Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen aus Medienland – Ein Grubenhund masturbiert. September 2011. Von W.K. Nordenham

27. Oktober 2011 | Kategorie: Grubenhund, Notizen aus Medienland

Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911  erfunden und apostrophierte Erfundenes danach mit dem Wort „Grubenhund“. Heute würde man „Zeitungsente“ sagen. Aber Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.

Ärzte Zeitung online     09.09.2011

16-Jähriger masturbiert 42 Mal in einer Nacht und stirbt – angeblich. Eine sehr traurige Geschichte: Ein 16-jähriger Junge aus Brasilien soll 42 Mal in einer Nacht masturbiert haben – und dann gestorben sein.

Das kann doch nicht wahr sein!

Eine britische Internetseite namens „The Morningstarr*“ berichtete am 4. September über einen bizarr anmutenden Todesfall. (…)

Doch die Räuberpistole über die tödliche Onanie-Orgie war zumindest für einen Leser zuviel. Er recherchierte – und fand die ursprüngliche Quelle, jene G17-Seite, eine Webseite, die erfundene Geschichten nur so zum Spaß online stellt. Immerhin hat es die Geschichte auch auf andere News-Seiten geschafft – etwa dnews.de. Das einzig halbwegs Spaßige daran sind einige der Leserkommentare.

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Man muss sich wundern, dass die wissenschaftlich sich gebärdende Ärzte-Zeitung sich mit solch publizistischer Einfalt einer fiktiven Masturbation annimmt. Aber zweiundvierzigmal in einer Nacht –  da wird selbst eine ernsthafte ärztliche Redaktion hellhörig, vor allem, wenn es nicht stimmt. Die Ärztezeitung weiß das sehr wohl, wie man dem weiteren Verlauf des Artikels entnehmen kann. Es handelt sich um einen „Grubenhund“, eine frei erfundene Geschichte und man druckt den Schwachsinn dennoch nicht nur ab, sondern liefert auch noch den Hinweis auf eine Seite mit, die halbwegs spaßige Leserkommentare verspricht. Die Frage erhebt sich, warum eine Ärzte-Zeitung mit dem Anspruch auf publizistische Ernsthaftigkeit diese Irrmeldung überhaupt aufnimmt. Damen waren bei dem Beschluss vermutlich nicht anwesend und auch keine Herren, sondern nur Männer. Offenbar war die Onanienachricht in ihrem herausstehenden Charakter geeignet, das redaktionelle Ejakulationspotential so in Aufruhr zu versetzen, dass man den Papierkorb vergaß, in den diese Meldung umgehend gehört hätte, zumal es angeblich doch auch nur die Leserkommentare waren, die halbwegs spaßig sein sollten und nicht etwa die Meldung selbst. Die werden dann wohl für einen internen Männerabend aufgehoben oder den nächsten Urologenkongress.

Wie bemerkte Karl Kraus zutreffend:

Das Niveau ist hoch, aber es ist niemand drauf.


Notizen aus Medienland- Ein Grubenhund wird unruhig. November 1911

25. Oktober 2011 | Kategorie: Grubenhund, Notizen aus Medienland

Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911  erfunden und apostrophierte Erfundenes danach mit dem Wort „Grubenhund“. Heute würde man „Zeitungsente“ sagen. Aber Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.  Folgende  Satire, die natürlich kompletter Unsinn war, sandte er an die Presse, um zu beweisen, dass man alles veröffentlicht, wenn es nur verrückt genug ist. Es wurde  genau so  abgedruckt. Im Nachspann folgt das Echo auf eine Vorlesung des „Grubenhundes“.

DIE FACKEL Nr. 336—337 23. NOVEMBER 1911 XIII. JAHR   S. 4-6

Der Grubenhund

Neue Freie Presse vom 18. November: (»Die Wirkungen des Bebens im Ostrauer Kohlenrevier.«)

Von Herrn Dr. Ing. Erich R. v. Winkler, Assistenten der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke, erhalten wir  folgende Zuschrift:

»Gestatten Sie, dass ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Beobachtung lenke, die ich, dank einem  glücklichen Zufall, gestern abends zu machen in der Lage war und die durch Veröffentlichung in Ihrem hochangesehenen Blatte auch außerhalb unseres Vaterlandes hohe Beachtung aller technischen und speziell montanistischen Kreise finden dürfte.

Da ich gestern abends mit dem Nachtzuge nach Wien fahren musste, so benützte ich die vorgerückte Stunde, um noch einige dringende Arbeiten in unserer Versuchsanstalt zu erledigen. Ich saß allein im Kompressorenraum, als — es war genau 10 Uhr 27 Minuten — der große 400pferdekräftige Kompressor, der den Elektromotor für die Dampfüberhitzer speist, eine auffällige Varietät der Spannung aufzuweisen begann. Da diese Erscheinung oft mit seismischen Störungen zusammenhängt, so kuppelte ich sofort den Zentrifugalregulator aus und konnte neben zwei deutlich wahrnehmbaren Longitudinalstößen einen heftigen Ausschlag (0·4 Prozent) an der rechten Keilnut konstatieren. Nach zirka 55 Sekunden erfolgte ein weit heftigerer Stoß, der eine Verschiebung des Hochdruckzylinders an der Dynamomaschine bedingte, und zwar derart heftig, dass die Spannung im Transformator auf 4·7 Atmosphären zurückging, wodurch zwei Schaufeln der Parson-Turbine starke Deformationen aufwiesen und sofort durch Stellringe ausgewechselt werden mussten.

Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, dass mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab. Ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit anzuregen, ob es im Interesse der Sicherheit in Bergwerken nicht doch angezeigt wäre, die schon längst in Vergessenheit geratene Verordnung der königlichen Berginspektion Kattowitz vom Jahre 1891 wieder in Erinnerung zu bringen, die besagt, dass:

» …in Fällen von tektonischen Erdbeben die Auspuffleitungen aller Turbinen und Dynamos stets zur Gänze an die Wetterschächte derart anzuschließen sind, dass die explosiblen Grubengase selbst bei größtem Druck nicht auf die Höhe der Lampenkammer gelangen können. «

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Dr. P. H. Vorlesung Karl Kraus. Es kam so wie im verflossenen Jahre, als er zum ersten Male in Brünn las. Wer zum ersten Male hinging in Erwartung eines literarischen Ereignisses, der kam zurück von einem persönlichen Erlebnisse. Das ist kein Vorlesertisch, kein Vortragspodium. Es ist eine Bühne, auf der der Autor uns seine Werke vorspielt. Darum die spanische Wand, das Fehlen der üblichen Wasserflasche, die Verdunkelung des Saales — bühnenmäßige Technik. Das Organ des Künstlers ist bewunderungswürdig. Alle Laute des Lebens scheint sein Ohr erlauscht, sein Gedächtnis registriert zu haben. Alle Töne — das Kreischen des schachernden Händlers, der dumpfe Bierbaß eines Wiener Pülchers, das Säuseln des reichsdeutschen Ästheten, der monotone Ruf des französischen Zeitungsverkäufers, der entsetzte Schrei: »Feuer!« — scheint diese Stimme zu beherrschen, jede Möglichkeit des Ausdrucks scheint diese Sprache zu kennen. Die linke Hand hängt herab, die Rechte liegt zitternd auf der Stuhllehne und lauert auf den Augenblick, in welchem sie tätig teilnehmen kann an der Verkörperung eines Gedankens. Dann greift sie würgend nach der Kehle des Feindes, rüttelt an den morschen Fundamenten unserer Scheinkultur, wirbelt die lächerlichen Erscheinungen des Lebens durcheinander. In solchen Momenten muß man erkennen, dass in diesen Schöpfungen Gedanke und Anschauung, Bild und Wort eines sind. Dass diese Darstellung den Gipfel der Ausdrucksmöglichkeit erreicht, den einzig möglichen und endgültigen Ausdruck gefunden hat. Bei der Lektüre kann man’s übersehen, beim Vortrage aber wird es jedem klar, daß Karl Kraus vor allem Künstler ist, nicht Satiriker. Karl Kraus las ein völlig anderes Programm als im Vorjahre. Diesmal kamen die Satiren: Von den Gesichtern, Die Malerischen, Reformen, Das Erdbeben, sämtliche aus dem Buche: Die chinesische Mauer, sowie die in der ‚Fackel‘ erschienene Satire: Der Traum ein Wiener Leben, ferner zahlreiche Glossen und Aphorismen zum Vortrage. Die Vorlesung dauerte volle drei Stunden. Trotzdem wurde Karl Kraus durch tosenden Beifall zu einer letzten Zugabe gezwungen und las die Glosse: Der Grubenhund, die inzwischen in der ‚Fackel‘ erschien. Bei der Vorlesung der Zuschrift des Dr. Ing. Erich Ritter v. Winkler brach ein derartiger Lachsturm los, dass sogar der Vorleser angesteckt wurde und mehrmals unterbrechen mußte. — Hoffentlich bestätigt sich das Gerücht, die Neue akademische Vereinigung, der wir für diesen Abend großen Dank schuldig sind, werde uns Karl Kraus noch in dieser Saison als Vorleser fremder Werke (Liliencron, Wedekind, Peter Altenberg und andere) an einem Autorenabend hören lassen.


Notizen aus Medienland – Der Tod ist das Geschäft. Oktober 2011. Von W.K.Nordenham

24. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland, Was man so lesen muss

Gaddafi ist tot. Die Bild-Zeitung und Spiegel  zeigen das Bild des Erschossenen. Dazu die

Süddeutsche Zeitung.

Toter Gaddafi im „Spiegel“. Wenn ein Diktator zur Trophäe wird 24.10.2011

Von wegen kritische Distanz im Journalismus: Im aktuellen „Spiegel“-Heft ist ein Foto zu sehen, das den toten Muammar al-Gaddafi als Trophäe zeigt. Und auf eigenartige Weise an Hemingway erinnert. Das höchste  Glück des Großwildjägers ist das Foto zum Schluss. Es zeigt den Waidmann mit Gewehr neben dem erlegten Tier, der Trophäe. Hemingway ließ sich so gerne ablichten (mit Leopard). Der Trophäen-Journalismus dieser Tage lebt davon, tote Gruselgestalten abzubilden, Diktatoren etwa.   Im  aktuellen   „Spiegel“  posiert,  gleich  vorn  in  der  „Hausmitteilung“,  eine  Redakteurin  neben  dem  toten  Muammar  al-Gaddafi. Der libysche Schreckensherrscher liegt auf einer Matratze, in einem „gut  gekühlten  Raum  von  den  Ausmaßen  einer  Autogarage“, wie  es  hausmitteilt;  die  Reporterin  trägt  eine  Art  Shopper-Bag. Keine Rolle spielen ethische Fragen, die Agentur AFP hat sich sogar des „weltweiten Scoops“ gerühmt, die Fotos des Toten verbreitet zu haben. Der Deutsche Journalistenverband hat einst festgehalten, Journalisten sollten zu Akteuren „kritische Distanz“ bewahren, sich politisch nicht instrumentalisieren lassen. Die Würde der betroffenen Menschen sei zu achten, hieß es.

Das war 2002, in der Steinzeit des „modernen Journalismus“.

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Wenigstens gut gekühlt hatte es die Redakteurin, deren Namen die „Süddeutsche“ nicht mitteilt und die wohl eiskalt genug für den Auftrag war. Das sei der Grundparagraph solcher Journalisten :

Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie zu missachten und zu benutzen ist Aufgabe aller medialen Gewalt.

Dass sie keinen Respekt vor einem toten Gaddafi haben, der sicherlich ein Verbrecher war und dem sie als bedrohlich Lebenden zu seinen Machtzeiten doch sonst wohin hinterher- und  hineingekrochen wären, verwundert nicht. Aber die Achtung vor der Würde eines Toten und vor allem der Majestät des Todes hätten die Veröffentlichung eines solchen Bildes verboten. Mich werden sie dafür als weltfremd abtun und machen doch mir die Welt fremd.

Nun gehörte Würde und Achtung noch nie zum Anstandskatalog der Bild-Zeitung und wie man da sieht,  auch  nicht zu der des „Spiegel“, dessen Journaille- Ethos, falls es so etwas überhaupt gibt, vor dem Bild des toten Gaddafi ungerührt kollabiert. Das fällt sogar der Münchner Konkurrenz auf.  Leider verharmlost die „Süddeutsche“ unzulässig. Sie macht eine journalistische Würde im Jahr 2002 aus, in der Fehleinschätzung, der Journalismus habe  damals die zu achtende Würde noch zu berücksichtigen gehabt, die er doch längst auf dem Boulevard erledigt hatte. Vermutlich wurde sie im dafür besonders erwähnten Shopper-Bag mitgeführt.  Der noch an jedem Thema oder Foto sich willig prostituierende journalistische Informationsgehalt, der schon beim toten Saddam als rechtfertigende Notwendigkeit herhalten musste, fände das passende Spiegelbild in einem abfälligen Grinsen aus den Redaktionszellen, an dem solcher Einwand abtropfte. Dort sitzt beisammen, was eine Klientel bedient, der gleich ihnen von jeher der Geifer zu leicht von den Lefzen troff, zurechtgeknüppelt mit  den Schlagzeilen ungezählter Millionenauflagen, gepresst noch aus jedem Kadaver, zum tagtäglichen Abfüllen der Großbuchstabenkonsumos.

Um den Wegstrecke der Zeitungskilometer zu ermessen, die bis in die Untiefen solchen Geschmacks führte, sei eine kurze Bemerkung eingefügt. Ein NDR-Redakteur berichtete von einem Geburtstag seiner etwa zehnjährigen Tochter, als Fernsehen noch nicht überall die Schule der Nation darstellte. Es waren Kinder vom Dorfe eingeladen und der Vater besaß ein Filmvorführgerät. Zur Feier des Tages wurde ein Film gezeigt, der die Dorfkinder mehrfach dazu veranlasste, aus Angst vor den sie aufregenden Bildern, das Gesicht hinter den Händen zu verbergen.  Der Titel des Film lautete: „Der gestiefelte Kater“.

Welche Seelenverbildung, welche optischen Grausamkeiten sind zu erdulden, bis sich eine Leserschaft zu Leichenbildern z. B. ein Mittagessen servieren lässt, um nebenbei ganz angenehm bei laufendem Fernsehbild über Brutalität und Menschenverachtung der Welt zu räsonieren? Hinter jedem Täter, der auf einem Bahnsteig in der U-Bahn einen Mitmenschen erledigt, steht eine lange Reihe von Schreiberlingen und Bildmachern, die den Boden bereiteten auf dem das wuchs. Das Bild des erschossenen Gaddafi passt nahtlos in diesen Kontext. Eine Menschheit daran gewöhnt zu haben, bezeichnet eine Sünde, die nicht vergeben werden kann.

*

Aus DIE FACKEL  Nr. 418—422 8. APRIL 1916 XVIII. JAHR

Wehe, wehe über die Tagespresse! Käme Christus jetzt zur Welt, so nähme er, so wahr  ich lebe, nicht Hohepriester aufs Korn, sondern die Journalisten!

*

Gott im Himmel weiß: Blutdurst ist meiner Seele fremd, und eine Vorstellung von einer Verantwortung vor Gott glaube ich auch in furchtbarem Grade zu haben: aber dennoch, dennoch wollte ich im Namen Gottes die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer zu kommandieren, wenn ich mich nur zuvor mit der ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich vor den Gewehrläufen kein einziger anderer Mensch, ja auch kein einziges anderes lebendes Wesen befände als — Journalisten.

Sören Kierkegaard, 1846.

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Und nach siebzig Jahren, wo es um so viel siebzigmal wünschenswerter wäre, als es siebzigmal mehr Gewehrläufe und Journalisten gibt, stehen sie nicht vor ihnen, sondern dahinter, haben sie laden geholfen und sehen zu, man zeigt ihnen, wie es schießt und fließt, und wartet, bis sie kommen, es zu beschreiben.

Welche Verantwortung nimmt die Erde, die solches will und erträgt, im Namen Gottes auf sich!

Karl Kraus


Nächtliche Stunde. Von Karl Kraus

06. Oktober 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 622  1923  XXIV. Jahrgang S.150

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Nächtliche Stunde

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod


Heine und die Folgen. Von Karl Kraus

06. Oktober 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Heine und die Folgen

Heine und die Folgen erschien erstmals im Dezember 1910 im Verlag Albert Langen, München. Karl Kraus veröffentlichte den Aufsatz später in der Zeitschrift  Die Fackel Nr. 329/330, S. 1-33, 1910  mit dem Vorwort. Ein Schlusswort  >Zwischen den Lebensrichtungen < erschien später  in Die Fackel 462-471, S. 76-78.   im Oktober 1917. Nie wurde dem Dichter Heine so auf den poetischen Zahn gefühlt, nie des Dichters Spreu klarer vom Weizen getrennt und ungezählte bewusste und unbewusste Epigonen entlarvt. Die im Vorwort noch festgestellte mangelnde Akzeptanz durch den Leser, muss im Schlusswort der Feststellung weichen, dass die Schrift mehrere Auflagen und großes Interesse erfuhr. Das >Vorwort< zählt zum Persönlichsten, was von Karl Kraus je niedergeschrieben  wurde. Seine darin geäußerte abwertende Einstellung zum Roman ist bekannt. Elias Canetti hat sie in seinem Buch „Die Fackel im Ohr“ angemessen kritisch beurteilt. Wer den ganzen  Aufsatz lesen will, möge im Fackel-Archiv (siehe link) nachlesen. Nicht etwa wegen einer der Ablehnung des Inhalts  und seiner Schlussfolgerungen,  sondern aus persönlichen Gründen wurden nur Vorwort und Nachlese abgedruckt. Auf eine zunächst angekündigte Begründung dafür habe ich verzichtet, weil sie vom folgenden Test abgelenkt hätte .

DIE FACKEL


Nr. 329/330 31. AUGUST 1911 XIII. JAHR


Heine und die Folgen

Von Karl Kraus

Vorwort

Die tiefste Bestätigung dessen, was in dieser Schrift gedacht und mit ihr getan ist, wurde ihr: sie fand keine Leser. Ein Gedrucktes, das zugleich ein Geschriebenes ist, findet keine. Und mag es sich durch alle äußeren Vorzüge: den bequemen, noch in feindlicher Betrachtung genehmen Stoff, ein gefälliges Format und selbst durch den billigsten Preis empfehlen — das Publikum lässt sich nicht täuschen, es hat die feinste Nase gegen die Kunst, und sicherer als es den Kitsch zu finden weiß, geht es dem Wert aus dem Wege. Nur der Roman, das  Sprachwerk, das in seiner ungreifbarsten Reinheit noch dem gemeinen Verstande irgend Halt und Hoffnung lässt, nährt heute seinen Mann. Sonst haben vor dem Leser jene, die ihm mit dem Gedanken im Wort bleiben, einen unendlich schweren Stand gegen die, welche ihn mit dem Wort betrügen. Diesen glaubt er sofort, den andern erst nach fünfzig Jahren. Und keine irdische Träne aus den Augen, die das Leben vom Tod begraben sehen, verkürzt die Wartezeit. Nichts hilft. Die Zeit muss verstinken, um jene, die das sind, was sie können, so beliebt zu machen, wie diese da, welche können, was sie nicht sind. Nur dass dieses Heute noch den besondern Fluch des Zweifels trägt: ob der Kopf, der die Maschine überlebt, auch ihre Folgen überstehen wird. Nie war der Weg von der Kunst zum Publikum so weit; aber nie auch hat es ein so künstliches Mittelding gegeben, eins, das sich von selbst schreibt und von selbst liest, so zwar, dass sie alle schreiben und alle verstehen können und bloß der soziale Zufall entscheidet, wer aus dieser gegen den Geist fortschreitenden Hunnenhorde der Bildung jeweils als Schreiber oder als Leser hervorgeht. Die einzige Fähigkeit, die sie als Erbteil der Natur in Ehren halten: von sich zu geben, was sie gegessen haben, scheint ihnen auf geistigem Gebiet als ein Trick willkommen, durch den es gelingen mag, zwei Verrichtungen in einer Person zu vereinigen, und nur weil es noch einträglichere Geschäfte gibt als das Schreiben, haben sich bisher so viele unter ihnen Zurückhaltung auferlegt und begnügen sich damit, zu essen, was die andern von sich gegeben haben. Wie derselbe Mensch sich in einer Stammtischrunde vervielfacht hat, in der ein Cellist, ein Advokat, ein Philolog, ein Pferdehändler und ein Maler sitzen, durch den Geist verbunden und nur vom Kellner nach den Fächern unterschieden, so ist zwischen Autor und Leser kein Unterschied. Es gibt bloß noch Einen, und das ist der Feuilletonist. Die Kunst weicht vor ihm zurück wie der Gletscher vor dem Bewohner des Alpenhotels. Einst konnte man den, so rühmten die Führer, mit Händen greifen. Wenn der Leser heute ein Werk mit Händen greifen kann, dann muss das Werk eine üble Seite haben. Der Herausgeber dieser Zeitschrift ist sich durchaus bewusst, dass sie ihr Ansehen großenteils jener Empfänglichkeit verdankt, die sich etwa dem vorzüglichen Romanautor nicht gleich darum entzieht, weil sie vom Hörensagen weiß, dass er auch ein Künstler ist. Er darf sich diese Nachsicht getrost zunutze machen. Der Herausgeber der Fackel hat nicht selten das Gefühl, dass er an ihr schmarotzt. Sie würde ihm unwiderruflich verweigert, wenn die Leser gar erführen, in welchem Stadium der Unzurechnungsfähigkeit solch witzige Anlässlichkeiten entstehen, von welcher Kraft der Selbstvernichtung diese Treffsicherheit lebt und wie viel Zentner Leiden eine leichte Feder tragen kann. Und wie düster das ist, was den Tagdieb erheitert. Das Lachen, das an meinen Witz nicht heranreicht, würde ihnen vergehen! Sähen sie, dass der kleine Stoff, der ihnen zu Gesicht steht, nur ein schäbiger Rest ist von etwas, das sie nicht betasten können, sie gingen endlich davon. Ich bin bei denen, die sich einbilden, meine Opfer zu sein, nicht beliebt; aber bei den Schadenfrohen noch immer weit über Verdienst.

Mag nun die Fackel sich auch zumeist in den unrechten Händen befinden: wenn sich das, was von mir geschrieben ist, in einen andern Druck wagt, so langt überhaupt keine Hand
darnach. Für eine Sammlung von Satiren oder Aphorismen soll das nicht gelten. Eine solche ist mit den seltenen Lesern zufrieden, denen die textliche Veränderung ein neues Werk bedeutet. Aber an der Schrift »Heine und die Folgen«, die als Manuskript in den Buchverlag kam, hat es sich gezeigt, dass es nicht mehr Leser gibt, als jene wenigen. Und diese Erfahrung kann gerade sie nicht schmerzlos hinnehmen. Denn ihr Wille ist, Leser zu schaffen, und das könnte ihr nur gelingen, wenn sie Leser findet. Sie trägt den Jammer des deutschen Schrifttums aus, und sie ist nicht zufrieden damit, dass ihre Wahrheit sich an ihr selbst erfülle. Darum betritt sie den Weg der Reue, der aus dem Buch zurück in die Zeitschrift führt, und auch diese Notwendigkeit sei ihr gefällig, die Perversität des geistigen Betriebs unserer Tage zu erweisen. Hier, im vertrauten Kreis, wird sie wenigstens den Versuch machen, zu mehr tauben Ohren zu sprechen, als in der großen deutschen Öffentlichkeit zu haben sind.

Denn es ist nicht zu denken, dass sie just für den Gegenstand taub waren, von dem zu ihnen die Rede ging. Von Heine hören sie noch immer gern und wenn sie auch nicht wissen,
was soll es bedeuten. Sicherlich würde die Schrift, wenn sie bloß die Lebensfülle seiner Kunst verneinte, jenem Zeitgefühl nichts Neues sagen, das sich selbst durch die Verabredungen der Intelligenz nicht betrügen lässt. Sicherlich lässt es sich eher zur Bettelei für ein Heine-Denkmal als zur Lektüre seiner Bücher herumkriegen. Und dem Hass, der dort ansetzte, wo nicht Liebe, nur intellektuelle Heuchelei die Grabeswacht hält, würde zwar einige Erbitterung, aber kein allgemeines Interesse antworten. Diese Schrift indes, so weit entfernt von dem Verdacht, gegen Heine ungerecht zu sein, wie von dem Anspruch, ihm gerecht zu werden, ist kein literarischer Essay. Sie erschöpft das Problem Heine nicht, aber mehr als dieses. Der törichteste Vorwurf: dass sie Heine als individuellen Täter für seine Folgen verantwortlich mache, kann sie nicht treffen. Die ihn zu schützen vorgeben, schützen sich selbst und zeigen die wahre Richtung des Angriffs. Sie sollen für ihre Existenz verantwortlich gemacht werden, und der Auswurf der deutschen Intelligenz, der sich sogleich geregt hat, bewies, dass er sich als die verantwortliche Folge fühle. Es waren Individuen, die durch ihre eigene Lyrik schwer genug gestraft sind oder durch ihre eigene Polemik zu sehr insultiert waren, als dass sie einer besondern Abfertigung bedurft hätten. Die wenigen, die sich geärgert und die vielen, die nicht gelesen hatten, haben bestätigt, was geschrieben war. Nicht die Gefahr, eine Entweihung Heines zu erleben, wohl aber die Furcht, das Feindlichste zu hören, was diesem Zeitalter der Talente gesagt werden kann, hat dem Ruf ein stärkeres Echo ferngehalten. Nicht eine Wertung Heine’scher Poesie, aber die Kritik einer Lebensform, in der ein für allemal alles Unschöpferische seinen Platz und sein glänzend elendes Auskommen gefunden hat, wurde hier gewagt. Nicht die Erfindung der Pest, nicht einmal ihre Einschleppung wurde getadelt, aber ein geistiger Zustand beschrieben, an dem die Ornamente eitern. Das hat den Stolz der Bazillenträger beleidigt. Hier ist irgendwie die Sprache von allem, was sie einzuwickeln verpflichtet wurde, gelöst, und ihr die Kraft, sich einen bessern Inhalt zu schaffen, zuerkannt. Hier ist in dieser Sprache selbst gesagt, dass ihr der kalligraphische Betrug fremd sei, der das Schönheitsgesindel zwischen Paris und Palermo um den Schwung beneidet, mit dem man in der Kunst und in der Hotelrechnung aus dem Fünfer einen Neuner macht. Das haben sie nicht verstanden, oder als bedenklich genug erkannt, um es nicht hören zu wollen.

Um aber die Unfähigkeit, die eine redliche Wirkung des begabten Zeitgeistes ist, nicht schwerer zu belasten als die Bosheit, die in allen Zeiten die sozialen Möglichkeiten gegen den Gedanken mobilisiert hat, muss gesagt werden, dass noch ein besonderer Verdacht den Autor dazu bestimmt hat, vom Verlag Albert Langen das Recht des Wiederabdruckes dieser Schrift zu erbitten. Sein bekannter Verfolgungswahn, der ihm sogar zugeflüstert hat, dass es ihm in zwölf Jahrgängen nicht gelungen sei, sich angenehm zu machen, ließ ihn an eine absichtliche Unterdrückung der Broschüre glauben. Stellte ihm vor, dass die aufgestöberten Wanzen aus der Matratzengruft sich in Bewegung gesetzt und just dort angesiedelt hätten, wo der ihnen bekannte Weg vom Gedanken weg in den Handel führt. Die Furcht vor der Presse kann Berge versetzen und Säle verweigern: vielleicht bedarf es nicht einmal der Agitation, um einen Wiener Buchhändler im Vertrieb einer gefährlichen Broschüre, von der nur ein kleiner Gewinn abfällt, lau zu machen. Zumal einen von jenen, die noch heute der Fackel
einen autorrechtlichen Prozess verübeln, den ihr erster Drucker geführt hat. Ist es denn nicht eine Wiener Tatsache besonderster  Art, dass nicht nur den Blicken der spazierenden City das Ärgernis meiner Bücher entzogen wird, sondern dass die Hefte der Fackel, die in einer Zeile mehr Literatur enthalten als die Schaufenster sämtlicher Buchhandlungen der Inneren Stadt, und an deren letztes Komma mehr Qual und Liebe gewendet ist als an eine Bibliothek von Luxusdrucken eines Insel-Verlags — gezwungen sind, zwischen Zigarren, Losen und Revolverblättern ihre Aufwartung zu machen, um die Kosten zu decken, die eine nie belohnte und nie bedankte Mühe verursacht, während im Chor das Ungeziefer des Humors die Sache für lukrativ hält und sich an dem Begriff der »Doppelnummer« weidet! Eine Zeitschrift, welche die legitimsten administrativen Hilfen wie den Aussatz flieht, so aus sich selbst leben möchte, um so gegen sich selbst zu leben, buchgeboren wie kaum ein Buch im heutigen Deutschland, muss die Stütze des zuständigen Handels, die ihm Pflicht wäre, entbehren und in der österreichischen Verbannung jene Schmach verkosten, die den wegen eines politischen Delikts Verurteilten in die Zelle der Taschendiebe wirft. Ahnt die freigesinnte Bagage, deren kosmisches Gefühl die Gewinnsucht ist und von der man die Gnade erbetteln muss, für irrsinnig gehalten zu werden, wenn man keinen Profit macht: wie viel Genüsse sie sich mit dem Geld erkaufen könnte, das mein Werk des Hasses verschlingt, bis es die Gestalt hat, mit der ein Selbstverherrlicher nie zufrieden ist — weil es erst dann ihm die Fehler enthüllt, die die andern nicht merken? Aber hier, in sein Archiv, nimmt er, was ihm beliebt, und zieht er ein, was andernorts nicht beliebt hat. Hier kann ihn nichts enttäuschen. Eine Arbeit, die statt zwanzig Auflagen nicht die zweite erlangt hat: hier kann ihr nichts geschehen. Ihr Verfasser, dessen Lust es ist, in die Speichen seines eigenen Rads zu greifen, sich selbst und die
Maschine aufzuhalten, wenn ihm ein Pünktchen missfällt, wird nie mehr einem fremden publizistischen Betrieb seine Hilfe gewähren. Er wirbt nicht um neues Publikum. Die Fackel ist ihm nicht Tribüne, sondern Zuflucht. Hier kann ihn das Schicksal einer Arbeit nur bis zur Vollendung aufregen, nicht bis zur Verbreitung. Was hier gelebt wird, mag im Buche wiedererstehen. Aber es ist Lohn genug, unter dem eigenen Rad zu liegen.

Ein Schlusswort zum Nachtrag von »Heine und die Folgen«, (Nr. 329—330, August 1911), für das Werk »Untergang der Welt durch schwarze Magie« verfasst im Mai 1917

Zwischen den Lebensrichtungen

Nicht die Feststellung der unerheblichen Tatsache, dass die Schrift »Heine und die Folgen« neben der Verbreitung durch die Fackel nun doch im siebenten Jahr bei der dritten Auflage hält, erfordert die Ergänzung. Ein anderes sei nachgetragen, das gleichfalls, indem es scheinbar berichtigt, einer tieferen Betrachtung erst die Richtigkeit zu erkennen gibt. Alles, was hier und in allen Kapiteln über den Lebensverlust des heutigen Lebens und den Sprachverrat deutscher Menschheit gesagt ist, hat die gedankliche Spur, die bis zum Rand dieses Krieges führt, der meine Wahrheit auch zur Klarheit gemacht hat. Nur dort bedarfs eigener Klarstellung, wo gerade der Drang, der Maschine zu entrinnen, einer schon völlig entmenschten Zone den Vorzug vor jenem Schönheitswesen gab, das dem unaufhaltsamen Fortschritt noch weglagernde Trümmer von Menschentum entgegensetzte. In den späterhin geschriebenen Aphorismen ist die zum Krieg aufgebrochene Antithese zugunsten eben jener Lebensform entschieden, als einer, welche die Sehnsucht nach Leben und Form hatte und eben um solcher Sehnsucht, um eines selbstretterischen Instinktes willen, die Notwehr gegen die Tyrannei einer wertlosen Zweckhaftigkeit auf sich nehmen sollte, gemäß der das Leben Fertigware ist und die Kultur die Aufmachung. Demnach muss die Frage, »in welcher Hölle der Künstler gebraten sein will«, abdanken vor der zwingenden Entscheidung, dass der Mensch in dieser Hölle nicht gebraten sein will, durch die richtende Erkenntnis des Künstlers selbst, der nun nicht mehr das Recht und nicht mehr die Möglichkeit hat, die sichere Abschließung seines Innern zu suchen, sondern nur noch die Pflicht, zu sehen, welche Partie der Menschheit gleich ihm um die Erhaltung solchen Glückes kämpft und gegen den Zwang einer Lebensanschauung, die aus dem Leben alle Triebe gepresst hat, um es einzig dem Betrieb zu erhalten. Dass es aber jene Regionen sind, von deren Wesensart in ruhiger Zeit die Störung kam, darüber sich einem Zweifel hinzugeben, wäre Kriegsverrat an der Natur, die sich der Maschine erwehrt. Sie tut’s, und tue sie’s auch mit Hilfe der Maschine, dem Künstler gleich, der das Vehikel der Zeit nicht verschmäht hat, um ihr zu sich zu entfliehen. Er bejaht vor der Unvollkommenheit des Lebens den Lebensersatz und vor den halben Individualitäten das System des ganzen patentierten Persönlichkeitsersparers. Der sich der Maschine bedient, gewinnt in dem Maße, als sie alle verlieren, die die Maschine bedienen. Denn diese macht den Menschen nicht frei, sondern zu ihrem Knecht, sie bringt ihn nicht zu ihm selbst, sondern unter die Kanone. Der Gedanke aber, der nicht wie die Macht eine »Neuorientierung« braucht, um sich am Ruder wieder zu finden, weiß: Er schuf sich nur den Notausgang aus dem Chaos des Friedens, und was an der Wertverteilung »deutsch-romanisch« widerspruchsvoll schien, war nur der Widerspruch des neuen Daseins gegen sich selbst, der heute ereignishaft seine Lösung erfährt. Die Auffassung, die den »Lazzaroni als Kulturideal neben dem deutschen  Schutzmann« scheinbar nicht gelten lassen wollte, sie bestätigte ihn darin mehr als jene, die es — im Sinne des »Malerischen« — wollten und die die eigentlichen Deutschen sind. Das Wort vom »Schönheitsgesindel zwischen Paris und Palermo« mag auf jene Hunnenhorde der Bildung zurückfallen, die an der Verwandlung von Lebenswerten in Sehenswürdigkeiten schuld ist. Was hier von der Sprache und dem Menschen gedacht war, ist dem Typus, der tieferer Zwecklosigkeit nachhangend in der Sonne lungern kann, blutsverwandter als dem unerträglichen Eroberer eines Platzes an der Sonne, dessen Geistesart es freilich entsprochen hat, ein bunteres Dasein ornamental zu entehren und damit den Untergang zu beschönigen. In jenem Goethe’schen Sinne, der die basaltfreie Ordnung und Zweckhaftigkeit wahrlich nur zu dem höheren Zwecke will, um ungestörter die Schlösser und Wunder der Seele zu betreuen, musste ich die Umgebung solches Warenpacks vorziehen, weil es die besten Instrumente abgab, um sich Ruhe vor einer lärmvollen Welt zu schaffen, in der sie, nur weil sie keine Menschen mehr waren, selbst nicht mehr stören konnten. Aber die andern taten es, weil sie’s halb waren. Es war mir einst zu wenig, und jetzt ist es doch so viel. Und an dieses Problem, in welchem ganz ähnlich auch die Antithese Berlin-Wien zu Gunsten Wiens bereinigt wird, wirft der Zusammenbruch noch die Erkenntnis, dass gerade in der Sphäre der Lebensmechanik der ganze Widerspruch selbst enthalten war. Dass es nicht allein um »deutsch-romanisch«, sondern um »deutsch-weltlich« geht, zeigt sich, indem die bunte Welt auf Farbe dringt. Amerika, das es besser, nein am besten hat, und die Welt der alten Formen vereinigen sich, um mit einem Kunterbunt fertig zu werden, das von dort die Sachlichkeit, von da die Schönheit zusammenrafft und immerzu in der tödlichen Verbindung von Ware und Wert, in der furchtbaren Verwendung der alten Embleme für die neuen Realien durchzuhalten hofft. Der Angelsachse schützt seinen Zweck, der Romane seine Form gegen den Mischmasch, der das Mittel zum Zweck macht und die Form zum Mittel. Da hier die Kunst nur Aufmachung ist; da diese Sachlichkeit, diese Ordnung, diese Fähigkeit zum Instrument einem auf Schritt und Tritt den Verlust an Menschentum offenbart, den es gekostet hat, um ein so entleertes Leben dem Volkstum zu erringen; da es selbst die Oberflächenwerte, für die alle Seelentiefe und alle Heiligkeit deutschen Sprachwerts preisgegeben wurde, im Zusammenstoß der Lebensrichtungen nicht mehr gibt; da der Deutsche eben doch kein Amerikaner war, sondern nur ein Amerikaner mit Basalten: so taugt der Zustand nicht mehr zum Ausgangspunkt der Phantasie. Weil sie Geist und Gott und Gift benützen, um das Geld zu erraffen, so wendet sich eben jene von der entmenschten Zone einem Schönheitswesen zu, das gegen den unerbittlichen Lauf der Zeit seine Trümmer verteidigt. Auf der Flucht aus ihr habe ich Unrecht tun müssen. Die Partei der  Menschenwürde habe ich nie verleugnet und jetzt, wo, ach, der Standpunkt erreicht ist, sie nehmen zu können, habe ich dem Weltgeist nichts abzubitten als die Schuld, in solcher Zeit geboren zu sein, und den wang, sichs auf der Flucht häuslich einzurichten.


Notizen zur Zeit. Was ist Kunst ? Von W.K. Nordenham

05. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Kunst

Was ist Kunst?  Von W.K. Nordenham

Kunst ist das Geheimnis der Geburt des alten Wortes. Der Nachahmer ist informiert und weiß darum nicht, dass es ein Geheimnis gibt.

Karl Kraus   Nachts

Kunst ist das, was Welt wird, nicht, was Welt ist.

Karl Kraus    Pro Domo Et Mundo

Die Frage, ob ein denkender und sehender Mensch Kunstausstellungen oder Museen  besuchen soll, ist müßig, weil Verneinung den Verlust  dessen nach sich zieht, was Sehen und Denken befördert. Was der Fragende  als Antwort erhoffen könnte, wäre bestenfalls die allgemeine Erklärung, dass ein Mensch seiner Liebe zur Kunst nolens-volens zu folgen hätte oder sich mit Entsagung bestrafte. Er würde sich also aufmachen und nach dieser, seiner Liebe suchen, welche er sehr gut kennen muss, um sich nicht unversehens von flüchtiger Verliebtheit täuschen zu lassen. Die Fallstricke der Verführung liegen wie ein unsichtbares Netz über den Ausstellungshallen dieser Welt und verlangen mehr den besonnenen Genießer als den feurigen Liebhaber, der allein der subjektiven Empfindung ausgeliefert,  den sicheren Grund jedes annähernd objektiven Maßstabs verliert.

Nun helfen Adjektive wie subjektiv und objektiv in der Kunst nicht allzu viel, wenn das offizielle Kunstverständnis jegliche Ordnung ablehnt, deren Verlust schon Picasso als  „gefährlichen Nachteil“ gewürdigt hat. Dessen ungeachtet wird ein jeder für sich die Grenze markieren, was seinem Begriff nach als Kunst zu gelten habe, und was über diesen hinausreicht oder ihm zuwiderläuft. Dies gilt für die Künstler selbst, die Galeristen, Kritiker und sogenannte Sachverständige. Ohne Definition kommt offenbar niemand aus. Die äußerste Grenzziehung hat Josef Beuys vorgenommen, mehr als Denker, denn als Schaffender. Unbeschadet aller Anfechtungen kommt ihm das Verdienst zu, das Erkennbare mit den Mitteln äußerster Abstraktion, d. h.  der Rückführung auf das Schöpfungsbedingte, Wesentliche, sichtbar zu gemacht zu haben, in Wort und in Bild. Beuys war Aphoristiker seiner selbst in Zeichnung und Skulptur. Leider gelang es ihm nicht ausreichend, seine Distanz zum L´art pour l´art zu formulieren. Vielleicht war es diesem Weltgeist auch nicht gegeben eine Einschränkung anzunehmen, weil  für ihn und sein Werk keine bestand. L´art pour l´art besagt ja auch nicht grundsätzlich etwas gegen Kunst, wohl aber gegen Wesentlichkeit. Wesentlich sein zu wollen, aber ist die mindeste Forderung, die ein Künstler an sich zu stellen hat, als einzige Vorgabe, unverhandelbar und kompromisslos. Denn Kunst verträgt keine Kompromisse ohne sich zu kompromittieren, und wer sie macht, wird gewogen und für zu leicht befunden werden. Zum Glück ist die Waage nicht in den Händen der Kritiker, auch nicht in den Händen der Galeristen, die anders als der Künstler dem Zeitgeist verpflichtet sind oder sich am Markt orientieren müssen. Die Kunst hat nur eine Verpflichtung,  Wahrheit – und  eine Bedingung,  Freiheit. Es hat nur eine Richtung zu geben – von der Wahrheit zur Wahrheit. Allein die Absicht entscheidet.

Nichts ist der Kunst ferner als tumbe Hinnahme aller Existenz, nichts ist ihr näher als  bleibende Verwunderung über die Dinge und die Frage nach dem „warum“. Der schöpfende Geist befindet sich gleichsam in einer Umlaufbahn zu jenem Zentrum, in welchem  die Auflösung des universalen Rätsels, nach dem Sinn aller Existenz und die Vollendung in der  Erkenntnis, beschlossen ist. Hier findet sich der Ursprung, an dem es laut Karl Kraus kein Plagiat gibt. Man kann sich von allen Seiten nähern, jeder mit seiner Sicht, aber man bleibt in menschlicher Sphäre gebunden. Dies ist der Grund für die ungeheure Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks, die das für uns Erkennbare  des Rätsels jedoch zugänglich macht. Nur wer darum weiß und sich bis dahin  gemüht hat, kann wie Sokrates behaupten, nichts zu wissen. Wer den Weg  glaubt versäumen zu dürfen, wird manchen Gedanken, der soeben zur Plattitüde taugt, zum Aphorismus stilisieren wollen. Er darf sich des Beifalls derer, die mit ihm zurückgeblieben sind, gewiss sein. Die gilt auch und zunehmend für Kunst.

Ich spreche also nicht für die Plagiatoren oder Jünger, die den Weg der  Meister soeben nachstolpern. Die Rede ist vom unabhängig denkenden, schöpferischen Menschen, der sich aufmacht, auf der Basis des Erkennbaren, seinen Weg zu suchen. Dieser Künstler ist nicht zu begreifen als ein Orakel, dessen spirituelle Heimat ein olympischer Apollo nebulös umfängt, sondern als Seher eines metaphysischen Eldorado. Vonnöten ist Intuition und Wissen, auch um das Handwerk, sei es Material, wie Farbe, Metall, Stein, Holz oder  Wort und Musik. Kunst sucht  Antworten auf die Frage nach dem >woher< und >wohin< und berichtet vom verschütteten Ursprung. Kunst eröffnet uns den einzig verbürgten Zugang zur Erinnerung an diesen Ort, und so wird der Künstler zum Bürgen des Urgeistes, nach dem ein verzweifelter Faust rief, indem er dessen Versprechen von Freiheit und Wahrheit erneuert. Nur wer aus dieser Quelle schöpft, hat ernstgenommen zu werden und Anspruch auf Gehör. Der Weg bis dahin erfordert äußerste Wahrhaftigkeit und Selbstdisziplin. Er heißt Selbsterkenntnis und hat sich nicht mit ästhetischem Schnickschnack aufzuhalten, welcher sich an der Gefälligkeit des Augenblicks orientiert. Ob nämlich Kunst gefällt, ist ohne jeden Belang. Auch Provokation kann unter diesem Aspekt  nur Zufall sein und nicht Absicht, weil Provokation  in der Kunst immer vom Betrachter ausgeht, der sich provoziert fühlt. Wer würde sich zum Beispiel heute einen Skandal um Rembrandt, Goya, Manet oder Van Gogh vorstellen können?  Will ein Künstler primär  oder nur Provokation, so lenkt er sich und den Betrachter ab, indem er das Bleibende dem ästhetischen Effekt opfert. Kunst, nur um der Provokation willen, entspricht der Zeitungsschlagzeile, die den nächsten Morgen nicht überdauert.

Seit Anbeginn haben sich die Künstler aller Kunstgattungen an ihrer Wahrhaftigkeit messen lassen müssen, wollten sie eine gültige Aussage über ihre Zeit und über sie hinaus machen. Sie stellten Fragen, die später zu Antworten wurden. Kunst, als Refugium  aller persönlichen und universalen Freiheit, erlaubt den Blick über das Denkbare hinaus auf das Unbekannte, Fühlbare, Unfassbare, welches im Werk gezeigt, die Grenze des Möglichen neu bestimmt und damit die Speerspitze der Erkenntnis für ihre Zeit darstellt. Die Künstler, denen dieses Kunststück gelang, gelten über die Jahrtausende hinweg als die Großen.

Daraus erklärt sich, warum ein Mensch in der Kunst scheitern muss, der heute noch einmal wie Leonardo oder Raffael malen wollte. Er würde eine alte Wahrheit gleichwertig wiedergeben und wäre Plagiator. Wer auf altem Wege als zweiter kommt, hat bestenfalls die Möglichkeit, die bereits gefundene Wahrheit auszuschmücken, zu erweitern, zu interpretieren, aber er bliebe ein Nachahmer.  Wer denselben Weg bewusst noch einmal gehen will, mag es tun, jedoch mit rein individueller Gültigkeit. Zum Wegweiser wird er nicht mehr taugen. Es gäbe nur eine Chance, dass er denselben alten Gedanken vom Ursprung her neu dächte für seine Zeit. So viele Wegweiser, so wenig Weise am Wege; wo sie Künstler sein wollten, sind sie zu Handwerkern geworden!

Wenn Kunst keine Richtung hat, dann hat Gesellschaft auch keine. So scheint mir  die gegenwärtige Beliebigkeit der Kunstszene ein zuverlässiger Messwert für den Zustand einer Gesellschaft, die den Menschen zum Produkt ihrer selbst zu machen droht. Der Mensch, also auch der Künstler, wird zu einer abhängigen Größe. Je weniger sich ein Mensch aber ähnelt, desto besser funktioniert er. So schafft die entstellteste Gesellschaft das höchste Bruttosozialprodukt. Nicht mehr als dies hat Josef Beuys uns vor Augen gehalten. Längst kaufen ihn sogar diejenigen, die seine Ideen, seine Werke und am liebsten ihn  für verrückt erklärt und verbannt gesehen hätten.

Wenn die Wörter ihre Bedeutung verlieren, verlieren die  Menschen ihre Freiheit. Das kann man nicht oft genug wieder holen. Diesem Satz von Konfuzius ist  hinzuzufügen, dass der Untergang der Kunst das Ende des Menschen einläutete. Die ewige Frage der Kunst bleibt unverändert. Früher  wurde sie von den Philosophen beantwortet. In unserer Moderne mit dem Universalheilmittel Wirtschaft, überlegt man die Geisteswissenschaften abzuschaffen, mangels Effizienz. So führt der Primat von Wirtschaft und Politik zwangsweise irgendwann zum Menschen als Primaten. Deshalb hat Kunst heute auch einen Auftrag der  Philosophie, nämlich die Bewahrung und Demonstration der menschlichen Identität. Sind doch beide, Kunst und Wort, jener Ewigkeit entliehen, der alle Existenz entstammt. Das Geheimnis dieser Existenz gleicht dem Geheimnis der Kunst, dessen völlige Aufdeckung so unmöglich ist wie die Notwendigkeit ihm nachzuspüren. Solange irgendwo auf der Welt  ein Künstler diesen Auftrag annimmt, bleiben Kunst und Wort und Mensch bewahrt.

Doch während der Künstler sich noch als Hammer wähnt, läuft er Gefahr zum Amboss zu werden. Zu allen Zeiten hat Politik versucht, sich das ihr wesensfremde Refugium künstlerischer Freiheit einzuverleiben, um einen gemeinen, kontrollierten Verfügungsraum  daraus zu machen und sei es im Nachhinein. Wie schon gesagt, hat Kunst nur eine Verpflichtung: Wahrheit, und eine Bedingung: Freiheit. Das meint Loslösung von jeder gesellschaftlichen Fessel. Wenn nichts mehr zwingt, dann entsteht die Bedingung für Kunst. Joseph Beuys hat  das in einem Vortrag auf der Documenta formuliert und „Die Liebe zur Sache“ als treibendes Agens herausgehoben.  Der Betrachter muss also sehr weit gehen, wenn er sich nähern will. Das führt dann zu verfrühter Ablehnung, häufiger noch verfrühter Zustimmung. Wenn ein Kunstwerk einen wahren Gedanken trifft, dann ist letztendlich nur wichtig, dass es diesen Gedanken gibt, wie etwa dem Urwaldriesen mitten im Amazonasbecken, dessen Wipfel noch niemand geschaut hat. Er gibt ihn! Das Urteil darüber ist unwichtig.

Über das Wesen der Kunst ist viel Widersprüchliches geschrieben worden. Sie lässt sich auch nicht mit einer schlichten Metapher erklären. Kunst spricht selbst, und es ist  über sie nichts zu sagen, als Überflüssiges. Wer Kunst liebt, der liebt Freiheit, die ohne Absicht einfach „ist“. So bleibt Kunst im eigentlichen Sinne, was sie immer war: existentielle Notwendigkeit. Kunst will nicht verstanden, sie kann nur erfühlt werden, wie die Schönheit eines Steines, eines Regentropfens, eines Sonnenstrahls, eines Halmes, wie das Heulen des Windes, die vollendete Zeile eines Gedichts, wie die Stille der Nacht. Wenn sie erklärt werden soll, dann ist es mit ihr vorbei, wie mit einem Witz dessen Pointe erklärt werden muss. Kunst hat eine ganz eigene Pointe, dem Schöpferischen unmittelbar verwandt, und so ist Kunst dem Wesen nach, andersherum verstanden, ein Witz, über den ein Gott lacht.