Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Der Versuch. Von W.K. Nordenham

09. September 2011 | Kategorie: Sprache, Versuch

Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung  kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.

Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist.

K a r l    K r a u s

 

Der Versuch. Von W.K. Nordenham

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DIE FACKEL Nr. 404 5. DEZEMBER 1914 XVI. JAHR . Von Karl Kraus.

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In dieser großen Zeit

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muss das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!                                                                                                 ( Beginn der ersten Vorlesung im Kriege vom 19.11. 1914, veröffentlicht am 5.12.1914 in „Die Fackel“  )

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So sprach Karl Kraus zum Ausbruch  des 1. Weltkrieges im Jahre 1914, der ersten als groß wahrgenommenen Apokalypse, der zweiten Walpurgisnacht. Wie aktuell klingen seine Worte! Nach unzähligen weiteren großen und kleinen Apokalypsen an allen Ecken und Enden der Erde, mit weitaus mehr Toten als in  beiden Weltkriegen zusammen, angesichts  der Tatsache, dass es überall und immer genug Waffen für Hungerleider gibt, die mit diesen die Auspressung ihrer Mitmenschen planen, durch deren Elend oder Tod sodann die Bezahlung der Mordinstrumente erfolgen muss, deren Enderlös eine Bank irgendwo auf der Welt  als Gewinn für wen auch immer verbucht, angesichts dieser Tatsache muss laut geschwiegen werden.  Haben Krieg und Vernichtung von Menschen  aufgehört? Hat der heutige Leser an Karl Kraus Beurteilung Wesentliches zu ändern? Allenfalls eines, dass wir uns heute das, was noch gestern unmöglich schien, zehn Jahre nach dem 11.9.2001 vorstellen können,  weil es gerade wieder in Afghanistan, Irak, Somalia, in Syrien oder im Sudan und vor unserer Haustür geschieht, zu welchem verlogenen Zweck auch immer.

Der Zweck heiligt die Mittel nicht, der Sinn heiligt sie. Einhundertund- siebenunddreißig Jahre nach Karl Kraus´ Geburt und  fünfundsiebzig Jahre nach seinem Tod erneut ein Rotes Heft zu beginnen, erscheint so unmöglich wie notwendig. Die Unmöglichkeit ist beglaubigt durch das Vorbild Karl Kraus. Die Notwendigkeit dazu ersteht täglich neu aus der Wahrnehmung einer Zivilisation, die alle Erwartungen in ihr vollständiges Versagen erfüllt. Von Menschlichkeit führt der Weg über Humanität auf gerader Linie zur reinen Publizität. Öffentlich sei der Mensch, mediengläubig und manipulierbar. Je unüberschaubarer die Masse sinnentleerter Daten, je undurchdringlicher das Labyrinth von Information und Desinformation, desto sicherer verfällt der hominide Nachrichtenmüllschlucker dem Rattenfänger, welcher in Euro und Cent, an Hand von Umsätzen, Auflagen und Einschaltprozenten, den Gewinn misst, der mit der Zeit, dem Leben und Blut immer der anderen erlöst wird. Der Mensch und das Wort werden benutzt, wo sie  gebraucht würden, und das Benutzen hinterlässt die Fingerabdrücke ungezählter Medienwichte, die mit Wortnebel einhüllen, mit Sensationsbildern nichts wirklich zeigen und mit Schlagzeilen erschlagen. Im Bedeutungsrausch torkelnde Talker sondern Vacuumsätze ab und lassen in der Medienwelt herumgöbeln, dass man mit dem Entsorgen nicht nachkommt. Sie wähnen sich witzig, aber es ist nur der  Wahnwitz. Grundsätzlich Kritisches, ein wahrhaftes Infragestellen, welches nachhaltige Folgen schlimmstenfalls ins Sinnhafte haben könnte, findet schon deshalb nicht statt, weil es die Abschaffung der meisten Medienformate nach sich ziehen müsste. Der gelegentlich  gehobene Alibizeigefinger landet zuverlässig, weil ohne Rat und Richtung, als Geste für das, was sein sollte, aber nicht sein darf oder kann, zielsicher und verlegen, bestenfalls im Nasenloch.  Das soll diese Seite, seit 10 Jahren geplant, als Versuch ändern, wohl wissend, dass es nichts nützen wird. Denn im Zeitalter des Internet stellt sich durch dieses eine Vervielfältigung des Gemeinen ein, der nolens-volens nur in ihm begegnet werden kann. Ich bin mir bei aller Bemühung schmerzlich bewusst,dass ich aus der Not eine Tugend mache, und obwohl ich mich auch tugendhaft glaube,was den Sinn angeht, handele ich doch insofern aus Not, weil meine Mittel zu reinem Umgang mit der Sprache  nicht ausreichen, um Karl Kraus Genüge zu tun. Daher wird es vorkommen, dass  die Form den Inhalt  mehr bestimmt als sie ihm diente und sie nicht sie zusammengehören „wie Seele und Leib“.

Wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren, dann verlieren die Menschen ihre Freiheit, sagt Konfuzius. Angesichts einer vielstelligen Anzahl von Fernsehsendern und ungezählten bunten Blättern darf der Verlust der Freiheit für die Mehrzahl der Konsumenten bei maximaler Freizügigkeit als eingetretenes Phänomen betrachtet werden. Der Konsument ist  längst zum  Kon-Sumo mutiert, ein Vielfraß in jeder Beziehung. Wird dem Konsumenten noch eine scheinbare Wahl gelassen, greift der multimedial gleichgeschaltete Konsumo willig nach allem, was man ihm hinhält. Mit programmatisch eingetretenem Schädel lauscht er dem Singsang der Worthülsen, der schon deshalb keine Sphärenmusik sein kann, weil ihn jeder hört und zwar ununterbrochen und überall.  Eine Unterhaltungsindustrie, deren Zweck vor allem darin besteht, den Unterhalt der Eigner und weniger Nutznießer zu erhalten, martert selbst noch die dümmste Phrase zu Tode und opfert ohne Skrupel für eine “traumhafte” Einschaltquote den Anspruch auf  jeden messbaren Intelligenzquotienten. Die Massenakzeptanz mutiert zur Qualitätsgarantie, so als wollte man  Toilettenpapier zum  bedeutendsten Papiererzeugnis erklären. Mit einer Boulevardzeitung in der Hand wird der Vergleich zwar plausibel, aber man zieht das Toilettenpapier vor. Das Ergebnis für den Konsumo debilis ist nicht traumhaft sondern traumatisch. Das Wort aber gehörte in keinen Verfügungsraum. Es müsste freundlich mit ihm umgegangen werden, und Freunde benutzt man nicht. Fehlte uns die Sprache, verflachten wir seelisch wie weiland ein Kaspar Hauser, ohne aber dessen Empfindsamkeit bewahrt zu haben. Wer die Freude zum Jauchzen bringt, erlebt im Worte das Vergnügen, ebenso wie der, welcher der Not, der Verzweiflung und Trauer sogar Freude abzugewinnen vermag, wie Hölderlin im Epigramm „Sophokles“:

Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen, Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.

Und welche Kontemplation erlaubt eine Ruhe über den Gipfeln?  Wer solches Gedicht für banal hält, überstellt es dem Journalismus, der nur dem Tag huldigt, während  es doch  jener Ewigkeit entliehen ist, der die Sprache entstammt.

Das Abgenutzteste, Geschundenste dieser Wörter heißt “Verantwortung”, dessen Bedeutung sich in das Gegenteil verkehrt hat. Ein Rotes Heft übernahm vor einhundertundzwölf Jahren die Verantwortung für Inhalt, Absicht und Folgen. Heutzugtage  „tragen“ alle immer und überall Verantwortung,  ohne sie  im Ernstfall   übernehmen zu wollen. Sie haben sie nicht, sie tragen ja nur. Aber wohin? Wo wird Verantwortung von den Trägern abgelegt und entsorgt?  Auf die direkte Frage, wer sie habe,  findet sich niemand, der sie vor kurzem noch pfaulich herumtrug. Sie trägt sich halt so dekorativ. Politiker tragen sie am überzeugendsten und besonders gern für alles, wofür man sie nicht direkt belangen kann, Firmenchefs für Entlassungen nach Rekordgewinn und zur Sicherung immer wieder der Arbeitsplätze, die mobilen Geschäftemacher vom unehrlichen Makler bis zum Waffenhändler tragen sie für das, was sonst eben ein “Anderer” machen würde, und letztendlich tragen sie mordbrennende Fanatiker im Namen einer beliebigen Ideologie, die mit der Idee nichts gemein hat als nur den Anfangsbuchstaben und die Gemeinheit. Ohne Publizität fände ein bedeutender Teil dieser Schandtaten nicht statt, weil sie für die Publizität begangen werden, welche die ephemeren Medien  im ständigen Kreislauf   herstellen und damit  verursachen, worüber sie lediglich zu informieren vorgeben. Denn Angst vor Öffentlichkeit hindert eben jene nicht, die erst durch Öffentlichkeit zu ihrem jämmerlichen Leben erweckt werden, sei es für einen Monat, eine Woche oder nur für einen Tag. Die Prämissen der Umsatzintellektuellen verlangen den Rauch auch ohne Feuer. Die daraus resultierende Untergang des Geistigen wird von Boulevardpresse und Buntbildsendern als Possenspiel mit Kultstatus inszeniert. Jede Belanglosigkeit wird zur Schlagzeile aufgeblasen, mit der auf die sogenannten Konsumenten eingedroschen wird, bis die Schädeldecke allein zur Hohlraumversiegelung taugt. Dafür übernehmen Wirtschaft und Staat uneingeschränkt eine folgenlose Verantwortung; denn: Wer schränkte sie ein? Der mündliche, also laute Bürger bestenfalls, der demonstrativ die Freiheit einfordert, die ein Grundgesetz verspricht, welchem aus Staatsraison bei Bedarf der Gummiknüppel zugeordnet wird. Ob sich die Hüter der Ordnung dann noch als solche verstehen dürfen, wäre nicht die Frage, wenn – ja, wenn der Sinn die Mittel heiligte und nicht der Zweck.

Als sich der arbiter linguae Karl Kraus mit der Fackel aufmachte, um die Welt mit der Sprache zu erleuchten und der kollektiven Dummheit ein Licht aufzusetzen, war klar, dass es nicht darum gehen konnte die Welt zu verändern, sondern zu beschreiben, dass sie untergeht, wie Kjerkegard folgerte. Karl Kraus oft verzweifelte Trauer über den unausweichlich sich fortsetzenden freien Fall der Menschheit und seine kompromisslose Menschlichkeit  sichern ihm bis dato  den Status des glaubhaftesten Analytikers einer Zeit, die seine war und unsere ist. Er starb vor fünfundsiebzig Jahren und wird mit jedem Jahr lebendiger. Die hier vorliegende Internetseite hat die Absicht ein Forum für jene zu sein, denen die Flüchtigkeit so fern ist wie das Bleibende nah, mit jenem Rest an Hoffnung, der den Versuch rechtfertigt. Dabei werden vor allem etliche Texte aus “Die Fackel” erscheinen, welche durch die erneute Veröffentlichung ihre Aktualität nachweisen.

Sprache altert nicht. Die neue Rechtschreibung wird, soweit erkennbar nötig, übernommen. Fußnoten werden ggf. für zeitgenössische Leser hinzugefügt. Aber es werden auch andere Autoren zu Wort kommen, die  über die Zeit sprechen, über sie Zeit hinausreichen oder sie beschreiben, wenn sie sich des Wortes annehmen. Karl Kraus korrigierte immer bis auf den letzten Beistrich. Das wird mir nicht fehlerfrei gelingen, weshalb Korrekturempfehlungen erwünscht sind und laufend vorgenommen werden. Das Wort soll beim Wort genommen werden. Ich wohne nicht als Epigone im alten Haus der Sprache, aber ich suche den Weg dorthin, auf welchen weit, weit vorn die Fackel aufleuchtet. Walter Benjamin fand nichts trostloser als Kraus`Adepten. Das muss ich auf mich nehmen. Es ist weder Ziel noch Absicht, zu schreiben wie Karl Kraus, sondern nach Karl Kraus, weil jeder mir gelungen erscheinende Satz immer noch meilenweit  hinter seiner Vorgabe zurückbleiben muss. So kann ich nur versuchen, den seit seinem Tod täglich zunehmenden Leerraum in der Medienwelt durch das Echo seiner Zeilen, meiner Kommentare und hoffentlich bemerkenswerter Beiträge außerordentlicher Zeitgenossen, im Laufe der Zeit, wenn schon nicht kleiner, so doch bewusst zu machen. Aber einer musste anfangen, wenigstens das Pfand für das ungenießbare mediale Sprachleergut einzufordern. Der Name „Das Rote Heft“ formuliert zudem einen Anspruch, dem auch ein Besserer als ich nicht gewachsen wäre. Dem längst erhobenen Vorwurf  von Leuten – die Karl Kraus aus Selbstschutz oder Hybris nie zu lesen wagten -, das sei eine Nummer zu groß für mich, kann ich gelassen begegnen: Mindestens Zwei!  Deshalb werde ich die Fähigkeiten moderner Elektronik schamlos nutzen, um das Geschriebene zu überprüfen, zu korrigieren, zu ergänzen oder zu kürzen, damit ich vielleicht irgendwann so nahe an das Wort herankomme wie eben möglich.Vor der Unendlichkeit der Sprache wird an dieser Stelle von vornherein die Unzulänglichkeit sowohl vor ihr als auch vor Karl Kraus eingestanden. Beide bitte ich um Nachsicht.