den Gedanken nahe, eine der Auflagen  zur Einfügung des sich ansammelnden zusätzlichen Materials zu benutzen. Das ist hiermit geschehen. Der Leser wird dabei allerlei bisher unbekanntes Detail finden, und ich hoffe, dass das Buch an Farbe und Spannung gewonnen hat. Vom Ganzen her gesehen handelt es sich  freilich um  Neuigkeiten, doch um nichts Neues. Die Familien- und Jugendgeschichte wurde ausgeforscht und mit Daten belegt; die Schauer des 30.Juni mussten, wie sie mir  mit neuen Tatsachen mitgeteilt und verbürgt wurden, berichtet werden. Aber wirklich abgeändert werden musste die Darstellung nur in einem Punkt. Der Tod Angela Raubals, der Nichte Adolf Hitlers, erscheint mir  heute nicht mehr als Selbstmord.

Die Zusätze haben den Umfang des Buches erweitert. Sie hätten es noch mehr getan, wenn nicht einige Striche anekdotisches Nebenwerk, gelegentlich Wiederholungen und Längen beseitigt hätten.

*

In Tagen des Bangens um Europa werden diese Zeilen geschrieben. Die Zeit hat ein furchtbares Tempo angenommen, und die Schrecken von gestern weichen schier der rasch  wachsenden Angst vor dem Morgen. Aber gerade deshalb hat dieses Buch seinen guten Sinn. Es sucht zu schildern, wie eine Welt unterging, weil sie der eigenen Kraft nicht mehr vertraute, an die volle Ruchlosigkeit des Gegners nicht glaubte, mit der Treulosigkeit Verträge und mit der Vernichtung Frieden schloss. Diese tödlichen Irrtümer aber waren kein Zufall. Sie entsprangen dem Egoismus der einzelnen Teilhaber an jener versinkenden Welt. Ihnen fehlten Kraft und Klammer eines gemeinsamen, durch Willen lebendigen Gedankens, für den sie die Existenz in den Kampf geworfen hätten.

Auch Europa wird in den kommenden Kampf – in welcher Form er immer ausgefochten werde –  nicht bestehen, wenn ihn nur die verbündete Selbstsucht einzelner Völker führt. Nicht das Sicherheitsverlangen  ängstlicher  Nationen, sondern das neue Hochgefühl einer stolzen europäischen Zukunft, weit alle beschränkten nationalen Zielsetzungen überflügelnd, wird die Gefahren von heute bannen. Und diese Hegemonien und Imperien  würden, eins nach dem andern, wiederum an dem inneren Widerspruch ihrer Zielsetzung zugrunde gehen, die eine hoffnungslose Völkerwelt des Eroberns und Zerstörens, Fressens und Gefressenwerdens nicht überwindet, sondern verewigt.

Es gibt geschichtliche Notwendigkeiten, deren Strom tief unter dem Wellenschlag der Tagesereignisse dahinzieht. Die Europäisierung der Nationen wird der große geschichtliche Prozess der nächsten Jahrzehnte sein. Aus ihm wird ein Europa hervorgehen, das nicht mehr auf den Berechnungen der Staatsmänner, sondern auf dem Willen der Völker gründet. Denn an den Willen, nicht den Glauben, geht der neue Auftrag der Geschichte: das Europa des neuen Menschen zu schaffen. Deutschland wird in ihm nicht mehr der Schrecken, sondern eine Hoffnung der Welt sein. Das ist ein deutsches Ziel.

Zürich 10.Mai  1936  Konrad Heiden

Erster Teil

ZUM MENSCHEN UNTAUGLICH

1. Heimat und Herkunft

Die Vorfahren

Adolf Hitlers Vater ist der uneheliche Sohn einer armen Bauernmagd. Die merkwürdigen Familienverhältnisse Hitler mag die nebenstehende Stammtafel (fehlt hier. Anm. d. Red.), die sich auch zum Teil auf die  Forschungen des Wiener Genealogen Karl Friedrich von Frank, aber auch auf sonstige Nachforschungen in Kirchenbüchern stützt, etwas verdeutlichen. Dieses Bruchstück einer Ahnentafel zeigt, wie die heutige Namensform Hitler aus einem Sammelsurium verschiedener Klänge und Schreibungen erst sehr spät herauswächst. Es gibt erwiesenermaßen viele jüdische Hitlers, und die Ähnlichkeit des sonst seltenen Namens hat zur Suche nach einem jüdischen Einschlag in der Familiengeschichte verleitet. Es ist ein Irrtum.(…)

Merkwürdige Familie

Das „Waldviertel“ (…) ist eine ernste, abseitige, nicht eben reiche Landschaft; wie viele solcher Gegenden hat sie keinen Mangel an Aberglauben und Spukgeschichten. Die Ahnen scheinen arme Bauersleute gewesen zu sein; „Kleinhäusler“ steht öfters in den Kirchenbüchern. Von der Unruhe der Hitlerschen, der Beständigkeit der Pölzlschen Linie, die in Adolf Hitlers Elternpaar aufeinandertreffen, wurde schon gesprochen. (…) Bemerkenswert ist in der väterlichen Linie die Vitalität. Die Zahl von Alois Hitlers ehelichen Kindern ist sieben, doch schon bei Georg Hiedler lassen die spärlichen  Daten alle Vermutungen zu. Dreimal hat Alois Hitler geheiratet, 52 Jahre war er alt, als sein Sohn Adolf geboren wurde, mit 57 Jahren kann das letzte Kind. Das auffallende Kindersterben in der dritten Ehe deutet auf eine Schwächeanlage, die offenbar aus dem Blute der Mutter stammt; das Bild zeigt ein junge Frau von zartem Typus. Merkwürdig wie dieselbe Krankheit durch die ganze Familie schleicht: Alois Hitlers erste und zweite Frau sterben an Schwindsucht, auch er erliegt einem Lungenleiden.

Ist erbliche Belastung zu erkennen? Eine Tante Adolf Hitlers mütterlicherseits wird von einer Hausgenossin als „arbeitsscheu und nicht ganz normal“ bezeichnet, doch reicht dies Zeugnis natürlich nicht aus. Ein Sohn aus Alois Hitlers zweiter Ehe geriet auf die schiefe Bahn, doch gerade dessen Vollschwester  Angela wird als tüchtiger, normaler Charakter mit sympathischen Zügen geschildert.  Absonderlichkeiten weist die Familiengeschichte genug auf; dennoch reichen sie wohl nur eben hin, das bereits bekannte Bild Adolf Hitlers ein wenig schärfer zu beleuchten. Mit Adolf Hitler ist die Familiengeschichte in die Politik gekommen. Darum steht die seine hier.

2. Ein früh gescheiterter

Erste Daten

(…) Die nächste offizielle Nachricht  über den Lebensgang dieses Kindes liefert das Jahr 1895. Am 2. April dieses Jahres kommt es in die Volksschule von Fischlham bei Hafeld. Zwei Jahre darauf Übergang in die Klosterschule des Stifts Lambach; ein Lehrer erinnert sich, dass er diesen Schüler wegen Rauchens im Klostergarten entlassen habe. Das letzte Volksschuljahr verbringt er in Leonding; es muss vermerkt werden, dass in seinen Zeugnissen aus dieser Zeit nur die Note 1 steht, gelegentlich mit Ausnahme von Gesang, Zeichnen und Turnen. Umso auffallender ist der Rückschlag, als er im September 1900 in die Staatsrealschule in Linz eintritt. Im ersten Schuljahr sind dort die Leistungen derart, dass er sitzen bleibt und die Klasse wiederholen muss. Dann bessern sich die Leistungen zeitweise; in Geschichte sind sie mehrmals vorzüglich, in Mathematik genügend oder nicht genügend, ebenso Französisch; meistens genügend oder allenfalls befriedigend auch in Deutsch, vorzüglich in Freihandzeichnen und in Turnen. Der Fleiß wird als ungleichmäßig oder allenfalls hinreichend bezeichnet. Ein Jahr nach dem Tode des Vaters geht er von Linz fort nach Steyr in Oberösterreich(…) und besucht die dortige Staatsrealschule.

Kindheit und Schule

Was sagt Hitler selbst über seinen Bildungsgang? Vater will ihn studieren lassen. Er soll höherer Staatsbeamter werden. Adolf will nicht: „Mir wurde gähnend übel bei dem Gedanken  als unfreier Mann in einem Büro sitzen zu dürfen, nicht Herr sein zu können der eigene Zeit, sondern in auszufüllende Formulare den Inhalt eines ganzen Lebens füllen zu müssen.“ Die Scheu vor geregelter Arbeit ist ihm geblieben. Er wagt dem Vater aber nicht offen zu widersprechen: „Ich konnte meine inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügt mein eigener fester Entschluss, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen.“ Ein kleiner Duckmäuser also.

„Wie es nun kam, weiß ich heute selber nicht, aber eines Tages war mir klar, dass ich Maler werden würde, Kunstmaler.“ Härteste Opposition des Vaters: „ Kunstmaler, nein, solange ich lebe niemals!“ Darauf passive Resistenz des Sohnes: „ Ich ging einen Schritt weiter und erklärte, dass ich dann überhaupt nicht mehr lernen wollte. Da ich nun natürlich doch mit solchen Erklärungen den Kürzeren zog, insoferne der alte Herr jetzt seine Autorität rücksichtslos durchzusetzen sich anschickte, schwieg ich künftig“ – der Widerstand duckt sich abermals vor dem väterlichen Stock – „setzte meine Drohung aber in die Wirklichkeit um. Ich glaubte, dass, wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben mich doch meinem erträumten Glück würde zugehen  lassen.“

Mit anderen Worten: Der Schüler Adolf Hitler wird aus Kunstbegeisterung faul: „Sicher war zunächst mein  ersichtlicher Misserfolg in der Schule.  Was mich freute, lernte ich, vor allem auch alles, was ich meiner Meinung nach später als Maler brauchen würde. Was mir in dieser Hinsicht bedeutungslos erschien oder mich auch sonst nicht so anzog, sabotierte ich vollkommen. Meine Zeugnisse in dieser Zeit stellen, je nach dem Gegenstande und seiner Weinschätzung, immer Extreme dar. Neben „lobenswert“ und „vorzüglich“  „genügend“ oder  auch  „nicht genügend“. Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in Weltgeschichte.“ Das ist ein sehr verklärendes Rückerinnern. In Wahrheit blickt aus diesen Schulzeugnissen ein gewecktes Kind mit lebhafter Phantasie und wenig Disziplin heraus, das sich für die bunten und leicht fasslichen Fächer interessierte und die anstrengenden vernachlässigte.

Es gibt genug Berichte von Lehrern und Mitschülern, Hausgenossen und Nachbarn, die den Buben von damals ziemlich übereinstimmend schildern: ein großer Indianerhäuptling, Raufbold und Anführer,  stimm- und wortbegabt,  plant mit den Kameraden eine Weltreise, bringt Mordinstrumente wie „Bowie-Messer“ und „Tomahawk“  mit in die Schule und liest unter der Bank Karl May. Wenn er Prügel bekommt,  darf er sich beim Vater nicht beklagen, sondern muss sich selber helfen. Das alles gibt kein unsympathisches Knabenbild; nur sollte in Verständiger, groß geworden, nicht mehr daraus machen, als dran ist.

Ungenügende Schulleistungen sagen gewiss nichts gegen einen Menschen; selbst ungenügende Leistungen in Deutsch brauchen  einen künftigen Redner und Schriftsteller noch nicht bloßzustellen. Aber Hitler selbst  ist es, der diese Dinge ungeheuer ernst nimmt, indem sie weit über ihr natürliches Gewicht hinaus das Gemüt belasten. Den mangelhaften Schulleistungen schreibt er den Fehlschlag seiner bürgerlichen Laufbahn zu; und was er – im Gegensatz zu tausenden anderen Autodidakten –  im Leben an Bildung nie erwirbt, soll nach seiner Meinung immer noch die Folge dieser Jahre in Linz und Steyr sein. Diese Selbstbemitleidung wird von den Schulzeugnissen auf ihr richtiges Maß zurückgeführt. Schnelligkeit des Begreifens und Unlust zur Arbeit – diese Eigenschaften  kennzeichnen den Knaben und prägen bis in die feinste Verästelung die intellektuelle Seite eines ganzen Menschenlebens.

Inzwischen werden sein Leistungen in der Schule immer schlechter, der Konflikt mit dem Vater immer härter. Alois Hitler erleidet einen Schlaganfall, als sein Sohn zwölf Jahre alt ist. „Was er am Meisten ersehnte, seinem Kinde die Existenz mitzuschaffen, um es so vor dem eigenen bitteren Werdegang zu bewahren, schien ihm damals wohl nicht gelungen zu sein.“ Alois Hitler starb, an der Wohlgeratenheit seines Sohnes zweifelnd.

Kunst und Krankheit

Die Mutter lässt ihn weiter auf die Schule gehen. Aber: „In eben dem Maße nun, in dem die Mittelschule sich in Ausbildung  und Lehrstoff von meinem Ideale entfernte, wurde ich innerlich gleichgültiger. Da kam mir plötzlich eine Krankheit zu Hilfe.“ Diese Krankheit ist ein Lungenleiden, das ihn auch zum Militärdienst untauglich macht, das später unter der Wirkung einer Gasvergiftung wieder hervortritt, seine Stimme zeitweise schwächt, dann eine Weile wieder schläft und in der Mitte des fünften Lebensjahrzehnts anscheinend abermals ausbricht.

In den Jahren nach des Vaters Tode war Adolf Hitler öfters mit der Mutter und der jüngsten Schwester Paula in Spital, also in der Heimat der Mutter. Dort verbrachte er bei der Tante Therese Schmidt seine Ferien. Er wird aus jener Zeit als großer, bleicher und hagerer Junge geschildert. In Spital scheint ihn das Leiden besonders gepackt zuhaben. Er war in Behandlung bei dem Arzt Dr. Karl Keiß in Weitra. Dieser sagte zu der Tante Therese: „Von dieser Krankheit wird der Adolf nicht mehr gesund.“ (…) Zu seiner Tante Therese sagt er beim Abschied im Jahre 1908: er werde nicht früher wieder nach Spital kommen, als bis er etwas geworden sei.

Was er werden will, ist immer noch Maler. Der Schulbesuch wird einfach abgebrochen. Ohne Abschluss und Reifzeugnis und zumindest auch ohne zwingenden materiellen Grund  verlässt er die Schule im Jahre 1905 endgültig. (…) Was Adolf Hitler in den letzten Jahren bis zum Tode seiner Mutter tat und wo er sich aufgehalten hat, darüber geht er in seiner Lebensbeschreibung mit dunklen Worten hinweg. Es scheint fast, dass er damals zum ersten Male für ein paar Monate in Deutschland gewesen ist. Ehemalige Schüler der privaten Malschule des Professors Gröber in der Blütenstraße in München erinnern sich an einen Mitschüler namens Hitler. Es gibt auch zwei Photographien; sie zeigen im Kreise von Kolleginnen und Kollegen einen Jüngling, dessen Ähnlichkeit mit etwas späteren Bildern nicht gering ist. Er soll nach Schilderungen im Allgemeinen ruhig und zurückhaltend, fast schüchtern gewesen sein; gelegentlich konnte er dann stark ausbrechen und viel Lärm und Betrieb machen. Er sprach stark mit den Händen, und seine kurzen, eckigen, brüsken Kopfbewegungen fielen auf – Merkmale, die ein paar Jahre später auch in Wien von Kameraden beobachtet wurden. Ein Schulkollege aus dieser Münchner Zeit sagte viele Jahre später zu einer Mitschülerin, die ihn an den ehemaligen Kameraden erinnerte: „ Was, unser schüchterner Jüngling soll jetzt der Hitler sein?“

Durchgefallen

Seit Oktober 1907 lebt er, von der Mutter oder anderen Verwandten unterstützt, in Wien, sich auf die Malakademie vorbereitend und im übrigen die große Stadt auf knabenhafte Weise genießend: Theater, Museen, Parlament. Bald bezeichnet er sich als Student, bald als Maler, denn er ist überzeugt, dass er demnächst Schüler der Malschule in der Akademie der bildenden Künste sein wird. Er wird es nicht sein.(…) „Die Probezeichnung machten mit ungenügendem Erfolg oder wurden nicht zur Probe zugelassen, die Herren: … Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…  ungenügend.“

Also abgelehnt. Zu Hause scheint er von diesem Misserfolg nichts erzählt zu haben und in seiner Lebensbeschreibung verschweigt er ihn völlig. Er bleibt in Wien (…) und nimmt sich vor, es im nächsten Herbst nochmals zu versuchen. Das Ergebnis ist noch niederschmetternder, denn diesmal heißt es in der Klassifikationsliste einfach:

„Die Probezeichnungen machten mit ungenügendem Erfolg oder waren nicht zum Probezeichnen zugelassen die Herren: …. 24.  Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…Nicht zur Probe zugelassen.“ Das bedeutet, die von ihm mitgebrachten Zeichnungen waren derart, dass die Prüfenden eine Probe nicht mehr für notwendig hielten. (…)

Gebrochen fährt er nach Hause zurück, ans Krankenbett der Mutter. Entschlusslose Monate folgen. Es ist schon zu sehen, dass ihn die Mutter demnächst verlassen wird, bei der er seit des Vaters Tode – nach seinen eigenen Ausdrücken – als „Muttersöhnchen“ in „weichen Daunen“ und der „Hohlheit gemächlichen Lebens“ herumgelegen hat. Ein verspieltes, verträumtes Jugenddasein geht dem Ende zu. Klara Hitler stirbt am 21. Dezember 1908. Adolf Hitler, ein verwöhnter Junge von 19 Jahren, der nichts gelernt hat, nichts erreicht hat und nichts kann, steht vor dem Nichts.

Das Arbeitererlebnis

Dieses Nichts bedeutet vier Jahre Elend in Wien. Er selbst erzählt, er habe sich in dieser ersten Wiener Zeit durch Handarbeit sein Brot erworben, namentlich als Handlanger  und Steinträger  auf dem Bau. Sein Bericht über diese Lebensperiode ist so kennzeichnend für ihn, dass er trotz aller Bedenken hier stehen möge: „Meine Kleidung war noch etwas in Ordnung, meine Sprache gepflegt und mein Wesen zurückhaltend. Ich suchte nur Arbeit, um nicht zu verhungern, um damit die Möglichkeit einer, wenn auch noch so langsamen Weiterbildung zu erhalten.  Ich würde mich um meine neue Umgebung überhaupt nicht gekümmert haben“  – wenn sie sich nicht um ihn gekümmert hätte.

Die Arbeiterkollegen verlangen seinen Eintritt in  die Gewerkschaft. Er antwortet, er lasse sich zu nichts zwingen. Stumm und erbittert sitzt der Jüngling  mit  den besseren Kleidern und dem gepflegten Wesen abseits, trinkt ein Flasche Milch und macht lange Ohren, wenn die Kollegen politisieren. (…) Diese unglückseligen Wiener Arbeiter  „lehnen alles“ ab,  wie Hitler findet.(…) Er versucht zu widersprechen und macht eine unangenehme Entdeckung: Die Arbeiter wissen mehr als er. Sie führen ihn vor: „Da musste ich allerdings erkennen, dass der Widerspruch solange vollkommen aussichtslos war, solange ich nicht wenigstens bestimmte Kenntnisse über die nun einmal umstrittenen Punkte besaß.“

Darum beginnt er zu lesen – „Buch um Buch, Broschüre um Broschüre“: wie eben ein intelligenter junger Mensch wissen saugt. Über die Kunst des Lesens hat Hitler gescheite, aber verräterische Sätze geschrieben. Er verhöhnt die Vielleser, die keine Registratur für ihr angelesenes Wissen im Gehirn haben und darum zwecklosen Ballast aus der Lektüre mitschleppen; die sich mit jedem neuen Zuwachs ihrer Art von Bildung sich immer mehr der Welt entfremden, bis sie entweder in einem Sanatorium oder als Politiker in einem  Parlament enden. Anders Hitler: Ihn macht das Gefühl beim Studium jedes Buches, jeder Zeitschrift oder Broschüre  „augenblicklich auf all das aufmerksam, was seiner Meinung nach  für ihn zur dauernden Festhaltung geeignet, weil  es entweder zweckmäßig oder allgemein wissenswert ist.“ Das Gelesene findet so „seine sinngemäße Eingliederung in das  immer schon irgendwie vorhandene Bild, das sich die Vorstellung von dieser oder jener Sache geschaffen hat.“ Dort wird es „entweder korrigierend oder ergänzend wirken, es wird „die Richtigkeit oder Deutlichkeit desselben erhöhen.“ Nur solches Lesen habe Sinn, denn – „ein Redner zum Beispiel, der nicht auf solche Weise seinem Verstande die nötigen Unterlagen liefert, wird nie in der Lage sein, bei Widerspruch zwingend sein Ansichten zu vertreten. Bei jeder Diskussion wird ihn das Gedächtnis schnöde im Stich lassen.“

Gescheite Sätze, zumal für einen Redner. Aber auch verräterische, zumal für einen Propheten. Es ist vielleicht das Aufhellendste, was Hitler jemals über sich geschrieben hat. Das führt tiefer als bloß hinter die Tricks eines Streithammels, der nach Zitaten jagt, um am Stammtisch oder vor dem Volke Gegner abzutrumpfen. Das ist der fanatische Wille zur Borniertheit, der nur lernen will, was er schon weiß; der den Schmerz der Erkenntnis scheut und nur das Wohlgefühl des Rechthabens sucht. Und nun stelle man sich vor, wie ein Mensch mit solchem Hang zum Vorurteil später fremde Völker und Rassen nach den einseitigen Jugendeindrücken Wiens beurteilen, verkennen und verleumden musste!

Was Hitler eigentlich gelesen hat, verschweigt er sorgfältig. Sein ganzes Reden und Schreiben aber setzt es außer Zweifel, dass er niemals eine wesentliche Schrift von Marx gelesen, geschweige denn sich kritisch mit ihr auseinandergesetzt  hat, niemals führt er einen marxistischen Gedankengang an, auch nur um ihn zu widerlegen. Hat doch selbst später der wirtschaftliche Theoretiker des Nationalsozialismus, Gottfried Feder, einem Bekannten auf energisches Drängen zugegeben, er habe niemals das Kapital von Marx (ein übrigens nicht sonderlich schwer zu lesendes Werk), sondern nur das kritische Buch von Eugen Böhm-Bawerk gelesen. Hitler dürfte es nicht einmal bis zu Böhm–Bawerk gebracht haben. Wie er den Marxismus studierte, muss man im Wortlaut genießen:

„So begann ich nun, mich mit den Begründern dieser Lehre vertraut zu machen, um so die Grundlagen der Bewegung zu studieren.“ Er las also die dicken Bücher in wochenlanger Arbeit durch? Nun… „Dass ich hier schneller zum Ziele kam, als ich vielleicht erst selber zu denken wagte, hatte ich allein meiner nun gewonnenen, wenn auch damals noch wenig vertieften Kenntnis der Judenfrage zu danken. Sie allein ermöglichte mir den praktischen Vergleich der Wirklichkeit mit dem theoretischen Geflunker der Gründungsapostel der Sozialdemokratie…“- so redlich bemüht studierte das gelehrte junge Haupt die Gesetze vom Mehrwert und das Gesetz der fallenden Profitrate – „da sie mich die Sprache des jüdischen Volkes gelehrt hatte, das redet, um die Gedanken zu verbergen oder mindestens so zu verschleiern…“-  lohnt sich also gar nicht zu lesen!- und sein wirkliches Ziel ist mithin „nicht in den Zeilen zu finden, sondern schlummert wohlverborgen zwischen ihnen“, er klappt das Buch spätestens auf Seite 50 wieder zu.

Gerüstet mit den Argumenten aus antisemitischen Traktätchen und Broschüren, aus dem „Deutschen Volksblatt“, diskutiert er nun mit den Kollegen. Er zerrt ihre Ideale herunter, so wie sie es mit den seinen getan haben; beleidigt und reizt sie derart, dass sie ihn, wie er angibt, vor die Wahl stellen: den Bauplatz sofort zu verlassen oder vom Gerüst zu herunter zu fliegen. Nicht seine Weigerung, in die Gewerkschaft einzutreten, war Ursache dieser ersten schlechten Erfahrung mit den Arbeitern.

Obdachlosenasyl Meidling

So endet Adolf Hitlers erste Berührung mit der Arbeiterwelt, wenn wir seinem Bericht glauben dürfen. Aber dürfen wir es? Menschen, die ihn um jene Zeit gut kannten – Hausgenossen, Geschäftsfreunde, Bilderhändler -, behaupten, Hitler sei damals für körperliche Arbeit viel zu schwach gewesen, zumal für Arbeit auf dem Bau, bei der nur die robustesten Kerle eingestellt worden seien. Auch habe er damals nie etwas von dieser Bauarbeit erzählt. Diese Zweifel genügen nicht, um seine eigene Darstellung ganz zu wiederlegen; aber ausgeschmückt mag sie wohl sein. In einem Schriftchen, betitelt „Mein politisches Erwachen“, hat der eigentliche Gründer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, der Werkzeugschlosser Anton Drexler, ebenfalls erzählt, wie er wegen seiner Feindseligkeit gegen die Gewerkschaften durch die Arbeitskollegen von der Baustelle vertrieben worden sei; auch er sagt, damals sei in ihm der Hass gegen sie Sozialdemokratie entstanden – kurz, der Bericht Drexlers und Hitlers ähneln sich so auffallend, als ob einer vom andern abgeschrieben sei. Nur erschien „Mein politisches Erwachen“ 1920, „Mein Kampf“ aber 1925.

Seinen Quartiergebern erklärte Hitler damals, er „bilde sich zum Schriftsteller aus“. Sicher ist, dass er weder Geld noch Arbeit hatte und wirklich ins bitterste Elend geriet. Seine letzte Wohnung muss er im November 1909 verlassen. Ein paar Nächte irrt er obdachlos umher, schläft erst in Kaffeehäusern und dann in der Herbstkälte auf den Bänken in den Parkanlagen, von wo die Wachleute ihn wegjagen. (…)

Dieser Weg des bereits Einundzwanzigjährigen nach abwärts endet Anfang November 1909 im Obdachlosenasyl von Meidling. Auf harter Drahtpritsche, eine dünne Decke, als Kopfkissen die eigenen Kleider, die Schuhe unter den Bettfüßen festgeklemmt, damit sie nicht gestohlen werden, links und rechts die Genossen des gleichen Elends – so verbringt Adolf Hitler die nächsten Monate. Im Kloster in der Gumpendorferstraße  isst er täglich morgens die Armensuppe; abends schenken ihm die Kameraden im Asyl ein Stück Pferdewurst  oder eine Bissen Brot. Als der erste Schnee fällt, humpelt er, schwächlich und mit wunden Füßen, ein paarmal zum Schneeschaufeln an der Pilgrambrücke, aber er hält diese harte Arbeit bei Winterkälte, in einem abgeschabten blauen Röckchen und ohne Mantel, nicht lange aus. Dann stapft er mit den Kameraden durch den Schnee nach Erdberg, von da nach Favoriten; sie klopfen die Wärmestuben ab, wo die Obdachlosen vor Kälte Zuflucht finden und Suppe und ein Stück Brot bekommen. Diese Wärmestuben sind eine Stiftung des Barons Königswarter, eines Mannes jüdischer Abstammung; übrigens war auch  das Meidlinger Asyl aus jüdischen Mitteln gestiftet.

Gelegentlich steht Hitler am Westbahnhof  und trägt den Reisenden für ein paar Kreuzer die Koffer. Dann will er sich zu Erdarbeiten melden, die in der Gegend von Favoriten ausgeschreiben sind; aber ein neugewonnener Freund sagt ihm, er solle das nicht tun; habe er erst einmal mit schwerer Handarbeit angefangen, dann sei der Weg hinauf sehr schwer. Hitler folgt dem Rat.

Männerheim Brigittenau

Der Freund, der sich durch diese lebenskluge Warnung kennzeichnend einführt, ist der spätere Zeichner Reinhold Hanisch; etwas älter als Hitler, damals im gleichen Elend wie er, mit dem auf und ab des Lebens sehr vertraut. Hanisch hat vom Herbst 1909  bis in den Sommer 1910 acht Monate  lang mit Hitler in enger Freundschaft, Duzbrüderschaft und geschäftlicher Sozietät zusammen gelebt, Gutes und Böses mit ihm geteilt und über diese Zeit einen lebendigen und reizvollen Bericht geschrieben, dem hier ein paar Züge entnommen sind.

Bis etwa zum Jahresende bleiben die beiden im Obdachlosenasyl in Meidling. Während Hanisch nach allerlei Gelegenheitsarbeit läuft, sitzt Hitler brütend und untätig herum, so dass der neue Freund ihn einmal fragt, worauf er eigentlich warte? Er wisse es auch nicht recht, ist die Antwort. Gegen Weihnachten schickt die Schwester aus Linz ihm 50 Kronen  von der väterlichen Pension. Damit beginnt eine Art sozialer Aufstieg. Hitler zieht aus dem Obdachlosenasyl ins Männerheim in der Meldemannstraße im XX. Bezirk. Gegen das Asyl ist das schon ein guter Abstand; in Wahrheit freilich bleibt es ein dürftiges und trostloses Quartier. „Nur Tagediebe, Trinker und Dergleichen sind  längere Zeit im Männerheim zu finden“, meint Hanisch, der ebenfalls ein halbes Jahr mit Hitler dort gewohnt hat.

Hitler hat Hanisch erzählt, er sei akademischer Maler. Daraufhin rät ihm der geschäftstüchtige Freund, mit seiner Kunst etwas anzufangen und Ansichtskarten zu malen. Hitler antwortet, er wolle sich nach den vergangenen Strapazen erst einmal acht Tage ausruhen.(…) Er drängt Hitler zur Arbeit, nimmt ihm die Malereien ab und verkauft sie in den Gastwirtschaften. Später malt Hitler nach Vorlagen kleine Bildchen, die von Möbelhändlern und Rahmentischlern für ein paar Kronen gekauft werden. Damals wurden in die Rückenlehnen von Sofas solche Bilder eingelassen. (…)

Es sind durchweg steife, aber exakte Zeichnungen nach gedruckten oder lithographierten Vorlagen, und zwar Stadtansichten und Architekturstücke; menschliche Figuren, die allenfalls als winzige Staffage vorkommen, sind ganz missraten und wirken wie gestopfte Säcke. Hanisch wollte den Freund einmal bewegen, eine Kirche im Freien nach der Natur zu zeichnen; aber das misslang völlig, und Hitler entschuldigte sich: es sei zu kalt, er habe steife Finger. Eine groteske Malerei hat sich gefunden, in unverkennbarer Handschrift signiert: A. Hitler. Es ist ein Reklameplakat, offenbar von einem Krämer oder Drogisten bestellt, der ein Erzeugnis namens „Teddy-Schweißpuder“ feilbot. (…)

Zu diesen missglückten Reklamezeichnungen wurde Hitler durch einen anderen Freund aus dem Männerheim angeregt, einen ungarischen Juden namens Neumann. Dieser Neumann, der meist ein klein wenig Bargeld bei sich hatte, half Hitler oft aus seiner ärgsten Not, schenkte ihm Hemden und andere Kleidungsstücke; so einen >Kaiserrock< (Gehrock), den er dann jahrelang getragen hat. Hitler schwärmte von diesem Neumann und nannte ihn gegenüber Hanisch öfters einen der anständigsten Menschen, die er kenne. 1910 wanderte Neumann nach Deutschland  und redete Hitler zu, mit ihm zu gehen. Hitler schwankte, entschloss sich dann aber zum Bleiben. So ist die Weltgeschichte um das Schauspiel gekommen, das Adolf Hitler an der Seite eines ungarischen Juden seinen Einzug in Deutschland gehalten hat.(…)

Von all dem ist in „Mein Kampf“ nichts zu lesen. Das Männerheim findet sich dort nicht, die Reklamezeichnungen nicht, der Freund Hanisch nicht und selbstverständlich der jüdische Freund Neumann nicht. Nur die Atmosphäre jener Zeit und jener Verhältnisse blieb und hat sich in der Erinnerung an dem Gift verdichtet, das die ganze Schilderung seines Wiener Aufenthaltes durchtränkt.  (…)

Die Lebensschule der Entartung

Im Männerheim kommen die Klassen auf eine eigentümliche und verderbte Art zusammen. Da gibt es Grafen, Professoren, Großindustrielle, Kaufleute, Maler, Facharbeiter, Handlanger und Ausgeher – nur alles  a. D. oder z. D. oder, wie man im Milieu sagt, „Verkrachte“. Die Klasse in entarteter  Form. Aber das Klassenbewusstsein entartet nicht; der „verkrachte“ Graf bleibt in seiner Gesinnung Graf, der Prolet Prolet, und was sie alle wollen, ist: dorthin zurück, von wo sie gekommen sind. Das Elend schafft gewiss Kameradschaft; gemeinsamer Absturz kann  zu gemeinsamem Streben zusammenführen, aber die Ziele bleiben verschieden, in dieser gemischten Tiefe verschiedener als irgendwo sonst; aus diesem Abgrund späht jeder nach seinen eigenen Sternen –  der Mangel an Solidarität ist das große Hauptmerkmal der großen Klasse der Deklassierten, die Adolf Hitler hier zum ersten Male kennenlernt und die für seine spätere Laufbahn noch so wichtig werden wird. Gemeinsam nach den Gegensätzen streben, ist die Losung dieser entarteten Volksgemeinschaft, einander hochzuhelfen, um dann einander wieder hinabzustoßen, zusammenhalten, um sich zuletzt zu betrügen. In diesem furchtbaren Milieu stellt Hitler sich zum erstenmal die schwere Frage nach der Möglichkeit einer Verwirklichung seiner in der Linzer Realschule empfangenen Träume; nach den Mitteln aus dem Stoff, aus denen eine deutsche Einheit, eine deutsche Weltherrschaft geformt werden könnten. Das heißt: der Begriff der Politik tritt ihm hier zum erstenmal nahe, hier, unter den Verkommenen des Weiner Männerasyls. In diesem Abfall lernt er das Volk als Objekt der Politik kennen; an dieser Spreu bildet ein Altkluger sich für ein ganzes Leben seine Vorstellungen vom Wert der Menschen, vom  Unverstand  der Masse. Vergessen wir nicht, dass dieser Begriff ihm zuerst von oben eingetrichtert wurde, im Geschichtsunterricht  deutscher Schulen  gibt es immer erleuchtete Fürsten und törichte Völker, und „plebs“ heißt das niedere Volk. Im Wiener Männerheim aber lernt man, wie recht der Professor zu Hause hatte.(…)

„Hungerkünstler“

Dieser früh Gescheiterte denkt nicht daran, sich mit der  Gründung von Reklameinstituten oder dem Erfinden von Mitteln gegen gefrorene Fensterscheiben zufrieden zu geben. Er sieht eines Tages einen Film in dem ein Volksredner eine Masse aufwiegelt. Jetzt will er eine neue Arbeiterpartei gründen, also eine Partei seiner Objekte. Die Organisation müsse man von den Sozialdemokraten lernen und die besten Schlagworte von den Parteien übernehmen, denn im übrigen heilige der Zweck die Mittel. Während Hanisch draußen herumläuft und Hitlers Zeichnungen zu verkaufen sucht, sitzt dieser im Lesesaal des Männerheims und hält Vorträge. Oder er beugt sich über eine Zeitung, zwei andere links und rechts unter die Arme geklemmt. Wenn er wirklich einmal zeichnet oder jemand eine neue Zeitung mitbringt, lässt er sofort  die Arbeit liegen und stürzt sich auf das Blatt. Oft nimmt ihm Hanisch, wenn er abends nach Hause kommt, die Reißschiene aus der Hand, die Hitler wild über dem Kopfe schwingt, während er auf die Umsitzenden losdonnert; drückt ihn auf die Bank und sagt: „Arbeite endlich!“ Die anderen rufen: „Arbeiten, Hitler, Dein Chef kommt!“ Manchmal ist Hitler freilich auch sehr niedergedrückt; er hat mit seinen Reden keinen Eindruck gemacht, man hat ihn ausgelacht, einmal ihm ein Spottplakat auf den Rücken geklebt, und Hanisch muss abends das weinende Menschenkind trösten.

Die lauten Debatten im Männerheim steigern sich oft zu wilden Lärmszenen. Dann rast der Verwalter herauf, um Ruhe zu gebieten – und schon sieht man Hitler mit angezogenen Armen am Tisch sitzen, bescheiden und musterhaft über seine Zeichnung geduckt. Einmal haben Hanisch, Hitler und ein Dritter aus dem Männerheim beschlossen, einem verhassten Wachmann im Prater einen Streich zu spielen: Hanisch will ihm heimlich ein Plakat auf den Rücken kleben, die beiden anderen sollen den Wachtmann indessen von vorne beschäftigen. Hanisch kommt von hinten an den Wachtmann heran und berührt ihn; in diesem Augenblick ist auf der anderen Seite Hitler der Erste, der erschrocken davon läuft. Der Ängstlichkeit Hitlers schreibt es Hanisch auch zu, dass er bei den Frauen kein Glück gehabt habe. Dagegen konnte Hitler mit leuchtenden Augen von den Bauernraufereien in seiner oberösterreichischen Heimat erzählen; ein älterer Freund habe ihm einmal im Gerichtsgebäude in Ried eine Sammlung von Mordinstrumenten gezeigt, die raufenden Bauern abgenommen worden waren; das sei für ihn als Knaben ein glücklicher Tag gewesen. Hanisch, der diesen Zug berichtet, fügt bieder hinzu: „Ob derartige Instinkte im späteren Alter verschwinden, weiß ich nicht. Ich bringe einfach als Erzähler meine Erfahrungen und Erlebnisse mit Hitler, so wie ich alles von ihm selbst gehört habe.“

Das Freundschafts- und Arbeitsverhältnis zwischen beiden zerbröckelt langsam. Hanisch bringt von Bilderhändlern und Privaten Bestellungen, Hitler aber liest Zeitungen und ist nicht zum pünktlichen Arbeiten zu bewegen. Auch glaubt er nicht, dass seine Erzeugnisse nur bescheidene Qualität haben, sondern hält sich für einen großen Künstler – vor allem betont er, ein Künstler brauche Inspiration und könne doch nicht arbeiten wie ein Kuli. Hanisch antwortet aufgebracht: “Künstler – höchstens Hungerkünstler“, im Übrigen sei er ein Schmierant, daneben ein Faulpelz, der auch mit dem Geld nicht hauszuhalten wisse. Wenn er ein paar Kronen verdient hat, rührt er keine Arbeit an, sitzt tagelang in einem billigen Volkscafe und isst vier bis fünf Schaumrollen hintereinander; allerdings gibt er fast kein Geld für Alkohol und gar keins für Tabak aus.

Abschied von Wien

Drei Jahre hat Hitler im Männerheim verbracht, „die schwerste, wenn auch  gründlichste Schule meines Lebens“; doppelt hart und bitter nach der zugestandenen sorgenfreien Jugend in Linz und Steyr. In diesen Jahren ist er nach seiner Behauptung „ernst und still“ geworden. Er ist in der Tat jetzt oft deprimiert und in sich gekehrt. Ein fast schöner Künstlerkopf mit ekstatisch brennenden Augen, mit breitem, buschigem Schnurrbart; zarte Gestalt, hastiger, springender Gang. Führt oft Selbstgespräche. Ein Sonderling. Ein künftiger Künstler. Das innere Erlebnis der politischen Berufung ist noch nicht da, wenn er auch schon vom Parteigründen gesprochen hat. Junge Menschen wollen gelegentlich alles. Was treibt ihn von Wien fort? Nun, das Elende im Asyl konnte ihn gewiss nicht halten. Den unmittelbaren Anstoß, der ihn wegbrachte, nennt er nicht. Er schreibt in den Wiener Jahren folgendes Testament:

„Meine innere Abneigung dem habsburgischen Staat gegenüber wuchs in dieser Zeit immer mehr an. Meine Überzeugung gewann an Boden, dass dies Staatgebilde nur zum Unglück des deutschen Volkstums werden müsste. Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt beherrschte; widerwärtig dies ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben, Kroaten usw.; zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz  der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien die Riesenstadt als Verkörperung der Blutschande.“

Mit dieser erotisch getönten Hasserklärung schließt Adolf Hitler die Darstellung seiner Wiener Zeit. Ohne dass Einzelheiten greifbar werden, sagt er zwischen den Zeilen über die Ursache seines Weggangs viel. Und dazwischen spricht das Gewissen immer: Hättest Du Deine Schule nicht verbummelt, dann wärst Du heute ein fertiger Architekt, ein geachteter Bürger und ein gemachter Mann – Du Vagabund!

3. Der Krieg als Erlöser

Das Münchner Sofa

Im Frühsommer 1913 mietete ein junger Student der Technik aus Wien im Bahnhofsviertel in München ein Zimmer. Die Vermieterin sagte ihm,  den bisherigen Mieter müsse sie hinaussetzen, weil  er seine Miete seit längerer Zeit nicht mehr bezahlen könne. Während dieser Unterhaltung kommt der arme Hinausgesetzte hinzu; dies ist merkwürdigerweise auch ein  junger Österreicher. Er fasst sich ein Herz und bittet den Landsmann um Erlaubnis, doch wenigstens noch eine Nacht bei ihm auf dem Sofa schlafen zu dürfen. Der Neue ist ein gutherziger Mensch, nimmt den armen Teufel zum Bier mit, und sie verabreden, dass er in Gottes Namen vorerst umsonst da wohnen und auf dem Sofa schlafen solle, bis er Geld habe, um seinen Teil an dem Zimmer zu bezahlen. Dabei bleibt es, die beiden sind über ein Jahr lang Stubenkameraden: der junge Ingenieur aus Wien und sein Gast auf dem Sofa, der Reklamezeichner Adolf Hitler aus Linz. (…) In München ging es ihm nicht viel besser (als in Wien. Anm. d. Red.); hier zeichnete er Plakatentwürfe für Firmen. Das Dasein ist äußerlich noch einsamer als in Wien,…(…) . Am liebsten sitzt er mit den wenigen Bekannten, die er hat, abends in der Schwemme des Hofbräuhauses, isst mit Vorliebe Weißwürste aus der Suppenschüssel, was dem österreichischen Freunde ein Gräuel ist; wenn es ein anderer zahlt, trinkt er auch ein Bier. Weiblichen Verkehr meidet er ganz.(…) Aber vielleicht noch bezeichnender für den Charakter des jungen Mannes ist es: Auch hier gewinnt er keinen nahen persönlichen Freund; so wenig wie in Wien. Immer mehr gerät er in Distanz zu Menschen; sichtlich nicht aus Stolz, sondern aus Angst; nicht aus Hochmut, sondern aus Unvermögen.

Seine politischen Ansichten sind damals zum mindesten in der Richtung schon sehr entschieden. Man durfte in keine sozialdemokratische Versammlung mit ihm gehen, weil er sich dort vor Zwischenrufen nicht halten konnte. Sobald das Gespräch auf Politik kam, begann er zu schreien und endlose Reden zu halten, dabei fiel eine gewisse Präzision und Klarheit seiner Darstellung auf. Er liebte es, zu prophezeien und politische Entwicklungen vorherzusagen. Und wieder macht der österreichische Freund die traurige Beobachtung, die Hanischs alte Klagen bestätigen: sobald von Politik die Rede war, ließ Hitler jede Arbeit stehen und liegen, mochte sie auch noch so dringend sein. Dann setzte er sich in die Hofbräuschwemme, politisierte mit allen und hatte viele Zuhörer.

Dank für den Weltkrieg

Sonderliches Vorwärtskommen kann man dies nicht nennen. Noch immer kriecht der gescheiterte Realschüler tief unter der Stufe herum, die der Vater für ihn erträumte; von den eigenen hochfliegenden Künstlerplänen gar nicht zu reden. Grau liegt ein kleines, langweiliges Leben vor ihm; da greift der Himmel ein und lässt für ihn und so viele andere ausweglose Existenzen den Weltkrieg ausbrechen. Wie Hitler diese Katastrophe erlebt, das ist fast ein Gleichnis:

„Der Kampf des Jahres 1914 wurde den Massen, wahrhaftiger Gott, nicht aufgezwungen, sondern vom gesamten Volke selbst begehrt.“ Vom gesamten Volke begehrt? Nein, aber von einer Schicht, die man Hitler-Schicht nennen könnte: „Mir selbst kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jungen vor. Ich schäme  mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie sank und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte…“. (…)

Dabei ist er dem Militärdienst bisher sonderbarerweise ziemlich erfolgreich aus dem Wege gegangen. Bei den vorgeschriebenen Stellungen in Österreich war er weder 1910 noch 1911 noch 1912 erschienen. In der Stellungsliste wurde er als „illegal“ bezeichnet, 1913 als „uneruierbar“. Am 5. Februar meldete er sich dann von München aus zur Nachstellung im nächsten österreichischen Grenzort, nämlich in Salzburg. Dort ergab die ärztliche Untersuchung das Urteil: „zum Waffen- und Hilfsdienst untauglich, zu schwach“; der Beschluss lautete auf „waffenunfähig“.Der Krieg ändert natürlich vieles. Auf dem österreichischen Konsulat  stellt er sich. Aber irgendetwas passt ihm dort nicht. Mit sprunghaftem Entschluss meldet er sich bei den Bayern als Freiwilliger. ( zum Regiment List. Anm. d.Red.)

Das eiserne Krauz

Über seine Kriegserlebnisse ist Hitler wieder wortkarg.(…) Dabei macht er sich des falschen Berichtes schuldig; vielleicht harmlos, aber nicht ganz unwichtig. Vom ersten Kampftag sagt er:„Aus der Ferne aber klangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und  kamen immer näher und näher, sprangen über Kompagnie zu Kompagnie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“

Der Herausgeber der „Geschichte des Regiments List“, Dr. Friedrich Solleder, sagt dazu: „Seit 1915 kehrt in fast allen Veröffentlichungen die Nachricht wieder, das die Lister beim Sturm auf Ypern das Deutschlandlied sangen. Das ist ein geschichtlicher Irrtum. Die Lister sangen das alte deutsche Trutzlied „Die Wacht am Rhein.“ Auch ein Beitrag zur Psychologie  der Zeugenaussage – zumal wenn der Zeuge Adolf Hitler heißt.

Hitler war Gefechtsordonanz beim  Regimentsstab, gehört also nicht zur Grabenbesatzung. Er selbst erwähnt diese Art der Verwendung nicht. Der Regimentsstab des Regimentes List hat nach der eben zitierten offiziellen Quelle im Kriege nur einen Angehörigen verloren, nämlich den Obersten List,  und zwar in den allerersten Kämpfen.  Der Dienst im Regimentsstab mag also im Ganzen weniger gefährlich  gewesen sein. Hitlers Regimentsoberst von  Baligand hat ihm bezeugt, dass er sich „ der schweren Pflicht eines Meldegängers jederzeit nicht nur willig, sondern mit Auszeichnung unterzogen hat.“ Die Auszeichnungen sind laut Militärpass ein Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit, das Militärverdienstkreuz  Dritter Klasse, das schwarze Verwundetenabzeichen (er wurde 1916  durch einen Granatsplitter verwundet) und das Eiserne Kreuz Erster Klasse, verliehen am 4. August 1918. (…) Freiherr von Tubeuf, der die Kämpfe bei Montdidier  in der Geschichte des Regiment List persönlich schildert, erwähnt diese auffallende Tat nicht; andere Schilderungen verlegen die Tat um drei Jahre zurück. Sie wäre jedenfalls so bemerkenswert, dass die Regimentsgeschichte sie nicht gut übersehen könnte. Aber sie tut es. (…)

Dabei nimmt sie  durchaus Notiz von ihm; bringt einmal eine Photographie, wie er in Gefechtsausrüstung, Pickelhaube, Gewehr umgehängt durch die Straße einer Ortschaft stürmt; sie erwähnt, dass er im schwersten Feuer den Kommandeur mit dem Leibe gedeckt und in ein schützendes Erdloch  zurück-gedrängt habe; (…) Aber nichts von fünfzehn gefangenen Franzosen. Zusammengefasst: die Verleihung des Eisernen Kreuzes 1. Klasse an Hitler sollte man nicht bezweifeln. Die fünfzehn Franzosen sehen stark nach Legende aus.  (…)

Der unerkannte Führer

Bei seinen Kameraden ist unbeliebt wegen seiner, wie es ihnen scheint, streberhaften Willigkeit gegen die Vorgesetzten. Wenn er vor den Kommandeur springt und ihn bittet, sein Leben zu schonen, „das Regiment davor zu bewahren, in so kürzer Zeit ein zweiten Mal seinen Kommandeur zu verlieren“, so hat das einen leisen Hauch von vaterländischem Schullesebuch. “Ich habe“, berichtet ein späterer Nationalsozialist, „aus Hitlers Munde nie ein Murren oder Klagen gehört über den sogenannten Schwindel. Wir alle schimpften auf ihn und fanden es unerträglich, dass wir einen weißen Raben unter uns hatten, der nicht auch mit einstimmte in die Schimpfkanonade.“ Er war ihnen unerträglich.

Auf den Photos in Gesellschaft der Kameraden sieht man ihn mit starrem Blick abseits stehen oder sitzen. “Bescheiden und schon deshalb nicht auffallend“, sagt ein Vorgesetzter. Wenn an seiner Auszeichnung, seiner Hingabe und Dienstwilligkeit nicht zu zweifeln ist, so erhebt sich die gewichtige Frage: Warum ist dieser „Führer“ viereinhalb Kriegsjahre lang ewig  nur Gefreiter geblieben? Es war ein Mangel an Unteroffizieren; trotzdem sagte dein Kompagnieführer: „Diesen Hysteriker mache ich niemals zum Unteroffizier!“

Hitlers weltgeschichtlicher Irrtum

Hier unter den Soldaten erlebt er zum zweiten Male die Volksgemeinschaft, die er bereits im Männerheim in verdorbener Art kennenglernt hat. Und wieder ist es ihm unmöglich, sich von Mensch zu Mensch mitzuteilen, als einzelner mit einzelnen zu sprechen und sie zu überzeugen. “Von mir werdet ihr noch viel hören,“ sagt er dann aufgebracht. „Wir lachten damals drüber,“ sagt der nationalsozialistische Gewährsmann. Sein Misserfolg im persönlichen Umgang verführt ihn immer mehr zur Menschenverachtung; sie steigert sich, je mehr er die Lenksamkeit dieser Menschen durch simple Tricks kennenlernt. Er beobachtet die Wirkung von Flugblättern, die der Feind bei der deutschen Truppe einschmuggelt; die gleichzeitige Unwirksamkeit der eigenen Propaganda bei den eigenen Leuten, das Verpuffen des „vaterländischen Unterrichts“ kann ihm nicht entgehen. Es ist damals viel gehörte Phrase, dass Propaganda im Kriege so wichtig  sei wie Munition; aber wie man Propaganda macht, weiß an Deutschlands verantwortlichen Stellen niemand. Diese Herren kennen das Volk nicht, das begreift der mit dem ganzen Spülwasser des Wiener Männerheims gewaschene Adolf Hitler blitzschnell.(…) Hitler vergleicht die ausgezeichnete politische Führung des Krieges auf der Gegenseite mit der Stümperei der eigenen; während die ganze Welt rot sieht vor Hass auf die Deutschen, die in Belgien angeblich  Kindern die Hände abgehackt haben sollen, tatsächlich leider nur zwei Zivilisten als  Geiseln  getötet haben, spinnen deutsche Annexionisten den Plan, einen Prinzen aus Schwabenland als Herzog über ein großes Österreich zu setzen.  Und mit solchen „Schnapsideen“ will man beim Volk und gar bei fremden Völkern moralische Eroberungen machen!

Adolf Hitler hat ein wichtiges inneres Erlebnis. Er sieht, dass er Wesentliches besser weiß als seine Führer, zu denen er aufzublicken gewohnt war. Es handelt sich nicht um Meinungsverschiedenheiten in der Sache, nicht um Gegensätze aus Weltanschauung. Es handelt sich nur  darum, dass er sich seinen  anerkannten Oberen überlegen fühlt. Aus einem Gehorsamen wird ein Besserwisser, aus einem Befehlsempfänger ein Besserkönner. Das arbeitet noch Jahre in ihm, aber hier fängt es an. (…)

Er beginnt die Mechanik der Demokratie zu verstehen, die Zauberwirkung der großen weltumspannenden Ideen, die in Deutschland niemand erfasst hat, nicht einmal die Sozialdemokratie völlig. Aber dieser stets an der Außen- und Unterseite des Volkes  herumgekrochene Mensch versteht  das innere Wesen der Demokratie nicht: die Kraft, die in der Freiheit wohnt, die dem einzelnen Verantwortungsgefühl einprägt, die in ganzes Volk sicherer führt, als irgendein Heldenkaiser oder Marschall-Präsident. Er glaubt große Führer zu sehen, wo große Systeme sind, die ihre Repräsentanten aus sich heraus schaffen: in normalen Zeiten Normale, in großen Zeiten Große. Er lernt die Kniffe der Demokratie, ohne ihren Geist zu begreifen; dieser Irrtum ist der tragische Gewinn, den der wunderliche Kamerad aus dem Schützengraben mit nach Hause bringt. Unter den Kameraden, deren Schwächen er mit dem feinen Instinkt  des Bösen wittert, ohne ihre wertvollen Seiten  zu schätzen, hochmütig und zugleich scheu, wächst seiner künftigen Bestimmung entgegen: eine gewaltige Figur der Demokratie zu werden, ohne  Demokrat zu sein.

Flucht in die Legende

4. Umkehr in die Sackgasse

Nichtsnutziges Talent

Eine Vorkriegsjugend ist zu Ende. In ihrer Ereignisarmut ist sie ein Rätsel, dessen Sinn weit über das Persönliche hinausreicht. Das Rätsel dieser Jugend ist:  wie kommt es, dass dem Mann, der heute wohl der berühmteste Mensch auf der Erde ist, bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr auch nicht der bescheidenste Erfolg geglückt ist? Warum blieb dieser Menschenbezwinger im bürgerlichen Leben Bettler und im Krieg ein unbedeutender grauer Soldat? (…)

Illusionen gegen Interessen

Wenn man fragt, wie es möglich war, dass alle diese Parteien, die doch reale >Interessen< vertraten, einer einzigen, in ihren Interessenverbindungen sehr unklaren Partei unterliegen konnten, so darf man sich nicht mit der Antwort begnügen, die alten Parteien hätten die Interessen ihre Anhänger nicht gut genug vertreten. Gewiss macht die Krise es jeder einzelnen Gruppe schwierig, für sich und die ihren noch ein gleich großes Stück wie früher aus dem kleiner gewordenen Kuchen herauszuschneiden. Aber die Frage reicht tiefer. In großen modernen Massen Parteien, an ihrer Spitze die faschistischen, haben eine alte geschichtliche Wahrheit wiederentdeckt, die lange verschüttet schien: dass die Menschen oft  nicht und die Massen fast nie ihren  Interessen dienen, sondern ihren Illusionen. Diese Tatsache ist etwas Gewaltigeres als Torheit und Blendung; sie beruht der tiefen Lust des Menschen an Hingabe und dem Selbstopfer, die in der Geschichte eine ebenso große Rolle spielt wie Hunger und Liebe. Hitler lügt nicht, wenn er stolz erklärt, dass er von seinen Anhängern immer nur Opfer verlangt habe. Man verkleinert die Bedeutung dieses ebenso großartigen wie verderblichen Hanges der Menschenseele nicht durch den Hinweis, dass bei der Opferbereitschaft der SA natürlich die Eitelkeit auch ihre Rolle spielte.

Das Versagen der Revolution

Die Revolution von 1919 hatte nur (…) zum Teil soziale Ursachen und entsprang in der Hauptsache der Sehnsucht nach Frieden. Sie war eine pazifistische Volksbewegung, keine sozialistische. Freilich hätte sie immer noch Raum und Gelegenheit genug für die Initiative wirklicher Führer geboten. Solche Führer haben sich unter den „Volksbeauftragten“ von 1919 nicht gefunden; der spätere Reichspräsident Ebert hatte nicht den Mut zum revolutionären Handeln, sondern nur zu einer Handlung, die –  bei subjektiv vielleicht bester Absicht – hart an Verrat grenzt. Er führte seine Genossen hinters Licht, ließ eine geheime Telefonleitung von seinem Schreibtisch in das der Revolution feindliche Große Hauptquartier des Generalfeldmarschalls von Hindenburg legen und stellte im Bunde mit diesem  durch seinen Parteigenosse Noske aus beschäftigungslosen Offizieren und Soldaten Freicorps auf. Diese schlugen verschiedene Erhebungen der radikalen Arbeiter nieder. Die radikalen Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden von  Offizieren ermordet. Den schwersten Schlag führten Ebert und Noske zusammen mit den alten Generälen gegen die sozialistische bayrische Räterepublik in München am 2. Mai 1919. Unmittelbar nach diesen Kämpfen taucht an dieser Stelle Adolf Hitler zum ersten Mal in der Politik auf.

Er findet ein Feld vor, reif  zum Mähen: dies zu sehen freilich ist schon eine politische Leistung. Die Arbeiterführer haben sich in dieser kurzen Periode durch ihre Ziellosigkeit entsetzlich  kompromittiert. Die Generäle haben scheinbar wieder ein Stück Macht in die Hand bekommen, aber diese Macht ist nichts; sie ist nur der negative Abdruck der vollkommenen Machtlosigkeit und Unfähigkeit der sozialdemokratischen Minister. Das Volk hat weder zu den Generälen noch zu den Arbeiterführern Vertrauen. Friedrich Ebert, der hier erwähnte sozialdemokratische Führer, wurde 1919 zum Reichspräsidenten gewählt. Er hielt es für seine Pflicht, auch weiterhin sich auf die alten Mächte in Staat und Gesellschaft zu stützen. Sie dankten es ihm nicht, aber er ließ sich nicht beirren.

Bei einem Diner saß er neben der Gräfin Holtzendorff, der Frau des sächsischen Gesandten in Berlin. Die Gräfin erzählte, wie sie auf einem Ausflug einmal absichtlich in der Eisenbahn vierter  Klasse gefahren sei: sie hielt das für eine köstliches Abenteuer. Ebert fragte:“ Nun, Frau Gräfin, wie kamen sie sich denn in der vierten Klasse unter den einfachen Leuten vor?“ – Die Gräfin:“ Herr Ebert, genauso wie Sie im Salonwagen!“ Das proletarische Reichsoberhaupt steckte die Frechheit ein.

Die Autorität liegt auf der Straße. Wer sie aufhebt, hat die Macht.

                                   Adolf Hitler hebt sie auf. Das Ergebnis ist bekannt.


Hitler: „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“. Von Konrad Heiden. 2. Teil

16. November 2012 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Die Aktualität Heidens erschreckt. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass, wie geschehen, an einem 9. November wieder Nazis in einer deutschen Stadt aufmarschieren dürften.  Fast gleichzeitig wird in Hoyerswerda  ein Paar von der Polizei ersucht – wegen Bedrohung durch Neonazis –  die eigene Wohnung zu verlassen, statt jene zu entfernen.  Obgleich auch ohne die jüngsten Ereignisse ein vielfacher Tod den Weg der Rechtsszene seit Jahrzehnten markiert, ringt der Rechtsstaat mehr mit sich, als dass er seinen rechten Feinden Einhalt geböte. Bei den Linken der RAF war das noch ganz anders. Die Rechtssympathie der Polizei der Weimarer Zeit findet ihr abgeschwächtes Pendant in der Inaktivität offenbar nicht nur bei den  Vorgängen um die NSU Morde, sondern im Zurückweichen des Staates vor dem nationalen Pöbel. So gewinnt die Geschichte vom Aufstieg Hitlers und seiner Mordbuben  ungeahnte Lehrstückqualität für heutige Politik.  Konrad Heiden *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, schreibt als Zeitgenosse. Nichts wirklich Neues nach ihm über Hitler. Er war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im besten Sinne. 1935 veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine gültige Biographie Hitlers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an, lange vor der Machtergreifung,  unglaubliche Verbrecher ohne jede Moral waren, und es auch blieben. Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte ihm die Rückführung des „Phänomens“ Hitler  auf die banale Wirklichkeit.  Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte mediale Flachköpfe sie immer aufs Neue mit den Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den  jene mit der Verrichtung  ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen.  Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes.  Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden.

KONRAD HEIDEN

ADOLF  HITLER  DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT

EINE BIOGRAPHIE          EUROPAVERLAG  ZÜRICH 1936   2011

Erhältlich ist es bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage.

Konrad Heiden schreibt 1936  im Vorwort zur Neuauflage des Buches, in der er Verschiedenes präzisierte:

Vom Ganzen her gesehen handelt es sich  freilich um  Neuigkeiten, doch um nichts Neues.

Das  trifft  auf alle nachfolgenden Hitlerbiographien der  folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu. Nichts Neues nach Konrad Heiden. Man liest ihn als wäre man dabei.

Von Kriegsende bis  zum  Marsch auf die Feldherrnhalle. (Auszüge aus dem Buch)

5. Der Aufbruch

Dietrich Eckart sucht einen Führer

Wer das historische Glück gehabt hat, an einem Sommerabend des Jahres 1919 die Weinstube „Brennessel“ in dem Münchner Künstlerquartier Schwabing zu betreten, der konnte dort an einem Stammtisch der Erfindung Adolf Hitlers  beiwohnen. Oder der Erfindung der Hitler-Legende.

In dem Schwabinger Weinlokal saß der Dichter Dietrich Eckart. Er war ein mittelgroßer, dicker Mann mit einem eindrucksvollen Kahlkopf, etwas kleine Augen, liebte einen guten Tropfen, und sein drittes Wort war ein bekannter Kraftspruch, der in keiner Sprache so herzhaft klingt wie im bayrischen Dialekt. Diese Eckart war vor dem Kriege Feuilleton-Redakteur an dem besonders kaisertreuen Berliner „Lokal-Anzeiger“ gewesen, hatte es als geborener Bayer und Bohemien nicht lange in Berlin ausgehalten und dann eine Reihe von Dramen geschrieben, die meist durchfielen oder nicht aufgeführt wurden. Dies Schicksal erleben sie noch heute im nationalsozialistisch gewordenen Deutschland. Unter anderem fertigte Eckart eine Übersetzung von Ibsens „Peer Gynt“ an, die durch ihre große „Freiheit“ auffiel, aber angeblich den nordischen Geist des Originals unvergleichlich traf. Dieser Lebenskünstler mit dem beneidenswert schönen Namen – er war echt – war wie viele Literaten durch den Krieg politisch aufgeregt worden und wollte eine Partei zur Bekämpfung der Juden und Bolschewiki gründen.

„Eine deutsche Bürgerpartei soll es sein, “ zählte er den Künstlern und Studenten in der „Brennessel“. Auch der Arbeiter ist Bürger, wenn er deutscher Volksgenosse ist. Und ist denn jeder sesshafte Bürger oder Bauer schon ein Kapitalist oder Faulenzer? Er muss doch auch arbeiten, um seinen Besitz zu erhalten. Es muss Schluss gemacht werden mit dem Neid, aber es muss auch Schluss gemacht werden mit der Protzerei. Wir müssen wieder einfach werden.“

Dann setzte er die Pläne zur Organisation der neuen Partei auseinander:

„Ein Kerl muss an die Spitze, der ein Maschinengewehr hören kann. Das Pack muss Angst in die Hosen  kriegen. Einen Offizier kann ich nicht brauchen, vor denen hat  das Volk keinen Respekt mehr. Am besten wäre ein Arbeiter, der das Maul auf dem richtigen Fleck hat. Herrgott, wenn Noske nicht solch ein“-hier kam wieder ein Kraftausdruck –„ gewesen wäre …! Verstand braucht er nicht viel, die Politik ist das dümmste Geschäft auf der Welt, und soviel wie in Weimar weiß bei uns in München  jedes Marktweib. Ein eitler Affe, der den Roten eine saftige Antwort geben kann und nicht vor jedem geschwungenen Stuhlbein davonläuft, ist mir lieber als ein Dutzend gelehrte Professoren, die zitternd auf dem feuchten Boden der Tatsachen sitzen.“ Und als letzte Weisheit verkündete er:“ Es muss ein Junggeselle sein! Dann kriegen wir die Weiber!

Es leben noch viele Zeitgenossen, die sich an dieses prophetische Bild erinnern, das Eckart in der Schwabinger Weinkneipe von Adolf Hitler entwarf. Eckart ist der geistige Urheber des Führer-Mythos und der nationalsozialistischen Partei.  Er hat auch am schärfsten das Arierprinzip erfasst, nämlich die Behauptung von der Existenz einer geheimnisvollen, höherwertigen arischen Rasse, die überall auf der Welt seit Jahrtausenden auf einer Wanderung von Norden nach Süden begriffen sei, mit den minderwertigen Elementen der heißen Zone und namentlich vom Mittelmeer im Kampfe liege und zumal im Körper des deutschen Volkes, ja in dessen einzelnen Individuen selbst die ewige Schlacht mit der niederen Rasse führe. Der stärkste Ausdruck und verhängnisvollste Träger und Verbreiter der niederen Rasseelemente ist der Jude; er überträgt nicht nur durch Mischung sein schlechtes Blut, sondern auch durch sonstige Berührung seine Sitten, seine Denkweise, seine Weltanschauung – in Gestalt des Christentums. Eckart wird in dieser Gedankenrichtung (…) durch einen russischen Freund, den Architekten Alfred Rosenberg aus Reval, bestärkt. Sie sind einander in der „Thule-Gesellschaft“ begegnet, einem Verein, der die Lehre von der arischen Rasse verbreitet und sich nach dem sagenhaften Inselreich in der nordgermanischen Sage nennt. Seitdem halten sie zusammen wie siamesische Zwillinge. Gemeinsam leiten sie Hitler, nicht so sehr seine Schritte, als sein Denken. Als Dietrich Eckart 1923 stirbt, tritt Rosenberg sein Erbe als Hitlers Lehrer an.

Röhms eiserne Faust.

Etwa um dieselbe Zeit spielte im Café Fabrig  am Karlstor eine Musikkapelle alle Viertelstunden das sogenannte Flaggenlied, das jedes deutsche Schulkind kennt. Wenn der Refrain geschmettert wurde, erinnerte sich jeder an den Text und verstand die Bedeutung:

„Ihr woll´n wir treu ergeben sein, /getreu bis in den Tod, /ihr woll´n wir unser Leben weih´n, / der Flagge schwarz-weiß-rot!“

Alles stand auf. Wenn jemand sitzen bleib, pflanzte sich alsbald eine schneidige Figur  in Militäruniform vor ihm, auf. Ein stummer Blick genügte. Wehe dem Unseligen, der nicht sofort verstand! Er war unversehens vor die Tür gerissen und wurde draußen fürchterlich verprügelt. Auf diese Art verbreitete eine Vereinigung junger Offiziere, die sich die „Eiserne Faust“ nannte, den Patriotismus. Sie zogen durch die Wirtshäuser, machten  mit Singen, Aufstehen und Hurraschreien gewaltsam nationale Stimmung. In aller Unschuld, möchte man sagen , entdeckten die Männer von der „Eisernen Faust“ das große Geheimnis des kommenden Nationalsozialismus, das darin bestand, das alle  Staatsbürger die gleiche Meinung haben müssen. In anderen Stunden beschäftigte sich die „ Eiserne Faust“ mit Fememorden, das heißt mit dem heimlichen Töten politischer Gegner.  An ihrer Spitze stand der damalige Reichswehrhauptmann Ernst Röhm. (…)

 

6. Der Klassenkampf der Intellektuellen

Hitlers dunkler Beruf.

Aus dem Gewimmel dieser Soldaten, Bohemiens und Halbproleten, aus diesem Abfall aller Gesellschaftsklassen taucht vage und bescheiden die Gestalt Adolf Hitlers auf.

Im Lazarett von Pasewalk war er uns verloren gegangen, ein blinder, unbekannter Soldat (Hitler war im Krieg durch Gaseinwirkung kurzzeitig erblindet. Anm. d. Red.), den innere Stimmen quälten. Früher als die Kameraden ist er wieder in der bayrischen Heimat. Heimat? Weder Eltern noch Geschwister, weder Braut noch Freund erwarten ihn. Die Schwestern in Wien wissen nicht einmal, ob er noch lebt. Und doch ist dieses München, das einst dem von Wien flüchtenden so warm und herrlich erschienen war, in dessen Bierstuben er  seine spärlichen Freundschaften geschlossen hat, die Stadt, nach der er  heim verlangt. Schon ist er so etwas wie ein Landsknecht geworden; da ihn kein häuslicher Herd empfängt, ersetzt ihm das Ersatzbataillon seines Regimentes in dem oberbayrischen Städtchen Traunstein Haus und Hof, Weib und Kind. Hier verbringt er die Wintermonate zusammen mit einem Freunde, einem gewissen Schmiedt.

In München tritt er während der Räterepublik bei seinen Kameraden für die sozialdemokratische Regierung ein und nimmt überhaupt in erregten Diskussionen für die Sozialdemokraten und gegen die Kommunistenpartei. Darauf soll er verhaftet werden; er hält sich jedoch, wie er erzählt, das dreiköpfige Kommando mit einem Karabiner vom Leib. Nach dem Sturz der Räteregierung dringt eine „weiße“ Truppe in die Kaserne ein, wo Hitler mit einer „wilden roten Rotte“ (so drückt sich der Gewährsmann aus) in scheinbarer Eintracht lebt. Von den „Roten“ wird jeder zehnte Mann an die Wand gestellt, Hitler jedoch von vornherein ausgenommen (Berichteines Augenzeugen). Welche Rolle hat er bei dem grauenhaften Vorgang gespielt? In seiner Autobiographie geht er mit ein paar verlegenen Zeilen darüber hinweg:

„Wenige Tage nach der Befreiung Münchens wurde ich zur Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim zweiten Infanterieregiment kommandiert. Dies war meine erste mehr oder weniger politische aktive Tätigkeit.“

Sehr knapp und nichtssagend. Etwas gesprächiger ist der Schriftsteller Adolf-Victor von Koerber, der 1923 im Auftrag Hitlers eine biographische Skizze über ihn geschrieben hat:

„Zur Untersuchungskommission kommandiert, bringen seine Anklageschriften rücksichtslos Klarheit in die unsagbare Schändlichkeit militärischer Verrätereien der Judendiktatur der Rätezeit Münchens.“

Anklageschriften? Hat dieser Gefreite eine juristische Aufgabe, ist er Staatsanwalt bei den Militärgerichten? Nein. Sondern er gehört zum sogenannten Nachrichtendienst, was ein sympathischerer Ausdruck für  Spionage jeder Art ist. Damals handelte es sich vor allem  um politische Nachrichten, worunter man nicht die große Politik verstehen muss, sondern das Aufstöbern von ehemaligen Anhängern der Räteregierung, die an die Wand gestellt werden sollten. Das war Adolf Hitlers Geschäft. Jetzt wissen wir also, was er während der Münchner Rätezeit war: Spitzel und Henker seiner Kameraden. Grauen vor diesem Geschäft scheint er nicht zu kennen: „ Ehe nicht die Laternenpfähle voll hängen, eher gibt es keine Ruhe im Lande „, sagt er öfters. Wer das unglückliche Leben dieses Einsamen kennt, der weiß, warum Hass und Verfolgungswut seine ersten politischen Schritte leiten. Er hat etwas gegen die Welt auf dem Herzen  und lässt es an Schuldig und  Unschuldig  aus. In seiner Stimme krächzt, in seinem Gang federt, in seinen Gebärden schneidet der Hass; das spürt ein jeder, der ihn sah. (…)

Der „jüdische Marxismus“.

Hitler berichtet von sich, dass er als junger Mensch den  damaligen Führer der österreichischen Antisemiten, den Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger, „reaktionär“ gefunden habe. Zwei Jahre habe er gebraucht, um sich innerlich zum Antisemiten zu bekehren; fünfzehn Jahre später ist  das Weltbild fertig, um – ein Beispiel außerordentlicher geistiger Konzentrationskraft –  in einem einzigen Satz vollkommen ausgeschöpft zu werden:

„Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip der Natur ab und setzt an die Stelle des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke, die Masse der Zahl und ihr totes Gewicht“(Mein Kampf s. 69).

In diesen glänzend formulierten einunddreißig Worten ist schlechthin alles gesagt, was Hitler zu sagen hat:

In der Natur haben Kraft und Stärke das Vorrecht; dies ist ein aristokratisches Prinzip, d. h. die Auslese nach Kraft und Stärke bedeutet die Auslese der Besten.

Dieses Naturprinzip hat auch das Prinzip der gesellschaftlichen Auslese zu sein.

Es gibt auch ein anderes gesellschaftliches Ausleseprinzip, nämlich das nach der „Masse der Zahl“, d. h. Herrschaft der Mehrheit oder Demokratie.

Dies ist aber das Prinzip des „toten Gewichts“, d. h. es zeugt nicht neues Leben und ist deshalb unnatürlich.

Die Verkörperung dieses Prinzips in Gesellschaftslehre und Politik ist der Marxismus.

Der Marxismus ist jüdisch. Das bedeutet : die naturfeindliche Gesellschaftslehre ist Erzeugnis und Eigentum  einer bestimmten Rasse, die diese Lehre erfunden hat, um damit andere Rassen von ihrem natürlichen Wege abzubringen, dadurch zu schwächen und sich schließlich zu unterwerfen.

Hitler erläutert das:“Sie (d.h. die Lehre des Marxismus) leugnet so im Menschen den Wert der Person, bestreitet die Bedeutung von Volkstum und Rasse und entzieht der Menschheit damit die Voraussetzung ihres Bestehens und ihrer Kultur…Siegt der Jude mit Hilfe seines  marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.“

Diese grausige Fernsicht in die Jahrtausende macht das Ganze ein bisschen unseriös. So fanatisch Hitler gewiss von der Wahrheit seiner Einsichten überzeugt ist, so gewiss werden viele Leser nicht umhin können, folgende Überlegungen anzustellen.

Das „Vorrecht der Kraft und der Stärke“ in der Natur ist noch nicht erwiesenermaßen ein „aristokratisches Prinzip“, denn es führt zwar zur Auslese der Lebensfähigsten, aber nicht der „Besten“, die es in der nicht zweckbestimmten Natur auch gar nicht gibt, sondern nur dort, wo ein Zweck gesetzt ist, also z.B. in der Gesellschaft.

Wenn das Vorrecht von Kraft und Stärke auch Ausleseprinzip der Gesellschaft  sein soll, so kehrt man zweckmäßiger zur Sitte des Faustrechts zurück und am besten zur Menschenfresserei.

Die Auslese nach der „Masse der Zahl“ bedeutet, dass die Vorteile und Güter der Gesellschaft möglichst gleichmäßig allen oder mindestens einer möglichst großen Zahl zugutekommen sollen. Wer das nicht wünscht, täte besser, es ganz deutlich zu sagen.

Zweifellos ist der Marxismus eine Lehre vom Glück der Masse, aber das hat ihn nicht gehindert, eine sorgfältige und zweckmäßige Auslese seiner Funktionäre zu treffen und ihnen hohe Leistungen und Opfer zuzumuten.

Wer den Marxismus wegen der Person seines einen Begründers Karl Marx schlechtweg jüdisch nennt, unterschlägt die nicht unwesentliche Tatsache, dass die philosophischen Grundlehren des Marxismus von dem Nichtjuden Ludwig Feuerbach stammen, die meisten Formulierungen von dem Nichtjuden Friedrich Engels und dass sie ihre moderne theoretische und praktische Weiterbildung von den Nichtjuden Plechanow und Lenin erhalten haben. (…)

Aber wir wollen ja nicht wissen, ob Hitler recht oder unrecht hat, sondern wie er zu seinen Ideen kam und was er mit ihnen erreichte.

Das Privileg der Rasse.

Der Klassenkampf der Intellektuellen bedarf eines neuen Ideals. Der Intellektuelle aber ist der neue Typ, in den das alte Bürgertum sich allmählich verwandelt. Die Zahl der Studenten, Akademiker aller Grade, Akademikern in freien und abhängigen Berufen verdoppelt sich gegenüber der Vorkriegszeit  und hat zeitweise die Tendenz sich zu verdreifachen.(…)

„Im völkischen deutschen Studenten verkörpern sich“, sagt Hitler 1921,“ diejenigen Energien, die das einzige wertvolle Kampfmittel gegen das Judentum sind.“

In Wahrheit verkörpert sich im deutschen Studenten oder besser Intellektuellen jene blind um sich beißende Energie, die das Alte nicht mehr will und zum Neuen nicht den Mut hat. (…)

Der Intellektuelle hat tatsächlich den Weltkrieg geführt, um den Sieg gerungen und die Niederlage erlitten, …im Zivilberuf Lehrer, Kaufmann oder Postdirektor, (…). Der Intellektuelle hätte die Revolution hingenommen, wenn sie ein vollwertiger Ersatz für den Sieg gewesen wäre;(…). Die Männer der Revolution aber taten das Törichteste was möglich war; statt erst den Staat in ihrem Sinne zu reorganisieren und dann das Volk zur demokratischen Abgabe seines Urteils über das Geleistete aufzurufen, taten sie nichts, sondern ließen eine Nationalversammlung wählen, ohne dem Wähler ein Programm zu geben. Da wurde klar, dass die Männer der Revolution kein Ziel hatten, und der Intellektuelle im Offiziersrock und  im Fabrikkontor nahm ihnen die Entscheidung wieder aus der Hand. Mit diesem Versagen erlosch der politische Nimbus der deutschen Arbeiterschaft. Das Bürgertum verlor seine jahrzehntelange Angst vor ihr; sein neuer Führer, der Intellektuelle, begann sich der bisher wegen ihrer Organisationskraft viel bewunderten Arbeiterschaft politisch überlegen zu fühlen. Es ist ein in seiner alten, bürgerlichen Klasse entfremdeter Typ; nicht einfach über Bord gegangen, sondern im Schiffbruch einer ganzen Schicht selbständig geworden. Seine Moral ist brüchig wie die aller Deklassierten, und er wird allmählich den Abfall aller Klassen um sich sammeln. (…)

Was wird Hitler diesem nunmehr ausschlaggebenden Typ sagen?

Erstens dies: Gräme dich nicht über die Niederlage im Weltkrieg. Du hast den Weltkrieg nicht verloren, sondern du hast ihn eigentlich gewonnen. Dein Unglück war, dass du das winzige Gift im eigenen Körper nicht erkannt hast, die Laus im Pelz, den tückischen Zwerg, (…). Du hast dem Engländer standgehalten, den Russen zerschmettert, den Franzosen geschlagen, aber den winzigen Juden übersehen. Das war nicht fair play. Befreie dich vom Juden, und  das nächste Mal wirst du siegen.

Zweitens sagt er:  Wenn du dein Vermögen verloren hast, deine Laufbahn versperrt siehst, als Akademiker das Leben eins Proletariers führen musst, so lass den Kopf nicht hängen, sondern kämpfe für den nationalsozialistischen Staat, in dem dies alles besser wird. Denn der nationalsozialistische Staat  verteilt Führerstellen nicht nach Geburt, Besitz und bürgerlicher Stellung, sondern nach persönlichem Wert; dieser Wert wird unter Beweis gestellt durch rücksichtslosen Kampf für die Bewegung, und dieser Bewertungsmaßstab ist deshalb berechtigt, weil die rücksichtslosesten Kämpfer im allgemeinen die wertvollste Rasse haben, deren Erhaltung und Fortpflanzung der kommende Rassestaat naturgemäß begünstigen wird. Wer von wertvoller Rasse ist, hat ein adelsähnliches Privileg, nicht um seiner Person, sondern um des Rassetypus willen, der in möglichst zahlreichen Exemplaren weitervererbt werden soll. Kampf, Selbsteinsatz, Treue zur Idee und zum Führer sind im Zweifel Kennzeichen der arischen Rasse, der wertvollsten der Welt, die nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern wieder zur Vorherrschaft kommen und die „niederrassigen“ Bestandteile zurückdrängen, in ungünstigere Lebensbedingungen versetzen und damit schließlich zum Aussterben bringen muss – wenn nötig durch Eroberung und Ausrottung. Die gefährlichste dieser niederen Rassen  aber, die überall eindringt und zersetzt, ist die Jüdische.

Die Brüchigkeit dieser Lehre ist leicht nachzuweisen. Sie setzt die Existenz einer sogenannten arischen Rasse voraus, die der  ernsten Wissenschaft unbekannt ist. (…) Tatsächlich sind alle hochstehenden modernen Völker aus sehr gründlicher Mischung vieler Stämme hervorgegangen, auch die Deutschen, und überall hat die mittelmeerische Rasse, die regelmäßig die Trägerin der älteren Kultur gegenüber nordischer Barbarei und Faulheit war, zu der Mischung Wertvollstes beigetragen. (…)

Aber wiederum kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt der Lehre an, sondern auf die politische Kraft, die sie auslöst. Es ist die richtige Lehre für die Intellektuellenschicht, die zwei Ideale hat: Privileg und Gehorsam. (…)

Das Mitglied Nr. 7.

(…) Eines Tages drückt ein Offizier Hitler ( Er gehört immer noch zur Reichswehr. Anm. d. Red.) einen Zettel mit einer Adresse in die Hand. In einer winzigen Gastwirtschaft tagt eine sogenannte „Deutsche Arbeiterpartei“. Die politisch so neugierige Reichswehr möchte Genaueres über das Grüppchen wissen, das von „guter Gesinnung“ zu sein scheint. Hitler geht hin. Es spricht Feder, der von ihm hochverehrte Brecher der jüdischen Zinsknechtschaft; aber das besagt in dem Fall wenig. Feder spricht ja überall. Dann steht  der Redner  auf und erklärt,  alles Unheil komme von Preußen; von denen  müsse Bayern sich trennen. Das erträgt Hitler nicht. Obgleich er eigentlich nur zuhören und berichten soll, meldet er sich zu Wort und hält eine halbstündige Rede über Großdeutschland, gegen den Egoismus der Länder und Stämme, gegen den Preußenhass und für die Einigkeit. Dann geht er.

In diesem Augenblick läuft ihm der Vorsitzende nach und steckt ihm eine Broschüre zu mit der Bitte, sie doch ja zu lesen. Sie ist von ihm selbst verfasst und trägt den Titel „Mein politisches Erwachen“.  Es finden sich Sätze wie: „Am deutschen sozialistischen Wesen soll die Welt genesen… Ich sehe auch im Arbeiter einen Bürger und im Offizier und Beamten noch keinen Bourgeois…Armer, verhetzter Arbeiter! Mit dir hat man die Revolution zu einer noch nie gesehenen  Lohnbewegung gemacht, die dir nichts einbrachte, wohl aber denen, die dich  bisher ausbeuteten, die Tasche füllte und Deutschlands Konkurrenzfähigkeit vernichtete…(…).“ Wie heißt der Verfasser? Anton Drexler.

Hitler las die Schrift, wie er sagt, „mit Interesse“. Dieser leutselige Ton ist gar nicht angebracht. Tatsächlich steckt in Drexlers dunklen  Sätzen ein gutes Stück der Idee der Nationalsozialistischen Bewegung. Aber das wird Hitler, ein sammelndes Talent, das gern originell sein möchte, nie zugeben. „Wollen Sie leugnen, dass ich der Schöpfer des Nationalsozialismus bin?“ fragt er später hochfahrend. In „Mein Kampf“ vergisst er vollständig zu erwähnen, dass „Mein politisches Erwachen“ von Drexler verfasst wurde und nennt ihn beständig nur „ein Arbeiter“. (…) Der Verein (d.i. Deutsche Arbeiterpartei. Anm. d. Red.) hatte etwa vierzig Mitglieder, darunter einen richtigen Oberregierungsrat. Hitler wurde sofort in den Ausschuss gewählt und bekam dort die  Mitgliedsnummer sieben.

Dietrich Eckarts Ratschläge.

Eckart spricht einige Male in der Deutschen Arbeiterpartei und entdeckt hier – zwar nicht seine lang gesuchte neue Bewegung, wohl aber seinen „Führer“: den Proleten im Soldatenrock, der das Maul aufmachen kann und Maschinengewehrrattern verträgt, brennend vor Ehrgeiz und Eitelkeit – und sogar Junggeselle. Auch dumm? Das nicht, aber in gewissem Sinn naiv, ungebildet und unbelehrbar, wenn man sich in den Grundvorstellungen einig ist; saugt Weisheiten, die er brauchen kann, eilig und massenhaft auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Ein hervorragender politischer Verstand, vor höherer Bildung ehrfürchtig, im Theoretischen leichtgläubig. Dietrich Eckart übernimmt Hitlers geistige Führung. Hitler lernt von ihm schreiben und sogar sprechen, wenn man darunter nicht nur ein temperamentvolles Geheul, sondern das Formen von Sentenzen und den Aufbau von Gedankengängen  versteht. Die Unterhaltungen, die Lehrer und Schüler miteinander führten, hat Eckart in einer merkwürdigen Broschüre aufgezeichnet: „Der Bolschewismus von Moses bis Lenin“. Beide hielten Lenin für einen Juden.

7. Propaganda und Organisation

Witz, Logik, Frechheit.

(…) Nur auf die Propaganda kam es an. Das war das große geistige Erlebnis des werdenden Mannes Hitler. In seinem Buch „Mein Kampf“ hat er 32 Seiten dem Weltkrieg gewidmet. Davon beschäftigt er sich auf 20 nur mit Propaganda. „An der feindlichen Kriegspropaganda habe ich unendlich gelernt.“ (…) Alles, was Hitler in seinem Buch über Propaganda sagt, ist meisterhaft, aber es ist eine Meisterschaft niederen Ranges. Die Erhöhung der Propaganda zur  herrschenden Form der Volkserziehung ist das Verbrecherische an dieser Geschicklichkeit, die in ganzes Volk formt nach dem ruchlosen Satz: „Die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Anforderungen kann gar nicht groß genug sein.“

Man muss das Gemüt der Masse mit einer bestimmten, knalligen, aufpeitschenden Vorstellung derart füllen, dass daneben nicht anderes Platz hat. Man darf sie ja nicht zum Denken bringen, denn wenn die Gedanken erst einmal laufen, hat keine Propaganda sie mehr in der Hand. Vorstellungen, Bilder, Schlagworte, die wie Keile in den Denkapparat fahren und nicht mehr herauszubringen sind – darüber muss man verfügen. Auch wenn man scheinbar logisch spricht, Konsequenzen entwickelt, so darf das eben nur scheinbar sein; haften darf nur der eine Satz: der Jude ist an allem Schuld.

In seiner großen außenpolitischen Rede vom 21.Mai 1935 sagt er: „Ich wünsche Ruhe und Frieden. Wenn man aber sagt, dass das nur der Wunsch der Führung sei, so muss ich darauf folgende Antwort geben: wenn nur die Führer und Regierenden den Frieden wollen – die Völker selbst haben sich noch nie einen Krieg gewünscht.“ Das klingt „messerscharf“, ist aber nur ein plumpe Verdrehung, denn die Welt hat nicht gefürchtet, dass das deutsche Volk, sondern dass der Staatsmann Hitler den Krieg will. (…)

Der Redekünstler.

Und nun steht er oben auf dem Podium. Zuweilen benimmt er sich meisterhaft. Die Versammlung ruft und winkt andauernd; ein Begleiter reicht ihm einen Steinkrug mit Bier. Hitler behauptet, er sei kein Alkoholiker,  aber den Krug hebt er wie ein alter Bräuhausstammgast gegen das Publikum, ruft grinsend „Prost!“ und trinkt einen mächtigen Respektschluck. Wenn die Münchner einen Bier trinken sehen, sind sie vor Jubel fassungslos. (…) Über sein Stimme gibt es die verschiedensten Urteile. Die einen finden sie faszinierend, die anderen abscheulich. Sicher ist, dass die außerordentliche Kraft dieses Organs, die auch in der heulenden Höhenlage wenig abnimmt und nur in erregten Augenblicken in ein fanatisches Krähen übergeht, auf viele suggestiv wirkt. Ton und Haltung des Redners bei Beginn machen den Eindruck von starkem Ernst und Verantwortungsgefühl, umso erregender später wirkt das hemmungslose Schreien; wenn dieser Kraftvolle, so empfindet der Hörer unbewusst, wie ein wahnsinniges Weib kreischt, dann müssen wirklich fürchterliche Dinge passiert sein. Der sogenannte Zauber seiner Persönlichkeit ist im letzten nicht zu enträtseln, aber der Mechanismus ist in diesem Falle ganz primitiv und deutlich: das jähe Wechseln zwischen ausdrucksstarkem Ernst  und ausdrucksstarker Hysterie. Oft ist die Frage nach seiner Ehrlichkeit gestellt worden, von der später noch zu reden sei wird. Sicher ist: der Redner Hitler lebt sich selbst einen ehrlichen Mann vor. Er ist auf den Höhepunkten ein von sich selbst Verführter, und mag er lautere Wahrheit oder die dickste Lüge sagen, so ist jedenfalls das, was er gerade sagt, in dem betreffenden Augenblick so vollständig der Ausdruck seines Wesens, seiner Stimmung und seiner Überzeugung von der tiefen Notwendigkeit seines ganzen Tuns, dass selbst von der Lüge noch ein Fluidum von Echtheit auf den Besucher überströmt. Die Einheit von Mann und Wort ist das zweite Geheimnis seines Erfolges.

Den Künstler der Formulierung muss jeder bewundern, der mit dem Ausdruck und seiner widerspenstigen Kraft jemals gerungen hat. „Was nicht Rasse ist, ist Spreu“, ist in seiner klingenden Kürze vollendet; übrigens falsch. „Die Erde ist nicht da für feige Völker“, kommt ihm nahe. „So wenig eine Hyäne vom Aase lässt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat“, ist ein sehr kurzbeiniger Gedanke, aber eine unübertroffene Beschimpfung; von gleicher Kraft „Pazifistenspülwasser“. Mit den Waffen, die einem „nationalen Volk aus der Faust herausquellen“ würden, kommt er der bewussten Unwahrheit schon sehr nahe. Einen Satz wie „Die braune Garde grüßt das Schicksal“, würde man kitschig nennen, wenn in diesem Schlamm-Meer von kunstvoller Lüge noch ein trockener Fleck für den guten Geschmack übrig bliebe. (..)

Wenn beispielsweise die Kommunisten „hämmern“, dann hämmern sie ihren Zuhörern etwa so einen schwierigen Begriff wie „Klassenfeind“ ein, der ohne Vorkenntnisse und Nachdenken gar nicht zu verstehen ist. Hitler sagt „Jude“ – und jeder versteht. Immer wieder wird die Wahrheit vergessen, dass die Masse – zu der bekanntlich jeder, selbst der Gebildetste gehört, wenn er unter Tausenden steckt – erlogene Tatsachen lieber hört, als wahre Begründungen. Und dass sie eine erlogene Tatsache, die mehrmals wiederholt wird, schließlich bedingungslos glaubt –  ein „ungeheures, kaum verständliches Ereignis“, das selbst ein Hitler „mit Staunen“ feststellt.

Ja, das tätige Nachspüren hinter der Frage: wie komme ich an die Massen heran, wie in die Gemüter hinein?  – hat ihn zu erstaunlichen Ergebnissen  und schwindelnden Höhen geführt. Aber mag moralisch die Lehre Hitlers noch so verurteilenswert sein; seine Leistung ist die Bestätigung des alten Satzes, dass Genie Fleiß ist. Durch seine Unermüdlichkeit hat er seine Gegner geschlagen.

Aktivierung der Masse, Hingabe an die Rede und Rastlosigkeit im Wirken sind die drei Schlüssel seines Erfolges. (…)

Das Führerprinzip.

Die einzigartigen Leistungen Hitlers als Propagandist und Organisator beruhen nicht auf einem ausgeklügelten Plan, sondern auf Experiment und Glück, raschem Zugriff und manchem Fehlgriff. Er ist den Ereignissen mit gesundem Menschenverstand entgegengetreten; so wurde ihre Lehre ihm heilsam und selbst der Irrtum nicht auf Dauer verderblich. Indem er im einzelnen Fall meistens das Zweckmäßige herausfand, entstand aus tausend Fällen und ihrer Bemeisterung mit der Zeit eine Art System. (…) Das Führerprinzip durchläuft die Partei von oben bis unten. Grundsätzlich wird keine Organisation, keine Gliederung, keine Gruppe ins Leben gerufen, bevor ein geeigneter Mann als Führer vorhanden ist. Fehlt er, so bleiben die bereits vorhandenen Parteianhänger eben vorläufig unorganisiert.

Das ist in den Augen Hitlers kein Unglück. Nach seiner Ansicht soll die Partei klein sein. Denn er unterscheidet zwischen den Mitgliedern und Anhängern; die Mitglieder sind die Erprobten, Zuverlässigen, blind Gehorchenden, und zehn Gehorsame sind selbstverständlich wertvoller als hundert Unberechenbare. Die Anhänger dagegen füllen die Versammlungssäle, wo sie durch ihre Anwesenheit nützen und im Übrigen keine Schaden stiften.

Denn Hitler hat mit teuflischem Scharsinn begriffen, was andere Parteien ( es ehrt sie ) nicht gesehen haben: „dass die Stärke einer politischen Partei keineswegs in einer möglichst großen und selbständigen Geistigkeit der einzelnen Mitglieder liegt, als vielmehr im diszipliniertesten Gehorsam, mit dem ihre Mitglieder der geistigen Führung Gehorsam leisten. Denn derjenige siegt, „ der die überlegendste Führung und zugleich die disziplinierteste, blind gehorsame, bestgedrillte Truppe hat….“

Eine hohe Meinung von seinen Anhängern hat Hitler jedenfalls nicht und kann er nicht haben. Denn – das ist die unausgesprochene Voraussetzung seiner Führerauslese – er kann natürlich nur solche Menschen brauchen, mit denen er selbst geistig fertig zu werden vermag. Und so hoch man die politische Klugheit  des Mannes, der diese Organisationsgrundsätze ersann und anwandte, schätzen muss, so eng sind, wie wir noch sehen werden, ihre Grenzen in einer echten Auseinandersetzung, wo er einen echten Gegner aus Fleisch und Blut und nicht einen zusammenphantasierten Feind vor sich hat, wirkliche Gegengründe und nicht eigens zur Widerlegung erfundene Widersprüche beantworten soll und Beweise statt wirksamer Behauptungen vorbringen muss. Diese Eigenschaften Hitlers ziehen dem Niveau seiner Anhänger nach oben eine sichere Grenze.

So erklärt sich auch die Gelassenheit, mit der er dem Theorienstreit in seiner Partei zusieht, wo radikale Sozialisten und radikale Kapitalisten miteinander im ewig unentschiedenen Kampf liegen. Eine derart auf Stumpfsinn ausgesuchte Gefolgschaft wird durch den im engen Zirkel tobenden Streit der Privatmeinungen in ihrem Gehorsam nicht beunruhigt – und darauf kommt es allein an. (…) Erst der Führer, dann die Truppe; kleiner Kern, breite Masse; Verantwortung nach oben, Autorität nach unten; absolute Befehlsgewalt der Zentrale über das Ganze, absolute Befehlsgewalt der Unterführer in ihrem Bereich; Ausschaltung der Debatte aus dem Parteileben und Konzentration der Mitglieder auf die einzige große technische Aufgabe, nämlich auf die Propaganda zur Erringung der Macht; immer schärferer Schliff der Partei zur fruchtbaren Waffe des Machtkampfes, Zurückdrängung aller menschlichen Werte, die diesem Machtkampf nicht dienen, Pflege des gehorsamen Mittelmaßes, Verkümmerung persönlicher Eigenart, Herdenzucht – dank solcher Prinzipien erringt Hitler mit seiner Partei die Macht über ein großes, geistig reiches Volk.

Er hat das deutsche Volk meisterhaft verdorben.

8. Der Weg in die Gesellschaft

Wovon lebt er eigentlich?

Die Partei wird zum Heer werden, die Propaganda zur Legende, und vor den Augen der Zeitgenossen baut sich die Kolossalfigur des Tribunen Adolf Hitler auf,  in der der Mensch Adolf Hitler einfach verschwindet. Bevor er dort sich selbst und uns verloren geht, versuchen wir noch einmal seine Gestalt in ihrem verschwimmenden Naturzustande festzuhalten.

Der schmächtige Ansichtskarten-Zeichner von 1913 ist seitdem ein harter Berufssoldat geworden. Seit sechs Jahren trägt er die Uniform. Er ist längst eine bekannter „Hetzer und Volksaufwiegler“, ein Wühler gegen Staat und Regierung, aber die Reichswehr besoldet ihn immer noch. Am 1.Mai 1920 scheidet er aus; die Vorgesetzten müssen ihn fallen lassen, weil nach dem missglückten Kapp-Putsch die hervorstechendsten politischen Gestalten nicht mehr bei der Truppe zu halten sind. (…)

Hitler muss zusehen, wie er sich durchs Leben schlägt. (…) Den Parteigenossen ist sein bürgerliches Dasein ein Rätsel. Niemand weiß, wovon er lebt. Sie wagen schon gar nicht zu fragen. Was sie vor sich sehen, ist ein Bohemien der ungezieltesten Sorte. Er hat kein Geld, aber er gibt es aus und die Widersprüche sind ihm peinlich. (…) Wegen eines Flugblattes kommt es zu einem Beleidigungsprozess. Hitler wird vor Gericht aufgefordert, nun doch einmal frei herauszusaugen, wovon er eigentlich lebe. Bekomme er für seine Versammlungsreden Geld? Das sei doch nichts Unehrenhaftes. Antwort: „Wenn ich für die nationalsozialistische Partei spreche, dann nehme ich kein Geld für mich. Aber ich spreche auch als Redner in mehreren Organisationen, zum Beispiel im Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund. Dann nehme ich natürlich Honorar.“ – „Und das reicht aus?“ – „Ich esse auch abwechselnd bei einzelnen Parteigenossen zu Mittag. Außerdem werde ich von einigen Parteigenossen in bescheidener Weise unterstützt.“ (…)

Sicherlich haben alle diejenigen geirrt, die den Hitler der ersten Jahre wegen seines chronischen Geldmangels für einen armen Teufel hielten. Sein Bedürfnis nach sprunghaftem Wechsel zwischen tiefer Einsamkeit und wimmelnder Gesellschaft führt bei eben nicht unbeschränkten Mitteln zu bescheidener Wohnung und großem Wirtshausgelage. Er ist ein zügelloser Mensch. Dabei hält sich wahrscheinlich ganz ehrlich für ein „armes Luder“, das kaum ein anständiges Dach über dem Kopf hat, denn so haben die Menschen noch immer ihre Genies behandelt. In Wirklichkeit kann Hitler mit Geld nicht umgehen; so wenig wie er mit seiner Zeit umgehen, mit seiner Kraft haushalten, sein Personal ökonomisch verwenden oder Schrift und Rede architektonisch gliedern kann. Er ist ein zügelloser Mensch, gegen Mühen und Schmerzen bisweilen wie in einem Rauschzustand unempfindlich und dadurch zu bewundernswerten Kraftleistungen fähig; auf lange Dauer zu Selbstdisziplin jedoch nicht imstande.

„Im Kreise schöner Frauen“.

Im Sommer 1923 entdecken die Freunde Dietrich Eckart und Hermann Esser eine ländliches Asyl bei Berchtesgaden, den Platterhof. Ein reicher junger Verehrer Hitlers, Ernst Hanfstaengl, ist eine willkommene Ergänzung der Gesellschaft, zu der auch Max Amann, der damalige Geschäftsführer der Partei gehört. In dieser fidelen Bande wusste Hitler die Grenzen nicht zu finden. Gottfried Feder las (Mitbegründer der Partei, informiert die Volksgenossen. Anm. d. Red.) einen Brief vor, den er an Hitler gerichtet hatte und in dem es hieß:

„ Mit wachsender Sorge sehen wir den unhaltbaren Zuständen zu. Wir verkennen nicht, dass es dem Führer (…) vergönnt sein muss im Kreise schöner Frauen Erholung zu finden … . Der Führer muss sich bewusst sein, dass er mit seinem ganzen Tun und Lassen im öffentlichen Leben steht und dass man nach seinem Verhalten den idealen und sozialen Wert der Partei beurteilt.“

Feder sagte ferner noch, man müsse Hitler zu einer geordneten Arbeitsweise erziehen. Er hatte zu diesem Zweck einen Offizier ausgesucht, der Hitler als Sekretär beigegeben wurde, die Tagesarbeit nach der Uhr festlegen und überhaupt in die Tätigkeit des Führers Ordnung und Programm hineinbringen sollte. Als Hitler das hörte, schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie: „ Was bilden sich die Kerle ein? Ich gehe meinen Weg, wie ich ihn für richtig halte.“ Den Sekretär nahm er aber doch noch.

Der Kampf um die Salons.

Man muss nicht glauben , dass dieser unbeherrschte Mensch mit den schlechten Manieren ein beliebter Tafelaufsatz der Münchner Gesellschaft gewesen sei  Er wurde wenig eingeladen, die Salons hielten bis 1923 einen fast nirgends durchbrochenen Boykott gegen ihn durch. Ein schüchterner und  linkischer Mensch, auffallend durch seine hastige Gier beim Essen und seine übertriebenen Verbeugungen, wurde er aus der Nähe schnell uninteressant. (…)

Das ganze Leben Hitlers ist eine einzige unglückliche Liebe zur guten bürgerlichen Gesellschaft. Er wurde nicht in sie hineingeboren. Das lässt sich reparieren. Zielsicher betrat er den richtigen Weg, auf dem ein zum Glücklichsein Begabter Hätschelkind der Gesellschaft werden kann: er wollte Maler werden. Wir sahen, wie und warum er scheiterte. Seitdem ist sein Verhältnis zur Gesellschaft mit dem Fluch des bösen  Gewissens belastet, mit dem ewigen Selbstvorwurf, zu träge zum kecken Griff nach dem Glück gewesen zu sein. (…)

Das erste größeren Stils Haus, das sich Hitler zu freundschaftlichem Verkehr auftut, befindet ich nicht in München, sondern in Berlin. Es ist das des Klavierfabrikanten Bechstein. Die Bechsteins sind alte Freunde von Dietrich Eckart; der führt seinen Schützling dort ein. Frau Helene Bechstein fasst eine warme Zuneigung zu Hitler. „Ich wollte, er wäre mein Sohn“, sagt sie. Hitler benutzt die Freundschaft ohne zarte Bedenken; erbittet immer wieder um Geld. (…) In München ist es das Haus Hanfstaengl, das sich ihm 1923 auf Wunsch des Sohnes öffnet. (…) Andere Bekanntschaften reichen zwar gleichfalls in die Luxussphäre, bleiben aber doch im Bereich dieses Landsknechttums, das man vielleicht besser eine bewaffnete Boheme nennen würde. Da ist der neue Freund, der ehemalige Fliegerhauptmann Göring, zur Zeit ein etwas später Student der Universität München, der mit seiner jungen Frau Karin eine elegante Wohnung im Villenvorort Gern hat. (…)

Nie verlässt ihn, der als Fünfzehnjähriger scheiterte, das Gefühl, er werde nicht voll genommen in dem Kreise, den er als Dreißigjähriger betritt. Er ist ein Arrivist, der nicht den Wunsch hat angenehm zu sein, sondern den Mut aufzufallen. Dafür gibt es drei goldenen Regeln, die er nicht als erster erfunden hat; man kommt grundsätzlich zu spät, dann wird man beachtet; man beteiligt sich nicht an der Unterhaltung, denn damit macht man sich höchstens unangenehm, fällt aber nicht weiter auf; dann redet man plötzlich wie ein Irrsinniger, dass alle schweigen müssen, denn damit erzwingt man Aufmerksamkeit; schließlich geht man vor dem allgemeinen Aufbruch weg, denn dann können die Zurückbleibenden noch über einen reden, was den Eindruck vertieft. Angenehm ist ein Mitmensch mit solchen Methoden freilich nicht.

9. Stufen zur Macht

Die bayrische Fronde.

Hitlers kleines Fahrzeug schwimmt auf dem großen Strom der deutschen Gegenrevolution. Die Gegenrevolution überflutet 1919 ganz Deutschland. Fast die ganze organisierte Macht des Landes ist gegen die Revolution gewendet. Die Unternehmer sind selbstverständlich gegen sie, die Großgrundbesitzer und die Bauern sind selbstverständlich gegen sie, die Reichswehr ist selbstverständlich gegen sie, die Kirche ist selbstverständlich gegen sie. In den Kartoffelgruben der schlesischen und pommerschen Landgüter, in den Kellern und Speichern bayrischer Klöster  lagern die versteckten Waffen der  Reichswehr und der Freikorps. (…)

Die bayrischen Föderalisten sind gegen Berlin, gegen die Revolution und für eine bayrische Monarchie. Aber man darf sich diese Gruppen nicht als zwei scharf geschiedene Lager vorstellen; vor allem die Massen der Anhänger, der  Bürger und Bauern merkten von dem Gegensatz nicht viel, sondern folgten fröhlich der Parole: gegen Berlin, gegen Preußen, gegen die Republik, gegen die Juden! Die Bürokratie, die Reichswehr, die stärksten Parteien und die Kirche standen hinter diesen Losungen, und erst im Lauf der Jahre, als man sich der Unterschiede stärker bewusst wurde , lockerten sich die Bande und rissen schließlich. Dazu hat Hitler wesentlich beigetragen. Er gehörte zu dem Flügel, der scharf gegen die Republik, aber bedingungslos für die Einheit des Reiches und eine starke Zentralgewalt  in Berlin eintrat,  und wurde schließlich dessen mächtigster Wortführer. (…)

Der Kapp-Putsch.

Am nächsten von allen Machtfaktoren steht ihm die Reichswehr, denn die deutsche Arbeiterpartei ist mit der Reichswehr geradezu identisch. Ihre Mitglieder sind Reichswehrsoldaten, die Röhm in die Partei hineingeschickt hat; die erste Schutztruppe wird von einer Minenwerferkompagnie der Münchner Reichswehr gebildet; der Führer ist Reichswehrsoldat und wird von der Reichswehr bezahlt, handelt im Auftrag Röhms und macht Politik für den General von Epp.

Im März erheben sich Teile der Reichswehr in offenem Aufstand gegen die Republik und wollen die Regierung samt dem Reichspräsidenten Ebert stürzen. Die Führer des Unternehmens sind der General von Lüttwitz und der Kapitän Ehrhardt in Berlin; sie stellen einen bisher wenig hervorgetretenen Politiker, einen ostpreußischen Generallandschaftsdirektor  namens Kapp, als Reichskanzler auf, und das Abenteuer erhält nach ihm den Namen Kapp-Putsch, als welches es eine der wichtigsten Episoden in der Geschichte der deutschen Republik bleibt. Ein paar Tage beherrschen die Aufständischen Berlin; dann ringt die Reichsregierung in einem großen Generalstreik der Arbeiter und Angestellten, einer gewaltigen Kraftäußerung des republikanischen Massenwillens, den Putsch ohne große Muhe nieder. Die Reichswehr in den übrigen Landesteilen hat eine Beteiligung an dem Aufstand nicht gewagt. Nur in Bayern macht sie einen kleinen Sonderputsch.  (…) (Der sich auch auflöst. Anm. d. Red.)

Für Hitler ist das Ergebnis dieser Märztage ein ungeheurer, vom Glück geschenkter Gewinn. Über Bayern gebietet plötzlich eine Regierung, die die Rechtsparteien und darunter auch das fast noch unbekannte Grüppchen der Deutschen Arbeiterpartei zügellos gewähren lässt; (…).  Von der ersten Stunde an genoss also die nationalsozialistische Bewegung den umfassendsten Schutz der Behörde. Und bis zum Endsieg hat Hitler immer wieder den Weg zur Staatsgewalt gesucht, um in ihrem Schutz seine sogenannte Revolution zu machen. Er selber sagt, er sei kühn gewesen. Die Geschichte wird bezeugen, dass er sehr fleißig gewesen ist. Vierzehn Jahre lang hat er sich durch die Weltgeschichte redlich empor gedient, immer den Weg des geringsten Widerstandes und der größten Sicherheit gewählt.

Der Unermüdliche.

Jede Woche ist Versammlung. Jedes Mal sind etwa 2000 Menschen da  – ein treuer Stamm, von dem immer einige Hundert wechseln. (…) Hitler sagt so ziemlich dasselbe (…). Aber jedes  Mal har er neue Bilder, neue Witze und neue Schimpfworte gegen Berlin und gegen die Juden. (…) Und doch setzen sich die einfachen Gedanken binnen drei Versammlungen so tief in den Köpfen fest, dass der Hörer beim vierten Mal meint, der Redner sage nur dasselbe, was er selbst seit jeher gedacht habe.

Neben Hitler zeichnet sich ein zweiter Agitator aus, der gerade zwanzigjährige Hermann Esser. Er hat nicht Hitlers Pathos, aber er kann sich mit zweitausend Menschen unterhalten, als wären es zwei. Er wirkt ein bisschen schmierig und bald sickern Geschichten durch, die auf seine private Moral ein bedenkliches Licht werfen. (…) Er ist der erste, der Hitler in öffentlicher Versammlung als „den Führer“ begrüßt. Ein dritter mächtiger Redner ist ein gewisser Max Weber, literarisch und schneidend, im Äußeren und im Ton Goebbels ähnlich. 1923 verschwindet er plötzlich und taucht nie mehr auf, eine Anzeige wegen Meineids ist das Letzte, was von ihm gehört wird. (…)

Die Entstehung des „Führers“.

Aber der Glanz all dieser Erfolge wirft hinter Hitler einen Schatten auf die Bewegung. Diese zerfällt immer deutlicher in zwei Schichten. Da sind erstens die alten Parteigründer,(…); da ist zweitens der Kreis um Hitler(…). Zwischen beiden pendelt Hermann Esser hin und her, der unmögliche Jüngling mit dem schlechten Ruf. (…)

Hitler ist im Juli 1921 in Berlin, wohnt bei Bechsteins, nimmt Sprachstunden, besucht den Nationalen Club und wird von dem Grafen York von Wartenburg aufgefordert seine Bewegung nach Berlin zu verlegen. Zufall oder Zusammenhang – zur gleichen Zeit arbeiten auch in München Leute dran, die Bewegung nach Norden  zu verschieben.(…) Unter der zentralen Leitung ist Drexler selbst verstanden; Hitler mag weiter in München agitieren.

Nun wird es dramatisch. Hitler zeigt den erschütterten Parteigenossen wie man eine Krise niederkämpft. Die Fronten sind geschieden Drexler, Körner und die ganze Schar der kleinen Gründungsmitglieder, auf der andern Seite Hitler mit den Kavalieren der Partei Eckart, Rosenberg, Feder und dem Freunde Heß. Der ergreift zum ersten Mal öffentlich das Wort: „Seid Ihr wirklich blind dagegen“, schreibt er in dem erwähnten Brief an den „Völkischen Beobachter“, „dass dieser Mann die Führerpersönlichkeit ist, die allein den Kampf durchzuführen vermag?“ Zwischen den Gruppen steht Esser. (…)…, der hat erfahren, dass der Führer zu Dritten äußerte: „Ich weiß, dass Esser ein Lump ist, und ich brauche ihn nur, solange ich ihn für meine Zwecke nötig habe.“ Das ist der Ton in der Partei; zu Drexler sagte Hitler, als er zornerfüllt von Berlin zurückkam: „Dreckiger Hund, gemeiner Lump, der größte Idiot aller Zeiten….“ Dabei ist Drexler ein Ehrenmann, Esser das Gegenteil. Aber Hitler kennt jetzt nur Freund oder Feind. Er erklärt jetzt seinen Austritt aus der Partei.

Das ist Blitz und Donner zugleich, damit gewinnt Hitler den Kampf, bevor der Gegner überhaupt zu Besinnung kommt. Denn Hitler ist bereits die Macht, das Ansehen und das Vermögen der Partei, er braucht sich nur halb abzuwenden, und den Genossen wird sein Unersetzlichkeit sofort klar. Bei Hitler steht Dietrich  Eckart, dem der „Völkische Beobachter“ gehört, bei ihm steht die Reichswehr, bei ihm die Polizei. Epp, Röhm, Pöhner, Frick entscheiden den Kampf aus der Ferne. Ohne Hitler ist die Partei nur ein zusammensinkender Sandhaufen. (…) In zwei Mitgliederversammlungen am 26. Und 29. Juli 1921 diktiert Hitler die Friedensbedingungen. Anton Drexler wird als Ehrenvorsitzender kaltgestellt, Hitler zum ersten Vorsitzenden der Partei mit unumschränkten Vollmachten gewählt; seitdem gibt es keine Ausschüsse und beratende Körperschaften in der Partei mehr, sondern nur „Referenten“, die dem Führer Bericht erstatten und seine Befehle empfangen. Seit dem 29. Juli 1921 ist Hitler der „Führer“ der nationalsozialistischen Bewegung wie wir sie heute kennen. Er befestigt seine Herrschaft sofort, indem er seinen persönlichen Freund Max Amann als Geschäftsführer der Partei erklärt. Ferner verkündet er, dass München für immer das Zentrum der Bewegung bleiben werde; nie werde er nach dem  Norden gehen. Denn jede Verlegung weg von München wäre vorläufig noch eine Bedrohung seiner persönlichen Herrschaft über die Partei. Im Übrigen könnte er München gar nicht verlassen, selbst wenn er wollte. Denn die Grundlage der Bewegung ist die Münchner Reichswehr, die man nicht mitnehmen kann.

Die Anfänge der SA.

(…) Eine Schar von Männern zieht sich in vielfacher Kette durch den Versammlungssaal. Sie geben das Zeichen zum Beifall, sie beginnen den Gesang, sie bilden dem Führer eine Gasse, sie stürzen sich mit Übermacht auf den Zwischenrufer und schlagen ihn zu Boden. Sie lernen es allmählich, all das auf Kommando zu machen. (…) Ganz von selbst treten nach der Versammlung in Kolonnen auf der Straße zusammen und marschieren durch die Stadt. (…) Das Gefühl, mit dem Marsch ein Polizeiverbot zu übertreten, erhöht den Stolz, und das Bewusstsein, dass die Polizei beide Augen zudrückt, hebt die Zuversicht. Wehe dem „Marxisten“, wehe dem Juden, der dem Zug in die Quere kommt. Rasch springt – der Nationalsozialist Czech-Jochberg hat das in seiner Hitler- Biographie geschildert – ein halbes Dutzend flinker Kerle aus der Kolonne, und der Unglückliche liegt am Boden unter den Stiefeln der wütend trampelnden Nationalsozialisten. Stundenlang schwärmen die kleinen Überfalltrupps durch die Stadt, (…). Sie machen Judenjagd. Einmal fällt ihnen ein adlernasiger, dunkelhäutiger, sehr eleganter Herr in die Hände, der wütend protestiert: Er sei kein Jude, sondern der Konsul einer großen südamerikanischen Republik. Da drängen sie ihn in eine dunkle Ecke und untersuchen jene diskrete Körperstelle, an der sich die Beschnittenen von den Unverschnittenen unterscheiden. Ihr Grundsatz ist, immer in geschlossenen Trupps aufzutreten, um immer die Überlegenen zu sein. So errichten sie eine rohe und eindrucksvolle Herrschaft über die Straße. Die Polizei hilft, indem sie gewähren lässt.

Das waren die Anfänge der SA.

Terror.

Es ist die Zeit der politischen Morde in Deutschland. Auf offener Straße hatte ein junger bayrischer Student, Graf Arco-Valley den sozialistischen bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner niedergeschossen. (…) Zwei Jahre später schossen zwei Meuchelmörder, (…), den Minister Erzberger nieder; am 24. Juni 1922 tötete eine ganze Kolonne nach raffiniert ausgeklügeltem Plan den bedeutenden Minister Rathenau aus dem fahrenden Auto und floh in alle Winde. Aus dem Hinterhalt wurde in dunkler Nacht in München der sozialistische Abgeordnete Gareis niedergeschossen; niemals fand die bayrische Justiz den Täter, obwohl sie ihn zwei Jahre lang in den Händen gehabt hat. Denn noch zahlreiche andere Morde fielen in jener Zeit vor, zumeist an armen Teufeln, die einem der heimlichen  Wehrverbände angehört hatten und denen man nicht mehr traute. Ein fanatischer antisemitischer Professor  namens Arnold Ruge erfand für diese Morde den zynischen Ausdruck „Umlegen“.  Gelegentlich wurden der Tat Verdächtige verhaftet, aber regelmäßig wieder freigesprochen; die bayrische Justizbehörde, an deren Spitze der spätere Reichsjustizminister Gürtner stand, fand nie genügend Beweise. Und immer gehörten die Verdächtigen zu dem Kreise um Röhm; oft waren es, wie der erwiesene Mörder Heines, wie die Leutnants Neunzert und Bally, seine engsten persönlichen Freunde. (…) Der älteste Führer der SA, ein Leutnant Klintzsch, wird unter dem Verdacht verhaftet, bei der Ermordung Rathenaus geholfen zu haben, aber die Anklagebehörde findet angeblich nicht genug Material gegen ihn. Als er freikommt, ruft Hitler zu seinen Ehren die Partei zusammen und erklärt schäumend: Der Vorwurf Rathenau ermordet zu haben, werde die SA nur noch fester an Klintzsch binden.

Mit dieser Truppe erobert Hitler München. Seine später – auch in „Mein Kampf“- aufgestellte Behauptung, es sei nur eine Truppe für Schutz und Verteidigung gewesen, ist einfach lächerlich. Er hat am 4. Januar 1921 öffentlich erklärt: „Die nationalsozialistische Bewegung in München wird in Zukunft rücksichtslos alle Veranstaltungen und Vorträge verhindern – wenn es sein muss , mit Gewalt – die geeignet sind, zersetzend auf unsere ohnehin schon kranken Volksgenossen  einzuwirken ( zitiert nach dem „Völkischer Beobachter“ Nr. 3, 1921)“. Hitler hat also den Angriff angekündigt und ausgeführt und wenn die Partei heute von ihren Toten spricht, so muss der Geschichtsschreiber hinzufügen, dass diese Toten, historisch gesehen, als Angreifer gefallen und in Notwehr erschlagen worden sind.

Hitler zieht auch hinaus in die kleinen Städte, nach Ingolstadt, nach Coburg. Wenn er in Überzahl den Gegner anfällt, steht die Polizei mit verschränkten Armen daneben, oder ist überhaupt nicht zu sehen; wird er aber selbst angefallen, dann erscheint sie, räumt das Schlachtfeld, trennt die Kämpfer und verhaftet die „Roten“. An der Spitze einer mit schweren Eichenstöcken bewaffneten Bande dringt er in die Versammlung eines Rivalen um die Volksgunst, eines gewissen Ballerstedt, ein. Hitler und Esser stürmen mit geschwungenem Sparzierstock auf das Podium und auf Ballerstedt hagelt es Schläge. Die Polizei kapituliert wieder einmal; der arme Wachtmeister weiß, dass Hitler bei seinen Vorgesetzten tausendmal mehr gilt als er und bittet schüchtern: „Herr Hitler, sie sehen ja selbst, hier gibt es Tote, bringen Sie doch Ihre Leute zur Räson!“ Hitler wirft einen Siegerblick über das Schlachtfeld und sagt gnädig: „Schön, der Zweck ist ja erreicht, Ballerstedt spricht heute nicht mehr!“  (…)

Bruch mit der Reichswehr.

(..) Am 1. Mai wagt sich Hitler zu weit vor. Die Sozialdemokraten und Kommunisten begehen an diesem  Tag ihren Weltfeiertag des Proletariats. Hitler will an der Spitze seiner SA und einiger anderer Miltitärverbände die rote Demonstration mit Gewalt auseinanderschlagen.(…) Nun fordert er, dass die Reichswehr ihm für einen Tag die Waffen überlässt, die ursprünglich für den äußeren Feind bestimmt waren. Lossow ( General, Oberbefehlshaber der Reichswehr München. Anm. d. Red.) hat früher einmal Ähnliches versprochen. Hitler geht zu ihm und fordert die Waffen. Lossow erwidert zynisch: „ Sie können mich ruhig einen Meineidbauern nennen, die Waffen gebe ich nicht heraus.“ Er warnt Hitler, etwas gegen die Sozialisten zu unternehmen, dann werde die Staatsgewalt mitleidlos gegen ihn zuschlagen.

Hitler schäumt. So geht das also zu: Wort gegen Wort und Wortbruch gegen Wortbruch. Er gibt nicht nach. Er lässt Flugblätter verbreiten: Frauen und Kinder, morgen weg von der Straße! Und das Wort zirkuliert, man werde die Roten niederschießen wie tolle Hunde. Röhm meutert, er lässt die Kasernen öffnen, Hitler schickt seine Leute hin, sie holen die Waffen gegen Lossows Verbot. Die Untergebenen Röhms in den Kasernen hindern es nicht. Am Morgen des 1. Mai stehen ein paar tausend SA-Leute unter Waffen.

Aber jetzt verlässt Hitler der Mut. Er wagt den Streich nicht, sondern zieht sich mit seinen Schwerbewaffneten  vor die Stadt zurück, so weit wie möglich von den sozialistischen Gegnern entfernt. Dort bewegt er sich, einen Stahlhelm auf dem Kopf,  ziemlich ratlos mit seinem militärischen Berater Kriegel, mit Göring und dem Unterführer Brückner zwischen den seinen. Aber Lossow, erbittert über den Waffenraub, erbittert über einen unzuverlässigen Untergebenen wie Röhm, statuiert jetzt ein Exempel. Er lässt Hitler von der Reichswehr umzingeln und zwingt ihn, die Waffen wieder in die Kaserne zurückzubringen. Es ist eine glatte Kapitulation. Kein Röhm verhindert sie diesmal.

10. Der Putsch

Der Generalstaatskommisssar.

Der Widerspruch zwischen Röhms militärischem Denken und Hitlers politischen Zielen, den Hitler von Anfang an sah, hat sich zur Katastrophe entwickelt. Für Röhm ist das ein edler Seelenschmerz, aber Hitler muss seine Politik neu überdenken. Er hat gegen besseres Wissen nachgegeben und trägt jetzt die Folgen; er hat entscheidende Vorteile von dem Bündnis mit der Reichswehr (das ja Blutsverwandtschaft ist) gehabt, aber wenn sich ein Schlag wie dieser 1. Mai wiederholt, dann splittert es in der Partei. Ein gefährlicher Schritt wird getan: Hitler bricht die Beziehungen zur Reichswehr ab. (…) Da fällt mit einem Schlage das ganze politische Theater um. Die Reichsregierung Cuno, die Regierung des Ruhrkrieges, wird im August 1923 gestürzt. Der Ruhrkrieg ist verloren, die Währung zerstört, die Wirtschaft im Sterben und das Reich im Zerfall. (…) Am 24. September bricht die Reichsregierung den Ruhrkrieg ab.

Am 25. September treten in höchster Erregung die Führer des sogenannten Deutschen Kampfbundes in München zusammen; dies ist ein am 2. September in Nürnberg geschlossenes Kartell, dem auch die NSDAP angehört. Neben ihr ist der Bund Oberland durch seinen Führer, den Tierarzt Dr. Friedrich Weber vertreten; ein dritter, sehr starker Verband ist die Reichsflagge unter dem Hauptmann Heiß, der aber bald mit Hitler bricht. Auch Röhm und Göring sind da, und dann noch Scheubner-Richter, der dunkle Abenteurer aus dem Osten, auf den Hitler neuerdings große Stücke hält und von dem er sich oft politisch beraten lässt. Die Zusammenkunft ist von Röhm vorbereitet, ihr Programm von Röhm entworfen, ihr Ziel von Röhm festgelegt. Nun tritt Hitler in die Szene. Er ist wirklich ein großer Redner. Volle zweieinhalb Stunden spricht er auf die Kameraden ein und bittet sie schließlich, ihn alle zu ihrem politischen Führer zu wählen. Da springt Heiß auf streckt ihm, Tränen in den Augen, die Hand hin; auch Röhm weint. Selbst der kühle Dr. Weber ist bewegt. Hitler ist politischer Führer des Deutschen Kampfbundes; gestern noch Redner einer Lärmpartei, heute Herr der stärksten Wehrverbände in Bayern. Es ist ein Ereignis und hat sofort seine Folgen.

Am 26. September verhängt die bayrische Landesregierung, die eine Putsch Hitlers befürchtet, den Ausnahmezustand und setzt einen Diktator über das Land, den Generalstaatskommissar Dr. von Kahr( ermordet 1934 in Dachau. Anm. d. Red.). Dieser ehemals Ministerpräsident und sehr volkstümlich, soll die Gemüter von Hitler ablenken und ihm notfalls mit Gewalt entgegentreten; er erweist sich aber bald als ganz unfähig. Seine erste Tat ist ein Schlag gegen Hitler, der diesen heftig verdrießt: Kahr verbietet vierzehn große Veranstaltungen, die Hitler an einem Abend gleichzeitig in München abhalten wollte. Durch dieses Kunststück, mit einem Schlage vierzehn Säle zu füllen und dann im Wagen von Saal zu Saal zu fahren, hat Hitler schon öfter die Öffentlichkeit verblüfft. Hitler ist ungeheuer erregt, dass er nicht reden darf: „Vierzehn Versammlungen, „schreit er; „ wegen vierzehn Versammlungen geraten die Herrschaften schon in Aufregung? Was werden die erst sagen, wenn  die ersten Vierzehnhundert, nein, die ersten Vierzehntausend an die Laternenpfähle hängen!“ (…)

Hitler war vor Ekstase halb aberwitzig geworden – so kam es wenigstens dem General von Lossow vor (mit dem er sich aus taktischen Gründen wieder versöhnt hatte. Anm. d. Red.), wenn er sich vor dessen Ohren mit Gambetta und selbstverständlich auch mit Mussolini verglich. Zu Lossows Mitarbeiter, dem Oberstleutnant von Berchem, sagt er: „ Ich fühle in mir den Beruf, Deutschland zu retten.“- Berchem: „Zusammen mit Ludendorff? Exzellenz Ludendorff dürfte außenpolitisch nicht tragbar sein.“- Hitler. „ Bah, Ludendorff hat lediglich militärische Aufgaben. Ihn brauche ich zur Gewinnung der Reichswehr. In der Politik wird er mir nicht das Mindeste dreinreden – ich bin kein Bethmann-Hollweg.“ – Pause . Dann: „Wissen Sie, dass auch Napoleon bei Bildung seines Konsulats sich nur mit unbedeutenden Männern umgeben hat?“  (…)

In einer Besprechung des Kampfbundes am 23.Oktober (1923. Anm. d. Red.) gab Göring Befehle aus, die alle späteren Gräuelberichte des Jahres 1933 verständlich machen und ihre Ableugnung Lügen strafen. Er sagt – und hierüber besitzen wir Zeugenaussagen vor dem Untersuchungsrichter: „ Wer nach der Machtergreifung die geringste Schwierigkeit macht, ist zu erschießen. Es ist notwendig, dass die Führer sich schon jetzt die Persönlichkeiten heraussuchen, die beseitigt werden müssen. Mindestens einer (gemeint ist offenbar: in jedem Ort) muss zum Abschrecken nach dem Umsturz sofort erschossen werden.“ (…)

„Kannst du schweigen Toni?“

Der Zufall bot für den Überfall eine wunderbare Gelegenheit. Herr von Kahr hielt auf Bitten einiger Wirtschaftsorganisationen am Abend des 8. November eine große Programmrede im Bürgerbräukeller.(…)  Hitler zog sich am 8. November seinen besten Anzug an, einen langen Gehrock, heftete das Eiserne Krauz drauf und rief … den Veranstalter der Kundgebung an, er möge doch mit dem Versammlungsbeginn bis zu seiner Ankunft warten. (…) Neben ihm im Auto saß Anton Drexler, der harmlos glaubte, man fahre zu einer Versammlung aufs Land. Plötzlich wandte sich Hitler zu seinem Ehrenvorsitzenden: „Toni, “ sagte er,  „kannst Du schweigen? Also, wir fahren heute nicht  nach Freising. Um halb neun schlage ich los.“ Drexler, überrumpelt, verstand die Demütigung. Er erwidert trocken: „ Ich wünsche dir Glück.“

Der Schuss im Bürgerbräu.

Als Kahr etwa eine halbe Stunde gesprochen hatte, fuhren die Sturmabteilungen vor dem Lokal an. Es war der „Stoßtrupp Hitler“. Drinnen spricht Kahr, … , drinnen sind dreitausend ahnungslos; draußen bilden Sechshundert Sperrketten. Das Ganze ist ein Werk von drei Minuten. In diesen drei Minuten wird Geschichte geschrieben. (…)

Die Polizei aber sah zu. Ihr ratloser Führer rief im Polizeipräsidium bei seinem diensthabenden Vorgesetzten an und bat um Verhaltensmaßregeln. (…) Dieser pflichtbewusste Vorgesetzte war der damalige Oberamtmann und spätere Reichsminister Frick. Eine Stunde später hatte Hitler ihn zum Polizeipräsidenten von München ernannt. Denn inzwischen, es war etwa dreiviertel neun Uhr, hatte Hitler mit seinen Bewaffneten  geräuschvoll den Saal betreten. Mit einer Pistole in der Hand rast er auf das Podium los. Wie ein Augenzeuge, Graf Soden, später vor Gericht sagte, machte er den Eindruck eines völlig Irrsinnigen. Seine Leute postierten im Saaleingang ein Maschinengewehr. Hitler selbst sprang, seiner Sinne kaum noch mächtig, auf einen Stuhl, feuerte einen Pistolenschuss in die Decke und stürmte dann weiter durch den plötzlich totenstill gewordenen Saal nach dem  Podium. Ein pflichtgetreuer Polizeimajor trat ihm entgegen, die Hand in der Tasche. Hitler fürchtete eine versteckte Schusswaffe, setzte dem Major blitzschnell die Pistole auf die Stirn und schrie wie im Kriminalroman: „Hände aus den Taschen!“ Ein anderer Beamter griff von der Seite zu und riss Hitlers Arm weg. Der angegriffene Polizeimajor ist zehn Jahre später im Konzentrationslager  Dachau ermordet worden .( Also gleich1933, wie Göring angekündigt hatte. Anm. d. Red.)

Hitler stieg jetzt auf das Podium … und schrie: „ Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Niemand darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Galerie stellen lassen. Die Kasernen der Reichswehr und Landespolizei sind besetzt – dies war falsch –  Reichswehr und Landpolizei rücken bereits unter den Hakenkreuzfahnen heran.“ Dann rief er Kahr sowie Lossow und Seißer, die in der Nähe saßen, in gebieterischem Tone zu, sie sollten ihm folgen. (…) Die Stimmung wurde so bedrohlich, dass Göring aufs Podium stieg und mit Donnerstimme versicherte, der Anschlag solle kein feindseliger Akt sein ,sondern der Beginn der nationalen Erhebung.(…) Er schloss: „Im Übrigen können Sie zufrieden sein, Sie haben ja hier Ihr Bier!“

„Morgen Sieger oder tot“.

Inzwischen begann Hitler in einem Nebenzimmer die Verhandlungen mit den Worten: „Niemand verlässt lebend das Zimmer ohne meine Erlaubnis!“ Dann redete er auf die kalt Abgeschreckten glühend los: „ Meine Herren,  die Reichsregierung ist bereits gebildet und die bayrische Regierung ist abgesetzt. Bayern wird das Sprungbrett für die Reichsregierung, in Bayern muss ein Landverweser sein. Pöhner wird Ministerpräsident mit diktatorischen Vollmachten und Sie, Herr von Kahr, werden Landverweser.“ Dann stieß er kurz und fetzenartig hervor: „Reichsregierung Hitler, nationale Armee Ludendorff, Seißer Polizeiminister.“ Der „Trommler“ hatte die Maske abgeworfen.

Als er keine Antwort bekam, hob er die Pistole und rief leidenschaftlich:

„Ich weiß, dass den Herren das schwerfällt. Der Schritt muss aber gemacht werden. Ich will den Herren ja nur erleichtern, den Absprung zu finden. Jeder von Ihnen muss den Platz einnehmen, auf den er gestellt wird; tut er das nicht, so hat er keine Daseinsberechtigung.“ Als die Drei in finsterem Schweigen verharrten, fingen seine Nerven an, zu zappeln: „Sie müssen,verstehen Sie, Sie müssen einfach mit mir kämpfen, mit mir siegen oder mit mir sterben, wenn die Sache schief geht. Vier Schuss habe ich in meiner Pistole, drei für meine Mitarbeiter, wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich.“ Er setzte sich die Pistole an die Schläfe und sprach feierlich: „ Wenn ich nicht Morgen Sieger bin, bin ich ein toter Mann.“

Herr von Kahr war der Situation gewachsen. Er fasste Hitlers Drohung als richtiggehenden Mordanschlag auf und sagte das Anständigste, was in diesem Augenblick gesagt werden konnte: „Herr Hitler, Sie können mich totscheißen lassen, Sie können sich selber totschießen. Aber Sterben oder Nichtsterben ist für mich bedeutungslos“ –  er wollte sagen, dass er sich nicht durch die Drohung mit einer Kugel einen Entschluss abzwingen lasse. Vor diesem Misserfolg versagten Hitlers Nerven einen Augenblick, und das Ergebnis war eine subalterne Taktlosigkeit. Während Kahr von Sterben und Nichtsterben sprach, brüllte er plötzlich seinen Begleiter Graf an: „Maßkrug her!“  (…)

Der, auf den es Hitler eigentlich abgesehen hatte, der General von Lossow, schwieg. Aber Seißer redete jetzt. Er warf Hitler vor, dass er sein Ehrenwort gebrochen habe. Schon wieder eines von einem halben Dutzend Ehrenwörtern! In der Tat, Hitler hatte Seißer öfters versprochen keine Putsch gegen die Polizei zu machen. (…) Gleichzeitig betrat Ludendorff mit Scheubner-Richter das Zimmer; er sah sich nicht um, fragte nach nichts, sondern begann zu reden: er sei ebenso überrascht wie alle, aber es handele sich um eine  große nationale, völkische Sache, und er könne den drei Herren nur raten mitzutun. Sie möchten in seine Hand einschlagen.

Das Ehrenwort.

Und nun muss Hitler noch eine peinliche Szene über sich ergehen lassen – schon die dritte dieser Art an einem Abend. Unter den Gästen ist auch der Innenminister Dr.Schweyer. Der tritt auf Hitler zu und spricht – aber lassen wir ihn das besser mit seinen eigenen Worten sagen, so wie er sie als Zeuge vor dem Staatsanwalt gesprochen hat; der Untersuchungsausschuss des bayrischen Landtags hat im April 1928 diese Aussage aus den Akten ans Licht gezogen. Schweyer berichtet:

„Mich würdigte Hitler keines Blickes. Ich trat daraufhin auf ihn zu, klopfte ihm mit dem Finger auf die Brust und sagte in nachdrucksamem Ton: „ Jetzt will ich Ihnen aber etwas sagen, Herr Hitler. Erinnern sie sich noch, was Sie im Sommer vorigen Jahres in meinem Büro aus freien Stücken erklärt haben? Wissen Sie es noch?“  Darauf geriet Hitler in eine gewisse Verlegenheit, ohne eine Antwort zu geben.“

Ein tapferer Man, dieser graubärtige, leicht schwäbelnde Dr. Schweyer. Er meinte natürlich das berühmte Ehrenwort, keinen Putsch zu machen. Ringsum sind sechshundert Begeisterte, er aber klopft dem Sieger des Abends wie ein zorniger Schulmeister auf die Brust und sagt ihm ins Gesicht, dass sein Sieg nur ein Wortbruch ist. Das Ganze ist aber tief sinnbildlich. Hitler bedeutet in jeder Form den Untergang dieser verwehenden Schicht von Reserveoffizieren und Korpsstudenten. Er  stellt, der Halbprolet, durch seinen Aufstieg ihre gesellschaftliche Hierarchie auf den Kopf, zerstört die Sicherheit ihres Eigentums und macht ihre Ehrenwörter lächerlich, indem er sie rücksichtslos als Mittel benutzte, um seinen Prozess gegen die bürgerliche Gesellschaft zu gewinnen. Aber diesmal fand er Gegenspieler, die auf Wortbruch mit Wortbruch antworteten und das Spiel gewannen.

Wütende Generäle.

Die weitläufige Entstehungsgeschichte von Kahrs und Lossows Gegenreaktion soll hier nicht erzählt werden. (…) Der ganze Zorn der Offiziere gegen die Freischärler brach jetzt los; die Generäle empfanden die Bürgerbräuszene einfach als Schmach der Armee. Seit der Pistolenszene  war Hitler nach herkömmlichem militärischem Ehrbegriff ein Mann, den man mit dem Seitengewehr niederstechen konnte. Das hatte der ehemalige Gefreite nicht bedacht.

Noch bevor sie sich mit Lossow verständigen konnten, waren Danner, General Kreß von Krtessenstein und Major von Loeb zusammengetreten und hatten dafür gesorgt, dass die Truppen abwehrbereit standen. Sie hätten sie wahrscheinlich sogar gegen Lossow marschieren lassen, wenn dieser sich nicht fügte. Aber inzwischen war außerhalb Bayern etwas geschehen, wovor der ganze Spuk aus dem Bürgerbräu zerstob. Es wurde nämlich  bekannt, dass der Reichspräsident Ebert dem General von Seeckt( Chef der Reichswehr. Anm. d. Red.) die ganze vollziehende Gewalt im Reich übertragen hatte. Seeckt  ließ in München telegraphisch wissen, dass er den Putsch niederschlagen werde.

Die fehlenden vierundzwanzig Stunden.

In der Nacht zum 9. November ging Hitler durch ein Dampfbad von Jubel, Verzweiflung, Trotz und Hoffnung. (…) Was an den verschiedenen Ecken der Stadt biwakierte, auf den Landstraßen marschierte, auf Lastautos heranfuhr, das waren mehrere Tausend. Zahlenmäßig war die Truppenzahl des Kampfbundes an der entscheidenden Stelle weit stärker als die des Staates. Dem Kampfbund fehlten auch nicht Maschinengewehre und Kanonen, sondern vierundzwanzig kostbare Stunden. Darum hatte er die Kasernen nicht besetzen ,die Bahnhöfe nicht absperren, die Telegraphenämter nicht unter Kontrolle nehmen können, obwohl für all das genaue Pläne ausgearbeitet waren.

Der Marsch zur Feldherrnhalle.

(…) Gegen elf  Uhr traten Hitler und Ludendorff mit mehreren  tausend Leuten ihren „Erkundungsmarsch“ in die Stadt an. Um besser erkunden zu können, trug man Gewehre über der Schulter, zum Teil mit aufgepflanztem Bajonett; Hinter den ersten Reihen fuhr ein Auto mit Maschinengewehren. Der Plan des Zuges  war in erster Linie, die Stadt moralisch zu erobern und die Gegner in die Winkel zu scheuchen: jedoch war man auch auf Kampf gefasst. Falls die Revolutionäre ganz genau wissen wollten, was die Regierung beabsichtigte, hätten sie ihren Erkundungsmarsch nicht mehr zu machen brauchen. Denn an den Häuserwänden klebten Plakate:

„Trug und Wortbruch ehrgeiziger Gesellen haben aus einer Kundgebung für nationales Wiedererwachen eine Szene widerwärtiger Vergewaltigung gemacht. Die mir, General von Lossow und Oberst Seißer mit vorgehaltenem Revolver abgepressten Erklärungen sind null und nichtig. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sowie die Kampfverbände „Oberland“ und „Reichsflagge“ sind aufgelöst.“  von Kahr . Generalstaatskommissar

An der Spitze des Zuges gingen Ludendorff und Hitler, Dr. Weber, Scheubner-Richter und Kriebel; in der zweiten Reihe Göring.  Der Zug traf an der Isarbrücke auf Sperrketten der Landespolizei. Die senkten die ‚Gewehrläufe nicht;  würden sie schießen? Da trat Göring aus den Reihen nach vorn, legte die Hand an die Mütze und sagte: „ Der erste Tote auf unserer Seite bedeutet Erschießung sämtlicher Geiseln, die wir in Händen haben.“ (…) Die Polizisten schossen nicht. Im Nu waren sie entwaffnet, bespuckt und geohrfeigt.(…)

Der Zug marschierte dann durch die innere Stadt. (…) Ludendorff führte, wie er später angab, ohne einen bestimmten Plan; nur die allgemeine Richtung schwebte ihm vor.

Streicher greift ein.

Hitler schritt zwischen Ludendorff und Scheubner-Richter, dessen Arm er untergefasst hatte. In der rechten Hand hielt er ein Pistole und rief, unmittelbar vor dem Schießen, den Polizisten zu:  „Ergebt Euch!“ In diesem Augenblick …aber hier sollen die Augenzeugen sprechen. Der Zeuge Friedrich, der den Zug als Zuschauer begleitete, sah folgendes:

„Hitler trug in der rechten Hand eine Pistole offen und schussbereit. Ein Nationalsozialist, der in der Hand ebenfalls eine schussbereite Pistole trug, sprang aus der Umgebung Hitlers vor den Zug, ging zu einem Beamten der Landespolizei und sprach kurz mit ihm. In diesem Augenblick fiel ein Schuss. Da dieser Nationalsozialist und Hitler eine Pistole schussbereit in der Hand trugen, nehme ich an, dass der erste Schuss entweder von Hitler oder von dem vorgesprungenen  Nationalsozialisten abgegeben wurde.“

Hier beginnt eine Kette merkwürdiger, ja unheimlicher Vermutungen. Sollte also tatsächlich Hitler oder jener Nationalsozialist zuerst geschossen haben? Friedrich glaubte es, denn: „Der erste Schuss war bestimmt ein Pistolen- oder Revolverschuss“ – die Landespolizei hatte Karabiner.(…) Dr. Weber und der Zeuge haben beide von verschiedenen Punkten aus dasselbe gesehen. Aber noch ein dritter Zeuge sah, und dieser weiß auch, wer der Nationalsozialist war. Der Zugteilnehmer Robert Kuhn berichtet:

„Streicher sprang einige Schritte vor und sprach mit einem Beamten. Dieser winkte aber ab. Streicher wurde von einem Beamten der Karabiner auf die Brust gesetzt. Dann krachte ein Schuss…“ (…)

Kein Zufall in Gestalt eines unbekannten SA-Mannes. Keine Nebenfigur. Der Strahl der Verantwortung trifft niemanden mit voller Entschlossenheit, aber die Wolke des Verdachts sammelt sich m dichtesten über zwei Häuptern: Hitler und Streicher.

Der Zusammenbruch.

Nun rollen Salven auf beiden Seiten. Als erster auf der Seite des Kampfbundes wird Scheubner-Richter tödlich getroffen; stürzend renkte er Hitlers Arm aus. Auch Hitler lag auf der Erde; ob von Scheubner-Richter mitgerissen, ob nach Soldatengewohnheit Deckung suchend, wird er selbst kaum zuverlässig angeben können.(…) Vorwürfe möge ihm machen, wer mit gutem Gewissen von sich behaupten kann, dass erstehen geblieben wäre. Aber wenige Minuten später wird Hitler sich wirklich so benehmen, dass er Vorwürfe verdient.(…) Der Feuerhagel hatte in der engen Straße entsetzlich gewirkt. Vierzehn tote lagen auf dem Pflaster.

Hitlers Flucht.

Und dann schweigt das Feuer. Da erhebt sich ein Mann… aber wiederum sollen die Augenzeugen das Wort haben. Der praktische Arzt, Dr. Walter Schulz Nationalsozialist, Teilnehmer am Zuge, der mit den anderen auf der Erde lag, sagte in der Voruntersuchung aus:

„Ich nahm wahr, dass Hitler der  Erste war, der aufstand und sich, scheinbar am Arm verwundet, nach rückwärts begab….“

Auch der zweite Zeuge ist Arzt, Dr. Karl Gebhardt:

„Beim Schießen fuhr plötzlich in die Menge hinein ein gelbes Automobil, auf dem ein Nationalsozialist stand und rief: Wo ist Hitler? Dr. Schulz, der direkt in dem Haufen lag, anscheinend neben Hitler, rief: Er ist hier! Und schon war Hitler in dem Automobil, das mit ihm und Dr. Schulz davonfuhr.“ (…)

Das Gesamturteil über Hitlers Putsch muss lauten: gutes Spiel und schlechte Arbeit. Der erste Fehler war das Losschalgen ohne genügende militärische Vorbereitung, der Zweite die psychologische Fehlbehandlung des Reichswehrkommandeurs, der Dritte der mangenlde Mut am 9. November. Selbst ein so tapferer Soldat wie röhm ließ sich vom Gegner einkreisen, weil er es nicht übers Herz brachte, den ehemaligen Kameraden mit Maschinengewehren zu drohen. Ludendorff wollte überhaupt nicht kämpfen, sondern zaubern. Als sogar Hitler vor dem Zug zaghaft wurde: „Man wir auf uns schießen“, wusste Ludendorff  bl0ß eine heroische und gedankenlose Antwort: „Wir marschieren!“

Für die NSDAP ist der blutige Tag trotz allem ein Segen gewesen. Er schnitt sie endgültig aus dem Leibe der Reichswehr heraus. So wurde der  9. November 1923 ihr eigentlicher Geburtstag.