Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen aus Medienland- Ein Grubenhund wird unruhig. November 1911

25. Oktober 2011 | Kategorie: Grubenhund, Notizen aus Medienland

Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911  erfunden und apostrophierte Erfundenes danach mit dem Wort „Grubenhund“. Heute würde man „Zeitungsente“ sagen. Aber Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.  Folgende  Satire, die natürlich kompletter Unsinn war, sandte er an die Presse, um zu beweisen, dass man alles veröffentlicht, wenn es nur verrückt genug ist. Es wurde  genau so  abgedruckt. Im Nachspann folgt das Echo auf eine Vorlesung des „Grubenhundes“.

DIE FACKEL Nr. 336—337 23. NOVEMBER 1911 XIII. JAHR   S. 4-6

Der Grubenhund

Neue Freie Presse vom 18. November: (»Die Wirkungen des Bebens im Ostrauer Kohlenrevier.«)

Von Herrn Dr. Ing. Erich R. v. Winkler, Assistenten der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke, erhalten wir  folgende Zuschrift:

»Gestatten Sie, dass ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Beobachtung lenke, die ich, dank einem  glücklichen Zufall, gestern abends zu machen in der Lage war und die durch Veröffentlichung in Ihrem hochangesehenen Blatte auch außerhalb unseres Vaterlandes hohe Beachtung aller technischen und speziell montanistischen Kreise finden dürfte.

Da ich gestern abends mit dem Nachtzuge nach Wien fahren musste, so benützte ich die vorgerückte Stunde, um noch einige dringende Arbeiten in unserer Versuchsanstalt zu erledigen. Ich saß allein im Kompressorenraum, als — es war genau 10 Uhr 27 Minuten — der große 400pferdekräftige Kompressor, der den Elektromotor für die Dampfüberhitzer speist, eine auffällige Varietät der Spannung aufzuweisen begann. Da diese Erscheinung oft mit seismischen Störungen zusammenhängt, so kuppelte ich sofort den Zentrifugalregulator aus und konnte neben zwei deutlich wahrnehmbaren Longitudinalstößen einen heftigen Ausschlag (0·4 Prozent) an der rechten Keilnut konstatieren. Nach zirka 55 Sekunden erfolgte ein weit heftigerer Stoß, der eine Verschiebung des Hochdruckzylinders an der Dynamomaschine bedingte, und zwar derart heftig, dass die Spannung im Transformator auf 4·7 Atmosphären zurückging, wodurch zwei Schaufeln der Parson-Turbine starke Deformationen aufwiesen und sofort durch Stellringe ausgewechselt werden mussten.

Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, dass mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab. Ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit anzuregen, ob es im Interesse der Sicherheit in Bergwerken nicht doch angezeigt wäre, die schon längst in Vergessenheit geratene Verordnung der königlichen Berginspektion Kattowitz vom Jahre 1891 wieder in Erinnerung zu bringen, die besagt, dass:

» …in Fällen von tektonischen Erdbeben die Auspuffleitungen aller Turbinen und Dynamos stets zur Gänze an die Wetterschächte derart anzuschließen sind, dass die explosiblen Grubengase selbst bei größtem Druck nicht auf die Höhe der Lampenkammer gelangen können. «

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Dr. P. H. Vorlesung Karl Kraus. Es kam so wie im verflossenen Jahre, als er zum ersten Male in Brünn las. Wer zum ersten Male hinging in Erwartung eines literarischen Ereignisses, der kam zurück von einem persönlichen Erlebnisse. Das ist kein Vorlesertisch, kein Vortragspodium. Es ist eine Bühne, auf der der Autor uns seine Werke vorspielt. Darum die spanische Wand, das Fehlen der üblichen Wasserflasche, die Verdunkelung des Saales — bühnenmäßige Technik. Das Organ des Künstlers ist bewunderungswürdig. Alle Laute des Lebens scheint sein Ohr erlauscht, sein Gedächtnis registriert zu haben. Alle Töne — das Kreischen des schachernden Händlers, der dumpfe Bierbaß eines Wiener Pülchers, das Säuseln des reichsdeutschen Ästheten, der monotone Ruf des französischen Zeitungsverkäufers, der entsetzte Schrei: »Feuer!« — scheint diese Stimme zu beherrschen, jede Möglichkeit des Ausdrucks scheint diese Sprache zu kennen. Die linke Hand hängt herab, die Rechte liegt zitternd auf der Stuhllehne und lauert auf den Augenblick, in welchem sie tätig teilnehmen kann an der Verkörperung eines Gedankens. Dann greift sie würgend nach der Kehle des Feindes, rüttelt an den morschen Fundamenten unserer Scheinkultur, wirbelt die lächerlichen Erscheinungen des Lebens durcheinander. In solchen Momenten muß man erkennen, dass in diesen Schöpfungen Gedanke und Anschauung, Bild und Wort eines sind. Dass diese Darstellung den Gipfel der Ausdrucksmöglichkeit erreicht, den einzig möglichen und endgültigen Ausdruck gefunden hat. Bei der Lektüre kann man’s übersehen, beim Vortrage aber wird es jedem klar, daß Karl Kraus vor allem Künstler ist, nicht Satiriker. Karl Kraus las ein völlig anderes Programm als im Vorjahre. Diesmal kamen die Satiren: Von den Gesichtern, Die Malerischen, Reformen, Das Erdbeben, sämtliche aus dem Buche: Die chinesische Mauer, sowie die in der ‚Fackel‘ erschienene Satire: Der Traum ein Wiener Leben, ferner zahlreiche Glossen und Aphorismen zum Vortrage. Die Vorlesung dauerte volle drei Stunden. Trotzdem wurde Karl Kraus durch tosenden Beifall zu einer letzten Zugabe gezwungen und las die Glosse: Der Grubenhund, die inzwischen in der ‚Fackel‘ erschien. Bei der Vorlesung der Zuschrift des Dr. Ing. Erich Ritter v. Winkler brach ein derartiger Lachsturm los, dass sogar der Vorleser angesteckt wurde und mehrmals unterbrechen mußte. — Hoffentlich bestätigt sich das Gerücht, die Neue akademische Vereinigung, der wir für diesen Abend großen Dank schuldig sind, werde uns Karl Kraus noch in dieser Saison als Vorleser fremder Werke (Liliencron, Wedekind, Peter Altenberg und andere) an einem Autorenabend hören lassen.