Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Humanismus in finsteren Zeiten: Ein Brief von Rosa Luxemburg. Anwortbrief einer Unsensiblen und die Stellungnahme von Karl Kraus.

24. Oktober 2023 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Aus "Die Fackel", Rosa Luxemburg

Vorwort. W.K. Nordenham

Humanismus in finsteren Zeiten, die auch immer die unseren sind. Gegen Zeitgenossenschaft gibt es kein Mittel. „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern.“ Der Satz stammt von Rosa Luxemburg. Sie war auch der Überzeugung, dass allein freie Wahlen das Mittel zur Übernahme der Macht sein sollten, fand damit aber keine Mehrheit in ihrer Partei. Deshalb sei hier, durch Abdruck eines Briefes von Rosa Luxemburg aus „Die Fackel“, der Abstand zu allen Nachplapperern nachgewiesen und, falls selbst noch nicht bemerkt, wiederhergestellt. Folgerichtig hat der Name „Karl“, mit dem Karl  Liebknecht gemeint ist, nichts mit irgendwelchen Zeitgenossen zu tun. Die Antwort einer „unsensiblen“ adeligen Gutsbesitzerin auf  den Abdruck des Briefes durch Karl Kraus, der einen Blick auf die gesellschaftliche Situation der Zeit  erlaubt und Karl Kraus´Replique darauf, ergänzen diese Würdigung einer großen Frau. In einer zu schaffenden Anthologie der Menscheit  erschiene Rosa Luxemburgs Brief an vorderer Stelle.

Scheinbar zu  Recht mag mancher einwenden, dass  die Gutsbesitzer und Gutsbsitzerinnen doch Vergangenheit seien. Schön wär´s.  Sie haben sich zurückgezogen in die Chefetagen der Banken und Versicherungen, die Hinterzimmer der Spekulanten, in die Paläste des Geldadels, in die kunstvoll-exklusiven Feriendomizile à la Dubai, das englisch als  „to buy“  besser klingt. Sie haben die Erde mit der Globalisierung  zu einem Hort ihrer Untertanen erkoren und feiern ungerührt ihre immerwährenden Parties auf  Rechnung der durch Ausbeutung,  Hunger, Krieg  und Umweltverpestung auf der Strecke Gebliebenen, während sie beim erdumspannenden Börsenspiel ganz nebenbei den Gewinn machen, der den millionenfachen Ruin der ungezählter Verlierer in Kauf nimmt, die  in den Fabriken der dritten Welt das Leben hingeben oder für einen Hungerlohn fristen müssen.  Ihnen mögen Karl Kraus´ Worte in den Ohren gellen:

Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen »Widersprüchen« auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden, nämlich weil ich den Weltkrieg für eine unmissdeutbare Tatsache halte und die Zeit, die das Menschenleben auf einen Dreckhaufen reduziert hat, für eine unerbittliche Scheidewand — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher  werde,  d a m i t  d i e  G e s e l l –    s c h a f t   d e r   a u s s c h l i e ß l i c h  G e n u s s – b e r e c h t i g t e n ,  d i e  d a  g l a u b t ,  d a s s  d i e  i h r  b o t-m ä ß i g e   M e n s c h h e i t   g e n u g    d e r   L i e b e    h a b e ,  w e n n   s i e   v o n    i h n e n   d i e    S y p h i l i s    b e k o m m t ,    w e n i g s t e n s    d o c h    a u c h    m i t    e i n e m    A l p d r u c k  z u    B e t t  g e h e !   D a m i t    i h n e n   w e-  n i g s t e n s   d i e  L u s t    v e r g e h e ,   i h r e n   O p f e r n    M o r a l   z u   p r e d i g e n,   u n d   d e r    H u m o r ,   ü b e r   s i e   W i t z e   z u   m a c h e n !

Kursiv  Hervorgehobenes im folgenden Originalbeitrag  entspricht den Hervorhebungen von Karl Kraus.

DIE FACKEL

Nr. 546—550 JULI 1920 XXII. JAHR

(gelesen im Juli 1920)

Dem Andenken des edelsten Opfers widme ich die
Vorlesung des folgenden Briefes, den Rosa Luxemburg aus dem
Breslauer Weibergefängnis Mitte Dezember 1917 an Sonja
Liebknecht geschrieben hat:

— — Jetzt ist es ein Jahr, dass Karl in Luckau sitzt. Ich habe in diesem Monat oft daran gedacht und genau vor einem Jahre waren Sie bei mir in Wronke ( auch ein Gefängnis. Anm. d. Red.) , haben mir den schönen Weihnachtsbaum beschert … Heuer habe ich mir hier einen besorgen lassen, aber man brachte mir einen ganz schäbigen mit fehlenden Ästen — kein Vergleich mit dem vorjährigen. Ich weiß nicht, wie ich darauf die acht Lichteln anbringe, die ich erstanden habe. Es ist mein drittes Weihnachten im Kittchen, aber nehmen Sie es ja nicht tragisch. Ich bin so ruhig und heiter wie immer. Gestern lag ich lange wach — ich kann jetzt nie vor ein Uhr  einschlafen, muss aber schon um zehn ins Bett —, dann träume ich verschiedenes im Dunkeln.  Gestern dachte ich also: Wie merkwürdig das ist, dass ich ständig in einem freudigen Rausch lebe — ohne jeden besonderen Grund. So liege ich zum Beispiel hier in der dunklen Zelle auf einer steinharten Matratze, um mich im Hause herrscht die übliche Kirchhofsstille, man  kommt sich vor wie im Grabe: vom Fenster her zeichnet sich auf der Decke der Reflex der Laterne, die vor dem Gefängnis die ganze Nacht brennt. Von Zeit zu Zeit hört man nur ganz dumpf das ferne Rattern eines vorbeigehenden Eisenbahnzuges oder ganz in der Nähe unter den Fenstern das Räuspern der Schildwache, die in ihren schweren Stiefeln ein paar Schritte langsam macht, um die steifen Beine zu bewegen. Der Sand knirscht so hoffnungslos unter diesen Schritten, dass die ganze Öde und Ausweglosigkeit des Daseins daraus klingt in die feuchte, dunkle Nacht. Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langweile, Unfreiheit des Winters — und dabei klopft mein Herz, von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem Leben, wie wenn ich irgendein zauberndes Geheimnis wüsste, das alles Böse und traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück wandelt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muss wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst; die tiefe nächtliche Finsternis ist so schön und weich wie Samt, wenn man nur richtig schaut. Und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen, schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben — wenn man nur richtig zu hören weiß. In solchen Augenblicken denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen Zauberschlüssel mitteilen, damit Sie immer und in allen Lagen das Schöne und Freudige des Lebens wahrnehmen, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine bunte Wiese gehen. Ich denke ja nicht daran, Sie mit Asketentum, mit eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen Sinnesfreuden. Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche innere Heiterkeit geben, damit ich um Sie ruhig bin, dass Sie in einem sternbestickten Mantel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen, Trivialen und Beängstigenden schützt.

Sie haben im Steglitzer Park einen schönen Strauß aus schwarzen und rosavioletten Beeren gepflückt. Für die schwarzen Beeren kommen in Betracht entweder Holunder — seine Beeren hängen in schweren, dichten Trauben zwischen großen gefiederten Blattwedeln, sicher kennen Sie sie, oder, wahrscheinlicher, Liguster; schlanke, zierliche, aufrechte Rispen von Beeren und schmale, längliche grüne Blättchen. Die rosavioletten, unter kleinen Blättchen versteckten Beeren können die der Zwergmispel sein; sie sind zwar eigentlich rot, aber in dieser späten Jahreszeit ein bisschen schon überreif und angefault, erscheinen sie oft violettrötlich; die Blättchen sehen der Myrte ähnlich, klein, spitz am Ende, dunkelgrün und lederig oben, unten rauh.

Sonjuscha, kennen Sie Platens: »Verhängnisvolle Gabel«? Könnten Sie es mir schicken oder bringen? Karl hat einmal erwähnt, dass er sie zuhause gelesen hat. Die Gedichte Georges sind schön; jetzt weiß ich, woher der Vers: »Und unterm Rauschen rötlichen Getreides!« stammt, den Sie gewöhnlich hersagten, wenn wir im Felde spazieren gingen. Können Sie mir gelegentlich den neuen »Amadis« abschreiben, ich liebe das Gedicht so sehr — natürlich dank Hugo Wolffs Lied —, habe es aber nicht hier. Lesen Sie weiter die Lessing-Legende? Ich habe wieder zu Langes Geschichte des Materialismus gegriffen, die mich stets anregt und erfrischt. Ich möchte so sehr, dass Sie sie mal lesen. Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt, auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken. Die werden hier abgeladen, in den Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum ersten Mal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen. Die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, dass es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benützen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis dass für sie das Wort gilt »vae victis« … An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenützt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. — Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, dass die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, dass die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! »Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid«, antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein … Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete … Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die ward zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft und eines, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll … ich stand davor und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter — es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten! Und hier — diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen und — die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt … O mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins im Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff einen Gassenhauer.Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei …

Sonjuscha, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd — trotz alledem.

DIE FACKEL   NR. 554—556 NOVEMBER 1920 XXII. JAHR

( gelesen im November 1920)

Antwort an Rosa Luxemburg von einer Unsentimentalen

Innsbruck 25. August 1920

Geehrter Herr Kraus,

Zufällig ist mir die letzte Nummer Ihrer »Fackel« in die Hände gekommen (ich war bis 4./II. l. J. Abonnentin) u. ich möchte mir gestatten Ihnen betreffs des von Ihnen so sehr bewunderten Briefes der Rosa Luxemburg Einiges zu erwidern, obwohl Ihnen eine Zuschrift aus dem ominösen Innsbruck vielleicht nicht sehr willkommen ist. Also: der Brief ist ja wirklich r e c h t  s c h ö n  u. ich stimme ganz mit Ihnen überein, dass er sehr wohl als Lesestück in den Schulbüchern für Volks- u. Mittelschulen figurieren könnte, wobei man dann im Vorwort lehrreiche Betrachtungen darüber anstellen könnte, wie viel ersprießlicher und erfreulicher das Leben der Luxemburg verlaufen wäre, wenn sie  sich statt als Volksaufwieglerin e t w a als Wärterin in einem Zoologischen Garten od. dgl. betätigt hätte, in welchem Fall ihr wahrscheinlich auch das »Kittchen« erspart geblieben wäre. Bei ihren botanischen Kenntnissen u. ihrer Vorliebe für Blumen hätte sie jedenfalls auch in einer größeren Gärtnerei lohnende u. befriedigende Beschäftigung gefunden u. hätte dann     gewiss  keine Bekanntschaft mit Gewehrkolben gemacht.

Was die etwas larmoyante Beschreibung des Büffels anbelangt, so will ich es gern glauben, dass dieselbe ihren Eindruck auf die  Tränendrüsen der Kommerzienrätinnen u. der ästhetischen Jünglinge in Berlin, Dresden u. Prag nicht verfehlt hat.  Wer jedoch, wie ich, auf einem großen Gute Südungarns aufgewachsen ist, u. diese Tiere, ihr   meist schäbiges, oft rissiges Fell u.  ihren stets stumpfsinnigen »Gesichtsausdruck« von Jugend auf kennt betrachtet die Sache  ruhiger.   Die gute Luxemburg hat sich von den betreffenden Soldaten tüchtig anplauschen lassen (ähnlich wie s. Z. der sel. Benedikt mit den Grubenhunden) wobei wahrscheinlich noch Erinnerungen an Lederstrumpf, wilde Büffelherden in den Prärien etc. in ihrer Vorstellung mitgewirkt haben. — Wenn wirklich unsere Feldgrauen, abgesehn von den schweren Kämpfen, die sie in Rumänien zu bestehen hatten, noch Zeit, Kraft u. Lust gehabt hätten, wilde Büffel zu Hunderten einzufangen u. dann   stracks zu Lasttieren zu zähmen, so wäre das aller Bewunderung wert, u. entschieden noch erstaunlicher, als dass die urkräftigen Tiere sich diese Behandlung hätten gefallen lassen.

Nun muss man aber wissen, dass die Büffel in diesen Gegenden seit undenklichen Zeiten   mit Vorliebe als Lasttiere (sowie auch als Milchkühe) gezüchtet u. verwendet werden. Sie sind anspruchslos im Futter u. ungeheuer kräftig,  wenn auch von sehr langsamer Gangart. Ich glaube daher nicht, dass  der »geliebte Bruder« der Luxemburg besonders erstaunt gewesen sein dürfte,  in Breslau einen Lastwagen ziehn zu müssen u. mit »dem Ende des Peitschenstieles«  Eines übers Fell zu bekommen.  Letzteres wird wohl — wenn es nicht gar zu roh geschieht — bei Zugtieren ab u. zu unerlässlich sein,  da sie bloßen Vernunftgründen gegenüber nicht immer zugänglich sind, — ebenso wie ich Ihnen als Mutter versichern kann, dass  eine Ohrfeige bei kräftigen Buben oft sehr wohltätig wirkt! Man muss nicht immer das Schlimmste annehmen  u. die Leute (u. die Tiere) prinzipiell nur bedauern, ohne die näheren Umstände zu kennen. Das kann mehr Böses als Gutes anrichten. —  Die Luxemburg hätte gewiss gerne, wenn es ihr möglich gewesen wäre, den Büffeln Revolution gepredigt u. ihnen eine Büffel-Republik gegründet, wobei es sehr fraglich ist, ob sie imstande gewesen wäre, ihnen das — von ihr — geträumte Paradies mit »schönen Lauten der Vögel u. melodischen Rufen des Hirten« zu verschaffen u. ob die Büffel auf  Letzteres so besonderes Gewicht legen. Es gibt eben viele   hysterische Frauen, die sich gern in Alles hineinmischen u. immer Einen gegen den Anderen hetzen möchten; sie werden, wenn sie Geist und einen guten Stil haben, von der Menge willig gehört u. stiften viel Unheil in der Welt,  so dass man nicht zu sehr erstaunt sein darf, wenn eine solche, die so oft Gewalt gepredigt hat,  auch ein gewaltsames Ende nimmt.

Stille Kraft, Arbeit im nächsten Wirkungskreise, ruhige Güte u. Versöhnlichkeit ist, was uns mehr nottut,  als Sentimentalität u. Verhetzung. Meinen Sie nicht auch?

Hochachtungsvoll
Frau v. X—Y.

Was ich meine, ist: dass es mich sehr wenig interessiert, ob eine Nummer der Fackel »zufällig« oder anderwegen einer derartigen Bestie in ihre Fänge gekommen ist und ob sie bis 4. II. l. J. Abonnentin war oder es noch ist. Ist sie’s gewesen, so weckt es unendliches Bedauern, dass sie’s nicht mehr ist, denn wäre sie’s noch, so würde sie’s am Tage des Empfangs dieses Briefes, also ab 28. VIII. l. J. nicht mehr sein. Weil ja bekanntlich die Fackel nicht wehrlos gegen das Schicksal ist, an solche Adresse zu gelangen. Was ich meine, ist: dass mir diese Zuschrift aus dem ominösen Innsbruck insofern ganz willkommen ist, als sie mir das Bild, das ich von der Geistigkeit dieser Stadt empfangen und geboten habe, auch nicht in einem Wesenszug alteriert und im Gegenteil alles ganz so ist, wie es sein soll. Was ich meine, ist, dass neben dem Brief der Rosa Luxemburg, wenn sich die sogenannten Republiken dazu aufraffen könnten, ihn durch ihre Lesebücher den aufwachsenden Generationen zu überliefern, gleich der Brief dieser Megäre abgedruckt werden müsste, um der Jugend nicht allein Ehrfurcht vor der Erhabenheit der menschlichen Natur beizubringen, sondern auch Abscheu vor ihrer Niedrigkeit und an dem handgreiflichsten Beispiel ein Gruseln vor der unausrottbaren Geistesart deutscher Fortpflanzerinnen, die uns das Leben bis zur todsichern Aussicht auf neue Kriege verhunzen wollen und die dem Satan einen Treueid geschworen zu haben scheinen, eben das was sie anno 1914 aus Heldentodgeilheit nicht verhindert haben, immer wieder geschehen zu lassen. Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen »Widersprüchen« auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden, nämlich weil ich den Weltkrieg für eine unmissdeutbare Tatsache halte und die Zeit, die das Menschenleben auf einen Dreckhaufen reduziert hat, für eine unerbittliche Scheidewand — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen! Zu Betrachtungen, wie viel ersprießlicher und erfreulicher das Leben der Luxemburg verlaufen wäre, wenn sie sich als Wärterin in einem Zoologischen Garten betätigt hätte statt als Bändigerin von Menschenbestien, von denen sie schließlich zerfleischt ward, und ob sie als Gärtnerin edler Blumen, von denen sie allerdings mehr als eine Gutsbesitzerin wusste, lohnendere und  befriedigendere Beschäftigung gefunden hätte denn als Gärterin menschlichen Unkrauts — zu solchen Betrachtungen wird, solange die Frechheit von der Furcht gezügelt ist, kein Atemzug langen. Auch bestünde die Gefahr, dass etwaiger Spott über das »Kittchen«, in dem eine Märtyrerin sitzt, auf der Stelle damit beantwortet würde, dass man es der Person, die sich solcher Schändlichkeit erdreistet hat, in die Höhe hebt, wenn man nicht eine Ohrfeige vorzöge, die, wie ich Ihnen versichern kann, bei kräftigen Heldenmüttern sehr wohltätig wirkt! Was vollends den Hohn darüber betrifft, dass Rosa Luxemburg »mit Gewehrkolben Bekanntschaft gemacht« hat, so wäre er gewiss mit ein paar Hieben, aber nur mit jenem Peitschenstiel, der Rosa Luxemburgs Büffel getroffen hat, nicht zu teuer bezahlt. Nur keine Sentimentalität! Larmoyante Beschreibungen solcher Prozeduren können wir nicht brauchen, das ist nichts für die Lesebücher. Wer auf einem großen Gut Südungarns aufgewachsen ist, wo das sowieso schon schäbige und rissige Fell der Büffel kein Mitleid mehr aufkommen lässt und ihr stets stumpfsinniger »Gesichtsausdruck« — ein Gesichtsausdruck, der mithin nicht nach der Andacht einer Luxemburg, sondern nach Gänsefüßen, nach den Fußtritten einer Gans verlangt — sich von dem idealen Antlitz der südungarischen Gutsbesitzer unsympathisch abhebt, der weiß, dass man in Ungarn noch ganz andere Prozeduren mit den Geschöpfen Gottes vornimmt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und dass die Gutsbesitzerinnen mit den Kommerzienrätinnen darin völlig einig sind, sichs wohl gefallen zu lassen. Ich meine nun freilich, dass man weder für Revolutionstribunale sich begeistern noch mit dem Standpunkt jener Offiziere sympathisieren soll, die sich aus dem Grunde, weil das Letzte, was ihnen geblieben ist, die Ehre ist, dazu hingerissen fühlen, ihre Nebenmenschen zu kastrieren. Aber so ungerecht bin ich doch, dass ich zum Beispiel Damen, die noch heute »unsere Feldgrauen« sagen, verurteilen würde, den Abort einer Kaserne zu putzen und hierauf »stracks« den Adel abzulegen, von dem sie sich noch immer, und wär’s auch nur in anonymen Besudelungen einer Toten, nicht trennen können. Allerdings meine ich auch, dass unsere Feldgrauen, abgesehen von den schweren Kämpfen, die sie in Rumänien zu bestehen hatten und zwar nur deshalb, weil die Lesebücher bis 1914 noch nicht vom Geist der guten Rosa Luxemburg, sondern von dem der Gutsbesitzerinnen inspiriert waren, faktisch auch Zeit, Kraft und Lust gehabt haben, Büffel zu stehlen und zu zähmen, und ferner, dass, solange die Bewunderung deutscher und südungarischer Walküren für die militärische Büffeldressur vorhält, auch die Menschheit nicht davor bewahrt sein wird, mit Vorliebe zu Lasttieren abgerichtet zu werden. Was ich aber außerdem noch meine — da ja nun einmal meine Meinung und nicht bloß mein Wort gehört werden will — ist: dass, wenn das Wort der guten Rosa Luxemburg nicht von der geringsten Tatsächlichkeit beglaubigt wäre und längst kein Tier Gottes mehr auf einer grünen Weide, sondern alles schon im Dienste des Kaufmanns, sie doch vor Gott wahrer gesprochen hätte als solch eine Gutsbesitzerin, die am Tier die Anspruchslosigkeit im Futter rühmt und nur die langsame Gangart beklagt, und dass die Menschlichkeit, die das Tier als den geliebten Bruder anschaut, doch wertvoller ist als die Bestialität, die solches belustigend findet und mit der Vorstellung scherzt, dass ein Büffel »nicht besonders erstaunt« ist, in Breslau einen Lastwagen ziehen zu müssen und mit dem Ende eines Peitschenstieles »Eines übers Fell zu bekommen«. Denn es ist jene ekelhafte Gewitztheit, die die Herren der Schöpfung und deren Damen »von Jugend auf« Bescheid wissen lässt, dass im Tier nichts los ist, dass es in demselben Maße gefühllos ist wie sein Besitzer, einfach aus dem Grund, weil es nicht mit der gleichen Portion Hochmut begabt wurde und zudem nicht fähig ist, in dem Kauderwelsch, über welches jener verfügt, seine Leiden preiszugeben. Weil es vor dieser Sorte aber den Vorzug hat, »bloßen Vernunftgründen gegenüber nicht immer zugänglich« zu sein, erscheint ihr der Peitschenstiel »wohl ab und zu unerlässlich«. Wahrlich, sie verwendet ihn bloß aus dumpfer Wut gegen ein unsicheres Schicksal, das ihr selbst ihn irgendwie vorzubehalten scheint! Sie ohrfeigen auch ihre Kinder nur, deren Kraft sie an der eigenen Kraft messen, oder lassen sie von sexuell disponierten Kandidaten der Theologie nur darum mit Vorliebe martern, weil sie vom Leben oder vom Himmel irgendwas zu befürchten haben. Dabei haben die Kinder doch den Vorteil, dass sie die Schmach, von solchen Eltern geboren zu sein, durch den Entschluss, bessere zu werden, tilgen oder andernfalls sich dafür an den eigenen Kindern rächen können. Den Tieren jedoch,die nur durch Gewalt oder Betrug in die Leibeigenschaft des Menschen gelangen, ist es in dessen Rat bestimmt, sich von ihm entehren zu lassen, bevor sie von ihm gefressen werden. Er beschimpft das Tier, indem er seinesgleichen mit dem Namen des Tiers beschimpft, ja die Kreatur selbst ist ihm nur ein Schimpfwort. Über nichts mehr ist er erstaunt, und dem Tier, das es noch nicht verlernt hat, erlaubt ers nicht. Das Tier darf so wenig erstaunt sein über die Schmach, die er ihm antut, wie er selbst; und wie nur ein Büffel nicht über Breslau staunen soll, so wenig staunt der Gutsbesitzer, wenn der Mensch ein gewaltsames Endenimmt. Denn wo die Welt für ihre Ordnung in Trümmer geht, da finden sie alles in Ordnung. Was will die gute Luxemburg? Natürlich, sie, die kein Gut besaß außer ihrem Herzen, die einen Büffel als Bruder betrachten wollte, hätte gewiss gern, wenn es ihr möglich gewesen wäre, den Büffeln Revolution gepredigt, ihnen eine Büffel-Republik gegründet, womöglich mit schönen Lauten der Vögel und dem melodischen Rufen der Hirten, wobei es fraglich ist, »ob die Büffel auf Letzteres so besonderes Gewicht legen«, da sie es selbstverständlich vor ziehen, dass nur auf sie selbst Gewicht gelegt wird. Leider wäre es ihr absolut nicht gelungen, weil es eben auf Erden ja doch weit mehr Büffel gibt als Büffel! Dass sie es am liebsten versucht hätte, beweist eben nur, dass sie zu den vielen hysterischen Frauen gehört hat, die sich gern in Alles hineinmischen und immer Einen gegen den Anderen hetzen möchten. Was ich nun meine, ist, dass in den Kreisen der Gutsbesitzerinnen dieses klinische Bild sich oft so deutlich vom Hintergrund aller Haus- und Feldtätigkeit abhebt, dass man versucht wäre zu glauben, es seien die geborenen Revolutionärinnen. Bei näherem Zusehn würde man jedoch erkennen, dass es nur dumme Gänse sind. Womit man aber wieder in den verbrecherischen Hochmut der Menschenrasse verfiele, die alle ihre Mängel und üblen Eigenschaften mit Vorliebe den wehrlosen Tieren zuschiebt, während es zum Beispiel noch nie einem Ochsen, der in Innsbruck lebt, oder einer Gans, die auf einem großen südungarischen Gut aufgewachsen ist, eingefallen ist, einander einen Innsbrucker oder eine südungarische Gutsbesitzerin zu schelten. Auch würden sie nie, wenn sie sich schon vermäßen, über Geistiges zu urteilen, es beim »guten Stil« anpacken und gönnerisch eine Eigenschaft anerkennen, die ihnen selbst in so auffallendem Maße abgeht. Sie hätten — wiewohl sie bloßen Vernunftgründen »gegenüber« nicht immer zugänglich sind — zu viel Takt, einen schlecht geschriebenen Brief abzuschicken, und zu viel Scham, ihn zu schreiben. Keine Gans hat eine so schlechte Feder, dass sie’s vermöchte! Meinen Sie nicht auch? Sie ist intelligent, von Natur gutmütig und mag von ihrer Besitzerin gegessen, aber nicht mit ihr verwechselt sein. Was nun wieder diese Kreatur vor jener voraus hat, ist, dass sie sichs im Ernstfall, wenn’s ihr selbst an den Kragen gehen könnte, beim Himmel mit dem Katechismus zu richten versteht und dass sie dazu noch die Güte für sich selbst hat, einen zu ermahnen, man müsse »nicht immer das Schlimmste annehmen und die Leute (u. die Tiere) prinzipiell nur bedauern, ohne die näheren Umstände zu kennen; das kann mehr Böses als Gutes anrichten.« Böses vor allem für die prädestinierten Besitzer von Leuten (u. Tieren), deren Verfügungsrecht einer göttlichen Satzung entspricht, die nur Aufwiegler und landfremde Elemente wie zum Beispiel jener Jesus Christus antasten wollen, die aber in Geltung bleibt, da das Streben nach irdischen Gütern Gottseidank älter ist als das christliche Gebot und dieses überleben wird. So meine ich!


Neonazis + Hitler = „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott.“ Konrad Heiden

22. August 2022 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Da schon wieder oder immer noch die geistige Schwäche, diesmal sogar in Form einer deutschen Parlamentspartei, auf angebliche nazi-onale Größe sich beruft und über einen ihrer Vordenker auf Vogelschiss sich herausreden wollte, wird hier für ewig Gestrige eine historische Abrechnung aus dem Jahre 1935  exhumiert, die keineswegs als nachträgliches braunes Sakrament daherkommt, sondern der Klärung der geistigen Exkremente ewig Gestriger dient.

Karl Kraus beschrieb bereits 1933 in „Dritte Walpurgisnacht“  die Terrorwelt im dritten Reich. Er hatte als Quelle nur die jedermann zugänglichen Berichte aus Zeitungen. Sie beschrieben das Grauen im NS-Staat, als jeder Gegner nicht nur sprichwörtlich wie Freiwild zum Abschuss freigegeben wurde. „Wir haben es nicht gewusst…“, dabei musste man nur die Zeitungen in Nazideutschland aufschlagen. Auschwitz begann 1933. 

Zwei Jahre danach veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine Biographie des aus Österreich stammenden Führers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an Versager oder Verbrecher waren, also schon lange vor der sog. Machtergreifung und es auch blieben. „Nationalsozialismus: Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“.  So 1935 Konrad Heiden und ich möchte hinzufügen: Tat ohne Moral.

Konrad Heidens Hitlerbiographie wird hier in wesentlichen Auszügen vorgelegt zur Standortbestimmung gegen pseudonational Verwirrte für alle Zukunft. Für die im Denken Kurzen leider etwas länger als besagter Vogelschiss, aber es lohnt der Klarheit wegen.

Der geistige Ziehvater der neuen Rechten, Adolf Hitler, war ein kompletter Versager im bürgerlichen Leben, wie sehr viele seiner damaligen Mit- und heutigen Nachläufer auch. Er war ein nichtsnutziges Rednertalent, körperlich schwach und überaus faul, deshalb begrenzt gebildet, ausgestattet mit den darwinistischen Instinkten des Obdachlosenasyls, ohne Moral und Anstand, persönlich feige, ein Menschenverächter aus Überheblichkeit und Neid, als Mensch untauglich, ein notorischer Lügner für seinen Vorteil, skrupellos gegen Andersdenkende bis zum vielfachen Mord in den eigenen Reihen schon 1934. So machte er sich auf dem Weg zur Entfesselung des Weltenbrandes, in Begleitung des Abschaums der Gesellschaft und den zu allen Zeiten bereiten, korrupten Karrieristen.  Mehr war das nicht mit diesem Hitler und bedauerlicherweise nicht weniger, allen ähnlich gearteten Epigonen zum Trotz.

 Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte Flachköpfe sie immer aufs Neue mit dem Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den jene mit der Verrichtung ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen.  Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes. Man muss nicht von dieser grausigen Ausgeburt sprechen, aber man soll und man muss von ihren Opfern sprechen.  Diese Albtraumspottfigur ist es nicht wert, außer man liest Konrad Heiden. Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden. Und: Es gibt nichts wirklich Neues über den Verführer nach Konrad Heiden. Das trifft auf alle Biographien Hitlers der folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu.

Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte Heiden die Rückführung des „Phänomens“ Hitler auf die banale Wirklichkeit. Man erinnert Hannah Arendts Wort von der Banalität des Bösen.

Eine Neuauflage erschien dankenswerterweise 2011  im Europaverlag Zürich. Erhältlich ist sie bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage und lohnt mehr als alle anderen postmortalen telegenen Erklärungsversuche des großen Verderbers.

Konrad Heiden, *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im allerbesten Sinne.

„Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.“

KONRAD HEIDEN

ADOLF  HITLER

DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT

    EINE BIOGRAPHIE          EUROPAVERLAG  ZÜRICH 1936

Am Furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe; ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, dass der hellere Teil der Menschheit sie als Betrogene oder Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen.

Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zwanzigstes Buch

Vorwort

Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Bedürfnis auszusprechen, was ist. In Deutschland ist das heute unmöglich, weil dort die Interessen des Staates der objektiven Erforschung der Wahrheit entgegenstehen. Außerhalb Deutschlands erschweren es zunächst jene natürlichen Irrtümer, die aus Fremdheit und Entfernung entspringen. Ein System schließlich, dass mit soviel Intelligenz und Leidenschaft über seine Grenzen hinauswirkt und das andererseits wie mit magnetischer Kraft soviel Intelligenz und Leidenschaft feindlich gegen sich sammelt, ist durch das bloße Bestehen eine ernste Gefahr für den Wahrheitssinn in der ganzen Welt. Die Hingabe von Kämpfern an hohe Ziele kann ebenso wie der niedrige Einfluss von Interessen das reine Gefühl für die Wahrheit trüben.

Die Lüge ist wie der Krieg ein Unheil, das einseitig entfesselt werden kann, aber dann alle verdirbt. Wahrheit ist auf die Dauer die schärfste Waffe, und das Erz, aus dem sie geschmiedet wird, heißt Tatsache. Das vorliegende Buch basiert auf fünfzehnjähriger  Beschäftigung mit dem Thema, auf Beobachtung aus der Nähe, schon in der frühesten Stunde; auf Durchsicht aller erreichbaren Quellen, offener und vertraulicher; schließlich auf  Auskünften mancher eingeweihter Personen, von denen heute noch einige in der Nähe Hitlers an wichtiger Stelle tätig sind. Die aller Welt bekannten Umstände machen es leider unmöglich, diese Gewährsmänner zu nennen; ich muss mich mit der Hoffnung zufrieden geben, dass die belegten Teile des Buches ausreichendes Vertrauen  auch für die notgedrungenerweise  nicht belegten  erwecken werden.

Auf Grund dieses Materials habe ich in meiner „Geschichte des Nationalsozialismus“ den Aufbau der Hitlerbewegung, in „Geburt des dritten Reiches“  den Aufbau des Hitlerstaates darzustellen versucht. Die Schilderung der Hauptperson musste dabei zu kurz kommen; das Menschliche, Private, vieles Anekdotische wegfallen. In diesem Buche versuche ich es zu geben. Ich halte das für gerechtfertigt. „Adolf Hitler ist Deutschland“ wurde von maßgebender Stelle verkündet, nun, so versuche ich, in Adolf Hitler dies heutige Deutschland zu erklären. Der „Held“ dieses Buches ist weder ein Übermensch noch ein Popanz, sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse  und, zahlenmäßig betrachtet, der größte Massenerschütterer der Weltgeschichte. Man hat mich früher wegen der Überschätzung dieses Gegners getadelt; ich muss heute solche Tadler von ehemals vor Überschätzung warnen. Es scheint an dem eigentümlichen Magnetismus dieser Persönlichkeit zu liegen, dass sie die Urteile nach oben oder nach unten  verrückt. Ob ich grade getroffen habe mag der Leser entscheiden. Wenn man einen Abgrund zuschütten will, muss man seine Tiefe kennen.

Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.

Zürich, 20. August 1935  Konrad Heiden

Vorwort zum 18. Bis 20. Tausend

Nach dem Erscheinen des Buches gingen mir, wie zu erwarten war, von vielen Seiten  Mitteilungen zu, die dem Bilde Adolf Hitlers weitere Einzelzüge hinzufügen wollten. Ändern konnten sie es nicht. Lücken oder gar Irrtümer, mit denen eine zeitgenössische Darstellung rechnen muss, berichtigt zum Teil die Geschichte, indem sie die Figuren von den Plätzen stößt und Verborgenes bloßlegt; völlige Klarheit bleibt das unerreichte Ziel  jeder Geschichtsschreibung. Künftige Forscher werden vieles sehen, was uns heute noch entzogen ist; manches werden sie aus ihrer Ferne kaum glauben, was die Gegenwart breit erlebt, aber selten lang bewahrt. Dies rechtfertigt den Versuch zeitgenössischer Geschichtsschreibung.

Die Notwenigkeit fortwährenden Neudrucks legte den Gedanken nahe, eine der Auflagen  zur Einfügung des sich ansammelnden zusätzlichen Materials zu benutzen. Das ist hiermit geschehen. Der Leser wird dabei allerlei bisher unbekanntes Detail finden, und ich hoffe, dass das Buch an Farbe und Spannung gewonnen hat. Vom Ganzen her gesehen handelt es sich  freilich um  Neuigkeiten, doch um nichts Neues. Die Familien- und Jugendgeschichte wurde ausgeforscht und mit Daten belegt; die Schauer des 30.Juni mussten, wie sie mir  mit neuen Tatsachen mitgeteilt und verbürgt wurden, berichtet werden. Aber wirklich abgeändert werden musste die Darstellung nur in einem Punkt. Der Tod Angela Raubals, der Nichte Adolf Hitlers, erscheint mir  heute nicht mehr als Selbstmord.

Die Zusätze haben den Umfang des Buches erweitert. Sie hätten es noch mehr getan, wenn nicht einige Striche anekdotisches Nebenwerk, gelegentlich Wiederholungen und Längen beseitigt hätten.

*

In Tagen des Bangens um Europa werden diese Zeilen geschrieben. Die Zeit hat ein furchtbares Tempo angenommen, und die Schrecken von gestern weichen schier der rasch  wachsenden Angst vor dem Morgen. Aber gerade deshalb hat dieses Buch seinen guten Sinn. Es sucht zu schildern, wie eine Welt unterging, weil sie der eigenen Kraft nicht mehr vertraute, an die volle Ruchlosigkeit des Gegners nicht glaubte, mit der Treulosigkeit Verträge und mit der Vernichtung Frieden schloss. Diese tödlichen Irrtümer aber waren kein Zufall. Sie entsprangen dem Egoismus der einzelnen Teilhaber an jener versinkenden Welt. Ihnen fehlten Kraft und Klammer eines gemeinsamen, durch Willen lebendigen Gedankens, für den sie die Existenz in den Kampf geworfen hätten.

Auch Europa wird in den kommenden Kampf – in welcher Form er immer ausgefochten werde –  nicht bestehen, wenn ihn nur die verbündete Selbstsucht einzelner Völker führt. Nicht das Sicherheitsverlangen  ängstlicher  Nationen, sondern das neue Hochgefühl einer stolzen europäischen Zukunft, weit alle beschränkten nationalen Zielsetzungen überflügelnd, wird die Gefahren von heute bannen. Und diese Hegemonien und Imperien  würden, eins nach dem andern, wiederum an dem inneren Widerspruch ihrer Zielsetzung zugrunde gehen, die eine hoffnungslose Völkerwelt des Eroberns und Zerstörens, Fressens und Gefressenwerdens nicht überwindet, sondern verewigt.

Es gibt geschichtliche Notwendigkeiten, deren Strom tief unter dem Wellenschlag der Tagesereignisse dahinzieht. Die Europäisierung der Nationen wird der große geschichtliche Prozess der nächsten Jahrzehnte sein. Aus ihm wird ein Europa hervorgehen, das nicht mehr auf den Berechnungen der Staatsmänner, sondern auf dem Willen der Völker gründet. Denn an den Willen, nicht den Glauben, geht der neue Auftrag der Geschichte: das Europa des neuen Menschen zu schaffen. Deutschland wird in ihm nicht mehr der Schrecken, sondern eine Hoffnung der Welt sein. Das ist ein deutsches Ziel.

Zürich 10.Mai  1936  Konrad Heiden

Erster Teil

ZUM MENSCHEN UNTAUGLICH

1. Heimat und Herkunft

Die Vorfahren

Adolf Hitlers Vater ist der uneheliche Sohn einer armen Bauernmagd. Die merkwürdigen Familienverhältnisse Hitler mag die nebenstehende Stammtafel (fehlt hier. Anm. d. Red.), die sich auch zum Teil auf die  Forschungen des Wiener Genealogen Karl Friedrich von Frank, aber auch auf sonstige Nachforschungen in Kirchenbüchern stützt, etwas verdeutlichen. Dieses Bruchstück einer Ahnentafel zeigt, wie die heutige Namensform Hitler aus einem Sammelsurium verschiedener Klänge und Schreibungen erst sehr spät herauswächst. Es gibt erwiesenermaßen viele jüdische Hitlers, und die Ähnlichkeit des sonst seltenen Namens hat zur Suche nach einem jüdischen Einschlag in der Familiengeschichte verleitet. Es ist ein Irrtum.(…)

Merkwürdige Familie

Das „Waldviertel“ (…) ist eine ernste, abseitige, nicht eben reiche Landschaft; wie viele solcher Gegenden hat sie keinen Mangel an Aberglauben und Spukgeschichten. Die Ahnen scheinen arme Bauersleute gewesen zu sein; „Kleinhäusler“ steht öfters in den Kirchenbüchern. Von der Unruhe der Hitlerschen, der Beständigkeit der Pölzlschen Linie, die in Adolf Hitlers Elternpaar aufeinandertreffen, wurde schon gesprochen. (…) Bemerkenswert ist in der väterlichen Linie die Vitalität. Die Zahl von Alois Hitlers ehelichen Kindern ist sieben, doch schon bei Georg Hiedler lassen die spärlichen  Daten alle Vermutungen zu. Dreimal hat Alois Hitler geheiratet, 52 Jahre war er alt, als sein Sohn Adolf geboren wurde, mit 57 Jahren kann das letzte Kind. Das auffallende Kindersterben in der dritten Ehe deutet auf eine Schwächeanlage, die offenbar aus dem Blute der Mutter stammt; das Bild zeigt ein junge Frau von zartem Typus. Merkwürdig wie dieselbe Krankheit durch die ganze Familie schleicht: Alois Hitlers erste und zweite Frau sterben an Schwindsucht, auch er erliegt einem Lungenleiden.

Ist erbliche Belastung zu erkennen? Eine Tante Adolf Hitlers mütterlicherseits wird von einer Hausgenossin als „arbeitsscheu und nicht ganz normal“ bezeichnet, doch reicht dies Zeugnis natürlich nicht aus. Ein Sohn aus Alois Hitlers zweiter Ehe geriet auf die schiefe Bahn, doch gerade dessen Vollschwester  Angela wird als tüchtiger, normaler Charakter mit sympathischen Zügen geschildert.  Absonderlichkeiten weist die Familiengeschichte genug auf; dennoch reichen sie wohl nur eben hin, das bereits bekannte Bild Adolf Hitlers ein wenig schärfer zu beleuchten. Mit Adolf Hitler ist die Familiengeschichte in die Politik gekommen. Darum steht die seine hier.

2. Ein früh gescheiterter

Erste Daten

(…) Die nächste offizielle Nachricht  über den Lebensgang dieses Kindes liefert das Jahr 1895. Am 2. April dieses Jahres kommt es in die Volksschule von Fischlham bei Hafeld. Zwei Jahre darauf Übergang in die Klosterschule des Stifts Lambach; ein Lehrer erinnert sich, dass er diesen Schüler wegen Rauchens im Klostergarten entlassen habe. Das letzte Volksschuljahr verbringt er in Leonding; es muss vermerkt werden, dass in seinen Zeugnissen aus dieser Zeit nur die Note 1 steht, gelegentlich mit Ausnahme von Gesang, Zeichnen und Turnen. Umso auffallender ist der Rückschlag, als er im September 1900 in die Staatsrealschule in Linz eintritt. Im ersten Schuljahr sind dort die Leistungen derart, dass er sitzen bleibt und die Klasse wiederholen muss. Dann bessern sich die Leistungen zeitweise; in Geschichte sind sie mehrmals vorzüglich, in Mathematik genügend oder nicht genügend, ebenso Französisch; meistens genügend oder allenfalls befriedigend auch in Deutsch, vorzüglich in Freihandzeichnen und in Turnen. Der Fleiß wird als ungleichmäßig oder allenfalls hinreichend bezeichnet. Ein Jahr nach dem Tode des Vaters geht er von Linz fort nach Steyr in Oberösterreich(…) und besucht die dortige Staatsrealschule.

Kindheit und Schule

Was sagt Hitler selbst über seinen Bildungsgang? Vater will ihn studieren lassen. Er soll höherer Staatsbeamter werden. Adolf will nicht: „Mir wurde gähnend übel bei dem Gedanken  als unfreier Mann in einem Büro sitzen zu dürfen, nicht Herr sein zu können der eigene Zeit, sondern in auszufüllende Formulare den Inhalt eines ganzen Lebens füllen zu müssen.“ Die Scheu vor geregelter Arbeit ist ihm geblieben. Er wagt dem Vater aber nicht offen zu widersprechen: „Ich konnte meine inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügt mein eigener fester Entschluss, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen.“ Ein kleiner Duckmäuser also.

„Wie es nun kam, weiß ich heute selber nicht, aber eines Tages war mir klar, dass ich Maler werden würde, Kunstmaler.“ Härteste Opposition des Vaters: „ Kunstmaler, nein, solange ich lebe niemals!“ Darauf passive Resistenz des Sohnes: „ Ich ging einen Schritt weiter und erklärte, dass ich dann überhaupt nicht mehr lernen wollte. Da ich nun natürlich doch mit solchen Erklärungen den Kürzeren zog, insoferne der alte Herr jetzt seine Autorität rücksichtslos durchzusetzen sich anschickte, schwieg ich künftig“ – der Widerstand duckt sich abermals vor dem väterlichen Stock – „setzte meine Drohung aber in die Wirklichkeit um. Ich glaubte, dass, wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben mich doch meinem erträumten Glück würde zugehen  lassen.“

Mit anderen Worten: Der Schüler Adolf Hitler wird aus Kunstbegeisterung faul: „Sicher war zunächst mein  ersichtlicher Misserfolg in der Schule.  Was mich freute, lernte ich, vor allem auch alles, was ich meiner Meinung nach später als Maler brauchen würde. Was mir in dieser Hinsicht bedeutungslos erschien oder mich auch sonst nicht so anzog, sabotierte ich vollkommen. Meine Zeugnisse in dieser Zeit stellen, je nach dem Gegenstande und seiner Weinschätzung, immer Extreme dar. Neben „lobenswert“ und „vorzüglich“  „genügend“ oder  auch  „nicht genügend“. Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in Weltgeschichte.“ Das ist ein sehr verklärendes Rückerinnern. In Wahrheit blickt aus diesen Schulzeugnissen ein gewecktes Kind mit lebhafter Phantasie und wenig Disziplin heraus, das sich für die bunten und leicht fasslichen Fächer interessierte und die anstrengenden vernachlässigte.

Es gibt genug Berichte von Lehrern und Mitschülern, Hausgenossen und Nachbarn, die den Buben von damals ziemlich übereinstimmend schildern: ein großer Indianerhäuptling, Raufbold und Anführer,  stimm- und wortbegabt,  plant mit den Kameraden eine Weltreise, bringt Mordinstrumente wie „Bowie-Messer“ und „Tomahawk“  mit in die Schule und liest unter der Bank Karl May. Wenn er Prügel bekommt,  darf er sich beim Vater nicht beklagen, sondern muss sich selber helfen. Das alles gibt kein unsympathisches Knabenbild; nur sollte in Verständiger, groß geworden, nicht mehr daraus machen, als dran ist.

Ungenügende Schulleistungen sagen gewiss nichts gegen einen Menschen; selbst ungenügende Leistungen in Deutsch brauchen  einen künftigen Redner und Schriftsteller noch nicht bloßzustellen. Aber Hitler selbst  ist es, der diese Dinge ungeheuer ernst nimmt, indem sie weit über ihr natürliches Gewicht hinaus das Gemüt belasten. Den mangelhaften Schulleistungen schreibt er den Fehlschlag seiner bürgerlichen Laufbahn zu; und was er – im Gegensatz zu tausenden anderen Autodidakten –  im Leben an Bildung nie erwirbt, soll nach seiner Meinung immer noch die Folge dieser Jahre in Linz und Steyr sein. Diese Selbstbemitleidung wird von den Schulzeugnissen auf ihr richtiges Maß zurückgeführt. Schnelligkeit des Begreifens und Unlust zur Arbeit – diese Eigenschaften  kennzeichnen den Knaben und prägen bis in die feinste Verästelung die intellektuelle Seite eines ganzen Menschenlebens.

Inzwischen werden sein Leistungen in der Schule immer schlechter, der Konflikt mit dem Vater immer härter. Alois Hitler erleidet einen Schlaganfall, als sein Sohn zwölf Jahre alt ist. „Was er am Meisten ersehnte, seinem Kinde die Existenz mitzuschaffen, um es so vor dem eigenen bitteren Werdegang zu bewahren, schien ihm damals wohl nicht gelungen zu sein.“ Alois Hitler starb, an der Wohlgeratenheit seines Sohnes zweifelnd.

Kunst und Krankheit

Die Mutter lässt ihn weiter auf die Schule gehen. Aber: „In eben dem Maße nun, in dem die Mittelschule sich in Ausbildung  und Lehrstoff von meinem Ideale entfernte, wurde ich innerlich gleichgültiger. Da kam mir plötzlich eine Krankheit zu Hilfe.“ Diese Krankheit ist ein Lungenleiden, das ihn auch zum Militärdienst untauglich macht, das später unter der Wirkung einer Gasvergiftung wieder hervortritt, seine Stimme zeitweise schwächt, dann eine Weile wieder schläft und in der Mitte des fünften Lebensjahrzehnts anscheinend abermals ausbricht.

In den Jahren nach des Vaters Tode war Adolf Hitler öfters mit der Mutter und der jüngsten Schwester Paula in Spital, also in der Heimat der Mutter. Dort verbrachte er bei der Tante Therese Schmidt seine Ferien. Er wird aus jener Zeit als großer, bleicher und hagerer Junge geschildert. In Spital scheint ihn das Leiden besonders gepackt zuhaben. Er war in Behandlung bei dem Arzt Dr. Karl Keiß in Weitra. Dieser sagte zu der Tante Therese: „Von dieser Krankheit wird der Adolf nicht mehr gesund.“ (…) Zu seiner Tante Therese sagt er beim Abschied im Jahre 1908: er werde nicht früher wieder nach Spital kommen, als bis er etwas geworden sei.

Was er werden will, ist immer noch Maler. Der Schulbesuch wird einfach abgebrochen. Ohne Abschluss und Reifzeugnis und zumindest auch ohne zwingenden materiellen Grund  verlässt er die Schule im Jahre 1905 endgültig. (…) Was Adolf Hitler in den letzten Jahren bis zum Tode seiner Mutter tat und wo er sich aufgehalten hat, darüber geht er in seiner Lebensbeschreibung mit dunklen Worten hinweg. Es scheint fast, dass er damals zum ersten Male für ein paar Monate in Deutschland gewesen ist. Ehemalige Schüler der privaten Malschule des Professors Gröber in der Blütenstraße in München erinnern sich an einen Mitschüler namens Hitler. Es gibt auch zwei Photographien; sie zeigen im Kreise von Kolleginnen und Kollegen einen Jüngling, dessen Ähnlichkeit mit etwas späteren Bildern nicht gering ist. Er soll nach Schilderungen im Allgemeinen ruhig und zurückhaltend, fast schüchtern gewesen sein; gelegentlich konnte er dann stark ausbrechen und viel Lärm und Betrieb machen. Er sprach stark mit den Händen, und seine kurzen, eckigen, brüsken Kopfbewegungen fielen auf – Merkmale, die ein paar Jahre später auch in Wien von Kameraden beobachtet wurden. Ein Schulkollege aus dieser Münchner Zeit sagte viele Jahre später zu einer Mitschülerin, die ihn an den ehemaligen Kameraden erinnerte: „ Was, unser schüchterner Jüngling soll jetzt der Hitler sein?“

Durchgefallen

Seit Oktober 1907 lebt er, von der Mutter oder anderen Verwandten unterstützt, in Wien, sich auf die Malakademie vorbereitend und im übrigen die große Stadt auf knabenhafte Weise genießend: Theater, Museen, Parlament. Bald bezeichnet er sich als Student, bald als Maler, denn er ist überzeugt, dass er demnächst Schüler der Malschule in der Akademie der bildenden Künste sein wird. Er wird es nicht sein.(…) „Die Probezeichnung machten mit ungenügendem Erfolg oder wurden nicht zur Probe zugelassen, die Herren: … Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…  ungenügend.“

Also abgelehnt. Zu Hause scheint er von diesem Misserfolg nichts erzählt zu haben und in seiner Lebensbeschreibung verschweigt er ihn völlig. Er bleibt in Wien (…) und nimmt sich vor, es im nächsten Herbst nochmals zu versuchen. Das Ergebnis ist noch niederschmetternder, denn diesmal heißt es in der Klassifikationsliste einfach:

„Die Probezeichnungen machten mit ungenügendem Erfolg oder waren nicht zum Probezeichnen zugelassen die Herren: …. 24.  Adolf Hitler, Braunau a. Inn, 20.April 1889,…Nicht zur Probe zugelassen.“ Das bedeutet, die von ihm mitgebrachten Zeichnungen waren derart, dass die Prüfenden eine Probe nicht mehr für notwendig hielten. (…)

Gebrochen fährt er nach Hause zurück, ans Krankenbett der Mutter. Entschlusslose Monate folgen. Es ist schon zu sehen, dass ihn die Mutter demnächst verlassen wird, bei der er seit des Vaters Tode – nach seinen eigenen Ausdrücken – als „Muttersöhnchen“ in „weichen Daunen“ und der „Hohlheit gemächlichen Lebens“ herumgelegen hat. Ein verspieltes, verträumtes Jugenddasein geht dem Ende zu. Klara Hitler stirbt am 21. Dezember 1908. Adolf Hitler, ein verwöhnter Junge von 19 Jahren, der nichts gelernt hat, nichts erreicht hat und nichts kann, steht vor dem Nichts.

Das Arbeitererlebnis

Dieses Nichts bedeutet vier Jahre Elend in Wien. Er selbst erzählt, er habe sich in dieser ersten Wiener Zeit durch Handarbeit sein Brot erworben, namentlich als Handlanger  und Steinträger  auf dem Bau. Sein Bericht über diese Lebensperiode ist so kennzeichnend für ihn, dass er trotz aller Bedenken hier stehen möge: „Meine Kleidung war noch etwas in Ordnung, meine Sprache gepflegt und mein Wesen zurückhaltend. Ich suchte nur Arbeit, um nicht zu verhungern, um damit die Möglichkeit einer, wenn auch noch so langsamen Weiterbildung zu erhalten.  Ich würde mich um meine neue Umgebung überhaupt nicht gekümmert haben“  – wenn sie sich nicht um ihn gekümmert hätte.

Die Arbeiterkollegen verlangen seinen Eintritt in  die Gewerkschaft. Er antwortet, er lasse sich zu nichts zwingen. Stumm und erbittert sitzt der Jüngling  mit  den besseren Kleidern und dem gepflegten Wesen abseits, trinkt ein Flasche Milch und macht lange Ohren, wenn die Kollegen politisieren. (…) Diese unglückseligen Wiener Arbeiter  „lehnen alles“ ab,  wie Hitler findet.(…) Er versucht zu widersprechen und macht eine unangenehme Entdeckung: Die Arbeiter wissen mehr als er. Sie führen ihn vor: „Da musste ich allerdings erkennen, dass der Widerspruch solange vollkommen aussichtslos war, solange ich nicht wenigstens bestimmte Kenntnisse über die nun einmal umstrittenen Punkte besaß.“

Darum beginnt er zu lesen – „Buch um Buch, Broschüre um Broschüre“: wie eben ein intelligenter junger Mensch wissen saugt. Über die Kunst des Lesens hat Hitler gescheite, aber verräterische Sätze geschrieben. Er verhöhnt die Vielleser, die keine Registratur für ihr angelesenes Wissen im Gehirn haben und darum zwecklosen Ballast aus der Lektüre mitschleppen; die sich mit jedem neuen Zuwachs ihrer Art von Bildung sich immer mehr der Welt entfremden, bis sie entweder in einem Sanatorium oder als Politiker in einem  Parlament enden. Anders Hitler: Ihn macht das Gefühl beim Studium jedes Buches, jeder Zeitschrift oder Broschüre  „augenblicklich auf all das aufmerksam, was seiner Meinung nach  für ihn zur dauernden Festhaltung geeignet, weil  es entweder zweckmäßig oder allgemein wissenswert ist.“ Das Gelesene findet so „seine sinngemäße Eingliederung in das  immer schon irgendwie vorhandene Bild, das sich die Vorstellung von dieser oder jener Sache geschaffen hat.“ Dort wird es „entweder korrigierend oder ergänzend wirken, es wird „die Richtigkeit oder Deutlichkeit desselben erhöhen.“ Nur solches Lesen habe Sinn, denn – „ein Redner zum Beispiel, der nicht auf solche Weise seinem Verstande die nötigen Unterlagen liefert, wird nie in der Lage sein, bei Widerspruch zwingend sein Ansichten zu vertreten. Bei jeder Diskussion wird ihn das Gedächtnis schnöde im Stich lassen.“

Gescheite Sätze, zumal für einen Redner. Aber auch verräterische, zumal für einen Propheten. Es ist vielleicht das Aufhellendste, was Hitler jemals über sich geschrieben hat. Das führt tiefer als bloß hinter die Tricks eines Streithammels, der nach Zitaten jagt, um am Stammtisch oder vor dem Volke Gegner abzutrumpfen. Das ist der fanatische Wille zur Borniertheit, der nur lernen will, was er schon weiß; der den Schmerz der Erkenntnis scheut und nur das Wohlgefühl des Rechthabens sucht. Und nun stelle man sich vor, wie ein Mensch mit solchem Hang zum Vorurteil später fremde Völker und Rassen nach den einseitigen Jugendeindrücken Wiens beurteilen, verkennen und verleumden musste!

Was Hitler eigentlich gelesen hat, verschweigt er sorgfältig. Sein ganzes Reden und Schreiben aber setzt es außer Zweifel, dass er niemals eine wesentliche Schrift von Marx gelesen, geschweige denn sich kritisch mit ihr auseinandergesetzt  hat, niemals führt er einen marxistischen Gedankengang an, auch nur um ihn zu widerlegen. Hat doch selbst später der wirtschaftliche Theoretiker des Nationalsozialismus, Gottfried Feder, einem Bekannten auf energisches Drängen zugegeben, er habe niemals das Kapital von Marx (ein übrigens nicht sonderlich schwer zu lesendes Werk), sondern nur das kritische Buch von Eugen Böhm-Bawerk gelesen. Hitler dürfte es nicht einmal bis zu Böhm–Bawerk gebracht haben. Wie er den Marxismus studierte, muss man im Wortlaut genießen:

„So begann ich nun, mich mit den Begründern dieser Lehre vertraut zu machen, um so die Grundlagen der Bewegung zu studieren.“ Er las also die dicken Bücher in wochenlanger Arbeit durch? Nun… „Dass ich hier schneller zum Ziele kam, als ich vielleicht erst selber zu denken wagte, hatte ich allein meiner nun gewonnenen, wenn auch damals noch wenig vertieften Kenntnis der Judenfrage zu danken. Sie allein ermöglichte mir den praktischen Vergleich der Wirklichkeit mit dem theoretischen Geflunker der Gründungsapostel der Sozialdemokratie…“- so redlich bemüht studierte das gelehrte junge Haupt die Gesetze vom Mehrwert und das Gesetz der fallenden Profitrate – „da sie mich die Sprache des jüdischen Volkes gelehrt hatte, das redet, um die Gedanken zu verbergen oder mindestens so zu verschleiern…“-  lohnt sich also gar nicht zu lesen!- und sein wirkliches Ziel ist mithin „nicht in den Zeilen zu finden, sondern schlummert wohlverborgen zwischen ihnen“, er klappt das Buch spätestens auf Seite 50 wieder zu.

Gerüstet mit den Argumenten aus antisemitischen Traktätchen und Broschüren, aus dem „Deutschen Volksblatt“, diskutiert er nun mit den Kollegen. Er zerrt ihre Ideale herunter, so wie sie es mit den seinen getan haben; beleidigt und reizt sie derart, dass sie ihn, wie er angibt, vor die Wahl stellen: den Bauplatz sofort zu verlassen oder vom Gerüst zu herunter zu fliegen. Nicht seine Weigerung, in die Gewerkschaft einzutreten, war Ursache dieser ersten schlechten Erfahrung mit den Arbeitern.

Obdachlosenasyl Meidling

So endet Adolf Hitlers erste Berührung mit der Arbeiterwelt, wenn wir seinem Bericht glauben dürfen. Aber dürfen wir es? Menschen, die ihn um jene Zeit gut kannten – Hausgenossen, Geschäftsfreunde, Bilderhändler -, behaupten, Hitler sei damals für körperliche Arbeit viel zu schwach gewesen, zumal für Arbeit auf dem Bau, bei der nur die robustesten Kerle eingestellt worden seien. Auch habe er damals nie etwas von dieser Bauarbeit erzählt. Diese Zweifel genügen nicht, um seine eigene Darstellung ganz zu wiederlegen; aber ausgeschmückt mag sie wohl sein. In einem Schriftchen, betitelt „Mein politisches Erwachen“, hat der eigentliche Gründer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, der Werkzeugschlosser Anton Drexler, ebenfalls erzählt, wie er wegen seiner Feindseligkeit gegen die Gewerkschaften durch die Arbeitskollegen von der Baustelle vertrieben worden sei; auch er sagt, damals sei in ihm der Hass gegen sie Sozialdemokratie entstanden – kurz, der Bericht Drexlers und Hitlers ähneln sich so auffallend, als ob einer vom andern abgeschrieben sei. Nur erschien „Mein politisches Erwachen“ 1920, „Mein Kampf“ aber 1925.

Seinen Quartiergebern erklärte Hitler damals, er „bilde sich zum Schriftsteller aus“. Sicher ist, dass er weder Geld noch Arbeit hatte und wirklich ins bitterste Elend geriet. Seine letzte Wohnung muss er im November 1909 verlassen. Ein paar Nächte irrt er obdachlos umher, schläft erst in Kaffeehäusern und dann in der Herbstkälte auf den Bänken in den Parkanlagen, von wo die Wachleute ihn wegjagen. (…)

Dieser Weg des bereits Einundzwanzigjährigen nach abwärts endet Anfang November 1909 im Obdachlosenasyl von Meidling. Auf harter Drahtpritsche, eine dünne Decke, als Kopfkissen die eigenen Kleider, die Schuhe unter den Bettfüßen festgeklemmt, damit sie nicht gestohlen werden, links und rechts die Genossen des gleichen Elends – so verbringt Adolf Hitler die nächsten Monate. Im Kloster in der Gumpendorferstraße  isst er täglich morgens die Armensuppe; abends schenken ihm die Kameraden im Asyl ein Stück Pferdewurst  oder eine Bissen Brot. Als der erste Schnee fällt, humpelt er, schwächlich und mit wunden Füßen, ein paarmal zum Schneeschaufeln an der Pilgrambrücke, aber er hält diese harte Arbeit bei Winterkälte, in einem abgeschabten blauen Röckchen und ohne Mantel, nicht lange aus. Dann stapft er mit den Kameraden durch den Schnee nach Erdberg, von da nach Favoriten; sie klopfen die Wärmestuben ab, wo die Obdachlosen vor Kälte Zuflucht finden und Suppe und ein Stück Brot bekommen. Diese Wärmestuben sind eine Stiftung des Barons Königswarter, eines Mannes jüdischer Abstammung; übrigens war auch  das Meidlinger Asyl aus jüdischen Mitteln gestiftet.

Gelegentlich steht Hitler am Westbahnhof  und trägt den Reisenden für ein paar Kreuzer die Koffer. Dann will er sich zu Erdarbeiten melden, die in der Gegend von Favoriten ausgeschreiben sind; aber ein neugewonnener Freund sagt ihm, er solle das nicht tun; habe er erst einmal mit schwerer Handarbeit angefangen, dann sei der Weg hinauf sehr schwer. Hitler folgt dem Rat.

Männerheim Brigittenau

Der Freund, der sich durch diese lebenskluge Warnung kennzeichnend einführt, ist der spätere Zeichner Reinhold Hanisch; etwas älter als Hitler, damals im gleichen Elend wie er, mit dem auf und ab des Lebens sehr vertraut. Hanisch hat vom Herbst 1909  bis in den Sommer 1910 acht Monate  lang mit Hitler in enger Freundschaft, Duzbrüderschaft und geschäftlicher Sozietät zusammen gelebt, Gutes und Böses mit ihm geteilt und über diese Zeit einen lebendigen und reizvollen Bericht geschrieben, dem hier ein paar Züge entnommen sind.

Bis etwa zum Jahresende bleiben die beiden im Obdachlosenasyl in Meidling. Während Hanisch nach allerlei Gelegenheitsarbeit läuft, sitzt Hitler brütend und untätig herum, so dass der neue Freund ihn einmal fragt, worauf er eigentlich warte? Er wisse es auch nicht recht, ist die Antwort. Gegen Weihnachten schickt die Schwester aus Linz ihm 50 Kronen  von der väterlichen Pension. Damit beginnt eine Art sozialer Aufstieg. Hitler zieht aus dem Obdachlosenasyl ins Männerheim in der Meldemannstraße im XX. Bezirk. Gegen das Asyl ist das schon ein guter Abstand; in Wahrheit freilich bleibt es ein dürftiges und trostloses Quartier. „Nur Tagediebe, Trinker und Dergleichen sind  längere Zeit im Männerheim zu finden“, meint Hanisch, der ebenfalls ein halbes Jahr mit Hitler dort gewohnt hat.

Hitler hat Hanisch erzählt, er sei akademischer Maler. Daraufhin rät ihm der geschäftstüchtige Freund, mit seiner Kunst etwas anzufangen und Ansichtskarten zu malen. Hitler antwortet, er wolle sich nach den vergangenen Strapazen erst einmal acht Tage ausruhen.(…) Er drängt Hitler zur Arbeit, nimmt ihm die Malereien ab und verkauft sie in den Gastwirtschaften. Später malt Hitler nach Vorlagen kleine Bildchen, die von Möbelhändlern und Rahmentischlern für ein paar Kronen gekauft werden. Damals wurden in die Rückenlehnen von Sofas solche Bilder eingelassen. (…)

Es sind durchweg steife, aber exakte Zeichnungen nach gedruckten oder lithographierten Vorlagen, und zwar Stadtansichten und Architekturstücke; menschliche Figuren, die allenfalls als winzige Staffage vorkommen, sind ganz missraten und wirken wie gestopfte Säcke. Hanisch wollte den Freund einmal bewegen, eine Kirche im Freien nach der Natur zu zeichnen; aber das misslang völlig, und Hitler entschuldigte sich: es sei zu kalt, er habe steife Finger. Eine groteske Malerei hat sich gefunden, in unverkennbarer Handschrift signiert: A. Hitler. Es ist ein Reklameplakat, offenbar von einem Krämer oder Drogisten bestellt, der ein Erzeugnis namens „Teddy-Schweißpuder“ feilbot. (…)

Zu diesen missglückten Reklamezeichnungen wurde Hitler durch einen anderen Freund aus dem Männerheim angeregt, einen ungarischen Juden namens Neumann. Dieser Neumann, der meist ein klein wenig Bargeld bei sich hatte, half Hitler oft aus seiner ärgsten Not, schenkte ihm Hemden und andere Kleidungsstücke; so einen >Kaiserrock< (Gehrock), den er dann jahrelang getragen hat. Hitler schwärmte von diesem Neumann und nannte ihn gegenüber Hanisch öfters einen der anständigsten Menschen, die er kenne. 1910 wanderte Neumann nach Deutschland  und redete Hitler zu, mit ihm zu gehen. Hitler schwankte, entschloss sich dann aber zum Bleiben. So ist die Weltgeschichte um das Schauspiel gekommen, das Adolf Hitler an der Seite eines ungarischen Juden seinen Einzug in Deutschland gehalten hat.(…)

Von all dem ist in „Mein Kampf“ nichts zu lesen. Das Männerheim findet sich dort nicht, die Reklamezeichnungen nicht, der Freund Hanisch nicht und selbstverständlich der jüdische Freund Neumann nicht. Nur die Atmosphäre jener Zeit und jener Verhältnisse blieb und hat sich in der Erinnerung an dem Gift verdichtet, das die ganze Schilderung seines Wiener Aufenthaltes durchtränkt.  (…)

Die Lebensschule der Entartung

Im Männerheim kommen die Klassen auf eine eigentümliche und verderbte Art zusammen. Da gibt es Grafen, Professoren, Großindustrielle, Kaufleute, Maler, Facharbeiter, Handlanger und Ausgeher – nur alles  a. D. oder z. D. oder, wie man im Milieu sagt, „Verkrachte“. Die Klasse in entarteter  Form. Aber das Klassenbewusstsein entartet nicht; der „verkrachte“ Graf bleibt in seiner Gesinnung Graf, der Prolet Prolet, und was sie alle wollen, ist: dorthin zurück, von wo sie gekommen sind. Das Elend schafft gewiss Kameradschaft; gemeinsamer Absturz kann  zu gemeinsamem Streben zusammenführen, aber die Ziele bleiben verschieden, in dieser gemischten Tiefe verschiedener als irgendwo sonst; aus diesem Abgrund späht jeder nach seinen eigenen Sternen –  der Mangel an Solidarität ist das große Hauptmerkmal der großen Klasse der Deklassierten, die Adolf Hitler hier zum ersten Male kennenlernt und die für seine spätere Laufbahn noch so wichtig werden wird. Gemeinsam nach den Gegensätzen streben, ist die Losung dieser entarteten Volksgemeinschaft, einander hochzuhelfen, um dann einander wieder hinabzustoßen, zusammenhalten, um sich zuletzt zu betrügen. In diesem furchtbaren Milieu stellt Hitler sich zum erstenmal die schwere Frage nach der Möglichkeit einer Verwirklichung seiner in der Linzer Realschule empfangenen Träume; nach den Mitteln aus dem Stoff, aus denen eine deutsche Einheit, eine deutsche Weltherrschaft geformt werden könnten. Das heißt: der Begriff der Politik tritt ihm hier zum erstenmal nahe, hier, unter den Verkommenen des Weiner Männerasyls. In diesem Abfall lernt er das Volk als Objekt der Politik kennen; an dieser Spreu bildet ein Altkluger sich für ein ganzes Leben seine Vorstellungen vom Wert der Menschen, vom  Unverstand  der Masse. Vergessen wir nicht, dass dieser Begriff ihm zuerst von oben eingetrichtert wurde, im Geschichtsunterricht  deutscher Schulen  gibt es immer erleuchtete Fürsten und törichte Völker, und „plebs“ heißt das niedere Volk. Im Wiener Männerheim aber lernt man, wie recht der Professor zu Hause hatte.(…)

„Hungerkünstler“

Dieser früh Gescheiterte denkt nicht daran, sich mit der  Gründung von Reklameinstituten oder dem Erfinden von Mitteln gegen gefrorene Fensterscheiben zufrieden zu geben. Er sieht eines Tages einen Film in dem ein Volksredner eine Masse aufwiegelt. Jetzt will er eine neue Arbeiterpartei gründen, also eine Partei seiner Objekte. Die Organisation müsse man von den Sozialdemokraten lernen und die besten Schlagworte von den Parteien übernehmen, denn im übrigen heilige der Zweck die Mittel. Während Hanisch draußen herumläuft und Hitlers Zeichnungen zu verkaufen sucht, sitzt dieser im Lesesaal des Männerheims und hält Vorträge. Oder er beugt sich über eine Zeitung, zwei andere links und rechts unter die Arme geklemmt. Wenn er wirklich einmal zeichnet oder jemand eine neue Zeitung mitbringt, lässt er sofort  die Arbeit liegen und stürzt sich auf das Blatt. Oft nimmt ihm Hanisch, wenn er abends nach Hause kommt, die Reißschiene aus der Hand, die Hitler wild über dem Kopfe schwingt, während er auf die Umsitzenden losdonnert; drückt ihn auf die Bank und sagt: „Arbeite endlich!“ Die anderen rufen: „Arbeiten, Hitler, Dein Chef kommt!“ Manchmal ist Hitler freilich auch sehr niedergedrückt; er hat mit seinen Reden keinen Eindruck gemacht, man hat ihn ausgelacht, einmal ihm ein Spottplakat auf den Rücken geklebt, und Hanisch muss abends das weinende Menschenkind trösten.

Die lauten Debatten im Männerheim steigern sich oft zu wilden Lärmszenen. Dann rast der Verwalter herauf, um Ruhe zu gebieten – und schon sieht man Hitler mit angezogenen Armen am Tisch sitzen, bescheiden und musterhaft über seine Zeichnung geduckt. Einmal haben Hanisch, Hitler und ein Dritter aus dem Männerheim beschlossen, einem verhassten Wachmann im Prater einen Streich zu spielen: Hanisch will ihm heimlich ein Plakat auf den Rücken kleben, die beiden anderen sollen den Wachtmann indessen von vorne beschäftigen. Hanisch kommt von hinten an den Wachtmann heran und berührt ihn; in diesem Augenblick ist auf der anderen Seite Hitler der Erste, der erschrocken davon läuft. Der Ängstlichkeit Hitlers schreibt es Hanisch auch zu, dass er bei den Frauen kein Glück gehabt habe. Dagegen konnte Hitler mit leuchtenden Augen von den Bauernraufereien in seiner oberösterreichischen Heimat erzählen; ein älterer Freund habe ihm einmal im Gerichtsgebäude in Ried eine Sammlung von Mordinstrumenten gezeigt, die raufenden Bauern abgenommen worden waren; das sei für ihn als Knaben ein glücklicher Tag gewesen. Hanisch, der diesen Zug berichtet, fügt bieder hinzu: „Ob derartige Instinkte im späteren Alter verschwinden, weiß ich nicht. Ich bringe einfach als Erzähler meine Erfahrungen und Erlebnisse mit Hitler, so wie ich alles von ihm selbst gehört habe.“

Das Freundschafts- und Arbeitsverhältnis zwischen beiden zerbröckelt langsam. Hanisch bringt von Bilderhändlern und Privaten Bestellungen, Hitler aber liest Zeitungen und ist nicht zum pünktlichen Arbeiten zu bewegen. Auch glaubt er nicht, dass seine Erzeugnisse nur bescheidene Qualität haben, sondern hält sich für einen großen Künstler – vor allem betont er, ein Künstler brauche Inspiration und könne doch nicht arbeiten wie ein Kuli. Hanisch antwortet aufgebracht: “Künstler – höchstens Hungerkünstler“, im Übrigen sei er ein Schmierant, daneben ein Faulpelz, der auch mit dem Geld nicht hauszuhalten wisse. Wenn er ein paar Kronen verdient hat, rührt er keine Arbeit an, sitzt tagelang in einem billigen Volkscafe und isst vier bis fünf Schaumrollen hintereinander; allerdings gibt er fast kein Geld für Alkohol und gar keins für Tabak aus.

Abschied von Wien

Drei Jahre hat Hitler im Männerheim verbracht, „die schwerste, wenn auch  gründlichste Schule meines Lebens“; doppelt hart und bitter nach der zugestandenen sorgenfreien Jugend in Linz und Steyr. In diesen Jahren ist er nach seiner Behauptung „ernst und still“ geworden. Er ist in der Tat jetzt oft deprimiert und in sich gekehrt. Ein fast schöner Künstlerkopf mit ekstatisch brennenden Augen, mit breitem, buschigem Schnurrbart; zarte Gestalt, hastiger, springender Gang. Führt oft Selbstgespräche. Ein Sonderling. Ein künftiger Künstler. Das innere Erlebnis der politischen Berufung ist noch nicht da, wenn er auch schon vom Parteigründen gesprochen hat. Junge Menschen wollen gelegentlich alles. Was treibt ihn von Wien fort? Nun, das Elende im Asyl konnte ihn gewiss nicht halten. Den unmittelbaren Anstoß, der ihn wegbrachte, nennt er nicht. Er schreibt in den Wiener Jahren folgendes Testament:

„Meine innere Abneigung dem habsburgischen Staat gegenüber wuchs in dieser Zeit immer mehr an. Meine Überzeugung gewann an Boden, dass dies Staatgebilde nur zum Unglück des deutschen Volkstums werden müsste. Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt beherrschte; widerwärtig dies ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben, Kroaten usw.; zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz  der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien die Riesenstadt als Verkörperung der Blutschande.“

Mit dieser erotisch getönten Hasserklärung schließt Adolf Hitler die Darstellung seiner Wiener Zeit. Ohne dass Einzelheiten greifbar werden, sagt er zwischen den Zeilen über die Ursache seines Weggangs viel. Und dazwischen spricht das Gewissen immer: Hättest Du Deine Schule nicht verbummelt, dann wärst Du heute ein fertiger Architekt, ein geachteter Bürger und ein gemachter Mann – Du Vagabund!

3. Der Krieg als Erlöser

Das Münchner Sofa

Im Frühsommer 1913 mietete ein junger Student der Technik aus Wien im Bahnhofsviertel in München ein Zimmer. Die Vermieterin sagte ihm,  den bisherigen Mieter müsse sie hinaussetzen, weil  er seine Miete seit längerer Zeit nicht mehr bezahlen könne. Während dieser Unterhaltung kommt der arme Hinausgesetzte hinzu; dies ist merkwürdigerweise auch ein  junger Österreicher. Er fasst sich ein Herz und bittet den Landsmann um Erlaubnis, doch wenigstens noch eine Nacht bei ihm auf dem Sofa schlafen zu dürfen. Der Neue ist ein gutherziger Mensch, nimmt den armen Teufel zum Bier mit, und sie verabreden, dass er in Gottes Namen vorerst umsonst da wohnen und auf dem Sofa schlafen solle, bis er Geld habe, um seinen Teil an dem Zimmer zu bezahlen. Dabei bleibt es, die beiden sind über ein Jahr lang Stubenkameraden: der junge Ingenieur aus Wien und sein Gast auf dem Sofa, der Reklamezeichner Adolf Hitler aus Linz. (…) In München ging es ihm nicht viel besser (als in Wien. Anm. d. Red.); hier zeichnete er Plakatentwürfe für Firmen. Das Dasein ist äußerlich noch einsamer als in Wien,…(…) . Am liebsten sitzt er mit den wenigen Bekannten, die er hat, abends in der Schwemme des Hofbräuhauses, isst mit Vorliebe Weißwürste aus der Suppenschüssel, was dem österreichischen Freunde ein Gräuel ist; wenn es ein anderer zahlt, trinkt er auch ein Bier. Weiblichen Verkehr meidet er ganz.(…) Aber vielleicht noch bezeichnender für den Charakter des jungen Mannes ist es: Auch hier gewinnt er keinen nahen persönlichen Freund; so wenig wie in Wien. Immer mehr gerät er in Distanz zu Menschen; sichtlich nicht aus Stolz, sondern aus Angst; nicht aus Hochmut, sondern aus Unvermögen.

Seine politischen Ansichten sind damals zum mindesten in der Richtung schon sehr entschieden. Man durfte in keine sozialdemokratische Versammlung mit ihm gehen, weil er sich dort vor Zwischenrufen nicht halten konnte. Sobald das Gespräch auf Politik kam, begann er zu schreien und endlose Reden zu halten, dabei fiel eine gewisse Präzision und Klarheit seiner Darstellung auf. Er liebte es, zu prophezeien und politische Entwicklungen vorherzusagen. Und wieder macht der österreichische Freund die traurige Beobachtung, die Hanischs alte Klagen bestätigen: sobald von Politik die Rede war, ließ Hitler jede Arbeit stehen und liegen, mochte sie auch noch so dringend sein. Dann setzte er sich in die Hofbräuschwemme, politisierte mit allen und hatte viele Zuhörer.

Dank für den Weltkrieg

Sonderliches Vorwärtskommen kann man dies nicht nennen. Noch immer kriecht der gescheiterte Realschüler tief unter der Stufe herum, die der Vater für ihn erträumte; von den eigenen hochfliegenden Künstlerplänen gar nicht zu reden. Grau liegt ein kleines, langweiliges Leben vor ihm; da greift der Himmel ein und lässt für ihn und so viele andere ausweglose Existenzen den Weltkrieg ausbrechen. Wie Hitler diese Katastrophe erlebt, das ist fast ein Gleichnis:

„Der Kampf des Jahres 1914 wurde den Massen, wahrhaftiger Gott, nicht aufgezwungen, sondern vom gesamten Volke selbst begehrt.“ Vom gesamten Volke begehrt? Nein, aber von einer Schicht, die man Hitler-Schicht nennen könnte: „Mir selbst kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jungen vor. Ich schäme  mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie sank und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte…“. (…)

Dabei ist er dem Militärdienst bisher sonderbarerweise ziemlich erfolgreich aus dem Wege gegangen. Bei den vorgeschriebenen Stellungen in Österreich war er weder 1910 noch 1911 noch 1912 erschienen. In der Stellungsliste wurde er als „illegal“ bezeichnet, 1913 als „uneruierbar“. Am 5. Februar meldete er sich dann von München aus zur Nachstellung im nächsten österreichischen Grenzort, nämlich in Salzburg. Dort ergab die ärztliche Untersuchung das Urteil: „zum Waffen- und Hilfsdienst untauglich, zu schwach“; der Beschluss lautete auf „waffenunfähig“.Der Krieg ändert natürlich vieles. Auf dem österreichischen Konsulat  stellt er sich. Aber irgendetwas passt ihm dort nicht. Mit sprunghaftem Entschluss meldet er sich bei den Bayern als Freiwilliger. ( zum Regiment List. Anm. d.Red.)

Das eiserne Krauz

Über seine Kriegserlebnisse ist Hitler wieder wortkarg.(…) Dabei macht er sich des falschen Berichtes schuldig; vielleicht harmlos, aber nicht ganz unwichtig. Vom ersten Kampftag sagt er:„Aus der Ferne aber klangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und  kamen immer näher und näher, sprangen über Kompagnie zu Kompagnie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“

Der Herausgeber der „Geschichte des Regiments List“, Dr. Friedrich Solleder, sagt dazu: „Seit 1915 kehrt in fast allen Veröffentlichungen die Nachricht wieder, das die Lister beim Sturm auf Ypern das Deutschlandlied sangen. Das ist ein geschichtlicher Irrtum. Die Lister sangen das alte deutsche Trutzlied „Die Wacht am Rhein.“ Auch ein Beitrag zur Psychologie  der Zeugenaussage – zumal wenn der Zeuge Adolf Hitler heißt.

Hitler war Gefechtsordonanz beim  Regimentsstab, gehört also nicht zur Grabenbesatzung. Er selbst erwähnt diese Art der Verwendung nicht. Der Regimentsstab des Regimentes List hat nach der eben zitierten offiziellen Quelle im Kriege nur einen Angehörigen verloren, nämlich den Obersten List,  und zwar in den allerersten Kämpfen.  Der Dienst im Regimentsstab mag also im Ganzen weniger gefährlich  gewesen sein. Hitlers Regimentsoberst von  Baligand hat ihm bezeugt, dass er sich „ der schweren Pflicht eines Meldegängers jederzeit nicht nur willig, sondern mit Auszeichnung unterzogen hat.“ Die Auszeichnungen sind laut Militärpass ein Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit, das Militärverdienstkreuz  Dritter Klasse, das schwarze Verwundetenabzeichen (er wurde 1916  durch einen Granatsplitter verwundet) und das Eiserne Kreuz Erster Klasse, verliehen am 4. August 1918. (…) Freiherr von Tubeuf, der die Kämpfe bei Montdidier  in der Geschichte des Regiment List persönlich schildert, erwähnt diese auffallende Tat nicht; andere Schilderungen verlegen die Tat um drei Jahre zurück. Sie wäre jedenfalls so bemerkenswert, dass die Regimentsgeschichte sie nicht gut übersehen könnte. Aber sie tut es. (…)

Dabei nimmt sie  durchaus Notiz von ihm; bringt einmal eine Photographie, wie er in Gefechtsausrüstung, Pickelhaube, Gewehr umgehängt durch die Straße einer Ortschaft stürmt; sie erwähnt, dass er im schwersten Feuer den Kommandeur mit dem Leibe gedeckt und in ein schützendes Erdloch  zurück-gedrängt habe; (…) Aber nichts von fünfzehn gefangenen Franzosen. Zusammengefasst: die Verleihung des Eisernen Kreuzes 1. Klasse an Hitler sollte man nicht bezweifeln. Die fünfzehn Franzosen sehen stark nach Legende aus.  (…)

Der unerkannte Führer

Bei seinen Kameraden ist unbeliebt wegen seiner, wie es ihnen scheint, streberhaften Willigkeit gegen die Vorgesetzten. Wenn er vor den Kommandeur springt und ihn bittet, sein Leben zu schonen, „das Regiment davor zu bewahren, in so kürzer Zeit ein zweiten Mal seinen Kommandeur zu verlieren“, so hat das einen leisen Hauch von vaterländischem Schullesebuch. “Ich habe“, berichtet ein späterer Nationalsozialist, „aus Hitlers Munde nie ein Murren oder Klagen gehört über den sogenannten Schwindel. Wir alle schimpften auf ihn und fanden es unerträglich, dass wir einen weißen Raben unter uns hatten, der nicht auch mit einstimmte in die Schimpfkanonade.“ Er war ihnen unerträglich.

Auf den Photos in Gesellschaft der Kameraden sieht man ihn mit starrem Blick abseits stehen oder sitzen. “Bescheiden und schon deshalb nicht auffallend“, sagt ein Vorgesetzter. Wenn an seiner Auszeichnung, seiner Hingabe und Dienstwilligkeit nicht zu zweifeln ist, so erhebt sich die gewichtige Frage: Warum ist dieser „Führer“ viereinhalb Kriegsjahre lang ewig  nur Gefreiter geblieben? Es war ein Mangel an Unteroffizieren; trotzdem sagte dein Kompagnieführer: „Diesen Hysteriker mache ich niemals zum Unteroffizier!“

Hitlers weltgeschichtlicher Irrtum

Hier unter den Soldaten erlebt er zum zweiten Male die Volksgemeinschaft, die er bereits im Männerheim in verdorbener Art kennenglernt hat. Und wieder ist es ihm unmöglich, sich von Mensch zu Mensch mitzuteilen, als einzelner mit einzelnen zu sprechen und sie zu überzeugen. “Von mir werdet ihr noch viel hören,“ sagt er dann aufgebracht. „Wir lachten damals drüber,“ sagt der nationalsozialistische Gewährsmann. Sein Misserfolg im persönlichen Umgang verführt ihn immer mehr zur Menschenverachtung; sie steigert sich, je mehr er die Lenksamkeit dieser Menschen durch simple Tricks kennenlernt. Er beobachtet die Wirkung von Flugblättern, die der Feind bei der deutschen Truppe einschmuggelt; die gleichzeitige Unwirksamkeit der eigenen Propaganda bei den eigenen Leuten, das Verpuffen des „vaterländischen Unterrichts“ kann ihm nicht entgehen. Es ist damals viel gehörte Phrase, dass Propaganda im Kriege so wichtig  sei wie Munition; aber wie man Propaganda macht, weiß an Deutschlands verantwortlichen Stellen niemand. Diese Herren kennen das Volk nicht, das begreift der mit dem ganzen Spülwasser des Wiener Männerheims gewaschene Adolf Hitler blitzschnell.(…) Hitler vergleicht die ausgezeichnete politische Führung des Krieges auf der Gegenseite mit der Stümperei der eigenen; während die ganze Welt rot sieht vor Hass auf die Deutschen, die in Belgien angeblich  Kindern die Hände abgehackt haben sollen, tatsächlich leider nur zwei Zivilisten als  Geiseln  getötet haben, spinnen deutsche Annexionisten den Plan, einen Prinzen aus Schwabenland als Herzog über ein großes Österreich zu setzen.  Und mit solchen „Schnapsideen“ will man beim Volk und gar bei fremden Völkern moralische Eroberungen machen!

Adolf Hitler hat ein wichtiges inneres Erlebnis. Er sieht, dass er Wesentliches besser weiß als seine Führer, zu denen er aufzublicken gewohnt war. Es handelt sich nicht um Meinungsverschiedenheiten in der Sache, nicht um Gegensätze aus Weltanschauung. Es handelt sich nur  darum, dass er sich seinen  anerkannten Oberen überlegen fühlt. Aus einem Gehorsamen wird ein Besserwisser, aus einem Befehlsempfänger ein Besserkönner. Das arbeitet noch Jahre in ihm, aber hier fängt es an. (…)

Er beginnt die Mechanik der Demokratie zu verstehen, die Zauberwirkung der großen weltumspannenden Ideen, die in Deutschland niemand erfasst hat, nicht einmal die Sozialdemokratie völlig. Aber dieser stets an der Außen- und Unterseite des Volkes  herumgekrochene Mensch versteht  das innere Wesen der Demokratie nicht: die Kraft, die in der Freiheit wohnt, die dem einzelnen Verantwortungsgefühl einprägt, die in ganzes Volk sicherer führt, als irgendein Heldenkaiser oder Marschall-Präsident. Er glaubt große Führer zu sehen, wo große Systeme sind, die ihre Repräsentanten aus sich heraus schaffen: in normalen Zeiten Normale, in großen Zeiten Große. Er lernt die Kniffe der Demokratie, ohne ihren Geist zu begreifen; dieser Irrtum ist der tragische Gewinn, den der wunderliche Kamerad aus dem Schützengraben mit nach Hause bringt. Unter den Kameraden, deren Schwächen er mit dem feinen Instinkt  des Bösen wittert, ohne ihre wertvollen Seiten  zu schätzen, hochmütig und zugleich scheu, wächst seiner künftigen Bestimmung entgegen: eine gewaltige Figur der Demokratie zu werden, ohne  Demokrat zu sein.

Flucht in die Legende

4. Umkehr in die Sackgasse

Nichtsnutziges Talent

Eine Vorkriegsjugend ist zu Ende. In ihrer Ereignisarmut ist sie ein Rätsel, dessen Sinn weit über das Persönliche hinausreicht. Das Rätsel dieser Jugend ist:  wie kommt es, dass dem Mann, der heute wohl der berühmteste Mensch auf der Erde ist, bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr auch nicht der bescheidenste Erfolg geglückt ist? Warum blieb dieser Menschenbezwinger im bürgerlichen Leben Bettler und im Krieg ein unbedeutender grauer Soldat? (…)

Illusionen gegen Interessen

Wenn man fragt, wie es möglich war, dass alle diese Parteien, die doch reale >Interessen< vertraten, einer einzigen, in ihren Interessenverbindungen sehr unklaren Partei unterliegen konnten, so darf man sich nicht mit der Antwort begnügen, die alten Parteien hätten die Interessen ihre Anhänger nicht gut genug vertreten. Gewiss macht die Krise es jeder einzelnen Gruppe schwierig, für sich und die ihren noch ein gleich großes Stück wie früher aus dem kleiner gewordenen Kuchen herauszuschneiden. Aber die Frage reicht tiefer. In großen modernen Massen Parteien, an ihrer Spitze die faschistischen, haben eine alte geschichtliche Wahrheit wiederentdeckt, die lange verschüttet schien: dass die Menschen oft  nicht und die Massen fast nie ihren  Interessen dienen, sondern ihren Illusionen. Diese Tatsache ist etwas Gewaltigeres als Torheit und Blendung; sie beruht der tiefen Lust des Menschen an Hingabe und dem Selbstopfer, die in der Geschichte eine ebenso große Rolle spielt wie Hunger und Liebe. Hitler lügt nicht, wenn er stolz erklärt, dass er von seinen Anhängern immer nur Opfer verlangt habe. Man verkleinert die Bedeutung dieses ebenso großartigen wie verderblichen Hanges der Menschenseele nicht durch den Hinweis, dass bei der Opferbereitschaft der SA natürlich die Eitelkeit auch ihre Rolle spielte.

Das Versagen der Revolution

Die Revolution von 1919 hatte nur (…) zum Teil soziale Ursachen und entsprang in der Hauptsache der Sehnsucht nach Frieden. Sie war eine pazifistische Volksbewegung, keine sozialistische. Freilich hätte sie immer noch Raum und Gelegenheit genug für die Initiative wirklicher Führer geboten. Solche Führer haben sich unter den „Volksbeauftragten“ von 1919 nicht gefunden; der spätere Reichspräsident Ebert hatte nicht den Mut zum revolutionären Handeln, sondern nur zu einer Handlung, die –  bei subjektiv vielleicht bester Absicht – hart an Verrat grenzt. Er führte seine Genossen hinters Licht, ließ eine geheime Telefonleitung von seinem Schreibtisch in das der Revolution feindliche Große Hauptquartier des Generalfeldmarschalls von Hindenburg legen und stellte im Bunde mit diesem  durch seinen Parteigenosse Noske aus beschäftigungslosen Offizieren und Soldaten Freicorps auf. Diese schlugen verschiedene Erhebungen der radikalen Arbeiter nieder. Die radikalen Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden von  Offizieren ermordet. Den schwersten Schlag führten Ebert und Noske zusammen mit den alten Generälen gegen die sozialistische bayrische Räterepublik in München am 2. Mai 1919. Unmittelbar nach diesen Kämpfen taucht an dieser Stelle Adolf Hitler zum ersten Mal in der Politik auf.

Er findet ein Feld vor, reif  zum Mähen: dies zu sehen freilich ist schon eine politische Leistung. Die Arbeiterführer haben sich in dieser kurzen Periode durch ihre Ziellosigkeit entsetzlich  kompromittiert. Die Generäle haben scheinbar wieder ein Stück Macht in die Hand bekommen, aber diese Macht ist nichts; sie ist nur der negative Abdruck der vollkommenen Machtlosigkeit und Unfähigkeit der sozialdemokratischen Minister. Das Volk hat weder zu den Generälen noch zu den Arbeiterführern Vertrauen. Friedrich Ebert, der hier erwähnte sozialdemokratische Führer, wurde 1919 zum Reichspräsidenten gewählt. Er hielt es für seine Pflicht, auch weiterhin sich auf die alten Mächte in Staat und Gesellschaft zu stützen. Sie dankten es ihm nicht, aber er ließ sich nicht beirren.

Bei einem Diner saß er neben der Gräfin Holtzendorff, der Frau des sächsischen Gesandten in Berlin. Die Gräfin erzählte, wie sie auf einem Ausflug einmal absichtlich in der Eisenbahn vierter  Klasse gefahren sei: sie hielt das für eine köstliches Abenteuer. Ebert fragte:“ Nun, Frau Gräfin, wie kamen sie sich denn in der vierten Klasse unter den einfachen Leuten vor?“ – Die Gräfin:“ Herr Ebert, genauso wie Sie im Salonwagen!“ Das proletarische Reichsoberhaupt steckte die Frechheit ein.

Die Autorität liegt auf der Straße. Wer sie aufhebt, hat die Macht.

                                   Adolf Hitler hebt sie auf. Das Ergebnis ist bekannt.


King Kong ist beleidigt. Glosse von W. K. Nordenham

16. Juni 2022 | Kategorie: Artikel

Reaktion auf den folgenden einen Artikel aus

Spektrum 15.6.2022

WHO: Affenpocken sollen neuen Namen erhalten

Um Verwirrung und Stigmatisierung zu vermeiden, will die WHO Virus und Krankheit in Kürze umbenennen. Ähnlich ging man damals bei Covid-19 vor. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will den Affenpocken einen neuen Namen geben. Es gebe seit Langem Bestrebungen, Krankheiten nicht mehr nach Tieren oder Regionen zu benennen, um jeglicher Möglichkeit von Diskriminierung oder Stigmatisierung vorzubeugen, sagte ein WHO-Sprecher am Dienstagabend. Zuvor hatte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf angekündigt, es solle in Kürze eine Entscheidung geben.

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Ich wollte es beim Lesen zuerst nicht glauben und hatte sofort eine neue Verschwörungstherorie vermutet. Aber die WHO meint es ernst. Inzwischen weiß ich aus sicherer Quelle, dass sich King Kong persönlich bei der UNO gemeldet hat, und er tat schwer beleidigt wegen der Krankheitsbezeichnung. Das ginge eindeutig gegen alle Affen, wo auch immer sie beschäftigt wären. Auch gendermäßig war das für ihn vollkommen inakzeptabel. Man hätte von Anfang an wenigstens korrekt von  Affen*innenpocken sprechen müssen, so meine Quelle über King Kong, wegen der Feministinnen unter den Primaten, die ihm einheizen oder wegen der Primaten unter den Feministinnen bzw. der Primaten bei den Damen und Herren der WHO. So genau habe ich das nicht verstanden. Aber was, so dachte ich mir, ist mit den Bezeichnungen Kuhpocken, Schweinepest oder Papageienkrankheit und Vogelgrippe? Da besteht dringender Handlungsbedarf. Was soll der Stier als ausgewiesener Hominist denken oder der Hornochse als Stier-minus, quasi als Masochist wider Willen? Mein Schwein fand den Artikel der WHO abscheulich und pfeift schon, auch wegen der Schweinegrippe. Das sei aus seiner Sicht alles eine Riesensauerei, die die Riesen*innen wegen des Wortzusammenhangs bitte nicht persönlich nehmen sollen und die Sauen natürlich sowieso nicht. Mein Wellensittich, immerhin Zwerg*innen-Papagei, stampft bereits wütend mit dem Fuß auf. Zudem will er bei Vogelgrippe die Genderform im Plural gar nicht wissen und ahnt Vulgäres. Was tun? Fragen über Fragen. „Mensch Meier!“ möchte ich da am liebsten ausrufen. Aber dann bekomme ich sicher sofort Ärger wegen Diskrimierung des unberücksichtigten weiblichen Teils Menschheit und der Meier*innen. Eine Frage drückt mich in dem Zusammenhang schon lange: Wie irre ist die Welt? 


Notizen zur Zeit. `S ist – wieder – Krieg.

25. Februar 2022 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Aus aktuellem, schrecklichem Anlass wird an ein Gedicht von Matthias Claudius erinnert. Dazu ein Originaltext  Jean Paul Richters, den seinerzeit Karl Kraus während des 1. Weltkrieges in der Fackel  abgedruckt hat. Wie wahr. Mehr ist nicht zu sagen.

`S ist Krieg. Von Matthias Claudius

‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
‘s ist leider Krieg –
und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Jean Paul  – Levana oder Erziehlehre – Kapitel 44

 »Bedenk es, ein Schritt über dein Grenzwappen verwandelt zwei Reiche, hinter dir verzerrt sich deines – vor dir das fremde. – Ein Erdbeben wohnt und arbeitet dann unter beiden fort – alle alte Rechtsgebäude, alle Richterstühle stürzen, Höhen und Tiefen werden ineinander verkehrt. – Ein jüngster Tag voll auferstehender Sünder und voll fallender Sterne, ein Weltgericht des Teufels, wo die Leiber die Geister richten, die Faustkraft das Herz. Bedenk es, Fürst! Jeder Soldat wird in diesem Reich der Gesetzlosigkeit dein gekrönter Bruder auf fremdem Boden mit Richtschwert, aber ohne Waage und gebeut unumschränkter als du; jeder feindliche Packknecht ist dein Fürst und Richter, mit Kette und Beil für dich in der Hand! – Nur die Willkür der Faust und des Zufalls sitzt auf dem Doppel-Throne des Gewissens und Lichts. – Zwei Völker sind halb in Sklavenhändler, halb in Sklaven verkehrt, unordentlich durcheinander gemischt. – Für höhere Wesen ist das Menschenreich ein gesetz- und gewissenloses, taubblindes Tier- und Maschinenreich geworden, das raubt, frisst, schlägt, blutet und stirbt. – Immerhin sei du gerecht, du lässest doch durch die erste Manifestzeile wie durch ein Erdbeben die gefesselte Ungerechtigkeit aus ihren Kerkern los! Auch ist ja die Willkür so hergebracht groß, dass dir kleinere Misshandlungen gar nicht, und große nur durch ihre Wiederholung vor die Ohren kommen. Denn die Erlaubnis, zugleich zu töten und zu beerben, schließt jede kleinere in sich. Sogar der waffenlose Bürger tönt in die Misse- und Schrei-Töne ein, vertauschend alle Lebens-Plane gegen Minuten-Genuss und ungesetzliche Freiheit und von den befreundeten Kriegern als ein halber, von den anfeindenden als ein ganzer Feind behandelt und aufgereizt. Dies bedenke, Fürst, bevor du in die Heuschreckenwolke des Kriegs alles dein Licht verhüllst und in dein bisher so treu verwaltetes Land alle Krieger eines fremden zu Obrigkeiten und Henkern einsetzest, oder deine Krieger ebenso ins fremde!«


Und wieder Krieg! In dieser großen Zeit. von Karl Kraus. Vorwort W. K. Nordenham

24. Februar 2022 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit

Noch ein Versuch wider die Vergeblichkeit von Frieden, weil Machttrunkenheit der Waffen bedarf um dieselbe aufrechtzuerhalten und den ultimativen Rausch erst recht in der Ausdehnung de Machtraumes erlebt! Der Irrsin von Macht und Krieg hat immer Methode und sie ähneln sich erschreckend. Mindesten sein dutzend Kriege finden momentan auf der Welt statt statt, Tendenz zunehmend. Waffen sind überall wie von Zauberhand verfügbar und die Chronisten des Grauens allerorten dabei. Wozu sind sie nütze? Ändert sich irgendetwas?  Wie sagte schon  Kjerkegaard?

Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, dass sie untergeht.

Vor über einhundert Jahren schrieb Karl Kraus die unten folgende Abrechnung mit seiner und unserer Zeit. Mir ist klar, dass dieser Kraus´sche Aufsatz für die kurzfloskelgeübte und folglich aufmerksamkeitskurze  Klientel der LOL – Facebook- Twitter-Generation eine nicht zu überschätzende Herausforderung darstellt. Aber vielleicht schafft ja jemand wenigstens die ersten zwei Seiten und  den letzten Absatz. Das wäre weit mehr als ich erhoffe und könnte helfen.  W.K. Nordenham

Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so zielbewusst mit keinem Schritte zu verfehlen. Und ob denn das ewige Geheimnis, aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger.               Karl Kraus

Die Fackel NR. 404 DEZEMBER 1914 XVI. JAHR

I n   d i e s e r   g r o ß e n   Z e i t

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der g e s c h e h e n  muss, was man sich nicht mehr v o r s t e l l e n  kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muss das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!

Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, dass sie ihnen nicht zuzutrauen waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen übertönen, und wenn es sie nicht zum Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein Wort. Selbst die größere Maschine hat es nicht vermocht und das Ohr, das die Posaune des Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den Trompeten des Tages. Nicht erstarrte vor Schreck der Dreck des Lebens, nicht erbleichte Druckerschwärze vor so viel Blut. Sondern das Maul schluckte die vielen Schwerter und wir sahen nur auf das Maul und maßen das Große nur an dem Maul. Und Gold für Eisen fiel vom Altar in die Operette, der Bombenwurf war ein Couplet, und fünfzehntausend Gefangene gerieten in eine Extraausgabe, die eine Soubrette vorlas, damit ein Librettist gerufen werde. Mir Unersättlichem, der des Opfers nicht genug hat, ist die vom Schicksal befohlene Linie nicht erreicht. Krieg ist mir erst, wenn nur die, die nicht taugen, in ihn geschickt werden. Sonst hat mein Frieden keine Ruhe, ich richte mich heimlich auf die große Zeit ein und denke mir etwas, was ich nur dem lieben Gott sagen kann und nicht dem lieben Staat, der es mir jetzt nicht erlaubt, ihm zu sagen, dass er zu tolerant ist. Denn wenn er jetzt nicht auf die Idee kommt, die sogenannte Pressefreiheit*, die ein paar weiße Flecke nicht spürt, zu erwürgen, so wird er nie mehr auf die Idee kommen, und wollte ich ihn jetzt auf die Idee bringen, er vergriffe sich an der Idee und mein Text wäre das einzige Opfer. Also muss ich warten, wiewohl ich doch der einzige Österreicher bin, der nicht warten kann, sondern den Weltuntergang durch ein schlichtes Autodafé ersetzt sehen möchte. Die Idee, auf welche ich die tatsächlichen Inhaber der nominellen Gewalt bringen will, ist nur eine fixe Idee von mir. Aber durch fixe Ideen wird ein schwankender Besitzstand gerettet, wie eines Staates so einer Kulturwelt. Man glaubt einem Feldherrn die Wichtigkeit von Sümpfen so lange nicht, bis man eines Tages Europa nur noch als Umgebung der Sümpfe betrachtet. Ich sehe von einem Terrain nur die Sümpfe, von ihrer Tiefe nur die Oberfläche, von einem Zustand nur die Erscheinung, von der nur einen Schein und selbst davon bloß den Kontur. Und zuweilen genügt mir ein Tonfall oder gar nur die Wahnvorstellung. Tue man mir, spaßeshalber, einmal den Gefallen, mir auf die Oberfläche zu folgen dieser problemtiefen Welt, die erst erschaffen wurde, als sie gebildet wurde, die sich um ihre eigene Achse dreht und wünscht, die Sonne drehte sich um sie.

Über jenem erhabenen Manifest, jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit eingeleitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat, über dem menschlichsten Anschlag, den die Straße unserm Auge widerfahren lassen konnte, hängt der Kopf eines Varietékomikers, überlebensgroß. Daneben aber schändet ein Gummiabsatzerzeuger das Mysterium der Schöpfung, indem er von einem strampelnden Säugling aussagt, so, mit dem Erzeugnis seiner, ausgerechnet seiner Marke, sollte der Mensch auf die Welt kommen. Wenn ich nun der Meinung bin, dass der Mensch, da die Dinge so liegen, lieber gar nicht auf die Welt kommen sollte, so bin ich ein Sonderling. Wenn ich jedoch behaupte, dass der Mensch unter solchen Umständen künftig überhaupt nicht mehr auf die Welt kommen wird und dass späterhin vielleicht noch die Stiefelabsätze auf die Welt kommen werden, aber ohne den dazugehörigen Menschen, weil er mit der eigenen Entwicklung nicht Schritt halten konnte und als das letzte Hindernis seines Fortschritts zurückgeblieben ist — wenn ich so etwas behaupte, bin ich ein Narr, der von einem Symptom gleich auf den ganzen Zustand schließt, von der Beule auf die Pest. Wäre ich kein Narr, sondern ein Gebildeter, so würde ich vom Bazillus und nicht von der Beule so kühne Schlüsse ziehen und man würde mir glauben. Wie närrisch gar, zu sagen, dass man, um sich von der Pest zu befreien, die Beule konfiszieren soll. Ich bin aber wirklich der Meinung, dass in dieser Zeit, wie immer wir sie nennen und werten mögen, ob sie nun aus den Fugen ist oder schon in der Einrichtung, ob sie erst vor dem Auge eines Hamlet Blutschuld und Fäulnis häuft oder schon für den Arm eines Fortinbras reift, — dass in ihrem Zustand die Wurzel an der Oberfläche liegt. Solches kann durch ein großes Wirrsal klar werden, und was ehedem paradox war, wird nun durch die große Zeit bestätigt. Da ich weder Politiker bin noch sein Halbbruder Ästhet, so fällt es mir nicht ein, die Notwendigkeit von irgendetwas, das geschieht, zu leugnen oder mich zu beklagen, dass die Menschheit nicht in Schönheit zu sterben verstehe. Ich weiß wohl, Kathedralen werden mit Recht von Menschen beschossen, wenn sie von Menschen mit Recht als militärische Posten verwendet werden. Kein Ärgernis in der Welt, sagt Hamlet. Nur dass ein Höllenschlund sich zu der Frage öffnet: Wann hebt die größere Zeit des Krieges an der Kathedralen gegen Menschen! Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so zielbewusst mit keinem Schritte zu verfehlen. Und ob denn das ewige Geheimnis, aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger. Wer den Besitzstand erweitern will und wer ihn nur verteidigt — beide leben im Besitzstand, stets unter und nie über dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn, der andere erklärt ihn. Wird uns nicht bange vor irgendetwas über dem Besitzstand, wenn Menschenopfer unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter der Sprache des seelischen Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik, zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: »Was jetzt zu geschehen hat, ist, dass der Reisende fortwährend die Fühlhörner ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich abgetastet wird«! Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider verkauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu leben, kann philosophisch nicht bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von einem unabsehbaren Mangel an Schamgefühl zeugt. Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter dem Lebenszweck abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fortschritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen. Der Fortschritt lebt, um zu essen, und beweist zu Zeiten, dass er sogar sterben kann, um zu essen. Er erträgt Mühsal, damit es ihm wohl ergehe. Er wendet Pathos an die Prämissen. Die äußerste Bejahung des Fortschritts gebietet nun längst, dass das Bedürfnis sich nach dem Angebot richte, dass wir essen, damit der andere satt werde, und dass der Hausierer noch unsern Gedanken unterbreche, wenn er uns bietet, was wir gerade nicht brauchen. Der Fortschritt, unter dessen Füßen das Gras trauert und der Wald zu Papier wird, aus dem die Blätter wachsen, er hat den Lebenszweck den Lebensmitteln subordiniert und uns zu Hilfsschrauben unserer Werkzeuge gemacht. Der Zahn der Zeit ist hohl; denn als er gesund war, kam die Hand, die vom Plombieren lebt. Wo alle Kraft angewandt wurde, das Leben reibungslos zu machen, bleibt nichts übrig, was dieser Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die Individualität leben, aber nicht mehr entstehen. Mit ihren Nervenwünschen mag sie dort gastieren, wo in Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne Gesicht und Gruß vorbei und vorwärtsschieben. Als Schiedsrichter zwischen Naturwerten wird sie anders entscheiden. Gewiss nicht für die hiesige Halbheit, die ihr Geistesleben für die Propaganda ihrer Ware gerettet, sich einer Romantik der Lebensmittel ergeben und »die Kunst in den Dienst des Kaufmanns« gestellt hat. Die Entscheidung fällt zwischen Seelenkräften und Pferdekräften. Vom Betrieb kommt keine Rasse ungeschwächt zu sich selbst, höchstens zum Genuss. Die Tyrannei der Lebensnotwendigkeit gönnt ihren Sklaven dreierlei Freiheit: vom Geist die Meinung, von der Kunst die Unterhaltung und von der Liebe die Ausschweifung. Es gibt, Gott sei gedankt, noch Güter, die stecken bleiben, wenn Güter immer rollen sollen. Denn Zivilisation lebt am Ende doch von Kultur. Wenn die entsetzliche Stimme, die in diesen Tagen das Kommando übergellen darf, in der Sprache ihrer zudringlichen Phantastik den Reisenden auf fordert, die Fühlhörner auszustrecken und im Pulverdampf die Kundschaft abzutasten, wenn sie vor dem Unerhörten sich den heroischen Entschluss abringt, die Schlachtfelder für die Hyänen zu reklamieren, so hat sie etwas von jener trostlosen Aufrichtigkeit, mit der der Zeitgeist seine Märtyrer begrinst. Wohl, wir opfern uns auf für die Fertigware, wir konsumieren und leben so, dass das Mittel den Zweck konsumiere. Wohl, wenn ein Torpedo uns frommt, so sei es eher erlaubt, Gott zu lästern als ein Torpedo! Und Notwendigkeiten, die sich eine im Labyrinth der Ökonomie verirrte Welt gesetzt hat, fordern ihre Blutzeugen und der grässliche Leitartikler der Leidenschaften, der registrierende Großjud, der Mann, der an der Kassa der Weltgeschichte sitzt, nimmt Siege ein und notiert täglich den Umsatz in Blut und hat in Kopulierungen und Titeln, aus denen die Profitgier bellt, einen Ton, der die Zahl von Toten und Verwundeten und Gefangenen als Aktivposten* einheimst, wobei er zuweilen mein und dein und Stein und Bein verwechselt, aber so frei ist, mit leiser Unterstreichung seiner Bescheidenheit und vielleicht in Übereinstimmung mit den Eindrücken aus eingeweihten Kreisen und ohne die Einbildungskraft beiseite zu lassen, »Laienfragen und Laienantworten« strategisch zu unterscheiden. Und wenn er es dann wagt, über dem ihm so wohltuenden Aufschwung heldischer Gefühle seinen Segen zu sprechen und Gruß und Glückwunsch der Armee zu entbieten und seine »braven Soldaten« im Jargon der Leistungsfähigkeit und wie am Abend eines zufriedenen Börsentags zu ermuntern, so gibt es angeblich »nur eine Stimme«, die daran Ärgernis nimmt, wirklich nur eine, die es heute ausspricht — aber was hilft’s, solange es die eine Stimme gibt, deren Echo nichts anderes sein müsste als ein Sturm der Elemente, die sich aufbäumen vor dem Schauspiel, dass eine Zeit den Mut hat, sich groß zu nennen, und solchem Vorkämpfer kein Ultimatum stellt!

Die Oberfläche sitzt und klebt an der Wurzel. Die Unterwerfung der Menscheit unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen, und schärfte ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste vor allen, eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte Sorge um ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse. Der Fortschritt, der auch über die Logik verfügt, entgegnet, die Presse sei auch nichts anderes als eine der Berufsgenossenschaften, die von einem vorhandenen Bedürfnis leben. Aber wenn es so wahr ist wie es richtig ist, und ist die Presse nichts weiter als ein Abdruck des Lebens, so weiß ich Bescheid, denn ich weiß dann, wie dieses Leben beschaffen ist. Und dann fällt mir zufällig bei, an einem trüben Tage wird es klar, dass das Leben nur ein Abdruck der Presse ist. Habe ich das Leben in den Tagen des Fortschritts unterschätzen gelernt, so musste ich die Presse überschätzen. Was ist sie? Ein Bote nur? Einer, der uns auch mit seiner Meinung belästigt? Durch seine Eindrücke peinigt? Uns mit der Tatsache gleich die Vorstellung mitbringt? Durch seine Details über Einzelheiten von Meldungen über Stimmungen oder durch seine Wahrnehmungen über Beobachtungen von Einzelheiten über Details und durch seine fortwährenden Wiederholungen von all dem uns bis aufs Blut quält? Der hinter sich einen Tross von informierten, unterrichteten, eingeweihten und hervorragenden Persönlichkeiten schleppt, die ihn beglaubigen, ihm Recht geben sollen, wichtige Schmarotzer am Überflüssigen? Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten zuerst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind, oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, dass zwar Kriegsberichterstatter nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu Berichterstattern werden. In diesem Sinne lasse ich mir gern nachsagen, dass ich mein Lebtag die Presse überschätzt habe. Sie ist kein Dienstmann — wie könnte ein Dienstmann auch so viel verlangen und bekommen —, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen müsste, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über unsere Phantasie. Aber wie Kleopatra sollten wir dafür auch, neugierig und enttäuscht, den Boten schlagen für die Botschaft. Sie macht ihn, der ihr eine verhasste Heirat meldet und die Meldung ausschmückt, für die Heirat verantwortlich. »Lass reiche Zeitung strömen in mein Ohr, das lange brach gelegen …. Die giftigste von allen Seuchen dir! Was sagst du? Fort, elender Wicht! Sonst schleudr’ ich deine Augen wie Bälle vor mir her; raufe dein Haar, lasse mit Draht dich geißeln, brühn mit Salz, in Lauge scharf gesättigt.« (Schlägt ihn.) »Gnäd’ge Fürstin, ich, der die Heirat melde, schloss sie nicht.« Aber der Reporter schließt die Heirat, zündet das Haus an und macht die Gräuel*, die er erlügt, zur Wahrheit. Er hat durch jahrzehntelange Übung die Menschheit auf eben jenen Stand der Phantasienot gebracht, der ihr einen Vernichtungskrieg gegen sich selbst ermöglicht. Er kann, da er ihr alle Fähigkeit des Erlebnisses und dessen geistiger Fortsetzung durch die maßlose Promptheit seiner Apparate erspart hat, ihr eben noch den erforderlichen Todesmut einpflanzen, mit dem sie hineinrennt. Er hat den Abglanz heroischer Eigenschaften zur Verfügung und seine missbrauchte Sprache verschönt ein missbrauchtes Leben, als ob die Ewigkeit sich ihren Höhepunkt erst für das Zeitalter aufgespart hätte, wo der Reporter lebt. Ahnen aber Menschen, welches Lebens Ausdruck die Zeitung ist? Eines, das längst ein Ausdruck ist von ihr! Ahnt man, was ein halbes Jahrhundert dieser freigelassenen Intelligenz an gemordetem Geist, geplündertem Adel und geschändeter Heiligkeit verdankt? Weiß man denn, was der Sonntagsbauch einer solchen Rotationsbestie an Lebensgütern verschlungen hat, ehe er 250 Seiten dick erscheinen konnte? Denkt man, wie viel Veräußerung systematisch, telegraphisch, telephonisch, photographisch gezogen werden musste, um einer Gesellschaft, die zu inneren Möglichkeiten noch bereit stand, vor der winzigsten Tatsache jenes breite Staunen anzugewöhnen, das in der abscheulichen Sprache dieser Boten ihre Klischees findet, wenn sich irgendwo »Gruppen bildeten« oder gar das Publikum »sich zu massieren« anfing? Da das ganze neuzeitliche Leben unter den Begriff einer Quantität gestellt ist, die gar nicht mehr gemessen wird, sondern immer schon erreicht ist und der schließlich nichts übrig bleiben wird, als sich selbst zu verschlingen; da der selbstverständliche Rekord keine Zweifel mehr übrig lässt und die qualvolle Vollständigkeit jedes Weiterrechnen erspart, so ist die Folge, dass wir, erschöpft durch die Vielheit, für das Resultat nichts mehr übrig haben, und dass in einer Zeit, in der wir täglich zweimal in zwanzig Wiederholungen von allen Äußerlichkeiten noch die Eindrücke von den Eindrücken vorgesetzt bekommen, die große Quantität in Einzelschicksale zerfällt, die nur die einzelnen spüren, und plötzlich, selbst an der Spitze, der vergönnte Heldentod als grausames Geschick erscheint. Man könnte aber einmal dahinter kommen, welch kleine Angelegenheit so ein Weltkrieg war neben der geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse, und wie er im Grund nur eine ihrer Ausstrahlungen bedeutet hat. Vor einigen Jahrzehnten mochte ein Bismarck, auch ein Überschätzer der Presse, noch erkennen: »Das,  was das Schwert uns Deutschen gewonnen hat, wird durch die Presse wieder verdorben«, und ihr die Schuld an drei Kriegen beimessen. Heute sind die Zusammenhänge zwischen Katastrophen und Redaktionen viel tiefere und darum weniger klare. Denn im Zeitalter derer, die es mitmachen, ist die Tat stärker als das Wort, aber stärker als die Tat ist der Schall. Wir leben vom Schall und in dieser umgeworfenen Welt weckt das Echo den Ruf.

K a r l  K r a u s

Änderungen : * ß = nach neuer Rechtschreibung als ss * Preßfreiheit= Pressefreiheit * Aktivpost= Aktivposten   Greuel = Gräuel .

Vollständig   :  http://corpus1.aac.ac.at/fackel/  Die Fackel NR. 404 DEZEMBER 1914 XVI. JAHR


MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 4. Buch.

19. Juni 2019 | Kategorie: Artikel, Marc Aurel

Marc Aurel

Mach den Versuch – vielleicht gelingt es Dir – zu leben wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.

Viertes Buch

1. Wenn der in uns herrschende Geist so ist wie er sein soll, so kann es uns – den Ereignissen gegenüber – nicht schwer fallen, auf jede Möglichkeit vorbereitet zu sein und das Gegebene hinzunehmen. Das Festbestimmte, Abgemachte wofür wir Interesse haben, ist es überhaupt nicht; sondern das, was uns gut und wünschenswert scheint, ist doch immer nur mit Vorbehalt ein Gegenstand unseres Strebens; was sich uns aber geradezu in den Weg stellt, betrachten wir als ein Mittel zu unsrer Übung, der Flamme gleich, die sich auch solcher Stoffe zu bemächtigen weiß, deren Berührung ein kleineres Licht verlöschen würde, aber ein helles Feuer nimmt in sich auf und verzehrt, was man ihm zuführt, und wird nur grösser dadurch.

2. Bei Allem, was Du tust, gehe besonnen zu Werke und so, dass Du dabei die höchsten Grundsätze im Auge hast!

3. Man liebt es, sich zu Zeiten aufs Land, in das Gebirge, an die See sich zurückzuziehen. Auch Du sehnst Dich vielleicht dahin. Im Grunde genommen aber steckt dahinter eine große Beschränktheit. Es steht Dir ja frei, zu jeglicher Stunde Dich in Dich selbst zurückzuziehen, und nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele, sobald wir nur etwas von dem in uns tragen, was wir nur anzuschauen brauchen, um uns in eine vollkommen ruhige und glückliche Stimmung versetzt zu sehen – eine Stimmung, die nach meiner Ansicht freilich ein anständiges, sittliches Wesen bedingt. Auf diese Weise also ziehe Dich beständig zurück, um Dich immer wieder aufzufrischen. Einfach und klar und bestimmt aber seien jene Ideen, deren Vergegenwärtigung aus Deiner Seele so Manches hinwegspülen und Dir eine Zuflucht schaffen soll, aus der Du nicht übelgelaunt zurückkehrst. Und was sollte Dich auch alsdann verdrießen können? »Die Schlechtigkeit der Menschen?« Aber wenn Du bedenkst, dass die vernünftigen Wesen für einander geboren sind, dass das Ertragen des Unrechts zur Gerechtigkeit gehört, dass die Menschen unfreiwillig sündigen, und dann – wie viel streitsüchtige, argwöhnische, gehässige und gewalttätige Menschen mussten dahin und sind nun ein Raub der Verwesung – wirst Du da Deine Abneigung nicht los werden? »Oder ist es Dein Schicksal?« So erinnere Dich nur jenes Zwiefachen: entweder wir sagen, es gibt eine Vorsehung oder wir sehen uns als Teile und Glieder eines Ganzen an, und unserer Betrachtung der Welt liegt die Idee eines Reiches zu Grunde. »Oder ist es Dein Leib, der irgendwie betroffen ist?« Aber Du weißt ja, der Geist, wenn er sich selbst begriffen und seine Macht kennen gelernt hat, hängt nicht ab von sanfteren oder rauheren Lüften; auch weißt Du, wie wir über Schmerz und Freude denken, und bist einverstanden damit. »Oder macht Dir der Ehrgeiz zu schaffen?« Aber wie schnell breitet Vergessenheit über alles ihren Schleier! Wie unablässig drängt eins das andere in dieser Welt ohne Anfang und ohne Ende! Wie nichtig ist jeder Nachklang unseres Tuns! Wie veränderlich und wie urteilslos ist jede Meinung, die sich über uns bildet und wie eng der Kreis, in dem sie sich bildet! Die ganze Erde ist ja nur ein Punkt im All, und wie klein nun wieder der Winkel auf ihr, wo von uns die Rede sein kann! Wie viele können es sein, und was für welche, die unseren Ruhm verkünden? In der Tat also gilt es sich zurückzuziehen auf eben diesen kleinen Raum, der unser ist, und hier sich weder zu zerstreuen, noch einspannen zu lassen, sondern sich frei zu bewegen und die Dinge anzusehen wie ein Mensch, wie ein Glied der Gesellschaft, wie ein sterbliches Wesen. Unter all den Wahrheiten aber, die Dir am Geläufigsten sind, müssen jedenfalls die beiden sein. Die eine, dass die Außendinge die Seele nicht berühren dürfen, sondern wirklich Außendinge sein und bleiben müssen; denn Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält. Die andere, dass Alles, was Du siehst, sich bald verwandeln und nicht mehr sein werde, wie Du selbst schon eine Menge Wandlungen durchgemacht hast, mit einem Wort, dass die Welt auf dem Wechsel, das Leben auf der Meinung darüber beruhe.

4. Haben wir alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft, dann auch die Stimme, die uns sagt, was wir tun und lassen sollen, dann auch eine Gesetzgebung. Wir sind also alle Bürger ein und desselben Reiches. Und daraus würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein? – Stammt nun etwa jene Denkkraft, jenes Vernünftige und Gesetzgebende aus diesem uns allen gemeinsamen Reiche oder sonst woher? Denn gleich wie die verschiedenen Stoffe, jeder seine besondere Quelle hat – denn es ist nichts, was aus dem Nichts entstände, so wenig wie etwas in das Nichts übergeht-, so muss auch das Geistige irgendwoher stammen.

5. Mit dem Tode verhält es sich wie mit der Geburt, beides Geheimnisse der Natur. Dieselben Elemente, welche hier sich einigen, werden dort gelöst. Und das ist nichts, was uns unwürdig vorkommen könnte. Es widerspricht weder dem vernünftigen Wesen selbst, noch dem Prinzip seiner Entstehung.

6. Es liegt freilich in der Natur der Sache, dass gewisse Leute einen solchen Widerspruch darin finden. Aber wer dies nicht will, will nicht, dass die Traube Saft habe.

7. Ändere Deine Ansicht und – Du hörst auf Dich zu beklagen. Beklagst Du Dich nicht mehr, ist auch das Übel weg.

8.  Der Begriff des Heilsamen und des Schädlichen schließt es schon ein, dass das, was den Menschen nicht verdirbt, auch sein Leben nicht verderben oder verbittern kann, weder äußerlich noch innerlich.

9. Weil es nützlich ist, handelt die Natur notwendigerweise so, wie sie handelt.

10. Alles was geschieht, geschieht mit Recht; einer genauen Beobachtung kann das nicht entgehen. Auch sage ich bloß nicht, `Es ist in der Ordnung`, sondern, `Es ist recht `, d.h.  so, als käme es von einem, der alles nach Recht und Würdigkeit austeilt. Setze Deine Beobachtungen nur fort, und Du selbst, was du auch tust, sei gut, gut im eigentlichsten Sinne des Worts! Denke daran bei jeder Deiner Handlungen!

11.  Wie derjenige denkt, der dich verletzt, oder wie er will, dass du denken sollst, so denke gerade nicht. Sondern sieh die Sache an, wie sie in Wahrheit ist.

12. Zu Zweierlei müssen wir stets bereit sein, einmal, zu handeln einzig den Forderungen gemäß, welche das in uns herrschende Gesetz an uns stellt – und das heißt immer auch zugleich zum Nutzen der Menschen handeln. Sodann auf unserer Meinung nicht zu beharren, wenn einer da ist, der sie berichtigen und uns so von ihr abbringen kann. Doch muss jede Sinnesänderung davon ausgehen, dass die neue Ansicht die Richtige und Gute sei, nicht davon, dass sie Annehmlichkeiten und Äußere Vorteile verschaffe.

13. Wenn Du Vernunft hast, warum gebrauchst Du sie nicht? Tut sie das Ihrige, was kannst Du Mehr verlangen?

14. Was Du bist, ist doch nicht das Ganze. So wirst Du denn auch einst aufgehen in den, der Dich erzeugte; oder vielmehr, nach geschehener Wandlung wirst Du wieder aufgenommen werden in seine Erzeugernatur.

15. Weihrauch auf dem Altar der Gottheit – das ist des Menschen Leben. Wie viel davon schon gestreut ist, wie viel noch nicht, was liegt daran?

16. Sobald Du Dich zu den Grundsätzen und dem Dienst an der Vernunft bekehrst, kannst Du denen ein Gott sein, denen Du jetzt so verächtlich erscheinst.

17. Richte Dich nicht ein, als solltest Du Hunderte alt werden. Denn wie nahe vielleicht ist Dein Ende! Aber solange Du lebst, solange es in Deiner Macht steht – sei gut!

18. Welch  ein Gewinn, wenn man auf anderer Leute Worte, Angelegenheiten und Gedanken nicht achtet, sondern nur auf das eigene Tun achtet, ob es gerecht und fromm und gut sei ,» – das Auge abgewendet vom Pfuhl des Lasters, nur der eigenen Bahn nachgehend, grad‘ und unverrückt.«

19. Der Ruhmbegierige bedenkt nicht, dass auch die in aller Kürze nicht mehr sein werden, die seiner gedenken, und dass es sich mit jedem folgenden Geschlecht ebenso verhält, bis endlich die Erinnerung, durch solche fortgepflanzt, die nun auch erloschen sind, selber erlischt. Aber gesetzt auch, die Deinen Namen nennen wären unsterblich und unsterblich dieses Namens Gedächtnis: was nützt es Dir? Dir, der Du bereits gestorben bist? Aber auch, was nützt Dir’s zu Lebzeiten? Es sei denn, dass Du ökonomische Vorteile dabei hast. Sind also Ruhm und Ehre Dir zuteil geworden, achte dieser Gabe nicht! Sie macht Dich eitel und abhängig vom Geist und Wort der andern.

20. Jegliches Schöne ist schön durch sich selbst und in sich vollendet, so dass für ein Lob kein Raum in ihm ist. Wird es doch durch Lob weder schlechter noch besser. Dies gilt auch von dem, was man in der Regel schön nennt, von dem körperlich Schönen und den Werken der Kunst. Das wahrhaft Schöne bedarf des Lobes ebenso wenig wie das göttliche Gesetz, die Wahrheit, die Güte, die Scham. Oder vermag daran etwa das Lob etwas zu bessern oder der Tadel Etwas zu verderben? Wird die Schönheit des Edelsteins, des Purpurs, des Goldes, des Elfenbeins, die Schönheit eines Instruments, einer Blüte, eines Bäumchens geringer dadurch, dass man sie nicht lobt?

21. Wenn die Seelen fortdauern, wie vermag sie der Luftraum von Ewigkeit an zu fassen? Aber wie ist denn die Erde im Stande, die toten Leiber so vieler Jahrtausende zu fassen? Die Leiber, nachdem sie eine Zeit lang gedauert haben, verwandeln sie sich und lösen sich auf, und so wird andern Leibern Platz gemacht, ebenso wie die in den Äther versetzten Seelen Platz machen. Eine Zeit lang halten sie zusammen, dann verändern sie sich, dehnen sich aus, verbrennen und gehen in das allgemeine Schöpferwesen auf, so dass ein Raum für neue Bewohner entsteht. So etwa ließe sich die Ansicht von der Fortdauer der Seelen erklären. Was aber die Leiber betrifft, so kommt hier nicht bloß die Menge der auf jene Weise untergebrachten, sondern auch die der täglich von uns und von den Tieren verzehrten Leiber in Betracht. Welch eine Menge verschwindet und wird so gleichsam begraben in den Leibern derer, die sich davon nähren, und immer derselbe Raum ist’s, der sie fasst, durch Verwandlung in Blut, in Luft- und Wärmestoffe. Das Prinzip oder die Summe aller dieser Erscheinungen ist also  die Auflösung in die Materie und in den Urgrund aller Dinge.

22. Stets entschieden, gilt es, zu sein und das Rechte im Auge zu haben bei jeglichem Streben. Indem Gedankenleben aber sei das Begreifliche Dein Leitstern.

23. Was Dir harmonisch ist, o Welt, ist es auch für mich! Nichts kommt zu früh für mich und nichts zu spät, wenn’s bei Dir heißt: »zu guter Stunde.« Eine süße Frucht ist mir alles, was Du gezeitigt hast, Natur. Von Dir und in Dir und zu Dir ist Alles. – Als jener Theben wiedersah, rief er: »Du liebe Stadt des Cekrops!« und ich, ich sollte mit dem Blick auf Dich nicht sagen: »Du liebe Stadt des höchsten Gottes?«

24. Nur auf wenige Dinge, heißt es, darf sich Deine Tätigkeit erstrecken, wenn Du Dich wohl befinden willst. Aber wäre es nicht besser, sie auf das Notwendige auszurichten, auf das, was wir als Wesen, die auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen sind, tun sollen? Denn das hieße nicht bloß das Vielerlei, sondern auch das Schlechte zu vermeiden und müsste uns also doppelt glücklich machen. Gewiss würden wir ruhiger und zufriedener sein, wenn wir das Meiste von dem, was wir zu reden und zu tun pflegen, überflüssig hießen. Ist es doch durchaus notwendig, dass wir in jedem einzelnen Falle, ehe wir handeln, eine  warnende Stimme vernehmen, und sollte die von etwas ausgehen können, das an sich selbst unnötig ist? Zuerst aber befreie Deine Gedanken von allem, was unnütz ist, dann wirst Du auch nichts Unnützes tun.

25. Mach den Versuch – vielleicht gelingt es Dir – zu leben wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.

26.  Willst Du? So höre noch dies: Rege Dich nicht selbst auf, und bleibe immer bei Dir. Hat sich jemand an Dir vergangen, hat er sich an sich selbst vergangen. Ist Dir etwas Trauriges widerfahren: es war Dir von Anfang an bestimmt. Was geschieht, ist alles Fügung. Und in Summa: das Leben ist kurz. Die Gegenwart ist es, die wir nutzen sollen, durch rechtschaffenes und überlegtes Handeln, und wenn wir ausruhen wollen, durch ein besonnenes Ausruhen.

27. Wenn der ein Fremdling ist in der Welt, der nicht weiß, was auf ihr ist und geschieht, so nenne ich den einen Flüchtling, der sich den Ansprüchen des Staates entzieht; einen Blinden, der das Auge seines Geistes schließt; einen Bettler, der eines Andern bedarf und nicht in sich alles zum Leben Nötige trägt; einen Auswuchs des Weltalls, der von dem Grundgesetz der Allnatur abweicht und – hadert mit dem Schicksal! Als hätte sie, die Dich hervorgebracht, nicht auch dieses erzeugt, ein abgehauenes Glied der menschlichen Gesellschaft, der mit seiner Seele von dem Lebensprinzip der einen, alle Vernunftwesen umfassenden Gemeinde geschieden ist.

28. Es gibt Philosophen, die keinen Rock anzuziehen haben und halbnackt einhergehen. »Nichts zu essen, aber treu der Idee.« Auch für mich ist die Philosophie kein Brotstudium.

29. Liebe immerhin die Kunst, die Du gelernt hast, und ruhe Dich aus in ihr. Doch gehe durch das Leben nicht anders wie Einer, der alles, was er hat von ganzem Herzen den Göttern weiht, sei niemandes Tyrann und niemandes Knecht.

30. Betrachten wir die Geschichte, z.B. die Zeiten Vespasians, so finden wir Menschen, die sich freien, Kinder zeugen, krank liegen, sterben, Krieg führen, Feste feiern, Handel treiben, Ackerbau treiben, finden Schmeichler, Freche, Misstrauische, Listige, oder solche, die ihr Ende herbeiwünschen, die sich über die schlimmen Zeiten beklagen, finden Liebhaber, Geizhälse, Ehrgeizige, Herrschsüchtige. Denn etwas anderes tritt uns doch wahrlich nicht entgegen. Gehen wir über auf die Zeiten des Trajan: Alles ganz ebenso, und auch diese Zeit ging zu Grabe. – So betrachte die Grabschriften aller Zeiten und Völker, damit Du siehst, wie viele, die sich aufschwangen, nach kurzer Zeit wieder sanken und vergingen. Namentlich muss man immer wieder an die denken, bei denen wir es mit eignen Augen gesehen haben, wie sie nach eitlen Dingen trachteten, wie sie nicht taten, was ihrer Bildung entsprach, daran nicht unablässig fest hielten und sich daran nicht genügen ließen. Und fällt uns dann die Regel ein, dass die Behandlung einer Sache ihren Maßstab in dem Wert der Sache selbst hat, so wollen wir sie doch ja beobachten, damit wir uns vor dem Ekel bewahren, der die notwendige Folge davon ist, dass man den Dingen mehr Wert beilegt, als sie verdienen.

31. Worte, die ehemals in Gebrauch waren, sind nun veraltet. So sind auch die Namen einst hochberühmter Männer, eines Camillus, Scipio, Cato, dann eines Augustus, dann Hadrians, dann Antoninus Pius, später gleichsam veraltete Worte. Sie verbleichen bald und nehmen das Gewand der Sage an, bald sind sie gar versunken in Vergessenheit. Dies gilt von denen, die ehemals so wunderbar geleuchtet haben. Denn von den Andern, sind sie nur tot, weiß man nichts mehr, hat man nie mehr etwas gehört. Also ist Unvergesslichkeit ein leeres Wort. Aber was ist es denn nun, wonach es sich lohnt zu streben? Nur das Eine: eine tüchtige Gesinnung, ein Leben zum Besten anderer, Wahrheit in jeder Äußerung, ein Zustand des Gemüts, wonach Dir Alles, was geschieht, notwendig scheint und Dir befreundet, aus einer Quelle fließend, mit der Du vertraut bist.

32. Gib Dich dem Schicksal willig hin, und erlaube ihm, Dich mit den Dingen zu verflechten, die es Dir irgend zuerkennt.

33. Eintagsfliegen sind beide: er, der  gedenkt und der, dessen gedacht wird.

34. Alles entsteht durch Verwandlung, und die Natur liebt Nichts so sehr, wie das Vorhandene umzuschaffen und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen. Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines Zukünftigen, und es wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird.

35. Wie bald wirst Du tot sein, und noch immer bist Du nicht ohne Falsch, nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, dass Äußeres dem Menschen schaden könne, nicht sanftmütig gegen jedermann, und noch immer nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit sei.

36. Sieh sie Dir an, diese weisen Männer und wie ihre Geister beschaffen sind, was sie fliehen und was sie verfolgen.

37. In der Seele eines andern sitzt es nicht, was Dich unglücklich macht, auch nicht in der Wendung Deiner äußeren Verhältnisse. Wo denn, fragst Du? In Deinem Urteil! Halte es nicht für ein Unglück, und alles steht gut. Und wenn, was Dich zunächst umgibt, Deine Haut, verwundet, geschnitten, gebrannt wird, doch muss der Teil Deines Wesens, der über solche Dinge urteilt, in Ruhe sein, d.h. er muss denken, dass das, was ebenso den Guten wie den Bösen treffen kann, unser Unglück oder unser Glück unmöglich ausmacht. Denn was bald der erfährt, der gegen die Natur lebt, bald wieder der, der ihrer Stimme folgt, das kann doch selbst nicht widernatürlich oder natürlich heißen.

38. Die Welt ist ein einiges lebendiges Wesen, ein Weltstoff und eine Weltseele. In dieses Weltbewusstsein wird alles absorbiert, so wie aus ihm alles hervorgeht, so jedoch, dass von den Einzelwesen eines des anderen Mitursache ist und auch sonst die innigste Verknüpfung unter ihnen stattfindet.

39. Nach Epiktet ist der Mensch – eine Seele mit einem Toten auf dem Rücken.

40. Was zu dem Wandlungsprozess gehört, dem wir Alle unterworfen sind, das kann als solches weder gut noch böse sein.

41. Ein Strom des Werdens, wo Eins das Andre jagt, ist diese Welt. Denn ein jegliches Ding – verschlungen  ist es, kaum da es aufgetaucht. Aber kaum ist das Eine dahin, trägt die Woge schon wieder ein Anderes her.

42. Wie die Rose des Sommers Vertraute und die Früchte die Freunde des Herbstes sind, so ist das Schicksal uns freundlich gesonnen, mag es nun Krankheit oder Tod oder Schimpf und Schande heißen. Denn Kummer machen solche Dinge nur dem Toren.

43. Das Folgende entspricht immer dem Vorangehenden, nicht  in der Weise des Nacheinander mit bloß äußerer Verknüpfung, sondern durch ein inneres geistiges Band. Denn wie im Reiche des Gewordenen alles harmonisch gefügt ist, so tritt uns auch auf dem Gebiete des Werdens keine bloße Aufeinanderfolge, sondern eine wunderbare innere Verwandtschaft entgegen.

44. Mag es richtig sein, was Heraklit sagt, dass in der Natur das eine des andern Tod sei, der Erde Tod das Wasser, des Wassers die Luft, der Luft das Feuer und umgekehrt; doch hat er nicht gewusst, wohin Alles führt. Aber es lässt sich auch von solchen Leuten lernen, die das Ziel ihres Weges aus dem Gedächtnis verloren haben, auch von solchen, die, je mehr sie mit dem alles beherrschenden Geiste verkehren, tatsächlich sich desto mehr von ihm entfernen, auch von denen, welchen gerade das fremd ist, was sie täglich beschauen,  oder die wie im Traume handeln und reden (denn auch das nennt man noch Tätigkeit), oder endlich von solchen, die wie die kleinen Kinder alles nachmachen.

45. Wenn Dir ein Gott weissagte, Du werdest Morgen, höchstens Übermorgen sterben, so könntest Du Dich über dieses »Übermorgen« doch nur freuen, wenn gar nichts Edles in Dir stecke. Denn was ist’s für ein Aufschub! Ebenso gleichgültig aber müsste es Dir sein, wenn man Dir prophezeite: nicht Morgen, sondern erst nach langen Jahren!

46. Wie viele Ärzte sind gestorben, nachdem sie an wie vielen Krankenbetten bedenklich den Kopf geschüttelt; wie viele Astrologen, die erst anderen mit großer Wichtigkeit den Tod verkündigten; wie viele Philosophen, nachdem sie über Tod und Unsterblichkeit ihre tausenderlei Gedanken ausgekramt; wie viele Kriegshelden mit dem Blute anderer bespritzt; wie viele Fürsten, die ihr Recht über Leben und Tod mit großem Übermut  brauchten, als wären sie selbst nicht auch sterbliche Menschen; wie viele Städte – Helion, Pompeji, Herkulanum und andere – sind, sozusagen gestorben! Dann die Du selbst gekannt hast, einer nach dem andern! Der jenen begrub, wurde dann selbst begraben, und das binnen Kurzem. Denn alles Menschliche ist nichtig und vorübergehend, das Gestern eine Seifenblase, das Morgen, erst eine einbalsamierte Leiche, dann ein Haufen Asche. Darum nutze das Heute so wie Du sollst, dann scheidet es sich leicht, wie die Frucht, wenn sie reif gewollt abfällt – preisend den Zweig, an dem sie hing, dankend dem Baum, der sie hervorgebracht!

47. Wie der Fels im Meere, an dem die Wellen unaufhörlich rütteln – aber er steht, und ringsum legt sich der Brandung Ungestüm: so stehe auch Du! Nenne Dich nicht unglücklich, wenn Dir ein »Unglück« widerfuhr! Nein, sondern preise Dich glücklich, dass, obwohl es Dir widerfahren ist, der Schmerz Dir doch nichts anhat und weder Gegenwärtiges Dich mürbe machen, noch Zukünftiges Dich ängstigen kann. Jedem könnte es begegnen, aber nicht jeder hätte es so ertragen. Und warum nennst Du das eine ein Unglück, das andere ein Glück? Nennst Du nicht das ein Unglück für den Menschen, was ein Fehlgriff seiner Natur ist? Aber wie sollte das ein Fehlgriff der menschlichen Natur sein können, was nicht wider ihren Willen ist? Und Du kennst doch ihren Willen? Kann Dich denn irgend ein Schicksal hindern, gerecht zu sein, hochherzig, besonnen, klug, selbstständig in Deiner Meinung, wahrhaft in Deinen Reden, sittsam und frei in Deinem Betragen, hindern an dem, was wenn es vorhanden ist so recht dem Zweck der Menschen-Natur entspricht? So oft also etwas Schmerzhaftes Dir nahe tritt: denke, es sei kein Unglück; aber ein Glück sei’s, es mit edlem Mute zu tragen.

48. Es ist zwar ein lächerliches aber wirksames Hilfsmittel, wenn man den Tod verachten lernen will, sich die Menschen zu vergegenwärtigen, welche mit aller Inbrunst am Leben hingen. Denn was war ihr Los, als dass sie zu früh starben? Begraben liegen sie alle, die Fabius, Julianus, Lepidus oder wie sie heißen mögen, die allerdings so manche andere überlebten, dann aber doch auch einreihen mussten. – Wie klein ist dieser ganze Lebensraum, und unter wie viel Mühen, mit wie schlechter Gesellschaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es ist nicht der Rede wert. Hinter Dir eine Ewigkeit und vor Dir eine Ewigkeit: dazwischen – was für ein Unterschied, ob Du drei Tage oder drei Jahrhunderte zu leben hast?

49. Daher begrenze den Weg, den Du zu gehen hast! Du wirst Dich auf diese Weise von mancher Sorge und von manchem Ballast befreien. Das Begrenzte ist der Natur gemäß, Begrenzung die Gesundheit unseres Tuns und Denkens!


Allons enfants ! Freiheit und Gleichheit. von W.K. Nordenham

21. Juli 2018 | Kategorie: Artikel, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Es ist schwer das Folgende hinzuschreiben, weil die Gefahr besteht, dass die gefühlig Wohlmeinenden in jedem Fall das Falsche herauslesen.  Wie sagte einst Wolfgang Neuss: “ Ich bin viel zu sehr Mensch, um Humanist sein zu können.“ Das ist sehr wahr. Was aber tun, wenn beides bedroht ist?  Die Länder Europas haben Teile ihrer Individualität an die Gemeinschaft der Staaten abgetreten in der Hoffnung auf eine gemeinsame Identität. Aber herausgekommen ist eine gemeinsame europäische, politische Naivität, naiv bis zur Handlungsunfähigkeit, z.  B. Ukraine in die Nato. Auf der Krim liegt der Hafen für die russische Schwarzmeerflotte. Dachte man, Putin guckt bei der Enteignung einfach zu?  Die einzig wirksame außenpolitische Aktion davor war das Eingreifen Europas in Libyen. Ein nachhaltiges Desaster! Dann kam der Flüchtlingspakt als Notgeburt. Wer nimmt Europa überhaupt noch Ernst?  Erdogan z.B. sicherlich nicht. Die eigentliche Frage ist also: Kann die Naivität der Europäer in Bezug auf Außenpolitik, Flüchtlingspolitik, allen voran die der Kanzlerin Frau Merkel, noch übertroffen werden? Das ist m. E. nicht ausgemacht. Der Flüchtlingsschub aus Syrien war zwei Jahre vorhergesagt worden, Vorbereitung darauf gleich null. Viele kamen schon vorher. Wenn man z. B. durch Bad Godesberg geht, trifft man vermehrt auf schwarzvermummte Frauen, die durch einen schmalen Sehschlitz die Umwelt wahrnehmen. Waren nicht Jahrhunderte der Aufklärung, des demokratischen Diskurses notwendig, um Gleichberechtigung für Frauen zu erzielen, wie sie heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist? Nun kehrt mit einem mittelalterlichen Verständnis des Islam, der so nicht zu Deutschland gehört, eine religiöse Abart der Leibeigenschaft von Frauen unter dem wortwörtlich schwarzen Deckmantel einer postulierten Religionsfreiheit zurück, die eben gerade Freiheit und Gleichheit für ihre weibliche Bevölkerung konsequent ablehnt.  Es sind nur wenige?  Ja, noch. Rückschritt als Fortschritt? Das kann und darf nicht nur im Hinblick auf den Artikel des Grundgesetzes nicht geduldet werden. Da geht es um die freiheitliche Lebensordnung im öffentlichen Raum. Das Argument, die islamischen Frauen müssten das tun, zieht schon deshalb nicht, schon weil es im Qur`an nirgends steht. Nichtsdestotrotz werden Kritiker offensiver Verhüllung von den alles verstehenden Toleranzlern rechter Gesinnung verdächtigt. Kurzfristig sieht eine großzügige Toleranz natürlich immer sehr gut aus, vor allem dann, wenn nicht man selbst, sondern erst die nachfolgenden Generationen die Folgen zu tragen haben. Auf demselben Blatt steht Kanzlerin Merkels einsame Entscheidung zu ungehemmter Flüchtlingsaufnahme ohne Konsultation oder sogar gegen den Willen der europäischen Nachbarn. Wie Integration aus unterschiedlichen Kulturkreisen verläuft oder eben nicht verläuft, kann man sich in England und in Frankreich ansehen. Italiener, Spanier, Griechen, Portugiesen oder Russen sind in der zweiten, spätestens in der dritten Generation in jedem Land Europas angekommen. Zuzügler aus der islamischen Kultur haben auch nach fast sechzig Jahren wesentlich mehr Schwierigkeiten sich an eine freie Gesellschaft zu gewöhnen.  Die deutschen Erdoganisten bei den kürzlichen Türkei- Wahlen legen dafür Zeugnis ab.

Wenn wir uns den islamischen Raum vor der Tür in Nahost und Nordafrika anschauen und weiter nach Afghanistan und Pakistan blicken, dann erschreckt seit Jahrzehnten die weitgehende Unfähigkeit zur Anpassung an ein modernes Zeitalter, an Änderung überhaupt. Gern wird alles auf die Kolonialzeit geschoben, die mindestens halbes bis ein Jahrhundert zurückliegt. Hat es in der Zeit irgendwo einen angemessenen wirtschaftlichen Aufstieg gegeben? Ja, aber nur dort, wo Ölgeld vorhanden war und in der Türkei dank Atatürk, solange das Land frei war. Gab es oder gibt es irgendwo eine arabische, pakistanische, afghanische, offene, demokratische oder gar pluralistische Gesellschaft? Es gab und es gibt nur Despoten oder Stammesfürsten. Man kann das nachlesen. Selbst die alles kolonisierenden Engländer haben z.B. Afghanistan konsequent gemieden. Zu Pluralität scheint der ganze Raum vollkommen unfähig, nicht zuletzt der Religion wegen.  Nun, Tunesien versucht es aktuell.  Ansonsten herrscht nach unsinniger Vertreibung der Diktatoren mit europäischer und amerikanischer Hilfe das komplette Chaos, und dank weiterhin irrationaler Politik des Westens ist ein Ende nicht abzusehen. Durchweg ist alles viel schlimmer als zu Zeiten der Saddams und Ghaddafis. Die Bevölkerungen leiden mehr als vorher. Warum? Weil der europäisch-amerikanische Glaube daran, dass der Mensch doch gut und demokratisch sein müsse, wenn es von ihm verlangt wird, eben nur ein Glaube ist, der in muslimischen Ländern so nicht zählt. Deutschland hat die Lektion in zwei Kriegen gelernt und musste erst ganz am Boden liegen um zu begreifen. Das teuer bezahlte demokratische Gut verschleudert europäische, explizit deutsche Politik momentan mit bemerkenswerter Leichtigkeit. Ja, ich weiß, dass es auch genügend gute Beispiele für Integration gibt. Ich kenne selbst viele.  Aber das dauert manchmal und kann nur in demokratisch-demografischer Dosis gelingen, millionenfach und auf einmal nie. Wir helfen uns und jenen nicht mit unhaltbaren Erwartungen und Versprechungen. Zudem erleben wir im Moment einen Glabenskrieg der Muslime untereinander analog den Auseinandersetzungen in Europa im 30 jährigen Krieg.  Da braucht es hundert Jahre Aufklärung.

Die Vorstellung, dass im Mittelmeer Menschen auf der Flucht ertrinken, zerreißt auch mir das Herz. Aber was passiert da?  Nordafrika hat eine unselige Tradition des 16. bis 19. Jahrhunderts wiederaufgenommen, unter der schon der berühmte Cervantes gelitten hat, nämlich Piraterie und dann Lösegeld für die Gefangenen fordern. Heutzutage müssen sich die Flüchtenden freikaufen. Das ist ein Geschäftsmodell, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen, ein Milliardengeschäft. Der Mahdi im 19. Jahrhundert versprach seinen Anhängern die Wiedereinführung der Sklaverei und des Menschenhandels.  ISIS hat das für sogenannte Ungläubige ebenfalls im Programm – im 21. Jahrhundert und in Libyen nimmt man sichgerade ein Beispiel daran.

Die Perfidie des nordafrikanischen Dramas besteht darin, dass je mehr freiwillige Rettungsschiffe vor Ort in gutem Glauben Hilfe leisten, je mehr Menschen gerettet werden können, je mehr das von den Schleppern unter den Gestrandeten bewusst publik gemacht wird, desto mehr lassen sich ins Meer schicken und umso besser wird verdient. Deshalb werden durch Gut-meinen letzten Endes noch viel mehr Flüchtlinge ertrinken. Den Schleppern in Nordafrika oder bei Gelegenheit auch wieder denen in der Türkei ist das Schicksal der Ertrinkenden vollkommen egal. Sie haben ihr Geld im Sack und die Behörden vor Ort kassieren, wo auch immer, sicherlich mit. Kürzlich las ich von Strafen zwischen drei und vier Jahren für so ein Menschenhandelsdelikt. Wen soll das schrecken?  Nebenbei gefragt: Wie kommt es, dass alles Lumpenpack dieser Welt in Jemen, in Afrika und sonstwo immer ausreichend Waffen hat?  Divide et impera?

Lange vor dem arabischen Frühling, der nie ein demokratischer Frühling war, sondern eine Despotendämmerung, gab es das Attentat auf Israelis bei Olympischen Spielen 1972. Menschen wurden allein deshalb gemordet, weil sie jüdisch waren. Es folgte die bis dahin unvorstellbare Erfindung von Flugzeugentführungen. Zyniker mögen das in eine willkommene globale Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Sicherheitskräfte umdeuten. Aus meiner Sicht läutete es den damals noch unbegriffenen Beginn eines Zeitalter des arabischen, später auch islamischen Terrorismus ein, der sich um nichts und niemand schert außer sich selbst und allein der willkürlichen Zerstörung im Hass das Wort redet. Da ist man erfindungsreich. Warum gibt es in den reichen Öl-Ländern keine prosperierende Forschung, keine Elite-Universitäten?  Auch darüber hinaus  ist Forschung bis auf Herstellung von Atomwaffen – siehe Iran oder Pakistan-  eher Mangelware. Der Hauptbeitrag heißt Terror. Bis heute ist der Westen darauf ohne wirkliche Antwort. Dass Frau Käsmann wie auch Politik mit den Taliban sprechen wollten, zeigt ein fundamentales Missverständnis auf. Es gibt nichts zu reden. Das Attentat vom World Trade Center und das Heraufziehen von ISIS und etlichen Nachahmern in unzähligen muslimischen Ländern sprechen eine Sprache, die mit der globalen Verteilung von sogenannten Kämpfern von den westlichen, demokratischen Gesellschaften rechtzeitig gelernt werden sollte. Das hat mit den Palästinensern und Israelis inzwischen ersichtlich marginal zu tun. Dennoch glauben nicht wenige Enthirnte, vom arabischen Raum bis Kabul, dass alles, aber auch alles von CIA und Mossad gesteuert wurde und wird.  Das weist auf komplette Paranoia hin. Dabei ist Israel die einzige, natürlich nichtmuslimische Demokratie, die sogar ihre Ministerpräsidenten und Staatpräsidenten strafrechtlich zur Verantwortung zieht. Das ist mir aus anderen westlichen Demokratien vollkommen unbekannt. Versuche mit Kohl und Chirac scheiterten kläglich. Dennoch gibt man den terrorliebenden Palästinensern in Europa den Vorzug. Glaubt wirklich ein weltvergessener Idealist, man brauchte jenen nur alles zu geben und dann wäre Ruhe? Ruhe mit PLO, Hamas, Hisbollah und Iran im Schlepptau? Von den anderen Organisationen rund um den Erdball ganz zu schweigen!  Das sei am Rande als weiterer Ausweis politischer Naivität hierzulande festgestellt.

Wirkliche Freiheitskämpfer, auch die für den Glauben, hatten immer ein Ziel, nämlich Freiheit. Der mordende Terror weiß von dieser Freiheit nichts, denn er will niemanden befreien, sondern nur töten und zwar jeden, der anders glaubt oder anders denkt.  Dafür legt das abenteuerliche Morden der Glaubensbrüder untereinander, das jedes islamischen Glaubenssatzes spottet, ein beredtes Zeugnis ab. Ich weiß nach Lektüre zweier Qur`an Ausgaben zuverlässig, dass der angerufene Gott keineswegs will, dass in seinem Namen gemordet wird. Ebenso wenig glaube ich, dass sich Gott vorzugsweise mit Mördern umgeben wird, die sich mit dem Blut wehrloser, ahnungsloser Männer, Frauen und Kinder den Zugang zum Paradies verschaffen wollen. Was muss nicht alles für den Gotteskampf herhalten? Kann man sich eine Ausnahme denken? Der frühe Mohamed wusste noch davon, bevor er von seiner Macht und Armee  korrumpiert, Gewalt übte. Das weist der Qur`an aus.

Die gesellschaftlichen Strukturen, denen dieses Denken entstammt, bringen jene leider vielfach mit, die nunmehr die Grenzen Europas stürmen, allerdings ohne die Fahne der französischen Revolution „Liberté, Fraternité, Egalité“. Da geht es um Verharren in patriarchalisch-religiösem Umfeld, weit vor jeder Aufklärung im europäischen Sinne.  Vor etwas mehr als hundert Jahren begann in Europa der Aufbruch zu Freiheit und Gleichheit. Frauen und auch Männer müssen sich angstfrei bewegen können. Nach Köln Silvester 2015 haben viele Frauen ihr Verhalten geändert. Wollen wir das auf Dauer und ggf. zunehmend? Nein. Deshalb muss genau geschaut werden, wer kommt und wie viele. Wenn man die Arme zu weit öffnet, könnte man erdrückt werden, nicht heute, aber Morgen sicherlich. Viele Millionen stehen bereit und warten auf ein Zeichen, das hoffentlich nicht kommt. Rückwärtsgewandter Steinzeit-Islam muss in jedem Fall draußen bleiben.  Wir brauchten auch längst ein Zuwanderungsgesetz. Ohne gültigen Pass dürfte niemand kommen können. Das ist geltendes internationales Recht und keine Schikane. Großzügige Humanität sieht, wie gesagt, kurzfristig immer sehr gut aus und muss Prämisse sein, aber nur solange, wie ich diese Humanität auch langfristig für mich, meine Kinder und Enkel gewahrt sehen darf. Für die Zukunft muss man deshalb ohne eine substanzielle Änderung der gegenwärtigen Politik sehr besorgt sein.  Eine willfährig betriebsblinde Presse tut ein übriges. In diesem Sinne ist dieser Artikel ein Eintreten für die Grundrechte aller und für kommende Generationen. Den hier bereits Gestrandeten allerdings muss mit allen Mitteln geholfen werden. Aber das ist klar. Im Übrigen – an die Kurzen im Geiste -, die AfD kann mich mal.

 


Notizen zur Zeit. Vom Dusel zum Diesel : NO2-Nebel und kein Ende. Von W.K. Nordenham

11. März 2018 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Ich bin absolut für niedriges Kohlendioxid CO2 und Stickstoffdioxid NO2. Aber was man als wissenschaftlich denkender Mensch fragt: Woher haben die Brüsseler EU Bürokraten die 40 Mikrogramm/ Kubikmeter? Nirgends habe ich eine zuverlässige wissenschaftliche Begründung dazu gefunden. Der Arbeitsplatzgrenzwert für NO2 ist mit 950 µg/m³ extrem höher. Selbst täglich die Hälfte von 425 µg/m³ als Mittelwert  müsste  lebensgefährlich sein – oder eben nicht. Kein Geringerer als Prof. Dr. Hans Draxler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin, hat vor Panikmache gewarnt. Auch bei 100 Mikrogramm NO2 sähe man keinen negativen Effekt, so zur Deutschen Presseagentur.  Das sagen also die Daten, nicht die kolportierte Meinung. Auf jährlich 12.860 vorzeitige Stickoxid-Todesfälle auf Grund von Berechnungen zu schließen, wäre wissenschaftlich unseriös, so Draxler. Also woher die ominösen 40 Mikrogramm/ Kubikmeter?

Inzwischen gibt es eine zweite Verlautbarung, diesmal des Umweltbundesamtes, die die mutmaßlichen Opfer von NO2 binnen Wochenfrist heldenhaft auf etwa die Hälfte reduziert. Prof. Draxler kommt da nicht mehr vor. Aber auch diese Zahl entbehrt jeder harten wissenschaftlichen Grundlage, weshalb das Amt sie umgehend als „statistische“ Größe vorstellt. Was das Amt nicht sagt, weil nicht gewusst oder eher unmessbar: Welchen Anteil haben etwa Feinstaub oder andere Umwelteinflüsse auf die Zahl der nach nichtveröffentlichten Kriterien errechneten fiktiven Toten? Was bewirken etwa Kohlekraftwerke, schwerölbetriebene Handelsschiffe oder die Kreuzfahrtriesen? Allein die 15 größten Schiffe der Welt stoßen pro Jahr so viele Schadstoffe aus wie 750 Millionen Autos, so der NABU (Naturschutzbund Deutschland).  Sind Hamburg oder Rotterdam angesichts der Schwerölemissionen überhaupt noch  bewohnbar? Warum keine Todeszonen um die Häfen? Fegt der Wind das alles weg und wenn, wohin? Auch findet sich im Bericht des Bundesamtes überraschenderweise kein In-Frage-stellen oder überhaupt eine einzige Frage einer wissenschaftlich begründbaren Herkunft der ominösen 40 Mikrogramm/pro Kubikmeter.

Nochmal zum Aufnehmen für Querleser und Schrägdenker, auch ich bin für niedrige Schadstoffwerte nicht nur in Luft, sondern auch in  Erde und Wasser, aber dann wissenschaftlich bitte halbwegs korrekt. Denn es gibt durchaus Daten. Was sagt die WHO und größte Studie aus den USA laut Umweltbundesamt?   „Das WHO-Expertengremium empfahl, auch die wissenschaftlichen Arbeiten zu den Langzeiteffekten intensiv zu sichten, verwies aber darauf, dass sich die Effekte von NO2 bis dato noch immer nicht vollständig von denen der anderen verkehrsbedingten Luftschadstoffe trennen ließen (WHO 2013a). … Der Zusammenhang zwischen einer langfristigen NO2-Belastung und der Asthmaentstehung wird als „ m ö g l i c h e r w e i se “ kausal eingestuft. Es fehlen nach Ansicht der US EPA (Amerikanisches Umweltamt) genügend  a u s s a g e k r ä f t i g e   Studien, die einen von anderen Schadstoffen u n a b h ä n g i g e n Effekt zeigen.“ Veröffentlicht 20.02.2018. Nichts genaues weiß man also natürlich nicht.

Ich stelle mir das so vor. Nach erfolgreichem Animieren der Verbraucher zum vermehrten  Kauf von Dieselautos über mehr als ein Jahrzehnt und der dadurch erfolgten CO2 Absenkung in der Luft, ist Brüssel das NO2 eingefallen.  55 000 Beamten müssen sich beschäftigen. Als man in trauter Runde bei einem Drink oder was Nettem zum Rauchen zusammensaß, zählte man die vollen und leeren Flaschen. Es waren wohl vierzig. So kam man im Dusel bei Diesel auf 40 Mikrogramm/Kubikmeter NO2.  Das würde mir nach Durchsicht der Daten jedenfalls einleuchten. Bis ich bessere, belastbare Daten der Wissenschaft habe, werde ich bei dieser Einschätzung bleiben. Und nebenbei gefragt: Was gehen die EU überhaupt Grenzwerte für NO2 in Europas Städten an? Nach den Maastrichter Verträgen : Nichts! Schimpfen wir deshalb nicht nur auf die Autobauer, die es sicher verdient haben. In diesem Falle handelt es sich um Politik. Von Glyphosat in Muttermilch, Nitrat und Antibiotika im Grundwasser oder Schwerölkreuzfahrt muss man dann nämlich nicht mehr reden. Es stinkt, aber nicht nur vom Diesel!


Kurze Charakteristik einer Talkshow. von W. K. Nordenham

04. März 2018 | Kategorie: Artikel

So macht sich im geistigen Leben, das seinem innersten Wesen nach spezielle Gaben fordert und voraussetzt, der zunehmende Triumph der unqualifizierten, unqualifizierbaren und durch ihre besondere Anlage gerade nicht qualifizierten Pseudointellektuellen geltend.

 Ortega y Gasset – Der Aufstand der Massen

Im  täglichen Leben drängen sie sich auf, schwadronieren  in allen Talkshows, auf allen Radiokanälen und in den Zeitungen herum, wo sie gegen Bezahlung für ihr devot erbetenes Wort selbst noch sorgen ohne auch nur wirklich eines gültig ausdrücken zu wollen oder zu können.  Die Reaktion darauf kann nur in vollendeter Nichtachtung bestehen.   WK Nordenham


Notizen zur Zeit – Ein schon vertanes Jahr 2018! – Von W. K. Nordenham

07. Januar 2018 | Kategorie: Apokalypse, Artikel, Notizen zur Zeit

Jetzt ist das Neue Jahr da, für welches ich allen nur das Beste wünsche, und nichts hat sich bislang wirklich verändert. Wozu immer der ganze Zirkus um Silvester?  Ich weiß es nicht. Wie dem auch sei. Ich hatte noch 7 geschenkte alte Raketen von anno Tobak, nie gebraucht und war damit hoffnungslos veraltet. Darüber lachen Böllerfreaks heute nur. Keine Effekte, nix knallt! In Zeiten, wo Stickstoff und Feinstaub die Dieselautos aus den Städten vertreiben soll, fragt man sich, was da die Staub- und Schadstoffmassen von Silvester den jeweiligen Stadtoberen wohl einflüstern mögen oder die Kölner Lichter oder der Rhein in Flammen und sonstiges Feuerwerk im Lande. Der eine Tag entspricht zwei Monaten Autodreck. Man wünschte sich jetzt noch eine Quantifizierung der tatsächlichen Feinstaubopfer oder der durch Stickoxid Dahingerafften, aber es gibt keine verlässlichen Zahlen. Für Glyphosat gibt es mehr Daten, aber  das darf bleiben, wegen des Verdienens, nicht wegen dem Verdienst. „Ja, so isser, der Schmidt.“ O-Ton der Karikatur eines deutschen Ministers nach seiner Zustimmung.

Ist es nicht merkwürdig, dass Genehmigungen und Beschränkungen der Politik im Endeffekt zuverlässig zu Umsatzsteigerungen der Industrie infolge notwendiger neuer Technologien führen, inklusive Klimawandel?  Dann muss sich niemand mehr  um das Naheliegende kümmern, nämlich den konkreten Schutz der Umwelt und zwar jetzt.  Im Nordpazifik gibt es ein Gebiet so groß wie die Nordsee mit meterdickem Plastik. Nur zwei Jahre chinesisches Wachstum produzieren so viel neuen Umweltschmutz wie die gesamte Bundesrepublik pro Jahr ausstößt. Was soll´s! Erst bauen wir mal viele, viele Windparks, jaja, und die fehlenden Anbindungen und Stromspeicher. Das dauert etwa zwanzig oder dreißig Jahre. Bis dahin hat allein Afrika im Jahr 2050 statt jetzt einer Milliarde zweieinhalb Milliarden Bewohner, von der Restwelt zu schweigen. Wovon die Menschen leben und was die wohl essen sollen und wo die sich das notfalls besorgen werden?  Da wird Klimawandel – den niemand wirklich weiß und seit 8 Jahren geht die Temperatur zurück!- zur Marginalie. Aber Hunger und Planung allein für Afrika kostete dort viel Geld, am Klimawandel jedoch wird hier und weltweit verdient. Es gibt genug Hunger auf der Welt, aber wo er am Ärgsten wütet, finden sich die wie durch Zauberhand die meisten Waffen, sozusagen als Trademark kapitalistischer Doppelmoral – erst Absatz, dann Aussatz, dann Tod. Oder doch eher Mord?  Das wäre mein Wort zum Neuen Jahr gewesen,  wenngleich als nutz- und folgenloser Denkzettel für die Politik- und Finanzmarktkannibalen!  So ein Statement unser aller Kanzlerin wäre mal was gewesen für die Geschichtsbücher! Davon hat Frau Merkel, gutgeknöpft und feingerautet, in ihrem Neujahrswort leider nichts gesagt. Schade !