Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Geld oder Leben (3). von W.K. Nordenham

29. August 2012 | Kategorie: Artikel

Es lässt mich nicht los.

Hier geht es wieder um Geld:

Frankfurter Rundschau 23. April 2012

Fünf Jahre Haft Landkreisbeamtin veruntreut 500.000 Euro

Fünf Jahre Haft wegen Veruntreuung: So lautet das Urteil gegen eine Beamtin des Landkreises.

Das Frankfurter Landgericht hat die 47 Jahre alte Patricia M., die den Hochtaunuskreis um   m e h r   a l s   e i n e   h a l b e   M i l l i o n  Euro betrogen hat, zu fünf Jahren Haft, ihren Mann zu eineinhalb Jahren verurteilt. E s  w a r   e i n   U r t e i l ,   d a s   e s   i n   s i c h   h a t t e. Das galt auch für die Urteilsbegründung.

F ü n f   J a h r e  Freiheitsstrafe – so lautete das Urteil für Patricia M.. Ihr mitangeklagter Ehemann Manfred wurde wegen Beihilfe zu    a n d e r t-       h a l b   J a h r e n   H a ft  verurteilt – die Strafe wurde  n i c h t   zur Bewährung ausgesetzt.
Denn dem Vorsitzenden Richter Horst Zimmermann   w a r    s o   g a r        n i c h t   n a c h   B e w ä h r u n g . Er zeigte sich von dem Prozess, der sich seit Monaten zähflüssig dahinzog, deutlich genervt. Zimmermann ist genervt von den Angeklagten. Patricia M., ehemalige Postbeamtin, die 2009 nach längerer Beschäftigungslosigkeit einen Posten beim Landratsamt antrat, nutzte ihre Stellung als Geldquelle.

 

Hier wurden wieder mehrere Leben zerstört:

FOCUS online 27.08.2012

ProzesseMissbrauch in Großfamilie: Haftstrafe für Vater

D r e i   seiner sieben Töchter hat ein 48-Jähriger in einem Dorf in Dithmarschen (Schleswig-Holstein) jahrelang missbraucht. Dafür hat das Landgericht Itzehoe den zehnfachen Familienvater  am  Montag   zu              a c h t e i n h a l b   Jahren Haft verurteilt.

Sein mitangeklagter 18 Jahre alter Sohn erhielt eine  z  w e i  j ä  h  r  i  g  e   J u g e n d s tr a f e   a u f   B e w ä h r u n g. Nach  Überzeugung  des  Gerichts       h a t t e n    s i c h    b e i d e   v i e l e     M a  l e   a n   d e n   M ä d c h e n   v e r g a n g e n ,   d i e   h e u t e 1 7,  1 3  u nd  8 Jahre alt sind . Auch der 16-jährige Sohn des Mannes stand am Montag wegen Missbrauchs vor Gericht – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wie die Richter über ihn urteilten, wurde nicht mitgeteilt.

Im Verfahren gegen den Vater wertete der Vorsitzende Richter Eberhard Hülsing es als s t r a f v e r sc h ä r f e nd, dass dessen Verhalten der N ä h r-  b o d e n  für die Taten der Söhne gewesen sei. „So etwas habe ich noch nicht erlebt, dass ein Vater seinen Söhnen ein solches Verhalten vorlebt“, sagte Hülsing. S t a a t s a nw ä l t i n  Stephanie Poensgen hatte für den 48-Jährigen neuneinhalb Jahre Haft verlangt, das Strafmaß für den 18-Jährigen entsprach ihrer Forderung.  2 6   Taten hatte sie in ihrem Plädoyer für den Vater aufgelistet, bei dem 18-Jährigen waren es  8 0 Taten.

Beide h a t t e n   d ie    V o r w ü r f e   z u n ä c h s t   b e s t r i t t e n, doch später widerriefen sie ihre Unschuldsbeteuerungen. Der Sohn legte ein umfassendes Geständnis ab, doch der Vater gab  n u r   e i n e n   T e i l  der Vorwürfe zu:  Er habe sich nur an einer seiner Töchter vergriffen, als diese bereits älter als 14 Jahre gewesen sei. Beide entschuldigten sich am Ende des Prozesses bei ihren Opfern. Der Verteidiger des Vaters überlegt, ob er in Revision geht. Der Anwalt des 18-Jährigen akzeptierte den Urteilsspruch. Die Bewährung wurde ausgesprochen, weil der 18-Jährige bereits sechs Monate in U-Haft gesessen hatte.

Nach Überzeugung der Prozessbeteiligten kam in dem Verfahren nur „d i e   S p i t z e   d e s   E i s b e r g s “  zur Sprache.

Aufs Neue wird der Beweis geführt, dass die Macht das Recht nicht nur hat, sondern auch anwendet –  gegen die Machtlosen. Fünf Jahre und eineinhalb Jahre ohne Bewährung  für einen Betrag der im legalen Milliardenspiel noch weit unterhalb von Peanuts rangierte und über den jeder  Banker lacht, der wegen eines Vielfachen ungestraft davonkommt. Da muss man schon  drei und nicht nur zwei Kindern die Seelen morden um fünf Jahre zu toppen. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, wie es sich mit der Spitze eines Eisberges verhält, der laut Beobachter wohl nur zur Sprache  gekommen sein soll, kann ich mir noch weniger vorstellen, dass sogar ein strafverschärfender Nährboden nötig war, um den Richter auf ein Jahr weniger erkennen zu lassen als die Staatsanwältin gefordert hatte.  Was hatte er denn ohne die Strafverschärfung vor? Man kommt pro Kind, zynisch kalkuliert, auf unter drei Jahre Haft, wobei man sich nolens-volens die Frage vorlegt und lieber nicht beantwortet haben möchte, wie alt die Kinder bei den Vergewaltigungen waren – denn um etwas anderes handelt es hierbei sicherlich nicht -,  wenn sie heute erst 17, 13 und unaussprechliche 8 Jahre alt sind.  Das wirken die fünf Jahre Haft für mal gerade eine halbe Million Euro doch eher nett übertrieben, und das Leben ist dem Geld  in seiner Bedeutung wieder einmal hoffnungslos unterlegen.


Nachts. Von Karl Kraus

07. August 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Aus "Die Fackel", Nachts

DIE FACKEL


Nr. 360/361/362 7. NOVEMBER 1912 XIV. JAHR S.1- 10


Nachts

Ich muss wieder unter Menschen gehen. Denn zwischen Bienen und Löwenzahn, in diesem Sommer, ist mein Menschenhass arg ausgeartet.

*

In der Schöpfung ist die Antithese nicht beschlossen. Denn in ihr ist alles widerspruchslos und unvergleichbar. Erst die Entfernung der Welt vom Schöpfer schafft
Raum für die Sucht, die jedem Gegenteil das verlorene Ebenbild findet.

*

Flucht in die Landschaft ist verdächtig. Die Gletscher sind zu groß, um unter ihnen zu denken, wie klein die Menschen sind. Aber die Menschen sind klein genug, um unter ihnen zu denken, wie groß die Gletscher sind. Man muss jene zu diesem und nicht diese zu jenem benützen. Der Einsame aber, der Gletscher braucht, um an Gletscher zu denken, hat vor den Gemeinsamen, die unter Menschen an Menschen denken, nur eine Größe voraus, die nicht von ihm ist. Gletscher sind schon da. Man muss sie dort erschaffen, wo sie nicht sind, weil Menschen sind.

*

Die Ärzte wissen noch nicht, ob es humaner sei, die Leiden des sterbenden Menschen zu verlängern oder zu verkürzen. Ich aber weiß, dass es am humansten ist, die Leiden der sterbenden Menschheit zu verkürzen. Eines der besten Gifte ist das Gefühl der geschlechtlichen Unsicherheit. Es ist vom Stoff der Krankheit bezogen. An welcher Krankheit denn leiden sie? Dass sie sich ihrer Gesundheit schämen. Die Menschheit stirbt heimlich an dem, wovon zu leben sie sich verbietet: am Geschlecht. Hier lässt sich nachhelfen, indem
man an das, was sie wie einen Diebstahl ausführen und hinterdrein Liebe nennen, noch etliche Zentner jener Vorstellung einer Zeugenschaft hängt, die das Vergnügen versalzt. Ein Alpdruck, schwerer als das Gewicht der Sünde. Und dies Gift wird die Männer umso gewisser bleich machen, als es für die Konkubinen ein Verschönerungsmittel ist. Es geht nicht länger an, den Frieden denaturierter Bürger ungestört zu lassen, und tausend Casanovas sind Stümper neben dem Gespenst, das ein Gedanke hinter die Gardine schickt. Ist denn solche Vorstellung schlimmer als die, mit der der Anblick der Zufriedenheit unsereinen peinigt? Soll
es wirklich noch Augenblicke geben dürfen, in denen ein Wucherer unbewusst wird? Dem Verstande der Gesellschaft, die das heutige Leben innehat, lässt sich mit nichts mehr beikommen. Will man die Heutigen treffen, so muss man warten, bis sie unzurechnungsfähig sind. Nicht im Rausch: denn was hätten sie dabei zu fürchten, und wüssten sie dort Gefahr, so würden sie enthaltsam. Nicht im Schlaf: denn nicht im Traum fällt es ihnen ein, unzurechnungsfähig zu sein. Aber manchmal liegen sie im Bett und wissen von nichts. Da sollen sie es erfahren.

*

Die Tragik des Gedankens, Meinung zu werden, erlebt sich am schmerzlichsten in den Problemen des erotischen Lebens. Jedes Frauenzimmer, das vom Weg des Geschlechts in den männlichen Beruf abirrt, ist im Weiblichen echter, im Männlichen kultivierter als die Horde von Schwächlingen, die es im aufgeschnappten Tonfall neuer Erkenntnisse begrinsen
und die darin nur den eigenen Misswachs erleben. Das Frauenzimmer, das Psychologie studiert, hat am Geschlecht weniger gefehlt, als der Psycholog, der ein
Frauenzimmer ist, am Beruf.

*

Die Lust des Mannes wäre nur ein gottloser Zeitvertreib und nie erschaffen worden, wenn sie nicht das Zubehör der weiblichen Lust wäre. Die Umkehrung dieses Verhältnisses zu einer Ordnung, in der sich eine ärmliche Pointe als Hauptsache aufspielt und nachdem sie verpufft ist, das reiche Epos der Natur tyrannisch abbricht, bedeutet den Weltuntergang: auch
wenn ihn die Welt bei technischer, intellektueller und sportlicher Entschädigung durch ein paar Generationen nicht spürt und nicht mehr Phantasie genug hat, sich ihn vorzustellen.

*

Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputt macht.

*

Die Verluste an Sinnlichkeit und Phantasie, die Ausfallserscheinungen der Menschheit, sind kinodramatisch.

*

Die Eignung zum Lesen der Kriegsberichte dürfte bei mancher Nation schon heute die Kriegstauglichkeit ersetzen.

*

Die Technik ist ein Dienstbote, der nebenan so geräuschvoll Ordnung macht, dass die Herrschaft nicht Musik machen kann.

*

Es ist gut, dass es der Gesellschaft, die daran ist, die weibliche Lust trocken zu legen, zuerst mit der männlichen Phantasie gelingt. Sie wäre sonst durch die Vorstellung ihres Endes behindert.

*

Der Mann hat keinen persönlicheren Anteil an der Lust, als der Anlass an der Kunst. Und wie jeder Anlass überschätzt er sich und bezieht es auf sich. Der einzelne Lump sagt auch, ich hätte über ihn geschrieben, und hält seinen Anteil für wichtiger als den meinen. Nun könnte er noch verlangen, dass ich ihm treu bleibe. Aber die Wollust meint alle und gehört keinem.

*

Wer sich durch eine Satire gekränkt fühlt, benimmt sich nicht anders als der zufällige Beischläfer, der am andern Tage daherkommt, um seine Persönlichkeit zu reklamieren. Längst ist ein anderes Beispiel an seine Stelle getreten, und wo schon ein neues Vergessen
beginnt, erscheint jener mit der Erinnerung und wird eifersüchtig. Er ist imstande, die Frau zu kompromittieren.

*

Was mir und jedem Schätzer von Distanzen einen tätlichen Überfall auf mich peinlich macht, ist die Verstofflichung der Satire, die er bedeutet. Anstatt dankbar zu sein, reinkarniert sich das, was mir mit Mühe zu vergeistigen gelang, wieder zu leiblichster Stofflichkeit, und der dürftige Anlass schiebt sich vor, damit mein Werk nur ja auf ihn reduziert bleibe. Darum muss mich in einer Gesellschaft, der es an Respekt fehlt, die Waffe schützen. Mir fehlt es nicht an Respekt vor den kleinen Leuten, die mich zu etwas anregen, was ihnen längst nicht mehr gilt, wenn’s fertig ist. Ich nehme jede nur mögliche Rücksicht. Denn lähmte mich nicht die Furcht, mit ihnen zusammengespannt zu werden, so würde ich sie doch selbst überfallen. Was mir nicht nur Genuss, sondern auch Erleichterung der satirischen Mühe brächte.

*

Man muss dazu gelangen, die erschlagen zu wollen, die man nicht mehr verarbeiten kann, und im weiteren Verlauf sich von denen erschlagen zu lassen, von denen man nicht mehr verstanden wird.

*

Alle sind von mir beleidigt, nicht einzelne. Und was die Liebe betrifft, sollen alle rabiat werden und nicht die, die betrogen wurden.

*

Der Mann ist der Anlass der Lust, das Weib die Ursache des Geistes.

*

Das Weib nimmt einen für alle, der Mann alle für eine.

*

Die Lust hat es nur mit dem Ersatzmann zu tun. Er steht für den andern, für alle oder für sich selbst. Der ganze Mann in der Lust ist ein Gräuel vor Gott. Hierin dürfte die Wedekindsche Welt begrenzt sein:
vor dem tief erkannten Naturbestand des Weibes die tief gefühlte Sehnsucht des Rivalen. Weibliche Genussfähigkeit als Ziel des Mannes, nicht als geistige Wurzel:
Anspruch einer physischen Wertigkeit, mit der sich’s in Schanden bestehen ließe. Nicht Kräfte, die einander erschaffen, sondern Lust um der Lust willen. Tragisch das Weib erfasst, weil es anders sein muss als von Natur, und damit eine Tragik des Mannes gepaart, weil er anders von Natur ist. Aber tragisch wird nur das weiblich Unbegrenzte an einer Ordnung,
die sich die männliche Begrenztheit erfunden hat. Diese ist nicht tragisch, sondern nur traurig von Natur und hassenswert, weil sie die Freiheit des Weibes in das Joch ihrer Eitelkeit spannt, den eigenen Defekt an der Fülle rächt und etwas beraubt, um es zu besitzen. Hier ist nicht Schicksal, sondern ein Zustand, dessen Verlängerung, ja Verewigung selbst keine Schöpferkraft gewährte. Denn in nichts wird die Hemmungslosigkeit des Mannes umgesetzt. Sie bleibt irdisch. Die Lust aber, die der Erdgeist genannt wird, braucht ihren Zunder, doch auf den Funken kommt es an, den sie in eine Seele wirft. Dieser Dichter hat Lulu erkannt; aber er beneidet vielleicht ihren Rodrigo. Dieses Genie der Begrenztheit — in der genialen Hälfte genialer als irgendein Ganzer im heutigen Deutschland — stelle ich mir im Anblick des Fremier’schen Gorilla vor. Um die Ohnmacht der Frau — ihr Anblick gibt den Engeln
Stärke, wenn keiner sie ergründen mag — weiß er. Aber die Kraft des Tieres dürfte ihm imponieren.

*

Trauer und Scham sollten alle Pausen wahrer Männlichkeit bedecken. Der Künstler hat außerhalb des Schaffens nur seine Nichtswürdigkeit zu erleben.

*

Die Eifersucht auf die ungestaltete Materie, die mir täglich um die Nase schwippt und schwätzt, wippt und wetzt, auf Menschen, die leider noch existent, aber noch nicht erschaffen sind, lässt sich schwer dem andern begreiflich machen.

*

Die wahren Wahrheiten sind die, welche man erfinden kann.

*

Das Verständnis meiner Arbeit ist erschwert durch die Kenntnis meines Stoffes. Dass das, was schon da ist, noch erfunden werden muss und dass es sich lohnt, es zu erfinden, sehen sie nicht ein. Und auch nicht, dass ein Satiriker, der die vorhandenen Personen erfindet, mehr Kraft braucht, als der, der die Personen so erfindet, als wären sie vorhanden.

*

Dieser Wettlauf mit den unaufhörlichen Anlässen! Und dieser ewige Distanzlauf vom Anlass zur Kunst! Keuchend am Ziel — zurückgezerrt zum Start, der sich
erreicht fühlt.

*

Man kennt meine Anlässe persönlich. Darum glaubt man, es sei mit meiner Kunst nicht weit her.

*

In keiner Zeit war das Bedürfnis so elementar wie in der heutigen, sich für das Genie zu entschädigen.

*

Psychologie ist der Omnibus, der ein Luftschiff begleitet.

*

Man sagt mir oft, dass manches, was ich gefunden habe, ohne es zu suchen, wahr sein müsse, weil es auch F. gesucht und gefunden habe. Solche Wahrheit wäre wohl ein trostloses Wertmaß. Denn nur dem, der sucht, ist das Ziel wichtig. Dem, der findet, aber der
Weg. Die beiden treffen sich nicht. Der eine geht schneller, als der andere zum Ziel kommt. Irgendetwas ist ihnen gemeinsam. Aber der Prophet ist immer schon da und verkündet den apokalyptischen Reiter.

*

Analyse ist der Hang des Schnorrers, das Zustandekommen von Reichtümern zu erklären. Immer ist das, was er nicht besitzt, durch Schwindel erworben. Der andere hat’s nur, er aber ist zum Glück eingeweiht.

*

Das Unbewusste zu erklären, ist eine schöne Aufgabe für das Bewusstsein. Das Unbewusste gibt sich keine Mühe und bringt es höchstens fertig, das Bewusstsein zu verwirren.

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Die Nervenärzte haben es jetzt mit den Dichtern zu schaffen, die nach ihrem Tode in die Ordination kommen. Es geschieht ihnen insofern recht, als sie tatsächlich nicht imstande waren, die Menschheit auf einen Stand zu bringen, der die Entstehung von Nervenärzten ausschließt.

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Alle Naturwissenschaft beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, dass ein Zyklop nur ein Auge im Kopf hat,  aber ein Privatdozent zwei.

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Der Handelsgeist soll sich im Pferch der Judengasse entwickelt haben. In der Freiheit treiben sie Psychologie. Sie scheint aber wie ein Heimweh jenes enge Zusammenleben zurückzurufen, unter dem die Ansprache zur Betastung wird. Was nun vollends eine
Verbindung von Handelsgeist und Psychologie für Wunder wirken kann, sehen wir alle Tage.

*

Die Rache der Molluske am Mann, des Händlers am Helden, des Shaw an Shakespeare, des Ghetto an Gott macht jenen rapiden Fortschritt, gegen den aufzutreten rückschrittlich heißt.

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Nein, es spukt nicht mehr. Es spuckt.

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Die liberale Presse krebst jetzt mit neu aufgefundenen Bemerkungen Lichtenbergs: gegen den Katholizismus und »wenn noch ein Messias geboren würde, so könnte er kaum so viel Gutes stiften, als die Buchdruckerei«. Um sich aber mit Fug auf Lichtenberg zu berufen, wäre der Beweis nötig, dass er auch nach 125 Jahren noch derselben Ansicht ist. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Mann. Den wahren Segen der Buchdruckerei hat er nicht erlebt. Denn
er hat nicht nur nicht die Presse erlebt, sondern nicht einmal eine Drucklegung seiner Tagebücher, deren Tiefe dort, wo sie unverständlich ist, auf ihrem Grund Druckfehler hat, die die literarhistorischen Tölpel in Ehren halten, weitergeben und fortpflanzen. Darüber ließen sich ergötzliche Dinge sagen. Was muss aus den Gedanken Lichtenbergs geworden sein, wenn selbst Eigennamen, die er niederschreibt, verdreht wurden, und in Stellen, deren Nachprüfung den Herausgebern nicht nur geboten, sondern auch möglich war. Keines dieser
Subjekte aber hat sich auch nur die Mühe genommen, die von Lichtenberg gepriesene Stelle aus Jean Paul zu lesen. »Haben Sie wohl die Stelle in dem ‚Kampaner Tal‘ gelesen, wo Chiaur in einem Luftball aufsteigt?« Nein, sie haben es nicht getan, denn sonst hätten sie eine solche Stelle nicht gefunden. Wie das? Steigt Chiaur nicht auf? Im ganzen Buch nicht. Nur
eine Gione. Diese sonderbare Tatsache, dass Lichtenberg einen Chiaur und Jean Paul eine Gione aufsteigen lässt, gestattet vielleicht die Rekonstruierung der Handschrift
Lichtenbergs, die ich nicht gesehen habe:

Gione (handschriftlich Sütterlin)

Es lässt die Möglichkeit zu, dass jedes zweite Wort verdruckt wurde. Denn die Herausgeber dürften dort, wo sie nur auf die Handschrift Lichtenbergs und jeweils auf die vorhergehende fehlerhafte Ausgabe angewiesen waren, sich kaum findiger gezeigt haben, als dort, wo
ihnen ein Vergleich mit dem Jean Paul’schen Druck möglich war. Und dafür, dass dieselbe Schande, nur immer in anderer Einteilung und mit anderem Umschlag, wiederholt wird, zahlen Verleger Honorare. Die Erwartung des Messias dürfte also — gegen und für Lichtenberg — dem Glauben an die Buchdruckerei noch immer vorzuziehen sein. Kaum ein Autor ist gröblicher misshandelt worden; nicht nur durch eine wahllose Zitierung, die den aus
Vernunft, Stimmung oder Glauben entstandenen Notizen den gleichen Bekenntniswert beimisst. Man könnte, wenn eine von Natur meineidige Presse Lichtenberg zum Eidhelfer beruft, ihr auch mit dem Gegenteil dienen, und vor allem mit jenem Gegenteil, zu dem eine Menschlichkeit seiner Art vor der heutigen Ordnung der Dinge ausschließlich fähig wäre. Der Liberalismus ist, wenn alle Stricke reißen, imstande, sich auf Gott zu berufen, der einmal gesehen haben soll, dass es gut war. Aber heute, nach 5673 Jahren, ist er gewiss auch nicht mehr derselben Ansicht. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Gott.

*

Die Druckerschwärze ist noch nie zu der Verwendung gelangt, für die sie erschaffen ist. Sie gehört nicht ins Hirn, sondern in den Hals jener, die sie falsch verwenden.

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Der Liberalismus beklagt die Veräußerlichung des christlichen Gefühls und verpönt das Gepränge. Aber in einer Monstranz von Gold ist mehr Inhalt als in einem Jahrhundert von Aufklärung. Und der Liberalismus beklagt nur, dass er im Angesicht verlockender Dinge,
die eine Veräußerlichung des christlichen Gefühls bedeuten, es doch nicht und um keinen Preis zu einer Veräußerung des christlichen Gefühls bringen kann.

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Ich habe von Monistenklöstern gehört. Bei ihrem Gott, keine der dort internierten Nonnen hat etwas von mir zu fürchten!

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Wiewohl es nicht reizlos wäre, einer Bekennerin des Herrn Goldscheid auf dem Höhepunkt der Sinnenlust »Sag: Synergetische Funktion der organischen Systeme!«
zuzurufen.

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Die gebildete Frau ist unaufhörlich mit dem Vorsatz befasst, keinen Geschlechtsverkehr einzugehen, und ist auch imstande, ihn, nämlich den Vorsatz, auszuführen.

*

Der gebildete Mann ist nie mit dem Vorsatz befasst, keinen Gedanken zu haben, sondern es gelingt ihm, ehe er sich dazu entschließt.

*

Zu der Blume mag ich nicht riechen, die unter dem Hauch eines Freidenkers nicht verwelkt.