Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Humanismus in finsteren Zeiten: Ein Brief von Rosa Luxemburg. Anwortbrief einer Unsensiblen und die Stellungnahme von Karl Kraus.

24. Oktober 2023 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Aus "Die Fackel", Rosa Luxemburg

Vorwort. W.K. Nordenham

Humanismus in finsteren Zeiten, die auch immer die unseren sind. Gegen Zeitgenossenschaft gibt es kein Mittel. „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern.“ Der Satz stammt von Rosa Luxemburg. Sie war auch der Überzeugung, dass allein freie Wahlen das Mittel zur Übernahme der Macht sein sollten, fand damit aber keine Mehrheit in ihrer Partei. Deshalb sei hier, durch Abdruck eines Briefes von Rosa Luxemburg aus „Die Fackel“, der Abstand zu allen Nachplapperern nachgewiesen und, falls selbst noch nicht bemerkt, wiederhergestellt. Folgerichtig hat der Name „Karl“, mit dem Karl  Liebknecht gemeint ist, nichts mit irgendwelchen Zeitgenossen zu tun. Die Antwort einer „unsensiblen“ adeligen Gutsbesitzerin auf  den Abdruck des Briefes durch Karl Kraus, der einen Blick auf die gesellschaftliche Situation der Zeit  erlaubt und Karl Kraus´Replique darauf, ergänzen diese Würdigung einer großen Frau. In einer zu schaffenden Anthologie der Menscheit  erschiene Rosa Luxemburgs Brief an vorderer Stelle.

Scheinbar zu  Recht mag mancher einwenden, dass  die Gutsbesitzer und Gutsbsitzerinnen doch Vergangenheit seien. Schön wär´s.  Sie haben sich zurückgezogen in die Chefetagen der Banken und Versicherungen, die Hinterzimmer der Spekulanten, in die Paläste des Geldadels, in die kunstvoll-exklusiven Feriendomizile à la Dubai, das englisch als  „to buy“  besser klingt. Sie haben die Erde mit der Globalisierung  zu einem Hort ihrer Untertanen erkoren und feiern ungerührt ihre immerwährenden Parties auf  Rechnung der durch Ausbeutung,  Hunger, Krieg  und Umweltverpestung auf der Strecke Gebliebenen, während sie beim erdumspannenden Börsenspiel ganz nebenbei den Gewinn machen, der den millionenfachen Ruin der ungezählter Verlierer in Kauf nimmt, die  in den Fabriken der dritten Welt das Leben hingeben oder für einen Hungerlohn fristen müssen.  Ihnen mögen Karl Kraus´ Worte in den Ohren gellen:

Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen »Widersprüchen« auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden, nämlich weil ich den Weltkrieg für eine unmissdeutbare Tatsache halte und die Zeit, die das Menschenleben auf einen Dreckhaufen reduziert hat, für eine unerbittliche Scheidewand — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher  werde,  d a m i t  d i e  G e s e l l –    s c h a f t   d e r   a u s s c h l i e ß l i c h  G e n u s s – b e r e c h t i g t e n ,  d i e  d a  g l a u b t ,  d a s s  d i e  i h r  b o t-m ä ß i g e   M e n s c h h e i t   g e n u g    d e r   L i e b e    h a b e ,  w e n n   s i e   v o n    i h n e n   d i e    S y p h i l i s    b e k o m m t ,    w e n i g s t e n s    d o c h    a u c h    m i t    e i n e m    A l p d r u c k  z u    B e t t  g e h e !   D a m i t    i h n e n   w e-  n i g s t e n s   d i e  L u s t    v e r g e h e ,   i h r e n   O p f e r n    M o r a l   z u   p r e d i g e n,   u n d   d e r    H u m o r ,   ü b e r   s i e   W i t z e   z u   m a c h e n !

Kursiv  Hervorgehobenes im folgenden Originalbeitrag  entspricht den Hervorhebungen von Karl Kraus.

DIE FACKEL

Nr. 546—550 JULI 1920 XXII. JAHR

(gelesen im Juli 1920)

Dem Andenken des edelsten Opfers widme ich die
Vorlesung des folgenden Briefes, den Rosa Luxemburg aus dem
Breslauer Weibergefängnis Mitte Dezember 1917 an Sonja
Liebknecht geschrieben hat:

— — Jetzt ist es ein Jahr, dass Karl in Luckau sitzt. Ich habe in diesem Monat oft daran gedacht und genau vor einem Jahre waren Sie bei mir in Wronke ( auch ein Gefängnis. Anm. d. Red.) , haben mir den schönen Weihnachtsbaum beschert … Heuer habe ich mir hier einen besorgen lassen, aber man brachte mir einen ganz schäbigen mit fehlenden Ästen — kein Vergleich mit dem vorjährigen. Ich weiß nicht, wie ich darauf die acht Lichteln anbringe, die ich erstanden habe. Es ist mein drittes Weihnachten im Kittchen, aber nehmen Sie es ja nicht tragisch. Ich bin so ruhig und heiter wie immer. Gestern lag ich lange wach — ich kann jetzt nie vor ein Uhr  einschlafen, muss aber schon um zehn ins Bett —, dann träume ich verschiedenes im Dunkeln.  Gestern dachte ich also: Wie merkwürdig das ist, dass ich ständig in einem freudigen Rausch lebe — ohne jeden besonderen Grund. So liege ich zum Beispiel hier in der dunklen Zelle auf einer steinharten Matratze, um mich im Hause herrscht die übliche Kirchhofsstille, man  kommt sich vor wie im Grabe: vom Fenster her zeichnet sich auf der Decke der Reflex der Laterne, die vor dem Gefängnis die ganze Nacht brennt. Von Zeit zu Zeit hört man nur ganz dumpf das ferne Rattern eines vorbeigehenden Eisenbahnzuges oder ganz in der Nähe unter den Fenstern das Räuspern der Schildwache, die in ihren schweren Stiefeln ein paar Schritte langsam macht, um die steifen Beine zu bewegen. Der Sand knirscht so hoffnungslos unter diesen Schritten, dass die ganze Öde und Ausweglosigkeit des Daseins daraus klingt in die feuchte, dunkle Nacht. Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langweile, Unfreiheit des Winters — und dabei klopft mein Herz, von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem Leben, wie wenn ich irgendein zauberndes Geheimnis wüsste, das alles Böse und traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück wandelt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muss wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst; die tiefe nächtliche Finsternis ist so schön und weich wie Samt, wenn man nur richtig schaut. Und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen, schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben — wenn man nur richtig zu hören weiß. In solchen Augenblicken denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen Zauberschlüssel mitteilen, damit Sie immer und in allen Lagen das Schöne und Freudige des Lebens wahrnehmen, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine bunte Wiese gehen. Ich denke ja nicht daran, Sie mit Asketentum, mit eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen Sinnesfreuden. Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche innere Heiterkeit geben, damit ich um Sie ruhig bin, dass Sie in einem sternbestickten Mantel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen, Trivialen und Beängstigenden schützt.

Sie haben im Steglitzer Park einen schönen Strauß aus schwarzen und rosavioletten Beeren gepflückt. Für die schwarzen Beeren kommen in Betracht entweder Holunder — seine Beeren hängen in schweren, dichten Trauben zwischen großen gefiederten Blattwedeln, sicher kennen Sie sie, oder, wahrscheinlicher, Liguster; schlanke, zierliche, aufrechte Rispen von Beeren und schmale, längliche grüne Blättchen. Die rosavioletten, unter kleinen Blättchen versteckten Beeren können die der Zwergmispel sein; sie sind zwar eigentlich rot, aber in dieser späten Jahreszeit ein bisschen schon überreif und angefault, erscheinen sie oft violettrötlich; die Blättchen sehen der Myrte ähnlich, klein, spitz am Ende, dunkelgrün und lederig oben, unten rauh.

Sonjuscha, kennen Sie Platens: »Verhängnisvolle Gabel«? Könnten Sie es mir schicken oder bringen? Karl hat einmal erwähnt, dass er sie zuhause gelesen hat. Die Gedichte Georges sind schön; jetzt weiß ich, woher der Vers: »Und unterm Rauschen rötlichen Getreides!« stammt, den Sie gewöhnlich hersagten, wenn wir im Felde spazieren gingen. Können Sie mir gelegentlich den neuen »Amadis« abschreiben, ich liebe das Gedicht so sehr — natürlich dank Hugo Wolffs Lied —, habe es aber nicht hier. Lesen Sie weiter die Lessing-Legende? Ich habe wieder zu Langes Geschichte des Materialismus gegriffen, die mich stets anregt und erfrischt. Ich möchte so sehr, dass Sie sie mal lesen. Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt, auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken. Die werden hier abgeladen, in den Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum ersten Mal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen. Die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, dass es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benützen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis dass für sie das Wort gilt »vae victis« … An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenützt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. — Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, dass die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, dass die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! »Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid«, antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein … Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete … Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die ward zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft und eines, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll … ich stand davor und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter — es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten! Und hier — diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen und — die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt … O mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins im Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff einen Gassenhauer.Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei …

Sonjuscha, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd — trotz alledem.

DIE FACKEL   NR. 554—556 NOVEMBER 1920 XXII. JAHR

( gelesen im November 1920)

Antwort an Rosa Luxemburg von einer Unsentimentalen

Innsbruck 25. August 1920

Geehrter Herr Kraus,

Zufällig ist mir die letzte Nummer Ihrer »Fackel« in die Hände gekommen (ich war bis 4./II. l. J. Abonnentin) u. ich möchte mir gestatten Ihnen betreffs des von Ihnen so sehr bewunderten Briefes der Rosa Luxemburg Einiges zu erwidern, obwohl Ihnen eine Zuschrift aus dem ominösen Innsbruck vielleicht nicht sehr willkommen ist. Also: der Brief ist ja wirklich r e c h t  s c h ö n  u. ich stimme ganz mit Ihnen überein, dass er sehr wohl als Lesestück in den Schulbüchern für Volks- u. Mittelschulen figurieren könnte, wobei man dann im Vorwort lehrreiche Betrachtungen darüber anstellen könnte, wie viel ersprießlicher und erfreulicher das Leben der Luxemburg verlaufen wäre, wenn sie  sich statt als Volksaufwieglerin e t w a als Wärterin in einem Zoologischen Garten od. dgl. betätigt hätte, in welchem Fall ihr wahrscheinlich auch das »Kittchen« erspart geblieben wäre. Bei ihren botanischen Kenntnissen u. ihrer Vorliebe für Blumen hätte sie jedenfalls auch in einer größeren Gärtnerei lohnende u. befriedigende Beschäftigung gefunden u. hätte dann     gewiss  keine Bekanntschaft mit Gewehrkolben gemacht.

Was die etwas larmoyante Beschreibung des Büffels anbelangt, so will ich es gern glauben, dass dieselbe ihren Eindruck auf die  Tränendrüsen der Kommerzienrätinnen u. der ästhetischen Jünglinge in Berlin, Dresden u. Prag nicht verfehlt hat.  Wer jedoch, wie ich, auf einem großen Gute Südungarns aufgewachsen ist, u. diese Tiere, ihr   meist schäbiges, oft rissiges Fell u.  ihren stets stumpfsinnigen »Gesichtsausdruck« von Jugend auf kennt betrachtet die Sache  ruhiger.   Die gute Luxemburg hat sich von den betreffenden Soldaten tüchtig anplauschen lassen (ähnlich wie s. Z. der sel. Benedikt mit den Grubenhunden) wobei wahrscheinlich noch Erinnerungen an Lederstrumpf, wilde Büffelherden in den Prärien etc. in ihrer Vorstellung mitgewirkt haben. — Wenn wirklich unsere Feldgrauen, abgesehn von den schweren Kämpfen, die sie in Rumänien zu bestehen hatten, noch Zeit, Kraft u. Lust gehabt hätten, wilde Büffel zu Hunderten einzufangen u. dann   stracks zu Lasttieren zu zähmen, so wäre das aller Bewunderung wert, u. entschieden noch erstaunlicher, als dass die urkräftigen Tiere sich diese Behandlung hätten gefallen lassen.

Nun muss man aber wissen, dass die Büffel in diesen Gegenden seit undenklichen Zeiten   mit Vorliebe als Lasttiere (sowie auch als Milchkühe) gezüchtet u. verwendet werden. Sie sind anspruchslos im Futter u. ungeheuer kräftig,  wenn auch von sehr langsamer Gangart. Ich glaube daher nicht, dass  der »geliebte Bruder« der Luxemburg besonders erstaunt gewesen sein dürfte,  in Breslau einen Lastwagen ziehn zu müssen u. mit »dem Ende des Peitschenstieles«  Eines übers Fell zu bekommen.  Letzteres wird wohl — wenn es nicht gar zu roh geschieht — bei Zugtieren ab u. zu unerlässlich sein,  da sie bloßen Vernunftgründen gegenüber nicht immer zugänglich sind, — ebenso wie ich Ihnen als Mutter versichern kann, dass  eine Ohrfeige bei kräftigen Buben oft sehr wohltätig wirkt! Man muss nicht immer das Schlimmste annehmen  u. die Leute (u. die Tiere) prinzipiell nur bedauern, ohne die näheren Umstände zu kennen. Das kann mehr Böses als Gutes anrichten. —  Die Luxemburg hätte gewiss gerne, wenn es ihr möglich gewesen wäre, den Büffeln Revolution gepredigt u. ihnen eine Büffel-Republik gegründet, wobei es sehr fraglich ist, ob sie imstande gewesen wäre, ihnen das — von ihr — geträumte Paradies mit »schönen Lauten der Vögel u. melodischen Rufen des Hirten« zu verschaffen u. ob die Büffel auf  Letzteres so besonderes Gewicht legen. Es gibt eben viele   hysterische Frauen, die sich gern in Alles hineinmischen u. immer Einen gegen den Anderen hetzen möchten; sie werden, wenn sie Geist und einen guten Stil haben, von der Menge willig gehört u. stiften viel Unheil in der Welt,  so dass man nicht zu sehr erstaunt sein darf, wenn eine solche, die so oft Gewalt gepredigt hat,  auch ein gewaltsames Ende nimmt.

Stille Kraft, Arbeit im nächsten Wirkungskreise, ruhige Güte u. Versöhnlichkeit ist, was uns mehr nottut,  als Sentimentalität u. Verhetzung. Meinen Sie nicht auch?

Hochachtungsvoll
Frau v. X—Y.

Was ich meine, ist: dass es mich sehr wenig interessiert, ob eine Nummer der Fackel »zufällig« oder anderwegen einer derartigen Bestie in ihre Fänge gekommen ist und ob sie bis 4. II. l. J. Abonnentin war oder es noch ist. Ist sie’s gewesen, so weckt es unendliches Bedauern, dass sie’s nicht mehr ist, denn wäre sie’s noch, so würde sie’s am Tage des Empfangs dieses Briefes, also ab 28. VIII. l. J. nicht mehr sein. Weil ja bekanntlich die Fackel nicht wehrlos gegen das Schicksal ist, an solche Adresse zu gelangen. Was ich meine, ist: dass mir diese Zuschrift aus dem ominösen Innsbruck insofern ganz willkommen ist, als sie mir das Bild, das ich von der Geistigkeit dieser Stadt empfangen und geboten habe, auch nicht in einem Wesenszug alteriert und im Gegenteil alles ganz so ist, wie es sein soll. Was ich meine, ist, dass neben dem Brief der Rosa Luxemburg, wenn sich die sogenannten Republiken dazu aufraffen könnten, ihn durch ihre Lesebücher den aufwachsenden Generationen zu überliefern, gleich der Brief dieser Megäre abgedruckt werden müsste, um der Jugend nicht allein Ehrfurcht vor der Erhabenheit der menschlichen Natur beizubringen, sondern auch Abscheu vor ihrer Niedrigkeit und an dem handgreiflichsten Beispiel ein Gruseln vor der unausrottbaren Geistesart deutscher Fortpflanzerinnen, die uns das Leben bis zur todsichern Aussicht auf neue Kriege verhunzen wollen und die dem Satan einen Treueid geschworen zu haben scheinen, eben das was sie anno 1914 aus Heldentodgeilheit nicht verhindert haben, immer wieder geschehen zu lassen. Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen »Widersprüchen« auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden, nämlich weil ich den Weltkrieg für eine unmissdeutbare Tatsache halte und die Zeit, die das Menschenleben auf einen Dreckhaufen reduziert hat, für eine unerbittliche Scheidewand — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen! Zu Betrachtungen, wie viel ersprießlicher und erfreulicher das Leben der Luxemburg verlaufen wäre, wenn sie sich als Wärterin in einem Zoologischen Garten betätigt hätte statt als Bändigerin von Menschenbestien, von denen sie schließlich zerfleischt ward, und ob sie als Gärtnerin edler Blumen, von denen sie allerdings mehr als eine Gutsbesitzerin wusste, lohnendere und  befriedigendere Beschäftigung gefunden hätte denn als Gärterin menschlichen Unkrauts — zu solchen Betrachtungen wird, solange die Frechheit von der Furcht gezügelt ist, kein Atemzug langen. Auch bestünde die Gefahr, dass etwaiger Spott über das »Kittchen«, in dem eine Märtyrerin sitzt, auf der Stelle damit beantwortet würde, dass man es der Person, die sich solcher Schändlichkeit erdreistet hat, in die Höhe hebt, wenn man nicht eine Ohrfeige vorzöge, die, wie ich Ihnen versichern kann, bei kräftigen Heldenmüttern sehr wohltätig wirkt! Was vollends den Hohn darüber betrifft, dass Rosa Luxemburg »mit Gewehrkolben Bekanntschaft gemacht« hat, so wäre er gewiss mit ein paar Hieben, aber nur mit jenem Peitschenstiel, der Rosa Luxemburgs Büffel getroffen hat, nicht zu teuer bezahlt. Nur keine Sentimentalität! Larmoyante Beschreibungen solcher Prozeduren können wir nicht brauchen, das ist nichts für die Lesebücher. Wer auf einem großen Gut Südungarns aufgewachsen ist, wo das sowieso schon schäbige und rissige Fell der Büffel kein Mitleid mehr aufkommen lässt und ihr stets stumpfsinniger »Gesichtsausdruck« — ein Gesichtsausdruck, der mithin nicht nach der Andacht einer Luxemburg, sondern nach Gänsefüßen, nach den Fußtritten einer Gans verlangt — sich von dem idealen Antlitz der südungarischen Gutsbesitzer unsympathisch abhebt, der weiß, dass man in Ungarn noch ganz andere Prozeduren mit den Geschöpfen Gottes vornimmt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und dass die Gutsbesitzerinnen mit den Kommerzienrätinnen darin völlig einig sind, sichs wohl gefallen zu lassen. Ich meine nun freilich, dass man weder für Revolutionstribunale sich begeistern noch mit dem Standpunkt jener Offiziere sympathisieren soll, die sich aus dem Grunde, weil das Letzte, was ihnen geblieben ist, die Ehre ist, dazu hingerissen fühlen, ihre Nebenmenschen zu kastrieren. Aber so ungerecht bin ich doch, dass ich zum Beispiel Damen, die noch heute »unsere Feldgrauen« sagen, verurteilen würde, den Abort einer Kaserne zu putzen und hierauf »stracks« den Adel abzulegen, von dem sie sich noch immer, und wär’s auch nur in anonymen Besudelungen einer Toten, nicht trennen können. Allerdings meine ich auch, dass unsere Feldgrauen, abgesehen von den schweren Kämpfen, die sie in Rumänien zu bestehen hatten und zwar nur deshalb, weil die Lesebücher bis 1914 noch nicht vom Geist der guten Rosa Luxemburg, sondern von dem der Gutsbesitzerinnen inspiriert waren, faktisch auch Zeit, Kraft und Lust gehabt haben, Büffel zu stehlen und zu zähmen, und ferner, dass, solange die Bewunderung deutscher und südungarischer Walküren für die militärische Büffeldressur vorhält, auch die Menschheit nicht davor bewahrt sein wird, mit Vorliebe zu Lasttieren abgerichtet zu werden. Was ich aber außerdem noch meine — da ja nun einmal meine Meinung und nicht bloß mein Wort gehört werden will — ist: dass, wenn das Wort der guten Rosa Luxemburg nicht von der geringsten Tatsächlichkeit beglaubigt wäre und längst kein Tier Gottes mehr auf einer grünen Weide, sondern alles schon im Dienste des Kaufmanns, sie doch vor Gott wahrer gesprochen hätte als solch eine Gutsbesitzerin, die am Tier die Anspruchslosigkeit im Futter rühmt und nur die langsame Gangart beklagt, und dass die Menschlichkeit, die das Tier als den geliebten Bruder anschaut, doch wertvoller ist als die Bestialität, die solches belustigend findet und mit der Vorstellung scherzt, dass ein Büffel »nicht besonders erstaunt« ist, in Breslau einen Lastwagen ziehen zu müssen und mit dem Ende eines Peitschenstieles »Eines übers Fell zu bekommen«. Denn es ist jene ekelhafte Gewitztheit, die die Herren der Schöpfung und deren Damen »von Jugend auf« Bescheid wissen lässt, dass im Tier nichts los ist, dass es in demselben Maße gefühllos ist wie sein Besitzer, einfach aus dem Grund, weil es nicht mit der gleichen Portion Hochmut begabt wurde und zudem nicht fähig ist, in dem Kauderwelsch, über welches jener verfügt, seine Leiden preiszugeben. Weil es vor dieser Sorte aber den Vorzug hat, »bloßen Vernunftgründen gegenüber nicht immer zugänglich« zu sein, erscheint ihr der Peitschenstiel »wohl ab und zu unerlässlich«. Wahrlich, sie verwendet ihn bloß aus dumpfer Wut gegen ein unsicheres Schicksal, das ihr selbst ihn irgendwie vorzubehalten scheint! Sie ohrfeigen auch ihre Kinder nur, deren Kraft sie an der eigenen Kraft messen, oder lassen sie von sexuell disponierten Kandidaten der Theologie nur darum mit Vorliebe martern, weil sie vom Leben oder vom Himmel irgendwas zu befürchten haben. Dabei haben die Kinder doch den Vorteil, dass sie die Schmach, von solchen Eltern geboren zu sein, durch den Entschluss, bessere zu werden, tilgen oder andernfalls sich dafür an den eigenen Kindern rächen können. Den Tieren jedoch,die nur durch Gewalt oder Betrug in die Leibeigenschaft des Menschen gelangen, ist es in dessen Rat bestimmt, sich von ihm entehren zu lassen, bevor sie von ihm gefressen werden. Er beschimpft das Tier, indem er seinesgleichen mit dem Namen des Tiers beschimpft, ja die Kreatur selbst ist ihm nur ein Schimpfwort. Über nichts mehr ist er erstaunt, und dem Tier, das es noch nicht verlernt hat, erlaubt ers nicht. Das Tier darf so wenig erstaunt sein über die Schmach, die er ihm antut, wie er selbst; und wie nur ein Büffel nicht über Breslau staunen soll, so wenig staunt der Gutsbesitzer, wenn der Mensch ein gewaltsames Endenimmt. Denn wo die Welt für ihre Ordnung in Trümmer geht, da finden sie alles in Ordnung. Was will die gute Luxemburg? Natürlich, sie, die kein Gut besaß außer ihrem Herzen, die einen Büffel als Bruder betrachten wollte, hätte gewiss gern, wenn es ihr möglich gewesen wäre, den Büffeln Revolution gepredigt, ihnen eine Büffel-Republik gegründet, womöglich mit schönen Lauten der Vögel und dem melodischen Rufen der Hirten, wobei es fraglich ist, »ob die Büffel auf Letzteres so besonderes Gewicht legen«, da sie es selbstverständlich vor ziehen, dass nur auf sie selbst Gewicht gelegt wird. Leider wäre es ihr absolut nicht gelungen, weil es eben auf Erden ja doch weit mehr Büffel gibt als Büffel! Dass sie es am liebsten versucht hätte, beweist eben nur, dass sie zu den vielen hysterischen Frauen gehört hat, die sich gern in Alles hineinmischen und immer Einen gegen den Anderen hetzen möchten. Was ich nun meine, ist, dass in den Kreisen der Gutsbesitzerinnen dieses klinische Bild sich oft so deutlich vom Hintergrund aller Haus- und Feldtätigkeit abhebt, dass man versucht wäre zu glauben, es seien die geborenen Revolutionärinnen. Bei näherem Zusehn würde man jedoch erkennen, dass es nur dumme Gänse sind. Womit man aber wieder in den verbrecherischen Hochmut der Menschenrasse verfiele, die alle ihre Mängel und üblen Eigenschaften mit Vorliebe den wehrlosen Tieren zuschiebt, während es zum Beispiel noch nie einem Ochsen, der in Innsbruck lebt, oder einer Gans, die auf einem großen südungarischen Gut aufgewachsen ist, eingefallen ist, einander einen Innsbrucker oder eine südungarische Gutsbesitzerin zu schelten. Auch würden sie nie, wenn sie sich schon vermäßen, über Geistiges zu urteilen, es beim »guten Stil« anpacken und gönnerisch eine Eigenschaft anerkennen, die ihnen selbst in so auffallendem Maße abgeht. Sie hätten — wiewohl sie bloßen Vernunftgründen »gegenüber« nicht immer zugänglich sind — zu viel Takt, einen schlecht geschriebenen Brief abzuschicken, und zu viel Scham, ihn zu schreiben. Keine Gans hat eine so schlechte Feder, dass sie’s vermöchte! Meinen Sie nicht auch? Sie ist intelligent, von Natur gutmütig und mag von ihrer Besitzerin gegessen, aber nicht mit ihr verwechselt sein. Was nun wieder diese Kreatur vor jener voraus hat, ist, dass sie sichs im Ernstfall, wenn’s ihr selbst an den Kragen gehen könnte, beim Himmel mit dem Katechismus zu richten versteht und dass sie dazu noch die Güte für sich selbst hat, einen zu ermahnen, man müsse »nicht immer das Schlimmste annehmen und die Leute (u. die Tiere) prinzipiell nur bedauern, ohne die näheren Umstände zu kennen; das kann mehr Böses als Gutes anrichten.« Böses vor allem für die prädestinierten Besitzer von Leuten (u. Tieren), deren Verfügungsrecht einer göttlichen Satzung entspricht, die nur Aufwiegler und landfremde Elemente wie zum Beispiel jener Jesus Christus antasten wollen, die aber in Geltung bleibt, da das Streben nach irdischen Gütern Gottseidank älter ist als das christliche Gebot und dieses überleben wird. So meine ich!


Und wieder Krieg! In dieser großen Zeit. von Karl Kraus. Vorwort W. K. Nordenham

24. Februar 2022 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit

Noch ein Versuch wider die Vergeblichkeit von Frieden, weil Machttrunkenheit der Waffen bedarf um dieselbe aufrechtzuerhalten und den ultimativen Rausch erst recht in der Ausdehnung de Machtraumes erlebt! Der Irrsin von Macht und Krieg hat immer Methode und sie ähneln sich erschreckend. Mindesten sein dutzend Kriege finden momentan auf der Welt statt statt, Tendenz zunehmend. Waffen sind überall wie von Zauberhand verfügbar und die Chronisten des Grauens allerorten dabei. Wozu sind sie nütze? Ändert sich irgendetwas?  Wie sagte schon  Kjerkegaard?

Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, dass sie untergeht.

Vor über einhundert Jahren schrieb Karl Kraus die unten folgende Abrechnung mit seiner und unserer Zeit. Mir ist klar, dass dieser Kraus´sche Aufsatz für die kurzfloskelgeübte und folglich aufmerksamkeitskurze  Klientel der LOL – Facebook- Twitter-Generation eine nicht zu überschätzende Herausforderung darstellt. Aber vielleicht schafft ja jemand wenigstens die ersten zwei Seiten und  den letzten Absatz. Das wäre weit mehr als ich erhoffe und könnte helfen.  W.K. Nordenham

Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so zielbewusst mit keinem Schritte zu verfehlen. Und ob denn das ewige Geheimnis, aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger.               Karl Kraus

Die Fackel NR. 404 DEZEMBER 1914 XVI. JAHR

I n   d i e s e r   g r o ß e n   Z e i t

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der g e s c h e h e n  muss, was man sich nicht mehr v o r s t e l l e n  kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muss das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!

Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, dass sie ihnen nicht zuzutrauen waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen übertönen, und wenn es sie nicht zum Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein Wort. Selbst die größere Maschine hat es nicht vermocht und das Ohr, das die Posaune des Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den Trompeten des Tages. Nicht erstarrte vor Schreck der Dreck des Lebens, nicht erbleichte Druckerschwärze vor so viel Blut. Sondern das Maul schluckte die vielen Schwerter und wir sahen nur auf das Maul und maßen das Große nur an dem Maul. Und Gold für Eisen fiel vom Altar in die Operette, der Bombenwurf war ein Couplet, und fünfzehntausend Gefangene gerieten in eine Extraausgabe, die eine Soubrette vorlas, damit ein Librettist gerufen werde. Mir Unersättlichem, der des Opfers nicht genug hat, ist die vom Schicksal befohlene Linie nicht erreicht. Krieg ist mir erst, wenn nur die, die nicht taugen, in ihn geschickt werden. Sonst hat mein Frieden keine Ruhe, ich richte mich heimlich auf die große Zeit ein und denke mir etwas, was ich nur dem lieben Gott sagen kann und nicht dem lieben Staat, der es mir jetzt nicht erlaubt, ihm zu sagen, dass er zu tolerant ist. Denn wenn er jetzt nicht auf die Idee kommt, die sogenannte Pressefreiheit*, die ein paar weiße Flecke nicht spürt, zu erwürgen, so wird er nie mehr auf die Idee kommen, und wollte ich ihn jetzt auf die Idee bringen, er vergriffe sich an der Idee und mein Text wäre das einzige Opfer. Also muss ich warten, wiewohl ich doch der einzige Österreicher bin, der nicht warten kann, sondern den Weltuntergang durch ein schlichtes Autodafé ersetzt sehen möchte. Die Idee, auf welche ich die tatsächlichen Inhaber der nominellen Gewalt bringen will, ist nur eine fixe Idee von mir. Aber durch fixe Ideen wird ein schwankender Besitzstand gerettet, wie eines Staates so einer Kulturwelt. Man glaubt einem Feldherrn die Wichtigkeit von Sümpfen so lange nicht, bis man eines Tages Europa nur noch als Umgebung der Sümpfe betrachtet. Ich sehe von einem Terrain nur die Sümpfe, von ihrer Tiefe nur die Oberfläche, von einem Zustand nur die Erscheinung, von der nur einen Schein und selbst davon bloß den Kontur. Und zuweilen genügt mir ein Tonfall oder gar nur die Wahnvorstellung. Tue man mir, spaßeshalber, einmal den Gefallen, mir auf die Oberfläche zu folgen dieser problemtiefen Welt, die erst erschaffen wurde, als sie gebildet wurde, die sich um ihre eigene Achse dreht und wünscht, die Sonne drehte sich um sie.

Über jenem erhabenen Manifest, jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit eingeleitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat, über dem menschlichsten Anschlag, den die Straße unserm Auge widerfahren lassen konnte, hängt der Kopf eines Varietékomikers, überlebensgroß. Daneben aber schändet ein Gummiabsatzerzeuger das Mysterium der Schöpfung, indem er von einem strampelnden Säugling aussagt, so, mit dem Erzeugnis seiner, ausgerechnet seiner Marke, sollte der Mensch auf die Welt kommen. Wenn ich nun der Meinung bin, dass der Mensch, da die Dinge so liegen, lieber gar nicht auf die Welt kommen sollte, so bin ich ein Sonderling. Wenn ich jedoch behaupte, dass der Mensch unter solchen Umständen künftig überhaupt nicht mehr auf die Welt kommen wird und dass späterhin vielleicht noch die Stiefelabsätze auf die Welt kommen werden, aber ohne den dazugehörigen Menschen, weil er mit der eigenen Entwicklung nicht Schritt halten konnte und als das letzte Hindernis seines Fortschritts zurückgeblieben ist — wenn ich so etwas behaupte, bin ich ein Narr, der von einem Symptom gleich auf den ganzen Zustand schließt, von der Beule auf die Pest. Wäre ich kein Narr, sondern ein Gebildeter, so würde ich vom Bazillus und nicht von der Beule so kühne Schlüsse ziehen und man würde mir glauben. Wie närrisch gar, zu sagen, dass man, um sich von der Pest zu befreien, die Beule konfiszieren soll. Ich bin aber wirklich der Meinung, dass in dieser Zeit, wie immer wir sie nennen und werten mögen, ob sie nun aus den Fugen ist oder schon in der Einrichtung, ob sie erst vor dem Auge eines Hamlet Blutschuld und Fäulnis häuft oder schon für den Arm eines Fortinbras reift, — dass in ihrem Zustand die Wurzel an der Oberfläche liegt. Solches kann durch ein großes Wirrsal klar werden, und was ehedem paradox war, wird nun durch die große Zeit bestätigt. Da ich weder Politiker bin noch sein Halbbruder Ästhet, so fällt es mir nicht ein, die Notwendigkeit von irgendetwas, das geschieht, zu leugnen oder mich zu beklagen, dass die Menschheit nicht in Schönheit zu sterben verstehe. Ich weiß wohl, Kathedralen werden mit Recht von Menschen beschossen, wenn sie von Menschen mit Recht als militärische Posten verwendet werden. Kein Ärgernis in der Welt, sagt Hamlet. Nur dass ein Höllenschlund sich zu der Frage öffnet: Wann hebt die größere Zeit des Krieges an der Kathedralen gegen Menschen! Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so zielbewusst mit keinem Schritte zu verfehlen. Und ob denn das ewige Geheimnis, aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger. Wer den Besitzstand erweitern will und wer ihn nur verteidigt — beide leben im Besitzstand, stets unter und nie über dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn, der andere erklärt ihn. Wird uns nicht bange vor irgendetwas über dem Besitzstand, wenn Menschenopfer unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter der Sprache des seelischen Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik, zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: »Was jetzt zu geschehen hat, ist, dass der Reisende fortwährend die Fühlhörner ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich abgetastet wird«! Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider verkauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu leben, kann philosophisch nicht bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von einem unabsehbaren Mangel an Schamgefühl zeugt. Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter dem Lebenszweck abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fortschritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen. Der Fortschritt lebt, um zu essen, und beweist zu Zeiten, dass er sogar sterben kann, um zu essen. Er erträgt Mühsal, damit es ihm wohl ergehe. Er wendet Pathos an die Prämissen. Die äußerste Bejahung des Fortschritts gebietet nun längst, dass das Bedürfnis sich nach dem Angebot richte, dass wir essen, damit der andere satt werde, und dass der Hausierer noch unsern Gedanken unterbreche, wenn er uns bietet, was wir gerade nicht brauchen. Der Fortschritt, unter dessen Füßen das Gras trauert und der Wald zu Papier wird, aus dem die Blätter wachsen, er hat den Lebenszweck den Lebensmitteln subordiniert und uns zu Hilfsschrauben unserer Werkzeuge gemacht. Der Zahn der Zeit ist hohl; denn als er gesund war, kam die Hand, die vom Plombieren lebt. Wo alle Kraft angewandt wurde, das Leben reibungslos zu machen, bleibt nichts übrig, was dieser Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die Individualität leben, aber nicht mehr entstehen. Mit ihren Nervenwünschen mag sie dort gastieren, wo in Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne Gesicht und Gruß vorbei und vorwärtsschieben. Als Schiedsrichter zwischen Naturwerten wird sie anders entscheiden. Gewiss nicht für die hiesige Halbheit, die ihr Geistesleben für die Propaganda ihrer Ware gerettet, sich einer Romantik der Lebensmittel ergeben und »die Kunst in den Dienst des Kaufmanns« gestellt hat. Die Entscheidung fällt zwischen Seelenkräften und Pferdekräften. Vom Betrieb kommt keine Rasse ungeschwächt zu sich selbst, höchstens zum Genuss. Die Tyrannei der Lebensnotwendigkeit gönnt ihren Sklaven dreierlei Freiheit: vom Geist die Meinung, von der Kunst die Unterhaltung und von der Liebe die Ausschweifung. Es gibt, Gott sei gedankt, noch Güter, die stecken bleiben, wenn Güter immer rollen sollen. Denn Zivilisation lebt am Ende doch von Kultur. Wenn die entsetzliche Stimme, die in diesen Tagen das Kommando übergellen darf, in der Sprache ihrer zudringlichen Phantastik den Reisenden auf fordert, die Fühlhörner auszustrecken und im Pulverdampf die Kundschaft abzutasten, wenn sie vor dem Unerhörten sich den heroischen Entschluss abringt, die Schlachtfelder für die Hyänen zu reklamieren, so hat sie etwas von jener trostlosen Aufrichtigkeit, mit der der Zeitgeist seine Märtyrer begrinst. Wohl, wir opfern uns auf für die Fertigware, wir konsumieren und leben so, dass das Mittel den Zweck konsumiere. Wohl, wenn ein Torpedo uns frommt, so sei es eher erlaubt, Gott zu lästern als ein Torpedo! Und Notwendigkeiten, die sich eine im Labyrinth der Ökonomie verirrte Welt gesetzt hat, fordern ihre Blutzeugen und der grässliche Leitartikler der Leidenschaften, der registrierende Großjud, der Mann, der an der Kassa der Weltgeschichte sitzt, nimmt Siege ein und notiert täglich den Umsatz in Blut und hat in Kopulierungen und Titeln, aus denen die Profitgier bellt, einen Ton, der die Zahl von Toten und Verwundeten und Gefangenen als Aktivposten* einheimst, wobei er zuweilen mein und dein und Stein und Bein verwechselt, aber so frei ist, mit leiser Unterstreichung seiner Bescheidenheit und vielleicht in Übereinstimmung mit den Eindrücken aus eingeweihten Kreisen und ohne die Einbildungskraft beiseite zu lassen, »Laienfragen und Laienantworten« strategisch zu unterscheiden. Und wenn er es dann wagt, über dem ihm so wohltuenden Aufschwung heldischer Gefühle seinen Segen zu sprechen und Gruß und Glückwunsch der Armee zu entbieten und seine »braven Soldaten« im Jargon der Leistungsfähigkeit und wie am Abend eines zufriedenen Börsentags zu ermuntern, so gibt es angeblich »nur eine Stimme«, die daran Ärgernis nimmt, wirklich nur eine, die es heute ausspricht — aber was hilft’s, solange es die eine Stimme gibt, deren Echo nichts anderes sein müsste als ein Sturm der Elemente, die sich aufbäumen vor dem Schauspiel, dass eine Zeit den Mut hat, sich groß zu nennen, und solchem Vorkämpfer kein Ultimatum stellt!

Die Oberfläche sitzt und klebt an der Wurzel. Die Unterwerfung der Menscheit unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen, und schärfte ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste vor allen, eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte Sorge um ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse. Der Fortschritt, der auch über die Logik verfügt, entgegnet, die Presse sei auch nichts anderes als eine der Berufsgenossenschaften, die von einem vorhandenen Bedürfnis leben. Aber wenn es so wahr ist wie es richtig ist, und ist die Presse nichts weiter als ein Abdruck des Lebens, so weiß ich Bescheid, denn ich weiß dann, wie dieses Leben beschaffen ist. Und dann fällt mir zufällig bei, an einem trüben Tage wird es klar, dass das Leben nur ein Abdruck der Presse ist. Habe ich das Leben in den Tagen des Fortschritts unterschätzen gelernt, so musste ich die Presse überschätzen. Was ist sie? Ein Bote nur? Einer, der uns auch mit seiner Meinung belästigt? Durch seine Eindrücke peinigt? Uns mit der Tatsache gleich die Vorstellung mitbringt? Durch seine Details über Einzelheiten von Meldungen über Stimmungen oder durch seine Wahrnehmungen über Beobachtungen von Einzelheiten über Details und durch seine fortwährenden Wiederholungen von all dem uns bis aufs Blut quält? Der hinter sich einen Tross von informierten, unterrichteten, eingeweihten und hervorragenden Persönlichkeiten schleppt, die ihn beglaubigen, ihm Recht geben sollen, wichtige Schmarotzer am Überflüssigen? Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten zuerst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind, oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, dass zwar Kriegsberichterstatter nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu Berichterstattern werden. In diesem Sinne lasse ich mir gern nachsagen, dass ich mein Lebtag die Presse überschätzt habe. Sie ist kein Dienstmann — wie könnte ein Dienstmann auch so viel verlangen und bekommen —, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen müsste, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über unsere Phantasie. Aber wie Kleopatra sollten wir dafür auch, neugierig und enttäuscht, den Boten schlagen für die Botschaft. Sie macht ihn, der ihr eine verhasste Heirat meldet und die Meldung ausschmückt, für die Heirat verantwortlich. »Lass reiche Zeitung strömen in mein Ohr, das lange brach gelegen …. Die giftigste von allen Seuchen dir! Was sagst du? Fort, elender Wicht! Sonst schleudr’ ich deine Augen wie Bälle vor mir her; raufe dein Haar, lasse mit Draht dich geißeln, brühn mit Salz, in Lauge scharf gesättigt.« (Schlägt ihn.) »Gnäd’ge Fürstin, ich, der die Heirat melde, schloss sie nicht.« Aber der Reporter schließt die Heirat, zündet das Haus an und macht die Gräuel*, die er erlügt, zur Wahrheit. Er hat durch jahrzehntelange Übung die Menschheit auf eben jenen Stand der Phantasienot gebracht, der ihr einen Vernichtungskrieg gegen sich selbst ermöglicht. Er kann, da er ihr alle Fähigkeit des Erlebnisses und dessen geistiger Fortsetzung durch die maßlose Promptheit seiner Apparate erspart hat, ihr eben noch den erforderlichen Todesmut einpflanzen, mit dem sie hineinrennt. Er hat den Abglanz heroischer Eigenschaften zur Verfügung und seine missbrauchte Sprache verschönt ein missbrauchtes Leben, als ob die Ewigkeit sich ihren Höhepunkt erst für das Zeitalter aufgespart hätte, wo der Reporter lebt. Ahnen aber Menschen, welches Lebens Ausdruck die Zeitung ist? Eines, das längst ein Ausdruck ist von ihr! Ahnt man, was ein halbes Jahrhundert dieser freigelassenen Intelligenz an gemordetem Geist, geplündertem Adel und geschändeter Heiligkeit verdankt? Weiß man denn, was der Sonntagsbauch einer solchen Rotationsbestie an Lebensgütern verschlungen hat, ehe er 250 Seiten dick erscheinen konnte? Denkt man, wie viel Veräußerung systematisch, telegraphisch, telephonisch, photographisch gezogen werden musste, um einer Gesellschaft, die zu inneren Möglichkeiten noch bereit stand, vor der winzigsten Tatsache jenes breite Staunen anzugewöhnen, das in der abscheulichen Sprache dieser Boten ihre Klischees findet, wenn sich irgendwo »Gruppen bildeten« oder gar das Publikum »sich zu massieren« anfing? Da das ganze neuzeitliche Leben unter den Begriff einer Quantität gestellt ist, die gar nicht mehr gemessen wird, sondern immer schon erreicht ist und der schließlich nichts übrig bleiben wird, als sich selbst zu verschlingen; da der selbstverständliche Rekord keine Zweifel mehr übrig lässt und die qualvolle Vollständigkeit jedes Weiterrechnen erspart, so ist die Folge, dass wir, erschöpft durch die Vielheit, für das Resultat nichts mehr übrig haben, und dass in einer Zeit, in der wir täglich zweimal in zwanzig Wiederholungen von allen Äußerlichkeiten noch die Eindrücke von den Eindrücken vorgesetzt bekommen, die große Quantität in Einzelschicksale zerfällt, die nur die einzelnen spüren, und plötzlich, selbst an der Spitze, der vergönnte Heldentod als grausames Geschick erscheint. Man könnte aber einmal dahinter kommen, welch kleine Angelegenheit so ein Weltkrieg war neben der geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse, und wie er im Grund nur eine ihrer Ausstrahlungen bedeutet hat. Vor einigen Jahrzehnten mochte ein Bismarck, auch ein Überschätzer der Presse, noch erkennen: »Das,  was das Schwert uns Deutschen gewonnen hat, wird durch die Presse wieder verdorben«, und ihr die Schuld an drei Kriegen beimessen. Heute sind die Zusammenhänge zwischen Katastrophen und Redaktionen viel tiefere und darum weniger klare. Denn im Zeitalter derer, die es mitmachen, ist die Tat stärker als das Wort, aber stärker als die Tat ist der Schall. Wir leben vom Schall und in dieser umgeworfenen Welt weckt das Echo den Ruf.

K a r l  K r a u s

Änderungen : * ß = nach neuer Rechtschreibung als ss * Preßfreiheit= Pressefreiheit * Aktivpost= Aktivposten   Greuel = Gräuel .

Vollständig   :  http://corpus1.aac.ac.at/fackel/  Die Fackel NR. 404 DEZEMBER 1914 XVI. JAHR


Die Detonation. Glossen. Von Karl Kraus

24. August 2016 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Detonation, Journalisten, Notizen aus Medienland

DIE FACKEL

Nr. 336—337 23. NOVEMBER 1911 XIII. JAHR   S. 1-3

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Glossen Von Karl Kraus

Die Detonation

ist schrecklicher als der Schuss. Trostloser als das Leid ist die Teilnahme. Und je stiller das Haus, desto lärmvoller die Gasse. Nicht mehr ein Atridenmaß blutiger Tat kann uns entsetzen, stumpf wird das Messer an dem Nachspiel, der empfindlichste Sinn verhärtet an der Schmach, die einem Mord auf dem Fuß folgt. Der Schmerz muss sich durch die Neugier den Weg bahnen, um zu seinen toten Kindern zu gelangen; vor dem Tor steht das Volk, auf der Stiege stehen die Nachbarn und um die Leichen sind die Reporter gruppiert. Gleich werden die Eltern da sein. Jetzt sind sie an der Schwelle, jetzt werden sie in Ohnmacht fallen. Sie dürfen noch nicht. Sie müssen sich halten. Die Zeitungen sind vertreten und wollen wissen, ob sie etwas gewusst haben. Man hat ihnen drei Kinder weggeschossen, aber es sind so viele Herren da, die eine Auskunft wollen. Der Vater soll den Reportern alles sagen,  sie sind gefasst, das Äußerste zu hören. Die Mutter, die man nicht hineinlässt, weiß nichts, sie will es von ihnen hören. Sie schüttelt den nächsten, der ihr im Weg steht. Er müsse es doch wissen, wie das alles zugegangen ist, herrscht sie ihn an; er zuckt die Achseln und schreibt es auf. Alles schart sich wieder um den Vater, sie wollen hören, wie er mit tränenerstickter Stimme spricht. Man fragt ihn nach der toten Tochter, er sinkt schluchzend um und sie notieren. Aber dann zwingen sie ihn, ein Mann zu sein und ihnen zu sagen: »Sie war eine besondere Kennerin der historischen und  Kunstmerkwürdigkeiten der Stefanskirche, welche sie außen und innen in allen ihren Teilen genau kannte. « Er weiß nicht, ob das Leben für ihn noch einen Sinn hat, zwei Kinder sind tot, das dritte liegt verwundet im Spital, und »er äußert sich unserem Mitarbeiter gegenüber, dass die in unserem Morgenblatte gegebene Darstellung der Untat und ihrer Vorgeschichte den tatsächlichen Verhältnissen entspricht«. Es war fürs Abendblatt, er wollte noch ins Spital, nach dem Sohn zu sehen, aber sie sagten, dass es sonst zu spät wäre fürs Abendblatt. Er solle Details geben. Er sagte: »Es vergingen Minuten, die ich wohl nicht näher kennzeichnen muss«.  Aber gerade das wollten sie hören.  »Es waren Minuten der Qual, die keiner weiteren Hinzufügung bedürfen«, sagte er. Ja, gerade so was brauchten sie, wegen der Ausschmückung. »Die Leichen meiner toten Kinder habe ich nicht gesehen, man hat mich nicht zu ihnen gelassen, so sehr es mich zu ihnen gedrängt hat. « Man wusste schon, was man tat. Sie haben auch nicht jeder die Leichen gesehen, mancher nur mit den Eltern gesprochen. Es war ein Turnus. Und sie schrieben: »In die Wohnung wurde kein Unberufener gelassen«. Sie aber hatten dort zu tun. Der Vater soll ihnen etwas aus dem Leben erzählen, und wie die silberne Hochzeit war. Das Konzertprogramm wollen sie: was Marie gesungen und Georg gespielt hat. Im Taumel dieser Stunde klammert sich der alte Mann an jede Erinnerung, er spricht Monologe und sie schreiben mit. Sie wollen aber noch wissen, bei welcher Firma der Revolver gekauft worden ist. Das weiß der Vater nicht, das sagt ihnen die Polizei. Aber interessant ist, dass das Sofa in dem Zimmer, wo die Toten liegen, alt und unmodern ist. Noch zwei könnten Auskunft geben: der Mörder und der Psychiater. Aber jener hat sich selbst gemordet. Er hat, wie sie missbilligend feststellen, sein Geheimnis mit ins Grab genommen, und »wir können nur tasten und suchen, nur forschen und fragen, nur vermuten und bedauern«. Vielleicht weiß der Psychiater etwas. Der weiß, dass dieser dreifache Mord ein psychologisches Rätsel ist, und, »fügte der Gelehrte scherzend hinzu«: wenn wir alles psychologisch motivieren könnten, so würden wir auch für die Reden des Ministerpräsidenten Stürgkh eine Erklärung finden. Nur soviel könne er  sagen, dass »in dem vorliegenden Falle das anarchistisch-psychologische Element fehle«; Marie sei »keine der Damen gewesen, für die ein junger Mann sinnlos entflammt sein kann«; und er sei »sogar überzeugt, dass  Matkovic auch die Eltern erschossen hätte, wenn sie zur Zeit des Mordes in der Wohnung gewesen wären« … Wo waren die Psychiater? Oh hundertmal süße Vorstellung, dass alles das, was sich nach der Tat abgespielt hat, verhindert worden wäre! Hat dieses fromme Haus je zuvor solche Gäste beherbergt? Ist es erhört, dass ein Gesindel, das man zum Tee nicht ladet, beim Tod der Kinder zugegen sein darf? Hat es sich dieser Ritter von Holzknecht träumen lassen, dass er je Leichenfledderern werde erzählen müssen, wie weh ihm ums Herz sei? Unser aller Haus ist entweiht. Was Zeit und Zone an Schmutz hergeben können, ist an der Schwelle der Trauer abgelagert worden. Die Tat eines Geisteskranken ist so wenig ein Problem wie die eines Ziegelsteins. Dass ein Unschuldiger getroffen wird, damit fertig zu werden, ist Religion. Wie aber um Gottes willen damit fertig werden, dass die verantwortliche Gemeinheit des Lebens in das Heiligtum des Unglücks speit? Hier erlöst nur die Hoffnung auf den vollwertigen Mörder, der drei Kinder verschont, aber Alles, was auf das Mordgerücht hin die Schwelle des Hauses zu übertreten wagt, erbarmungslos niederknallt!

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So waren die Reporter schon vor einhundert Jahren, als sie vor und in den Häusern lagerten. Heute kommen sie in Kompaniestärke  mit Übertragungswagen und legen ihre Hände auf alles das sie nichts angeht. Sie stillen die Gier  ihrer Klientel  nach auch den peinlichsten Informationen, die ihnen nimmer peinlich sind und die sie im  Notfall schon mal dazu erfinden müssen, wenn es sonst nicht reicht. Am Ende übersieht der Nachrichten-Konsumo am Ende noch sein eigenes Leben, weil er zu viel sieht und das Fremde lebt und erlebt statt des Eigenen. Kann es einen schlimmeren Diebstahl geben?   W.K. Nordenham


Die Welt der Plakate. Von Karl Kraus

10. Februar 2016 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Werbung

Die Welt der Plakate sieht  sich heutzutags  überkotzt mit Werbung auf allen Kanälen. Selbst der einst ruhigste Ort ist nicht mehr sicher vor unnatürlichem Getöse. Es hilft nur die Flucht. Aber wohinsich wenden? Da drängt sich dann zuverlässig eine Last -minute- Empfehlung  zu einem Spottpreis ins Bild, die im Namen den Spott über den Konsumo debilis gleich kostenfrei mitliefert. Alles nicht neu, nur immer blöder werdend, eben dem Publikum angepasst.    W. K. Nordenham

Die Fackel Doppel-Nummer Nr. 283—284 26. Juni 1909 XI. Jahr   S. 19- 25

Die Welt der Plakate

(aus dem simplicissimus)

Von Karl Kraus

Schon als Kind war ich weniger darauf erpicht, das Leben aus den großen Werken der Kunst zu empfangen, als aus den kleinen Tatsachen des Lebens es zu ergänzen. Unbewusst ging ich den rechten Weg ins Leben, indem ich es mit jedem Schritt eroberte, anstatt es als eine Überlieferung an mich zu nehmen, mit der der junge Sinn nichts zu beginnen weiß. Die Erwachsenen, die noch immer eine kindische Freude daran haben, den vor der Tür des Lebens Wartenden den Christbaum mit den Geschenken einer fertigen Bildung zu behängen, wissen nicht, wie unempfänglich sie die Kinder für alles das machen, was die wahre Überraschung des Lebens bedeutet. Meine Neugierde war immer stärker als solche Befriedigung. Instinktiv wich ich der Verlockung aus, in mich aufzunehmen, was weisere Leute gedacht hatten, und während meine Kameraden schlechte Sittennoten bekamen, weil sie unter der Bank Bücher lasen, war ich ein Musterschüler, weil ich auf jedes Wort der Lehrer passte, um ihre Lächerlichkeiten zu beobachten. Ich war früh darauf aus, vom Menschen Aufschluss über den Menschen zu verlangen, und ich ließ eigentlich nur eine Form künstlerischer Mitteilung gelten, die mir das Wissenswerte unaufdringlich an den Mann zu bringen schien: das Plakat. Ein sentimentaler Gassenhauer, den am Sommersonntag ein Leierkasten vor unserem Landhaus spielte, hatte Macht über mein Gemüt; ich ließ ab, Fliegen zu fangen, und die Mysterien der Liebe gingen mir auf. Andere, die sich rühmen, dass der Tristan eine ähnliche Wirkung auf sie geübt habe, fangen noch heute Fliegen. Ich war stets anspruchslos, wenn es die Wahl der äußeren Eindrücke galt, um zu inneren Erlebnissen zu gelangen, und ich verschmähte jene starken Reizmittel, welche die schwachen Seelen brauchen, um eine trügerische Wirkung mit vermehrtem Schaden zu erkaufen. Kurzum, die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vorübergekommen bin, werden sich am Ende über meine Aufdringlichkeit nicht zu beklagen haben. Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine Beschäftigung, bei der Genusssucht und Lernbegier auf ihre Kosten kamen. Und wahrlich, wem der dreimal gefährliche Idealismus eingeboren ist, die Schönheit an ihrem Widerspiel bestätigt zu sehen, den kann ein Plakat zur Andacht stimmen!

Es sind wertvolle Aufschlüsse, die ich den Affichen jener Zeit zu danken habe, da die ersten Versuche gemacht wurden, das geistige Leben ausschließlich auf die Bezugsquellen des äußeren Lebens zu lenken. Denn immer deutlicher wurde das Bestreben, dem Betrachter, dessen Denken von höheren Interessen abgelenkt war, einen vollgültigen Ersatz in den Plakaten selbst zu bieten. Die geistigen Werte, von denen er scheinbar entwöhnt wurde, sollte er eben dort wiederfinden, wo er sie am wenigsten vermutete, und umso größer musste seine Überraschung sein, die Schuhwichse, deren Beachtung er eben noch Kunst und Literatur geopfert hatte, just in Verbindung mit diesen unentbehrlichen Lebensgütern anzutreffen. Als ob man einen lieben Bekannten, von dem man sich in Europa verabschiedet hat, in Amerika wiedersähe: man kann sich vor Staunen nicht fassen und bleibt umso lieber, weil die unverhoffte Gesellschaft zur Empfehlung der Gegend beiträgt. Bis dahin war also die Erkenntnis von der Zweckdienlichkeit und Billigkeit eines Hosenstreckers eine Angelegenheit, die mit der Malerei, mit der Spruchweisheit, mit dem Gefühlsleben nichts zu schaffen hatte. Wenn wir aber den Hosenstrecker in der Verpackung künstlerischer oder geistiger Werte erhalten, warum sollten wirs nicht zufrieden sein? Warum sollten wir zwei Wege machen, wenn die Seligkeit auf einem zu erreichen ist? Warum sollten wir für kulturelle Ideale zahlen, die als Emballage für einen Hosenstrecker nicht einen Pfennig kosten! Aber mag immerhin bei der Monopolisierung der Lebensgüter durch den Kaufmann die bildende Kunst noch da und dort die Freiheit behaupten, selbst Ware zu sein, anstatt der Ware zu dienen. Dass das Wort des Schriftstellers seine Berechtigung außerhalb der industriellen Reklame verlieren wird, scheint gewiss. Nicht als ob das geistige Leben eine Verdrängung durch die merkantilen Interessen zu befürchten hätte; aber es wird aus seiner brotlosen Beschaulichkeit zu einem sozialen Beruf geführt werden, und manche artistische Begabung, die im Nebel undankbarer Probleme erstickt wäre, wird leben, um der Überzeugung zu dienen, dass »für die Ewigkeit« bloß ein Essbesteck geschaffen sei und noch dazu staunend billig zu haben.

Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine Lernstunde versäumt. Und lange ehe ich das Wesen des Plakats als die Empfehlung einer Ware erkannte, empfand ich es als eine Warnung vor dem Leben. Ich wusste bald um den Stand des Geistes Bescheid. Mit der Offenbarungskraft eines Erlebnisses wirkte es auf mich, als ich einmal in einem Schaufenster die Darstellung zweier Männer sah, deren einer sich mit seiner Kravatte plagte, während der andere triumphierend danebenstehend, auf ein fertiges Werk zeigte und schadenfroh ausrief: »Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? Kaufen Sie sich Pollitzers Kragenhalter, der hält Ihnen Kragen und Kravatte fest!« Dass die Menschheit einen Anschauungsunterricht in diesem Punkte nötig habe, bedachte ich nicht. Ich nahm vielmehr an, dass es eine realistische Darstellung sei, dass in der guten Gesellschaft täglich solche Dialoge geführt werden und dass es viele Menschen geben müsse, deren Zentrum jenes Problem ist und deren Leben bloß einen Vorwand bedeutet, um den endlichen Zusammenschluss von Kragen und Kravatte zu erreichen. Und plötzlich sah ich es auf der Straße von solchen Leuten wimmeln, überall sah ich diese Gesichter, den verdrossenen Kämpfer und den fröhlichen Sieger des Lebens, ich lernte den Choleriker vom Sanguiniker unterscheiden, wiewohl beide einen aufgewichsten Schnurrbart und Schnabelschuhe hatten. Den ersten, entscheidenden Eindruck von einer Menschheit also, die in ihrer überwiegenden Majorität aus Ladenschwengeln besteht, empfing ich von jenem Bilde, und mit einemmale war ich es, vor dem sie sich alle zu der Frage einigten: Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? …

Dies trieb mich wieder zu den Plakaten, die mir den Schreckensgehalt des Lebens wenigstens im Extrakt darboten. Gern stellte ich mir vor, dass alle Geistigkeit übernommen sei, dass alles, was die Literatur an Zitaten, die Sprache an Sprüchen, das Herz an Empfindungen bietet, nur mehr dort verwendet werde und dass das Leben außerhalb der Annoncen ein leerer Schein sei und höchstens eine wirksame Reklame für den Tod. Eines Tages brach die Sintflut des Merkantilismus über die Menschheit herein, Gevatter Schneider und Handschuhmacher gebärdeten sich als die Vollstrecker eines göttlichen Willens, und es entstand die Mode, die Köpfe dieser Leute an den Straßenecken zu konterfeien. Da verfolgte mich durch all die Jahre ein Gesicht, in dessen Zügen ich mindestens den Stolz auf eine gewonnene Schlacht zu lesen vermeinte. Ich wurde älter, aber das Gesicht bekam keine Runzeln und ich wusste, dass es mich überleben und dem Jahrhundert das Gepräge geben wird. Einst war es ja die Physiognomie Napoleons, die auf die schwangeren Frauen der Zeit so nachhaltig wirkte, dass noch das Gesicht der Urenkel sie der ehelichen Untreue verdächtigt hat. Das Antlitz, das heute einen ähnlichen Eindruck in den Seelen der zeitgenössischen Welt hinterlässt, gehört einem Uhrmacher. Weil er sich rühmt, dass seine Uhren die besten seien, hat er auch den Mut der Persönlichkeit; er gibt seinen Kopf zum Pfand und seinen treuen Blick als Garantieschein … Wo tue ich das Gesicht nur hin? fragte sich manch einer, sann und kam nicht darauf. Er war einem Mann begegnet, hatte ihn wie einen alten Bekannten gegrüßt, und wusste doch nicht, wer es gewesen sei. An der nächsten Straßenecke aber grüßte ihn ein Plakat zurück. Ein Gastwirt war’s oder ein Hutmacher oder der uns allen liebgewordene Schmierölerzeuger, von dem wir nur nicht vermutet hätten, dass er uns leibhaftig begegnen könnte, weil ja auch Beethoven nicht von seinem Sockel steigt. Gibt’s denn ein Leben außerhalb der Plakate? Wenn uns die Eisenbahn aus der Stadt  holt, so sehen wir freilich eine grüne Wiese — aber die grüne Wiese ist nur ein Anschlag, den der Schmierölerzeuger im Bunde mit der Natur ausgeführt hat, um uns auch dort seine Aufwartung zu machen.

Kein Entrinnen! So wollen wir die Augen schließen und in das Paradies der Träume flüchten … Aber wir haben selbst hier die Rechnung ohne den Gastwirt gemacht, der gerade das Traumleben für eine passende Gelegenheit hält, sein Gesicht in unsere Nähe zu bringen. Fürchterliches wird offenbar. Der Merkantilismus hat es gewagt, noch die Schwelle unseres Bewusstseins als Planke zu benutzen! Die Welt des Tages bot nicht Raum genug, und so ist die grausige Möglichkeit, deren bloße Ahnung einem die Kehle zuschnürt, betreten worden: man hat als jene hypnagogischen Gestalten, die im Halbschlaf unser Lager umstehen, Reklamegesichter verwendet! Und da es auch hypnagogische Geräusche gibt, Gehörshalluzinationen, denen der schlaftrunkene Sinn leicht geneigt ist, so hat man dazu — ein Schauder erfasst mich — alle jene Devisen und Rufe bestimmt, die unser Bewusstsein bei Tage erfüllen. Welch eine Mahnung! Wir liegen da und büßen für Makbeths Schuld. Es erscheinen der Reihe nach die Könige des Lebens: der Knopfkönig, der Seifenkönig, der Manufakturkönig, der Getreidekönig, der Ansichtskartenkönig, der Teppichkönig, der Kognakkönig, und als letzter der Gummikönig. Seine Augen mahnen uns an unsere Sünden, aber seine Züge sprechen für die Unzerreißbarkeit menschlichen Vertrauens. Und doch, und doch! … Ein buschiges Haupt taucht auf und stöhnt: »Ich war kahl!« Und wieder: Hier sind noch Gesichtspickeln, dort sind sie nach dem Gebrauch verschwunden. Ach, ein andres Antlitz, eh’ sie geschehen, ein anderes zeigt die vollbrachte Tat … Ein »heller Kopf« erscheint. Es ist jener, der nur Dr. Oetkers Backpulver verwendet. »Wo isst und trinkt man gut?« summt’s in der Luft und schon öffnet sich ein Maul, um ein Gullasch zu verschlingen, und schon zeigt eines, wie man Bier trinkt. Vor mir steht der »Wolf aus Gersthof« und heult mir das Wiegenlied: Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix dran … Wer kommt denn dort herein? Wilhelm Tell mit seinem Sohne? »Ich soll vom Haupte meines Kindes …« Da schwankte er, aber zur Schutzmarke einer Schokoladefirma gibt er sich her! … Seht, seht, wer bricht sich Bahn? Ein Weib, dessen Haar länger ist als sie selbst, ein Weib also, das Grund hat, seine Persönlichkeit zu betonen; sie ruft: Ich, Anna … Aber ihre Rede verhallt im Gerassel eines Wagens, dessen Lenker mir zuruft: »Sie fahren gut — wenn Sie Feigenkaffee …« »Entfernung ist kein Hindernis!«, unterbricht ihn ein Weltweiser, der der Welt von Herrschaften abgelegte Kleider gönnt. Und nun ist das Chaos der Maximen entfesselt: »Verlangen Sie überall … Schönheit ist Reichtum, Schönheit ist Macht … Verblüffend rasch heilt … Das Entzücken der Frau ist … Fort mit den Hosenträgern! .. Geben Sie eine Krone … Wer probt, der lobt … Überzeugen Sie sich … Haben Sie schon Kinderwäsche? … Jeder Firmling wünscht … Weltberühmte prämiierte Olmützer Quargel … Das ist’s, was Sie brauchen … Ihr Magen verdaut schlecht … Wollen Sie stark und gesund werden? …Reizend schön wird jede Dame … So sehe ich in einem meiner Korsetts mit rationeller Front aus, ohne dasselbe zu fühlen … Das Geheimnis des Erfolges … So sicher wie 2 × 1 = 2 …Ein wahrer Schatz … Der weiße Rabe spricht …. Rasiere dich im Dunkeln! … Wenn eine Mutter nicht in der Lage ist …Gratis 10.000 Kronen … Wanzen und Insekten jeder Art … Musik erfreut des Menschen Herz …« Ja, sie will mir den Schlaf bringen und lockt zu erotischem Traum. Es erklingt das Lied: «Ich liebe die Eine, die Feine, die Kleine … Aber ich bin genarrt, denn es handelt sich bloß um eine Pastille. Was tanzt dort in der Luft? »Ich bin ein Gummihandschuh! Kennen Sie mich noch nicht, gnädige Frau?« Romulus und Remus erscheinen unter einem Regenschirm. Wie? Ist die Gründung Roms wegen ungünstiger Witterung abgesagt? »Ein Verbrechen!« brüllt es — begeht jeder, der nicht … Ich habe Fieber. Aber schon stehen ein Hofrat und fünf Ärzte an meinem Lager, die eidlich begutachten … »Männerschwäche!« murmelt einer von ihnen verächtlich. «Ein Griff, ein Bett!« antwortet es verständnisinnig. »Trinken Sie Sodawasser …« rät ein Unberufener. »Das ist der gute Krondorfer, der fehlt nie auf unserem Tische!« entgegnet es … »Trinken Sie Geßlers Altvater!« höre ich und spüre, wie ein Bart mich kitzelt. »Kauen Sie schon Ricci?« fragt ein Kobold. »Wie werde ich energisch?« wimmert einer, dem in diesem Zimmer selbst angst und bang wird. Und ein Alp, der mir auf der Brust kauert, glotzt mich an und hat nur den einen Wunsch: »Wenn ich Sie persönlich sprechen könnte!« … Hilfe, Hilfe! Ach, wer ruft dort um Hilfe? Wer rennt mit dem Kopf durch die Wand? Rauft sich das Haar? Verzweifelt und frohlockt wieder, jubelt und klagt, springt herum und bearbeitet das Fenster mit den Fäusten? Oh, es ist einer, der unglücklich ist, weil man ihn seine Kleider nicht beim Gerstl einkaufen lässt, und der schließlich doch seinen Willen durchsetzt. »Ich bring mich um —!« droht er, wenn man ihn hält; »Wa — —s? ists möglich!!!« ruft er, weil er die Preise zu billig findet; »Freiheit der Wahl!« brüllt er und bringt damit auch die Demokratie auf seine Seite, wiewohl es sich sofort herausstellt, dass er nur die Wahl der Stoffe meint. Und nun tobt alles durcheinander, ich unterscheide die Branchen nicht mehr, hundert Fratzen tauchen auf, hundert Rufe werden laut. Ichverstehe nur noch Ratschläge wie: Koche mit Gas! Wasche mit Luft! Bade zuhause! … Und da das Leben in solcher Fülle mein Schmerzenslager umbrandet und alle Bequemlichkeiten, alle automatischen Wonnen bietet, deren man um diese Stunde nur habhaft werden kann, so merkt ein Waffenhändler, dass ich mich nicht mehr auskenne, und übertönt den Lärm mit der Reklame:
Morde dich selbst!


Die Büchse der Pandora. Von Karl Kraus

14. Dezember 2014 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"

Die Fackel


Nr. 182 WIEN, 9. JUNI 1905 VII. JAHR


Die Büchse der Pandora

… Die Liebe der Frauen enthält wie die Büchse der Pandora alle Schmerzen des Lebens, aber sie sind eingehüllt in goldene Blätter und sind so voller Farben und Düfte, daß man nie klagen darf, die Büchse geöffnet zu haben. Die Düfte halten das Alter fern und bewahren noch in ihrem Letzten die eingeborene Kraft. Jedes Glück macht sich bezahlt, und ich sterbe ein wenig an diesen süßen und feinen Düften, die der schlimmen Büchse entsteigen, und trotzdem findet meine Hand, die das Alter schon zittern macht, noch die Kraft, verbotene Schlüssel zu drehn. Was ist Leben, Ruhm, Kunst! Ich gebe alles das für die benedeiten Stunden, die mein Kopf in Sommernächten auf Brüsten lag, geformt unter dem Becher des Königs von Thule, – nun wie dieser dahin und verschwunden …

 

Félicien Rops.

 

»Eine Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt.« Ein Dichter und Liebender, zwischen Liebe und künstlerischer Gestaltung der Frauenschönheit schwankend, hält Lulus Hand in der seinen und spricht die Worte, die der Schlüssel sind zu diesem Irrgarten der Weiblichkeit, zu dem Labyrinth, in dem manch ein Mann die Spur seines Verstandes verlor. Es ist der letzte Akt des »Erdgeist«. Alle Typen der Mannheit hat die Herrin der Liebe um sich versammelt, damit sie ihr dienen, indem sie nehmen, was sie zu spenden hat. Alwa, der Sohn ihres Gatten, spricht es aus. Und dann, wenn er sich an diesem süßen Quell des Verderbens vollberauscht, wenn sich sein Schicksal erfüllt haben wird, im letzten Akt der »Büchse der Pandora«, wird er, vor dem Bilde Lulus delirierend die Worte finden: »Diesem Porträt gegenüber gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so natürlich, so selbstverständlich, so sonnenklar, was wir erlebt haben. Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig weißen, strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.« Diese Worte, vor dem Bilde des Weibes gesprochen, das zur Allzerstörerin wurde, weil es von allen zerstört ward, umspannen die Welt des Dichters Frank Wedekind. Eine Welt, in der die Frau, soll sie ihrer ästhetischen Vollendung reifen, nicht verflucht ist, dem Mann das Kreuz sittlicher Verantwortung abzunehmen. Die Erkenntnis, welche die tragische Kluft zwischen blühenden Lippen und bürgerlichen Stellungen begreift, mag heute vielleicht die einzige sein, die eines Dramatikers wert ist. Wer die »Büchse der Pandora«, die im »Erdgeist« zwar ihre stoffliche Voraussetzung hat, aber das gedankliche Verständnis des Ganzen erst erschließt, wer diese Tragödie Lulu begriffen hat, wird der gesamten deutschen Literatur, so da am Weibe schmarotzt und aus den »Beziehungen der Geschlechter« psychologischen Profit zieht, mit dem Gefühle gegenüberstehen, das der Erwachsene hat, wenn ihm das Einmaleins beigebracht werden soll. Ich würde mich nicht scheuen, diese große Revue psychologischer Kindereien mit manchem Klassiker zu eröffnen. Die tiefsten Erforscher männlichen Gefühlslebens haben vor dem Augenaufschlag ihrer eigenen Heldinnen zu stammeln begonnen, und die unsägliche Tragik, der sie Worte liehen, war durch alle Zeiten die Tragik der verlorenen Virginität. Ein »Werde du zur Dirne«, oft auch bloß ein verschämtes »Werde du zur –«, von irgendeinem Knasterbart gemurmelt, wir hören es durch alle dramatischen Entwicklungen bis in unsere Tage: immer wieder sehen wir den dramatischen Knoten aus einem Jungfernhäutchen geschürzt. Nie haben sich hier die Dichter als Erlöser der Menschheit gefühlt, sondern sich mit ihr unter das Damoklesschwert gebeugt, das sie in christlicher Demut freiwillig über sich aufgehängt hat. Den Irrwahn, daß die Ehre der Welt vermindert wird, wenn sie ihre Freude vermehrt, haben sie gläubig nachgebetet. Und sie schrieben Tragödien über das, »worüber kein Mann wegkann«. Daß man über die knorrigen Plattheiten eines denkenden Tischlermeisters viel weniger wegkönnen sollte als über das Abenteuer seiner Maria Magdalena, ist ja eine literarische Angelegenheit für sich. Aber dem dramatischen Gejammer über die Verminderung des weiblichen Marktwertes hat erst Frank Wedekind entsagt und abgesagt. In seiner Bekenntnisdichtung »Hidalla« erhebt sich Fanny turmhoch über den Freier, der sie verschmäht hat, weil ihr »der Vorzug« mangelt, der ihre Geschlechtsgenossinnen erst preiswert macht: »Deswegen also bin ich jetzt nichts mehr?! Das also war die Hauptsache an mir?! Läßt sich eine schmachvollere Beschimpfung für ein menschliches Wesen ersinnen? – als deswegen, um eines solchen – Vorzugs willen geliebt zu werden?! – Als wäre man ein Stück Vieh!« … Und dann die gewaltige Doppeltragödie, deren zweiten Teil Sie heute schauen werden, die Tragödie von der gehetzten, ewig mißverstandenen Frauenanmut, der eine armselige Welt bloß in das Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt. Ein Spießrutenlauf der Frau, die vom Schöpferwillen dem Egoismus des Besitzers zu dienen nicht bestimmt ist, die nur in der Freiheit zu ihren höheren Werten emporsteigen kann. Daß die flüchtige Schönheit des Tropenvogels mehr beseligt als der sichere Besitz, bei dem die Enge des Bauers die Pracht des Gefieders verwundet, hat sich noch kein Vogelsteller gesagt. Sei die Hetäre ein Traum des Mannes. Aber die Wirklichkeit soll sie ihm zur Hörigen – Hausfrau oder Maitresse – machen, weil das soziale Ehrbedürfnis ihm selbst über den Traum geht. So will auch jeder, der die polyandrische Frau will, diese für sich. Solchen Wunsch, nichts weiter, hat man als den Urquell aller Tragödien der Liebe zu betrachten. Der Erwählte sein wollen, ohne der Frau das Wahlrecht zu gewähren. Und daß vollends Titania auch einen Esel herzen könne, das wollen die Oberone nie begreifen, weil sie gemäß ihrer höheren Besinnungsfähigkeit und ihrer geringeren Geschlechtsfähigkeit nicht imstande wären, eine Eselin zu herzen. Darum werden sie in der Liebe selbst zu Eseln. Ohne ein vollgerüttelt Maß von sozialer Ehre können sie nicht leben: und darum Räuber und Mörder! Zwischen den Leichen aber schreitet eine Nachtwandlerin der Liebe dahin. Sie, in der alle Vorzüge der Frau eine in sozialen Vorstellungen befangene Welt zu »Lastern« werden ließ.

 

Einer der dramatischen Konflikte zwischen der weiblichen Natur und einem männlichen Dummkopf hat Lulu der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, und sie müßte in neunjähriger Kerkerhaft darüber nachdenken, daß Schönheit eine Strafe Gottes sei, wenn nicht die ihr ergebenen Sklaven der Liebe einen romantischen Plan zu ihrer Befreiung ausheckten, einen, der in der realen Welt nicht einmal in fanatisierten Gehirnen reifen, auch fanatischem Willen nicht gelingen kann. Mit Lulus Befreiung aber – durch das Gelingen des Unmöglichen zeichnet der Dichter die Opferfähigkeit der Liebessklaverei besser als durch die Einführung eines glaubhafteren Motivs – hebt die »Büchse der Pandora« an. Lulu, die Trägerin der Handlung im »Erdgeist«, ist jetzt die Getragene. Mehr als früher zeigt sich, daß ihre Anmut die eigentliche leidende Heldin des Dramas ist; ihr Porträt, das Bild ihrer schönen Tage, spielt eine größere Rolle als sie selbst, und waren es früher ihre aktiven Reize, die die Handlung schoben, so ist jetzt auf jeder Station des Leidensweges der Abstand zwischen einstiger Pracht und heutigem Jammer der Gefühlserreger. Die große Vergeltung hat begonnen, die Revanche einer Männerwelt, die die eigene Schuld zu rächen sich erkühnt. »Die Frau«, sagt Alwa, »hat in diesem Zimmer meinen Vater erschossen; trotzdem kann ich in dem Morde wie in der Strafe nichts anderes als ein entsetzliches Unglück sehen, das sie betroffen hat. Ich glaube auch, mein Vater hätte, wäre er mit dem Leben davongekommen, seine Hand nicht vollständig von ihr abgezogen.« In dieser Empfindensfähigkeit gesellt sich dem überlebenden Sohn der Knabe Alfred Hugenberg, dessen rührendes Schwärmen im Selbstmord endet. Aber zu einem Bündnis, das ergreifender nie erfunden wurde, treten Alwa und die opferfreudige, seelenstarke Freundin Geschwitz zusammen, zum Bündnis einer heterogenen Geschlechtlichkeit, die sie doch beide dem Zauber der allgeschlechtlichen Frau erliegen läßt. Das sind die wahren Gefangenen ihrer Liebe. Alle Enttäuschung, alle Qual, die von einem geliebten Wesen ausgeht, das nicht zu seelischer Dankbarkeit erschaffen ist, scheinen sie als Wonnen einzuschlürfen, an allen Abgründen noch Werte bejahend. Ihre Gedankenwelt ist, mag er sie auch noch so sehr in einzelnen Zügen von der seinen absondern, die Gedankenwelt des Dichters, jene, die schon in dem Shakespeareschen Sonett zu tönen anhebt:

 

Wie lieblich und wie süß machst Du die Schande,

Die wie ein Wurm in duftiger Rose steckt

Und Deiner Schönheit Knospenruf befleckt –

Du hüllst die Schuld in wonnige Gewande!

Die Zunge, die wohl Deinen Wandel tadelt,

Wenn sie leichtfertig deutend, von Dir spricht,

Läßt ohne Lob doch selbst den Tadel nicht,

Weil schon Dein Name bösen Leumund adelt.

O welche Wohnung ward den Fehlern, die

Zu ihrem Aufenthalt Dich auserlesen!

Die reinste Schönheit überschleiert sie

Und tadellos erscheint Dein ganzes Wesen.

 

Man kanns auch – mit dem albernen Roman-Medizinerwort – Masochismus nennen. Aber der ist vielleicht der Boden künstlerischen Empfindens. Der »Besitz« der Frau, die Sicherheit des beatus possidens ist es, ohne was Phantasiearmut nicht glücklich sein kann. Realpolitik der Liebe! Rodrigo Quast, der Athlet, hat sich eine Nilpferdpeitsche angeschafft. Mit der wird er sie nicht nur zur »zukünftigen pompösesten Luftgymnastikerin der Jetztzeit« machen, sondern auch zum treuen Eheweib, das bloß jene Kavaliere bei sich zu empfangen hat, die er selbst bestimmt. Mit diesem unvergleichlichen Philosophen der Zuhältermoral beginnt der Zug der Peiniger: nun werden die Männer an Lulu durch Gemeinheit vergelten, was sie durch Torheit an ihr gesündigt haben. Die Reihe der verliebten Alleinbesitzer wird naturnotwendig von der Reihe der Praktiker der Liebe abgelöst. In ihr folgt auf Rodrigo, der leider die Fähigkeit verlernt hat, »zwei gesattelte Kavalleriepferde auf seinem Brustkorb zu balancieren«, Casti Piani, dessen Schurkengesicht eine bösere sadistische Gewalt über Lulus Sexualwillen erlangte. Um dem einen Erpresser zu entrinnen, muß sie sich dem andern an den Hals werfen, jedermanns Opfer, jeden opfernd, bis der Erschöpften als der letzte und summarische Rächer des Mannsgeschlechts – Jack the Ripper in den Weg tritt. Von Hugenberg, dem seelischesten, führt der Weg bis zu Jack, dem sexuellsten Manne, dem sie zufliegt wie die Motte dem Licht – dem extremsten Sadisten in der Reihe ihrer Peiniger, dessen Messeramt ein Symbol ist: er nimmt ihr, womit sie an den Männern gesündigt hat. –

 

Aus einer losen Reihe von Vorgängen, die eine Kolportageromanphantasie hätte erfinden können, baut sich dem helleren Auge eine Welt der Perspektiven, der Stimmungen und Erschütterungen auf, und die Hintertreppenpoesie wird zur Poesie der Hintertreppe, die nur jener offizielle Schwachsinn verdammen kann, dem ein schlecht gemalter Palast lieber ist als ein gut gemalter Rinnstein. Aber nicht auf solcher Szene liegt hier die Wahrheit, sondern noch hinter ihr. Wie wenig Platz fände in Wedekinds Welt, in der die Menschen um der Gedanken willen leben, ein Realismus der Zustände! Er ist der erste deutsche Dramatiker, der wieder dem Gedanken den langentbehrten Zutritt auf die Bühne verschafft hat. Alle Natürlichkeitsschrullen sind wie weggeblasen. Was über und unter den Menschen liegt, ist wichtiger, als welchen Dialekt sie sprechen. Sie halten sogar wieder – man wagt es kaum für sich auszusprechen – Monologe. Auch wenn sie miteinander auf der Szene stehen. Der Vorhang geht auf, und ein gedunsener Athlet spinnt seine Zukunftsträume von fetten Gagen und Zuhältergewinsten, ein Dichter zetert wie Karl Moor über das tintenklecksende Säkulum, und eine leidende Frau träumt von der Rettung ihrer abgöttisch geliebten Freundin. Drei Menschen, die aneinander vorbeisprechen. Drei Welten. Eine dramatische Technik, die mit einer Hand drei Kugeln schiebt. Man kommt dahinter, daß es eine höhere Natürlichkeit gibt als die der kleinen Realität, mit deren Vorführung uns die deutsche Literatur durch zwei Jahrzehnte im Schweiße ihres Angesichtes dürftige Identitätsbeweise geliefert hat. Eine Sprache, die die verblüffendste Verbindung von Charakteristik und aphoristischer Erhöhung darstellt. Jedes Wort zugleich der Figur und ihrem Gedanken, ihrer Bestimmung angepaßt: Gesprächswendung und Motto. Der Zuhälter spricht: »Bei ihrer praktischen Einrichtung kostet es die Frau nicht halb so viel Mühe, ihren Mann zu ernähren, wie umgekehrt. Wenn ihr der Mann nur die geistige Arbeit besorgt und den Familiensinn nicht in die Binsen gehen läßt.« Wie hätte das ein sogenannter Realist ausgedrückt? Szenen wie die zwischen Alwa und Lulu im ersten, zwischen Casti Piani und Lulu im zweiten und vor allem jene im letzten Akt, in der die Geschwitz mit Lulus Porträt in das Londoner Elend hineinplatzt, hat ein anderer deutscher Dramatiker mit kunstvollster Stimmungstechnik nicht zustande gebracht, und keine andere Hand hätte heute Mut und Kraft zu solchem Griff in das Menscheninnerste. Shakespearisch grotesk wie das Leben selbst ist diese Abwechslung clownhafter und tragischer Wirkungen bis zu der Möglichkeit, beim Stiefelanziehen von stärkster Erschütterung durchwühlt zu sein. Diese visionär gewendete Moritat, diese vertiefte Melodramatik des »Von Stufe zu Stufe« ist außen Lebensbild, innen Bild des Lebens. Wie ein Fiebertraum – der Traum eines an Lulu erkrankten Dichters – jagen diese Vorgänge. Alwa könnte am Schluß sich über die Augen fahren und in den Armen einer erwachen, die sich erst im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt. Dieser zweite, der Pariser Akt, mit seinen matten Farben eines schäbigen Freudenlebens: alles wie hinter einem Schleier, bloß eine Etappe auf den parallelen Leidenswegen Lulus und Alwas. Sie, vorne, das Blatt eines Erpressers zerknitternd, er hinten im Spielzimmer, ein schwindelhaftes Wertpapier in der Hand. Im Taumel der Verlumpung hastet er über die Szene. Alles drängt dem Abgrund zu. Ein Gewirr von Spielern und Kokotten, die ein gaunerischer Bankier betrügt. Alles schemenhaft und in einer Sprache gehalten, die einen absichtlich konventionellen Ton muffiger Romandialoge hat: »Und nun kommen Sie, mein Freund! Jetzt wollen wir unser Glück im Baccarat versuchen!« Der »Marquis Casti Piani« – nicht als die Charge eines Mädchenhändlers, sondern als die leibhaftige Mission des Mädchenhandels auf die Bühne gestellt. In zwei Sätzen soziale Schlaglichter von einer Grelligkeit, die nur der Schleier der Vorgänge dämpft, ein Ironiegehalt, der hundert Pamphlete gegen die Lügnerin Gesellschaft und gegen den Heuchler Staat überflüssig macht. Ein Mensch, der Polizeispion und Mädchenhändler zugleich ist: »Die Staatsanwaltschaft bezahlt demjenigen, der die Mörderin des Dr. Schön der Polizei in die Hand liefert, 1000 Mark. Ich brauche nur den Polizisten heraufzupfeifen, der unten an der Ecke steht, dann habe ich 1000 Mark verdient. Dagegen bietet das Etablissement Oikonomopulos in Kairo 60 Pfund für Dich. Das sind 1200 Mark, also 200 Mark mehr als der Staatsanwalt bezahlt.« Und, da ihn Lulu mit Aktien abfertigen will: »Ich habe mich nie mit Aktien abgegeben. Der Staatsanwalt bezahlt in deutscher Reichswährung und Oikonomopulos zahlt in englischem Gold.« Die unmittelbarste Exekutive staatlicher Sittlichkeit und die Vertretung des Hauses Oikonomopulos in einer und derselben Hand vereinigt … Ein gespenstisches Huschen und Hasten, ein Grad dramatischer Andeutung, den Offenbach festgehalten hat, da er die Stimmungen E.T.A. Hoffmanns vertonte. Olympia-Akt. Wie Spalanzani, der Adoptivvater eines Automaten, beschwindelt dieser Puntschu mit seinen falschen Papierwerten die Gesellschaft. Seine dämonische Verschmitztheit findet in ein paar Monologsätzen einen philosophischen Ausdruck, der den Unterschied der Geschlechter tiefer erfaßt als alle Wissenschaft der Neurologen. Er kommt aus dem Spielsaal und freut sich diebisch, daß seine Judenmoral um soviel einträglicher ist als die Moral der Huren, die dort um ihn versammelt waren. Sie müssen ihr Geschlecht, ihr »Josaphat«, vermieten – er kann sich mit seinem Verstand helfen. Die armen Frauenzimmer setzen das Kapital ihres Körpers zu; der Verstand des Spitzbuben erhält sich frisch: »braucht er sich nicht zu baden in Eau de Cologne!« So triumphiert die Unmoral des Mannes über die Nichtmoral der Frau. Der dritte Akt. Hier, wo Knüppel, Revolver und Schlächtermesser spielen, aus diesen Abgründen einer rohen Tatsachenwelt klingen die reinsten Töne. Das Unerhörte, das sich hier begibt, mag den abstoßen, der von der Kunst nichts weiter verlangt als Erholung oder daß sie doch nicht die Grenze seiner eigenen Leidensmöglichkeit überschreite. Aber sein Urteil müßte so schwach sein wie seine Nerven, wollte er die Großartigkeit dieser Gestaltung leugnen. Mit realistischen Erwartungen freilich darf man diese Fiebervision in einer Londoner Dachkammer so wenig miterleben wollen, wie die »unwahrscheinliche« Befreiungsgeschichte im ersten Akt und die Beseitigung Rodrigos im zweiten. Und wer in diesem Nacheinander von vier Liebeskunden der als Straßenmädchen verendenden Lulu eine rohe Pikanterie und nicht in diesem Wechsel grotesker und tragischer Eindrücke, in dieser Anhäufung schrecklicher Gesichte den Einfall eines Dichters sieht, darf sich über die niedrige Schätzung seiner eigenen Erlebnisfähigkeit nicht beklagen. Er verdient es, Zeitgenosse jener dramatischen Literatur zu sein, über die Frank Wedekind durch den Mund seines Alwa so bitter abspricht. Aber man kann im Ernst nicht glauben, daß einer so kurzsichtig sein könnte, über der »Peinlichkeit« des Stoffes die Größe seiner Behandlung und die innere Notwendigkeit seiner Wahl zu verkennen. Vor Knüppel, Revolver und Messer zu übersehen, daß sich dieser Lustmord wie ein aus den tiefsten Tiefen der Frauennatur geholtes Verhängnis vollzieht; über der lesbischen Verfassung dieser Gräfin Geschwitz zu vergessen, daß sie Größe hat und kein pathologisches Dutzendgeschöpf vorstellt, sondern wie ein Dämon der Unfreude durch die Tragödie schreitet. Zwar, die unendlichen Feinheiten dieser groben Dichtung erschließen sich dem Leser erst bei genauerer Bekanntschaft: Lulus Vorahnung ihres Endes, das schon auf den ersten Akt seine Schatten wirft, dieses Dahinschweben unter einem Bann und dieses Vorübergleiten an den Schicksalen der Männer, die ihr verfallen sind: auf die Nachricht vom Tode des kleinen Hugenberg im Gefängnis fragt sie, ob denn »der auch im Gefängnis ist«, und Alwas Leichnam macht ihr die Stube bloß unbehaglicher. Dann die blitzartige Erkenntnis des extremsten Mannes, Jacks, der dem unweiblichsten Weibe »wie einem Hunde den Kopf streichelt« und sofort die Beziehung dieser Geschwitz zu Lulu und damit ihre Nichteignung für sein fürchterliches Bedürfnis mitleidig wahrnimmt. »Dies Ungeheuer ist ganz sicher vor mir«, sagt er, nachdem er sie niedergestochen hat. Sie hat er nicht zur Lust gemordet, bloß als Hindernis beseitigt. Zu seiner Befriedigung könnte er ihr höchstens das Gehirn herausschneiden. –

 

Nicht eindringlich genug kann davor gewarnt werden, das Wesen der Dichtung in ihrer stofflichen Sonderbarkeit zu suchen. Eine Kritik, deren hausbackene Gesundheit sich über Dinge der Liebe den Kopf nicht zerbricht, hat schon im »Erdgeist« nichts weiter als ein Boulevard-Drama sehen wollen, in dem der Autor »Krasses mit Zotigem gemengt« habe. Ein führender Berliner Geist hat die Ahnungslosigkeit, mit der er der Welt des Doppeldramas gegenübersteht, durch den Rat bewiesen, der begabte Autor möge nur schnell ein anderes Stoffgebiet wählen. Als ob der Dichter »Stoffe wählen« könnte, wie der Tailleur oder der Wochenjournalist, der auch fremden Meinungen sein stilistisches Kleid borgt. Von der Urkraft, die hier Stoff und Form zugleich gebar, hat heute die deutsche Kritik noch keine Ahnung. Daß die offizielle Theaterwelt ihr Modernitätsideal im jährlichen Pensum ihrer geschickten Ziseleure erfüllt wähnt, daß der Tantiemensegen immerzu die Mittelmäßigkeit befruchtet und die Persönlichkeit die einzige Auszeichnung genießt, keinen Schiller-, Grillparzer- oder Bauernfeldpreis (oder wie die Belohnung für Fleiß, gute Sitten und Talentlosigkeit sonst heißen mag) zu bekommen – man ist gewohnt, es als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Aber nachgerade muß es erbittern, einen Dramatiker, der keine Zeile geschrieben hat, die nicht Weltanschauung und Theateranschauung zu absoluter Kongruenz brächte, und dessen perspektivische Gedankenreihen endlich über das armselige Milieugeschäft emporweisen, von der offiziellen Kunstwelt als ein Kuriosum behandelt zu sehen. Er ist »grotesk«. Und damit glauben die Gerechten, die in der Literatur immer zwei Fliegen mit einem Schlagwort treffen, ihn abgestempelt zu haben. Als ob das Groteske immer Selbstzweck einer Artistenlaune wäre! Sie verwechseln die Maske mit dem Gesicht und keiner ahnt, daß der groteske Vorwand hier nichts geringeres bedeuten könnte, als das Schamgefühl des Idealisten. Der auch Idealist bleibt, wenn er in einem Gedichte bekennt, daß er lieber eine Hure wäre, »als an Ruhm und Glück der reichste Mann«, und dessen Schamgefühl in viel tiefere Sphären langt, als das Schamgefühl derer, die an Stoffen Anstoß nehmen.

 

Der Vorwurf, daß man in eine Dichtung etwas »hineingelegt« habe, wäre ihr stärkstes Lob. Denn nur in jene Dramen, deren Boden knapp unter ihrem Deckel liegt, läßt sich beim besten Willen nichts hineinlegen. Aber in das wahre Kunstwerk, in dem ein Dichter seine Welt gestaltet hat, können eben alle alles hineintun. Was in der »Büchse der Pandora« geschieht, kann für die ästhetische wie – hört, hört – für die moralistische Betrachtung der Frau herangezogen werden. Die Frage, ob es dem Dichter mehr um die Freude an ihrem Blühen oder mehr um die Betrachtung ihres ruinösen Waltens zu tun ist, kann jeder wie er will beantworten. So kommt bei diesem Werke schließlich auch der Sittenrichter auf seine Rechnung, der die Schrecknisse der Zuchtlosigkeit mit exemplarischer Deutlichkeit geschildert sieht und der in dem blutdampfenden Messer Jacks mehr die befreiende Tat erkennt als in Lulu das Opfer. So hat sich ein Publikum, dem der Stoff mißfällt, wenigstens nicht über die Gesinnung zu entrüsten. Leider. Denn ich halte die Gesinnung für arg genug. Ich sehe in der Gestaltung der Frau, die die Männer zu »haben« glauben, während sie von ihr gehabt werden, der Frau, die Jedem eine andere ist, Jedem ein anderes Gesicht zuwendet und darum seltener betrügt und jungfräulicher ist als das Püppchen domestiker Gemütsart, ich sehe darin eine vollendete Ehrenrettung der Unmoral. In der Zeichnung des Vollweibes mit der genialen Fähigkeit, sich nicht erinnern zu können, der Frau, die ohne Hemmung, aber auch ohne die Gefahren fortwährender seelischer Konzeption lebt und jedes Erlebnis im Vergessen wegspült. Begehrende, nicht Gebärende; nicht Genus-Erhalterin, aber Genuß-Spenderin. Nicht das erbrochene Schloß der Weiblichkeit; doch stets geöffnet, stets wieder geschlossen. Dem Gattungswillen entrückt, aber durch jeden Geschlechtsakt selbst neu geboren. Eine Nachtwandlerin der Liebe, die erst »fällt«, wenn sie angerufen wird, ewige Geberin, ewige Verliererin – von der ein philosophischer Strolch im Drama sagt: »Die kann von der Liebe nicht leben, weil ihr Leben die Liebe ist.« Daß der Freudenquell in dieser engen Welt zur Pandorabüchse werden muß: diesem unendlichen Bedauern scheint mir die Dichtung zu entstammen. »Der nächste Freiheitskampf der Menschheit«, sagt Wedekind in seinem programmatischeren Werke »Hidalla«, »wird gegen den Feudalismus der Liebe gerichtet sein! Die Scheu, die der Mensch seinen eigenen Gefühlen gegenüber hegt, gehört in die Zeit der Hexenprozesse und der Alchymie. Ist eine Menschheit nicht lächerlich, die Geheimnisse vor sich selber hat?! Oder glauben Sie vielleicht an den Pöbelwahn, das Liebesleben werde verschleiert, weil es häßlich sei?! Im Gegenteil, der Mensch wagt ihm nicht in die Augen zu sehen, so wie er vor seinem Fürsten, vor seiner Gottheit den Blick nicht zu heben wagt! Wünschen Sie einen Beweis? Was bei der Gottheit der Fluch, das ist bei der Liebe die Zote! Jahrtausende alter Aberglaube aus den Zeiten tiefster Barbarei hält die Vernunft im Bann. Auf diesem Aberglauben aber beruhen die drei barbarischen Lebensformen, von denen ich sprach: Die wie ein wildes Tier aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgehetzte Dirne; das zu körperlicher und geistiger Krüppelhaftigkeit verurteilte, um sein ganzes Liebesleben betrogene alte Mädchen; und die zum Zweck möglichst günstiger Verheiratung bewahrte Unberührtheit des jungen Weibes. Durch dieses Axiom hoffte ich den Stolz des Weibes zu entflammen und zum Kampfgenossen zu gewinnen. Denn von Frauen solcher Erkenntnis erhoffte ich, da mit Wohlleben und Sorglosigkeit einmal abgerechnet war, eine frenetische Begeisterung für mein Reich der Schönheit.«

 

Nichts ist billiger als sittliche Entrüstung. Ein kultiviertes Publikum – nicht nur die Vorsicht der Polizeibehörde, auch der Geschmack der Veranstalter sorgte für seine Zusammensetzung – verschmäht billige Mittel der Abwehr. Es verzichtet auf die Gelegenheit, seiner eigenen Wohlanständigkeit applaudieren zu können. Das Gefühl dieser Wohlanständigkeit, das Gefühl, den auf der Bühne versammelten Spitzbuben und Sirenen moralisch überlegen zu sein, ist ein gefesteter Besitz, den nur der Protz betonen zu müssen glaubt. Bloß er möchte auch dem Dichter seine Überlegenheit zeigen. Dies aber könnte uns nie abhalten, auf die fast übermenschliche Mühe stolz zu sein, die wir daran wandten, dem starken und kühnen Dramatiker unsere Achtung zu beweisen. Denn keinem haben sich wie ihm die Striemen, die seelisches Erleben schlug, zu Ackerfurchen dichterischer Saat gewandelt.


Die Fackel Nr. 1 Wien, Anfang April 1899 . Von Karl Kraus

29. Juni 2013 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit

War nicht ein gewisser  Obama, Präsident und Friedensnobelpreisträger, der nach wie vor Chef von Guantanamo, der Herr über Drohnen- Schwadronen und NSA, kürzlich in Berlin?

Die Fackel Nr. 1 WIEN, ANFANG APRIL 1899

Schwierigkeiten gibt es nur für den, der sie nicht überblickt. Der Mann, an dessen Intelligenz gemessen, die Konflikte unserer Politik klein erscheinen würden, ist aber noch nicht gefunden. Hat die individualistische Auffassung in der Geschichte Unrecht, die den historischen Verwicklungen nur die Aufgabe zuerkennt, die Persönlichkeit zu zeitigen, die ihrer Herr wird?


Von den übrigen aktuellen Nebendarstellern , etwa von Frau Schröder, Rösler, Bahr, de Maiziere und wie sie sonst heißen mögen, gar nicht zu reden, außer  mit den folgenden Sätzen aus „Die Fackel“:

 

Die Fackel Nr. 1 WIEN, ANFANG APRIL 1899

Die Verworrenheit unserer politischen Zustände hat einen großen Vorteil; sie erleichtert die Beurteilung der führenden Männer. Unter minder schwierigen Umständen konnte sich ein Minister jahrelang der Feststellung seines Wertes entziehen. Selbst der Geschichte fehlen die Anhaltspunkte zur Beurteilung einzelner Staatsmänner. Aber dieses historische Dämmerlicht ist vorüber. Heute ist die Beleuchtung so grell, dass man die Umrisse politischer Unfähigkeit weithin erkennt. Unsere Zeit richtet jeden Minister binnen ein paar Tagen — standrechtlich. Auch auf die Abstufungen der Mittelmäßigkeit lässt sie sich nicht mehr ein.

 



Glossen. Von Karl Kraus

29. April 2013 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"

DIE FACKEL

Nr. 338 6. DEZEMBER 1911 XIII. JAHR S. 1- 6


Glossen

Von Karl Kraus

Ein weitverbreitetes Missverständnis

ist der Glaube an meine Feindseligkeit. »Sie zu überzeugen, versuche ich nicht. Aber ich darf trotzdem sagen, dass Sie mir in meinen Motiven und Absichten Unrecht tun.« Oder: »Ich gestehe, dass es mich kränkt, dass Sie mir mit solchem Übelwollen, ja mit solcher Feindseligkeit gegenüberstehen.« Welches Vorurteil! Ich stehe niemand in der Welt gegenüber und bin das Wohlwollen selbst. Ohne Ansehen der Person reagiere ich auf Geräusche, und interessiere mich nicht für die Richtung, aus der sie kommen. Wäre der Inhalt meiner Glossen Polemik, so müsste mich der Glaube, die Menge der Kleinen dezimieren zu können, ins Irrenhaus bringen. »Sie haben mich kürzlich zum Objekt Ihrer Satire genommen«, schreibt einer, streicht »genommen« und setzt dafür »gewählt«. Ich aber kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich mir noch nie einen zum Objekt meiner Satire genommen oder gar gewählt habe. Hätte ich da etwas dreinzureden, so wäre ich nicht Satiriker und würde eine bessere Wahl treffen. Denn die Satire wählt, nimmt und kennt keine Objekte. Sie entsteht so, dass sie vor ihnen flieht und sie sich ihr aufdrängen. Die Würdigkeit der Objekte mag den Wert der Polemik bestimmen; aber Name oder Andeutung eines Kleinen, oder was irgend von ihm in einer Satire steht, ist Kunstelement. Wie ein Schnäuzen, wie die Trompete eines Beiwagenkondukteurs oder wie sonst etwas, das ich mir nicht wähle; wie sonst ein Stoffliches, von dem ich den Stoff nicht wähle, sondern abziehe. Kann ich dafür, dass die Halluzinationen und Visionen leben und Namen haben und zuständig sind? Kann ich dafür,
dass es den Münz wirklich gibt? Habe ich ihn nicht trotzdem erfunden? Wäre er Objekt, ich wählte anders. Erhebt er Anspruch, von der Satire beleidigt zu sein, beleidigt er die Satire. Außerhalb dieser mag er ein Dasein haben, aber keine Berechtigung. Der Leumund mag in Ordnung sein, kommt aber für die Satire nicht in Betracht. Motive und Absichten prüfe ich nicht. Die sind unbesehen gut oder schlecht. Nichts ist der Satire egaler. Die Polemik
kann es als Einmischung in ihr Amt empfinden, wenn das Objekt sie zu überzeugen versucht, oder sie mag mit sich reden lassen wie ein Amt. Der Satire Vorstellungen machen, heißt die Verdienste des Holzes gegen die Rücksichtslosigkeit des Feuers ins Treffen führen. Nun muss ja freilich der Brennstoff kein Verständnis für die Wärme haben und der Anlass mag sich so weit überschätzen, dass er sich durch die Kunst beleidigt fühle. Aber das Verhältnis der Satire zur Gerechtigkeit ist so: Von wem man sagen kann, dass er einem Einfall eine Einsicht geopfert habe, dessen Gesinnung war so schlecht wie der Witz. Der Publizist ist ein Lump, wenn er über den Sachverhalt hinaus witzig ist. Er steht einem Objekt gegenüber, und wenn dieses der polemischen Behandlung noch so unwürdig war, er ist des Objektes unwürdiger. Der Satiriker kann nie etwas Höheres einem Witz opfern; denn sein Witz ist immer höher als das was er opfert. Auf die Meinung reduziert, kann sein Witz Unrecht tun; der Gedanke hat immer Recht. Er stellt schon die Dinge und Menschen so ein, dass keinem ein Unrecht geschieht. Er richtet die Welt ein, wie der Bittere den verdorbenen Magen: er hat nichts gegen das Organ. So ist die Satire fern aller Feindseligkeit und bedeutet ein Wohlwollen für eine ideale Gesamtheit, zu der sie nicht gegen, aber durch die realen Einzelnen durchdringt. Das Lamentieren ist unnütz und ungerecht. Die sich beleidigt fühlen, unterschätzen mich; sie halten sich für meine Objekte, und da fühle ich mich beleidigt.

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Sie können nichts dafür

Mache ich die Reporter verantwortlich? Das konnte man nie glauben. Die Institution? Das tat ich vor zehn Jahren. Das Bedürfnis des Publikums? Auch nicht mehr. Wen oder was mache ich verantwortlich? Immer den, der fragt.

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Aber die Presse macht die Reporter und die Abonnenten verantwortlich. Alle Schande wälzt der Leitartikel auf die Kleine Chronik. Immer entledigt sich vorn einer des Drecks, der hinten gesammelt wird. Sie verleugnen einander. Als die hinten Orgien der Neugier in einem Totenzimmer feierten, rang vorn ein Ahnungsloser die Hände, einer, der glaubt, dass der Storch die Kinder bringt, und nicht weiß, dass sie längst der Reporter bringt:

»Zwei alte Leute feiern ihre silberne Hochzeit. Kein großes Fest, nichts, was in die Öffentlichkeit dringt oder, wie jetzt so üblich, an die große Glocke gehängt wird …«

Die große Glocke beschwert sich darüber, dass man es an sie hängt! Ja muss es sich denn die große Glocke gefallen lassen? Wenn sie die Glöckner unterscheiden kann, kann sie sie nicht wählen? Oder unbildlich gesprochen: Ist es nicht widerwärtig, wenn eine alte Kupplerin sich darüber beschwert, dass, wie jetzt so üblich, viele Klienten kommen, und gar der Zeit nachweint, wo sie selbst ein unbeschriebenes Blatt war?

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Wenn ich die Verlorenheit der Welt an ihren Symptomen beweise, so kommt immer ein Verlorener, der mir sagt: Ja, aber was können die Symptome dafür? Die müssen doch und tun’s selbst nicht gern! — Ach, ich tu’s auch nicht gern und muss doch.

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Was wir hoffen

»Eine merkwürdige Verfügung. Den Volksschullehrern im Großherzogtum Sachsen-Weimar ist durch eine Verfügung des Großherzoglichen Staatsministeriums verboten worden, für die Tagespresse irgendwie journalistisch tätig zu sein.«

Die Verfügung ist merkwürdig, und zumal in Österreich sollte man sie sich merken. Hier, wo nicht einmal die Volksschullehrer die Macht haben, das Staatsministerium von der Mitarbeit an der Tagespresse zurückzuhalten! Die Verhinderung der Volksschullehrer — das ist nur ein bescheidener Anfang. Die Hochschulprofessoren zu zügeln, das ist die schöne Aufgabe, die der sogenannten Reaktion — dem Kinderschreck erwachsener Idioten — vorbehalten bleibt. Wenn wir aber erst so weit sind und die Kompagnie der bebrillten und der bezwickerten Intelligenz getrennt haben, dann lasset uns auch daran gehen, die Hochschulprofessoren von der Hochschule zu entfernen, und dann verbieten wir der Tagespresse, irgendwie journalistisch tätig zu sein! Überhaupt bin ich dafür, dass alles was jetzt besteht, bei Todesstrafe verboten und diese auch im Falle der Befolgung vorläufig vollstreckt wird.

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Was man im Traum aufsagen kann

… »Dass dieser Ruf besonders lebhaft aus Deutschböhmen
erscholl —« »Es gibt kein Deutschböhmen!« … Dieser Zwischenruf entfesselt eine ungeheure Lärmszene … Die Deutschen protestieren in lauten Rufen … während die Tschechen … Abzug Hochenburger! … Auf die Abzugrufe der Tschechen antworten die Deutschen mit demonstrativem Händeklatschen … Heil Hochenburger! …bemüht sich vergeblich, Ordnung zu schaffen … Deutsche und Tschechen stehen dicht gedrängt vor der Ministerbank … Über lebhafte Zurufe der Deutschen versucht der Justizminister … es gelingt ihm auch tatsächlich … welche jedoch kaum den dicht neben ihm stehenden Stenographen verständlich sind … Die Tschechen zeigen die deutliche Absicht …drängen mit Macht gegen den Platz … Von deutscher Seite eilen einige mit großer Körperkraft ausgestattete Abgeordnete … Wedra … Da hört man plötzlich einen schrillen Pfiff … Fresl … Die Deutschen sind im ersten Moment verblüfft … antworten aber bald mit ironischem Händeklatschen … großes Gedränge, aus welchem man die Hünengestalt … vergeblich bemüht … Die Situation droht in Tätlichkeiten auszuarten … Da erhebt sich … erklärt die Sitzung für unterbrochen … nimmt sein Portefeuille … verlässt, von den »Abzug!« – und »Pfui!«-Rufen der Tschechen begleitet, den Saal … kommt es zu einem drohenden Wortwechsel … getrennt … Fast eine halbe Stunde
tobt … Mittlerweile finden im Präsidialbüro Besprechungen … Um 3 Uhr 20 Minuten wird die Sitzung … unter lautloser Stille … erklärt, mit dem Ausdruck »Deutschböhmen« habe er nur jene Gebiete Böhmens bezeichnen wollen, die vorwiegend von Deutschen bewohnt sind …

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Der Historiker

» … Diese Anschauung ungefähr liegt folgender Äußerung des berühmten Historikers Dr. Heinrich Friedjung zugrunde, die er in liebenswürdiger Weise vor einem unserer Mitarbeiter abgab: Friedensaussichten ergeben sich in einem Kriege erst, wenn einer der beiden Teile zur Erkenntnis kommt, der Kampf sei aussichtslos….Dann erst kann in Konstantinopel die Friedenspartei ihr Haupt erheben…. So traurig es auch ist, so muss Europa dem Blutvergießen vorerst mit verschränkten Armen zusehen…. Die Waffen werden die Entscheidung darüber bringen, ob …«

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Der Psychiater

» … Njegus ist wiederholt abgestraft, er hat sich immer als gewalttätig erwiesen und man kann ihm schon von diesem Standpunkte aus ein derartiges Delikt zutrauen. Er hat sich auch keineswegs als solcher Held, als Altruist gezeigt, wie dies hier behauptet worden ist. Er hat sein Vermögen in kurzer Zeit verprasst, er hat sich infiziert …«

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Ohne Ansehen der Person

Einen vollgültigen Beweis für richterliche Unabhängigkeit hat einer im Prozess gegen den Parlamentsattentäter geliefert. Der Fall dieses Njegusch, der zuerst in der »Lustigen Witwe« und hierauf in der nach einer Idee von Viktor Leon verfassten österreichischen Politik vorkam, ist abgedroschen wie eine achthundertste Aufführung. Pikant wird die Chose nur durch die Einlagen. Der Justizminister leibhaftig tritt als Zeuge auf, und die Justiz, die in ihrer Unabhängigkeit es bisher nie glauben wollte, überzeugt sich endlich davon, dass es so etwas gibt. Das ist aber noch gar nichts.

»Es tritt hierauf Ministerpräsident Dr. Karl Graf Stürgkh vor die Zeugenbarre. Präs.: Exzellenz werden als Zeuge geführt, und ich brauche wohl nicht erst die Wahrheitserinnerung zu machen. Sie haben selbstverständlich die volle und reine Wahrheit auszusagen.«

Das ist kolossal. Der Präsident heißt Wach. Nicht: Sie werden selbstverständlich, sondern: Sie haben selbstverständlich. Es macht Eindruck. Auch der Präsident kann sich diesem Eindruck nicht entziehen. Er hat die Wahrheitserinnerung ohne Ansehen der Person gemacht. Aber jetzt sieht er die Person an. Ein ausgewachsener Ministerpräsident steht vor ihm. Was tut man da?

»Präs.: Darf ich Eure Exzellenz bitten, über die tatsächlichen
Eindrücke gelegentlich des Attentats Mitteilung zu machen?«

Der Zeuge erfüllt die Bitte. Gegen eine unabhängige Justiz ist eine Regierung immer entgegenkommend.

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Sieben Gentlemen und eine Zugereiste

»Gestern fand beim Bezirksgericht Margareten (Strafrichter Dr. G.) die Verhandlung statt, in welcher die 19jährige, aus London zugereiste Konservatoristin Gertrude Wright der wörtlichen und tätlichen Amtsehrenbeleidigung angeklagt war. Miss Wright fuhr nämlich am 23. Oktober in einem Wagen der Straßenbahn über die Favoritenstraße. Da sie dem Kondukteur damals einen Fahrschein vorwies, der keine Gültigkeit mehr besaß, wurde sie von ihm aufgefordert, eine neue Karte zu lösen oder den Wagen zu verlassen. Sie tat keines von beiden und der Kondukteur sah sich genötigt, am Rainerplatz den Sicherheitswachmann S. um Intervention zu ersuchen. Nach längerem vergeblichen Zureden, der Aufforderung des Kondukteurs nachzukommen, erklärte sie der Wachmann für arretiert, worauf sie ihm zwei Ohrfeigen versetzte und mit ihrem Geigenkasten den Kondukteur traf …. Kondukteur G. bestätigte die Klagedarstellung. Wachmann S. behauptete überdies als Zeuge, sie habe mit dem Geigenkasten auf den Kondukteur losgeschlagen. Er sei genötigt gewesen, einen zweiten Wachmann herbeizurufen, weil die Angeklagte sich weigerte, mitzugehen. Auf dem Wege zum
Kommissariat habe die Angeklagte dann zweimal versucht, davonzulaufen. Am Kommissariat selbst habe sie derartig geschrien, dass niemand mit ihr reden konnte. Der Möbelpacker E., ein Fahrgast, sagte aus, sie habe im Wagen gesagt: ‚Eine derartige Wirtschaft wie in Wien gibt es im Ausland nicht.‘ Als die Dame den Wagen verließ, sei sie halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben worden. Der Zeuge Wemola, ein Hilfsarbeiter, erklärte auf Befragen des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs, ob die Angeklagte den Wachmann geohrfeigt oder nur Abwehrbewegungen gemacht habe: ‚Das waren schon Ohrfeigen; ich werd’ doch die Ohrfeigen kennen.‘ (Heiterkeit.) Die Angeklagte erklärt, sie sei erst am 1. Oktober d. J. nach Wien gekommen; der Sprache nicht mächtig, habe sie die Worte des Kondukteurs und des Wachmannes nicht verstanden. Sie habe bereits zweimal Fahrscheine gelöst und dass sie nun noch einen dritten lösen solle, sei ihr nicht eingegangen. In der Aufregung habe sie wohl herumgefuchtelt, doch geohrfeigt und geschlagen habe sie niemanden. Auf Antrag des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs Dr. v. K. trat der Richter schließlich den Akt an das Landesgericht ab, da das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit vorzuliegen scheine.«

Der Hebung des Zugereistenverkehrs wird es nicht nützen. Ein besserer Gerichtsbeschluss wäre gewesen, die Wiener Einrichtungen zu ändern, wenn sie so sind, dass sie zu Ohrfeigen und einem Hieb mit dem Geigenkasten führen können. Man muss kein Zugereister sein, um bis zum Wunsche solcher Abwehr zu gelangen, und man muss nicht aus England kommen, um der Sprache dieses Landes nicht mächtig zu sein. Eine Miss, die mit ruhigen Nerven durch dieses Gedränge von Möbelpackern, Strafrichtern, Kondukteuren und Funktionären durchkommt, kann von Glück sagen. Der Hilfsarbeiter Wemola trägt auch nicht zur Hebung des Lebensmutes bei. Und dieses Verkehrsleben, bei dem man nur vorwärts kommt, wenn man halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben wird, ist eine Katastrophe. Und kurzum, der Kulturmensch, dem dreimal etwas abgezwickt werden soll, wird grob. Wenn das Vaterland das nicht verträgt, so ist Zuzug fernzuhalten. Aber Fremde mit dem Wald- und Wiesengürtel anlocken und dann durch die Elektrische schuldig werden lassen, ist gemein.

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Apokalypse. Von Karl Kraus

16. März 2013 | Kategorie: Apokalypse, Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch wirklich kaputt macht.  Karl Kraus

Die Fackel


Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR S. 1- 14

Apokalypse

(Offener Brief an das Publikum.)

»Den Überwinder will ich genießen lassen von dem Lebensholze, das in meines Gottes Paradiese steht.«

Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellenden Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.

Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …

Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird:
an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohne weiteres hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.

Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.

Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.

Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.

Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«

Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«

Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Mitgeboten. Aber die Natur arbeitet schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!

Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und  Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden, weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.

»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.

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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgültigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel‘ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.

Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.

Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.

Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die
Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen  entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.

Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.

Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu erdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.

Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, solange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.

In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner nach meinem Pfeil zurecht schnitze.

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen.  Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem
Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen  meiner Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«

Karl Kraus.

 


Hüben und Drüben . Von Karl Kraus .

15. Februar 2013 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Als im Herbst 1932 bei den Reichstagswahlen über 100 Sitze an die Nationalsozialisten fielen, deren Wahnwitzigkeit Karl Kraus immer wieder in der Fackel  aufgezeigt hatte, waren die Politiker in Österreich  und Deutschland, insbesondere die Sozialdemokratie als bedeutendstes Gegengewicht nicht in der Lage, der braunen Gefahr wirksam  zu trotzen, zumal die Kommunisten sich seit 1928 abgewandt hatten. Spätestens Potempa hätte sie aufwecken müssen. Aber die notwendige „Einheitsfront“ gegen Hitler kam nicht zustande. Karl  Kraus war kein Politiker und vertrat gerade  deshalb durchaus politisch und unbedingt  die Sache einer Menschheit, deren  Bedrohung durch die braune Flut immer deutlicher Gestalt annahm, die Gestalt  eines von ihm befürchteten  neuen Walpurgisnacht und eines großen  Krieges. Man  darf zu dem Wirken der Sozialdemokratie gewiss Meinung anderer sein. Fakt bleibt für mich, dass sie  Hitler nicht ernst genug nahm, wäre sie ansonsten doch  jeden Pakt auch mit  bürgerlichen Parteien eingegangen, um Hitler zu verhindern. In seiner berühmten Rede „Hüben und Drüben“  spiegelt sich die Enttäuschung über den fehlenden Widerstand und wirkt wie ein Abgesang auf eine Sozialdemokratie, die nur ein halbes Jahr später in Deutschland aufhören wird zu existieren.  Karl Kraus  hellsichtige  Analyse mit unverblümten Worten zu den Nazis verdient auch heute noch größte Aufmerksamkeit.  Als ihm 1933 nach der Machtergreifung, wie er schrieb, zu Hitler nichts mehr einfiel, war es das Eingeständnis, dass alle seine Warnungen, das Wort also, den Verderber nicht hatten aufhalten können,  dass es nun zu spät war. ( W.K.Nordenham)

DIE FACKEL

Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR

Hüben und Drüben

Gesprochen am 29. September 1932

… da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins.

… da obsiegte hüben und drüben das Gefühl,  daß Österreich ein Teil Deutschlands ist.

… Nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

… treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben ….

Und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wär’ — an  deren Erschaffung ja der Sozialdemokratie, hüben und drüben, das Hauptverdienst gebührt —:  wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist. Ohne den geringsten Anspruch der Möglichkeit, solche Klarstellung an ein Forum heranzubringen, worin etwas von den beklagenswerten Massen Platz hätte (ohne es zu wünschen, weil ja an den Fristgedanken des Bonzendaseins leider auch der letzte sozialpolitische Bettel geknüpft ist, den das Bürgertum gewährt) — wird es doch nachgerade unabweislich, an eine kleine Schar wohlmeinender und gutgläubiger Jugend eine Frage zu stellen. Sie betrifft nicht solche, die der Zugehörigkeit zu dieser Partei lediglich den Sinn erteilen, einen Rest sozialer Errungenschaft außerhalb ihrer nicht  verteidigen oder nicht beanspruchen zu können. Sie betrifft nur solche, die sich darüber hinaus noch immer mit einer seelischen Hoffnung gebunden fühlen. Diese Jugend ist es, der die Frage gilt: ob sie es noch immer für vorstellbar erachtet, die Zugehörigkeit zu dieser Partei und die Anhänglichkeit an den Namen eines bekannten »Einzelgängers« in veritabler Vereinigung zu umschließen. Ob sie nicht endlich merkt, daß sich zwischen ihm und dem, was er als getünchten und umso scheußlicheren Schmutz der Bürgerwelt erkennt, eine Unvereinbarkeit ergeben hat: anstoßend wider ein sittliches Fühlen und Denken, welches in der Sphäre geistiger Unerbittlichkeit etwas Widerstandskraft gegen Entmannung erworben haben muß und gegen Versuche, sich das logische Einmaleins hinwegdisziplinieren und hinwegpharisäern zu lassen. Erkennt sie nicht doch einmal, daß die politische Jammergestalt, der sie ihr Ideal anvertraut hat, ganz und gar, nein voll und ganz der abgetakelten Welt zugehört, der es widerstrebt? Wie es an jedem Tag zur Phrase entehrt wird von einem Macht- und Würdepopanz, der aus Urväterhausrat politischen Lugs und Trugs die Mittel schöpft, sich durch die Generation zu fristen; dem Disziplin als Schutzvorrichtung dient gegen die Erkenntnis seiner Hinfälligkeit; der den Glauben einem System der Zucht unterworfen hat, mit dem verglichen alle Satzung und Dienstvorschrift, aller Komment der Generalstäbe, Burschenschaften und Bürgerklubs eine Revolution der Geister bedeutet! Sieht sie es nicht, wie diese Obmänner eines Menschheitsvereins im Zwiespalt von Tat und Bekenntnis wohnen, lebend von dem, was sie verleugnen, Heuchler bis zum letzten Hauch! Wie ihre Taktik ganz die ist jener Selbstgerechtigkeit, die als oberste Instanz die deutsche Sache im Weltkrieg vertrat; ganz das beruhigte Gewissen: tue unrecht und scheue niemand; die Haltung der verfolgenden Unschuld; die Fähigkeit, Niederlagen zu erringen, die Wahrheit »umzugruppieren« für beide Berichte, beide Lügen: um hinter der Anklage, oft hinter der Fiktion feindlichen Tuns es selbst zu verüben! Hört sie nicht diesen Tonfall eines Zurechtlegertums für jede Halbschlächtigkeit und jede ganze Lumperei, von keinem andern Fonds bezogen als von der Phraseologie altliberaler Burschenherrlichkeit, ohne doch eine Faser von deren moralischem Inhalt zu bewähren? Spürt Jugend nicht die Vertröstung in dem Schwall von Sonnensängen, nicht den Verschub in der Parole »Wir sind jung, und das ist schön!«, die der leibhaftige Marasmus ungeduldigen Erben gewährt? Biedermanns Trug, ob derlei in der Region der Turniere leben möchte, wo man »mit offenem Visier« leitartikelt und »Ihr Herren!« sagt, oder ob’s »Hooruck — nach links« geht und statt des Kampfs die Beziehung zu einem Handwerk vorgetäuscht wird, bei dem sich die Proleten anstrengen und die Komptoiristen schmunzeln. Doch welches Geschäft immer zur Abgabe dürftiger Metaphern hilft — das einzig Wirkliche und Wahre: die Lüge, quillt dieser Geistigkeit aus allen Poren. Und die vorrätigste aller Metaphern, die von altersher verderblichste: die Fahne — die Fahne, die alle Farben spielt, mit jeder die Gesamtheit blendend, deren Einzelne unbewegt blieben oder abgewendet dem tödlichen Ziel, dem sie winkt — welcher Verein von Kriegern, Bürgern, Turnern hätte jemals den Plunder toller entfaltet als der der Weltumstürzer, wenn er der Jugend Sehnsucht und Ungeduld abgewöhnen möchte, den Drang zur Idee oder den Wunsch nach Kontrolle, damit sie nur ja nicht erfahre, daß mancherlei nicht so schön ist, als jung zu sein! Ganz Hohenzollern hat nicht so viel Verbrauch von Hurrah und Feindschaft in der Welt gehabt, wie die österreichische Sozialdemokratie von einer »Freundschaft«: daß deren erklügelte Harmonie durch keinen Mißton getrübt sei.

Alles Talmi, alles Mumpitz wie eh und je, Urväter Unrat, circenses für panem und vor allem für das geistige Brot. Surrogat und ältestes, um der Neugier etwas zu bieten; eingestandener Neid auf andere politische Firmen, die mit so etwas wie einem Ideal arbeiten. Altösterreichische Generale, die ausnahmsweise nicht giftig sind auf solche, die »halt a Urganisation hab’n«, sondern die sie selber haben, aber halt a Romantik braucheten. Das Hakenkreuz hat die der Entmenschtheit, jegliche Art von Gesundbetern hat eine, selbst ein so niedriges Geschäft wie die Psychoanalyse beruht auf etwas Seelischem: dem hysterischen Defekt, der zwar nicht geheilt, aber behandelt werden kann, das Heilgewerbe ermöglicht, Beschäftigung
und Unterhalt gewährt; denn jeder Patient kann Arzt sein, jeder Betrogene Betrüger: jeder Geführte Führer; ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode, entspricht als Neuro-Mantik einem Trieb, beschäftigt eine schäbige Phantasie und nährt seinen Mann. Bei der Sozialdemokratie frommt’s nur der herrschen den Klasse (der Bourgeoisie innerhalb und außerhalb der Partei); und den Geführten wird, im Leerlauf der Organisation, vor der ewigen Taktikerfrage: »Also was tan mr jetzt?« — bald die Antwort einfallen: »Jetzt tan uns die Füß’ weh«. Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt, der sich von der katholischen Springprozession, wo es drei Schritt vorwärts und zwei zurück geht, dadurch unterscheidet, daß es zwei vorwärts geht und drei zurück — eine Strapaz’, die schier unbegreiflich wäre, wenn sie nicht doch die Chance böte, einmal am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Und erfolgt abwechselnd der animierende Zuruf: Hoo—ruck!, oder jener taktische Zuspruch, der den Rückschritt als die Bedingung des Fortschritts klarmacht, so wird man noch müder. Aber die Visage dieser Anführung — welch unabsetzbare Posse eines Optimismus: »Morgen gehts uns gut«! Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts erlitt, indem er alles litt; wiewohl man von der Sozialdemokratie doch wieder nicht sagen könnte, sie habe keine Rente als den muntern Geist, um sich zu nähren und zu kleiden. In einem Erpresserblatt — und diese Partei war, wie es Stützen der Gesellschaft ziemt, Erpressern ausgeliefert, publizistischen und bureaukratischen — erschien durch lange Zeit immer dasselbe Cliché, das ein frohgemutes Bonzenantlitz zeigte; so verdächtig der Pranger, so richtig die Ansicht und so witzig die Beharrlichkeit der Reproduktion: Ausdruck des steten Würdebewußtseins mit vergnügten Sinnen, das von den Zinnen der Partei wie von einem Lug- und Truginsland auf alles Untertänige hinabschaut. Schmunzelnd wie jene ständige Aufschrift Arbeitersang, deren Frakturbuchstaben ausgewechselt werden mußten, weil man das s für ein f gehalten hatte. Charakterologisch taugt unsere Sozialdemokratie gewiß zur Vertretung dessen, was sie so gern deutsch-österreichische Schicksalsgemeinschaft nennt, indem sie nicht nur Disziplin mit Schlamperei vereinigt, sondern auch jene materialistische Geschichtsauffassung, die in dem Trost beruht: »Da kann man nix machen«, mit der Technik der Herrichtung auf den Glanz. Ihr kann wirklich nicht mehr viel geschehn, selbst wenn die Begleithandlung zu jedem Hooruck sich umgekehrt vollzieht — macht nichts, wir Pharisäer sind Schriftgelehrte und können von rechts nach links lesen. Und entschädigt denn nicht jeder Rückschritt durch die Pünktlichkeit, mit der er ein-trifft, wenn man ihn, die Uhr in der Hand, tiktaktisch auskalkuliert hat? Daß der Zeiger rückwärts geht, liegt an der Zeit, nicht an der Uhr, denn die ist ein Präzisionsapparat! So mag es wahr sein: diese Partei von Republikanern, welche auf den Trümmern einer Monarchie die Methode jenes Fortwurstelns erbeutet hat, das die Wartezeit bis zum Untergang ausfüllt — sie kann, vermöge programmatisch festgelegter Weitsichtigkeit (Rückschläge inbegriffen), länger bis zur Machtergreifung durchhalten als der Nationalsozialis-
mus, der sich durch Kompromisse erledigt und der die Gewalt, die er nicht ergreift und nicht einmal anwendet, verliert. Gleichwohl: der Zeitvertreib, den die Sozialdemokratie ihren Anhängern, bis zum Ziel, bis zum Ende garantiert, ist der tödlichste ihrer Rückschläge; solches wieder nach deutschem Kriegsmuster: Taktik der Zermürbung unser selbst! Die geistige Welt des Kommunismus — in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte — sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben. So widermenschlich alles Parteiische sein mag, an jeglichem hat die Natur, noch mit Blut oder Schlamm, ihren Anteil. In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den, meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. Ich verleugne mein Blut! Nicht fremder Spott, mit dem sie ihrer selbst spottet, nicht die Zutat der optimistischen Phrase, nicht Kampf noch Hoffnung ziemt Lemuren, die ihr eigenes Grab schaufeln. Sie ist in keinem Geist zu Hause — sie geht uns nichts mehran! Sie wirkt fort als die staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien: seit sie aus dem Weltbrand hervorging als der Treuhänder bürgerlicher Zuversicht, daß »alles gerettet« ist bis auf zwölf Millionen und ein großer Aufwand schmählich vertan. Nichts wöge der verlorne Krieg, hätte die Sozialdemokratie nicht den Frieden verloren! Sie hat ihr Verdienst überlebt — ihre Schuld wird sie überleben. Denn sie ist schuldig, daß alles, was wert war, daß es zugrundegeht, fortbesteht und in Phönixfarben prangt. Schuld ist sie an einem Umsturz, der so beschaffen war, daß ihn die Schieber mit der Formel quittierten: »geht in Ordnung«. Schuld ist sie — und der die »Letzten Tage der Menschheit« schrieb, sagt es —, daß gegenüber einer Demokratie, die jeglichen Aussatz der Vorkriegswelt zu tropischem Gedeihen fördert, das Leben in der Staatsform, die den Fluch entfesselt hat, rehabilitiert erscheint; daß uns ein kulturelles Heimweh ergreift nach dem verjährten Übel, und daß die politische Freiheit, vergewaltigt und verhöhnt von ihren Lippenbekennern, aufgehört hat, ein geistiges Problem zu sein! Alles ist geblieben, wie es war, alles ist schlechter geworden, als es war, doch so identisch links und rechts, daß es der Sozialdemokratie gewährt ist, durch den geringern Grad an bürgerlicher Korruption aufzufallen!

Aber der höhere an bürgerlicher Heuchelei ist beträchtlicher. Ihre Taten oder Nichttaten mögen sie gesellschaftsfähig gemacht haben — ihre Sprache entlarvt sie und bekehrt den Freund ihres Wollens zum Feind ihres Seins. Das ist der Gestus, der nicht wahr haben will, was er tut, und den Beweis als Lüge ächtet. Das ist die Taktik jenes Generalstabs, der gewußt hat, daß man am besten lügt, wenn man den, der die Wahrheit sagt, verdächtigt, und was mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören ist, so bestreitet, daß einem Hören und Sehen vergeht. Das ist der Tonfall, der eszurechtbringt, das, was man schwarz auf weiß besitzt, als Phantom wirken zu lassen. Von einer Kriegsschuld, die sich zur Not durch Ultimaten nachweisen ließe, durchhaltend bis zur Entrüstung über eine »Kriegsschuldlüge«, scheint er zu sagen: ich habe es zwar getan, aber ihr dürft es nicht  glauben, denn die andern haben es getan; wohl dem, der lügt und rein ist von Schuld und Fehle!  Das ist der speiwürdige Biedermannston, der für alle politische Witterung vorgesorgt hat; zu jeder Niederlage die Attitude bereit hat und, wenn es neunzig tote Proletarier zu vergessen gilt, die Einteilung in »Gefühlssozialisten« und »geschulte Marxisten«. Das ist die  unwiderrufbare Selbstgerechtigkeit, die anders denkt als handelt, anders politisiert als agitiert; Umzüge für den »Anschluß« veranstaltet, während sie bei anschlußfeindlichem Ausland um Schutz gegen die Heimwehr bittlich wird, und wieder mit dem Anschluß im Herzen, mit der Nation im Munde, Lausanne in Ordnung bringt. Das ist die Überzeugtheit, die doppelt besser hält, so daß die bürgerlichen Kostgänger einer Creditanstalt Lumpen sind und die Annoncen ihrer Generalversammlungen in einem Organ Lassalles die plausibelste Sache von der Welt; die vorne »den Kampf gegen die Krupniks« führt, wenn hinten »Krupnik voran« schreitet; die einem bußfertigen Lippowitz, seit er sich die Unzucht abkaufen ließ, das »Massageblatt« vorwirft, während der Redaktionsetat eines Schwesterorgans von eben den achtzig Wohltäterinnen bestritten wird, die jener dem Heimatgedanken zum Opfer brachte; die so schamfrei ist, einen »Kraus-Jargon« zu verwerfen, den sie durch ein Lustrum als die Sprache unantastbarer Wahrhaftigkeit verherrlicht hat und noch heute bestiehlt; die die »Sieghart-Husaren« höhnt, wiewohl ein General der Eigenen nach Siegharts Pfeife Shimmy tanzte; die den Mordbestien des Hakenkreuzes flucht, sie aber auch als »faszistische Söldner« brandmarkt, von deren Berliner Publizistik ein Redakteur der Arbeiter-Zeitung Sold bezog. (Und ihr Chef hatte, wie ich weiß, die Stirn,einem ehrlichen Sozialisten, der diese Schande   unerträglich fand, die Ehre abzusprechen! Aber ob er es nun noch wagen wird, einen Ton in dieser Richtung von sich zu geben oder das Nichtmucksen, auf das er verwiesen würde, vorzieht — der stärkste Fall von sozialdemokratischem Doppelverdienertum an Bürgerehre wird nicht unerörtert bleiben. Meinetwegen auch vor der bürgerlichen Justiz, für welche die  Hörer ihre Aufmerksamkeit schärfen mögen, damit ja nicht wieder einer bezeuge, ich hätte auch nur um ein Jota anders gesprochen als gedruckt! Es handelt sich, wie man erkannt haben dürfte, nomina sunt odiosa, um jenen Musikfachmann, der etwas von Mozart hat, nämlich einen Vornamen, und dessen Fähigkeit, aus revolutionärer Marschmusik für die Leserschaft Viktor Adlers den ehernen Tritt der Arbeiterbataillone herauszuhören, für die Leserschaft Hitlers aber nicht — dessen musikalisches Taktgefühl in so verschiedenen Lagen also von der bürgerlichen Justiz keineswegs als Beweis für »Schlieferlpraktiken«, von der Parteijustiz jedoch als honorig erkannt ward. Und es handelt sich um jene »Berliner Börsenzeitung«, deren nach jüdischem Kapital, also ganz unverdächtig klingender Name noch zu einer Zeit die Mitarbeit eines Sozialisten harmlos machen sollte, als ihr Chefredakteur schon als Wirtschaftsberater und Ressortminister des Hakenkreuzes ausersehen war. Der Tonfall hätte zu erwidern: Wie, ihr könnt glauben, daß sie ein Hakenkreuzlerblatt ist und daß ein Sozialdemokrat an so einem mitarbeitet? Erstens ist sie bloß ein Blatt des Finanzkapitals, zweitens arbeitet er nicht mit, denn drittens hat er soeben die Mitarbeit aufgegeben, weil es ein Hakenkreuzlerblatt ist und ein Sozialdemokrat so etwas nicht tut, ihr Herren, wenn man ihm draufkommt!) Die Fähigkeit zu allem, was dem andern verübelt wird, und die unanfechtbare Selbstverständlichkeit einer doppelten moralischen Buchhaltung —solcher Wesenszug könnte vielleicht die sonderbarste Erscheinung erklären helfen, die das klinische Bild dieses Staatslebens aufweist: des deutschnationalen Hangs unserer Sozialdemokratie, ihrer Zuneigung zu jenem folkloristisch interessanten Typus, der weder im Weltkrieg noch  später die Welt dahinbringen konnte, an seinem Wesen zu genesen. Rassenmäßig besteht keine Verbindung. Auffällig ist der Unterschied, daß es sich drüben um die neudeutsche Form einer Entartung handelt, die ursprünglicher Wert durch den zivilisatorischen Betrieb erleiden mußte, den er »letzten Endes« nicht verträgt; während hüben aus dem Fonds jener altfränkischen Vorstellungen geschöpft wird, die das einstige Deutschtum hinterlassen hat. Der Biedermannston unserer Sozialdemokratie, im Gaudeamus ältester Burschenherrlichkeit verankert, bedient sich für seinen Bedarf an Phrasen der Anregungen, die ein völkisches Leben bietet, das in dieser Fasson in Deutschland gar nicht mehr vorhanden ist. Aber weil es  auch eine Lage der Deutschen in Österreich insofern nicht mehr gibt, als sie sich nur noch in dieser befinden, so hat unsere Sozialdemokratie, die die Überlieferungen der weiland  Deutschen Fortschrittspartei hochhält sowie die Ideale, zu deren Vertretung die Großdeutschen zu schwach waren, einen Ersatz im »Anschluß« gefunden, der bekanntlich zugleich ein  Gedanke und eine Herzenssache ist, wenn er nicht eine handelspolitische Maßnahme bedeutet, vor deren Zwang auch jeden, der kein Österreicher von Beruf ist, das Schicksal behüten möge. Es mag wahr sein, daß Österreich von den Siegermächten über die Schuld hinaus verkürzt wurde, die sein Rest an dem Verbrechen der Monarchie trägt; aber sie haben es doch einigermaßen durch das Verbot, sich an Deutschlandanzuschließen, entschädigt. Unsere Sozialdemokratie, deren Gefühlsleben anders tendiert und deren Gedankenleere auf weite Sicht abgesteckt ist, muß dieses Verbot als Fessel einer Entwicklung empfinden, die sie andauernd im Auge hat. Und bei allem Geschick, mit dem sie sich im Bereich sozialer Tatsachen den »Gegebenheiten« anzupassen pflegt, die sie herbeigeführt hat, bedeutet eine außenpolitische Unmöglichkeit für sie kein Hindernis, von einer vorrätigen Phraseologie den Gebrauch zu machen, der eine romantische Ablenkung der enttäuschten Gefolgschaft ermöglicht. Darauf eben hat sie es abgesehen, weil man doch in einer Zeit, wo es mit dem Sozialen so schwer vorwärtsgeht und für ein primitiver gewordenes Geistesleben der Nation das Nationale seine Zugkraft hat, auch etwas von der Art bieten muß. Es gibt — und dies ist leider Gottes die stärkste aller Gegebenheiten, die wir herbeigeführt haben — es gibt Nationalsozialisten: da bleibt uns nichts übrig, als Sozialnationalisten zu werden, und uns zu gebärden, als wären wir die echten. Wäre in der Politik etwas wie eine Wirklichkeit vorhanden, so müßte man glauben, daß unser Sozialnationalismus, dessen Geistigkeit tief im Frankfurter Parlament wurzelt, einem nicht mehr zu bezähmenden Drang der proletarischen Seele gehorche. Aber es ist ein bis auf Widerruf freiwillig eröffneter Vulkan. Alles Sache der Zurechtlegung, die die Chancen der Konkurrenz abschätzt; und die Juden können nach Bedarf noch altfränkischer sein. Hat die Freiheit den Schillerkragen, so trägt die Brüderlichkeit den Kalabreser. Mehr als das: Marx nimmt Turnunterricht bei Vater Jahn, eine Spezialität, wie sie die Kulturgeschichte bisher kaum aufzuweisen hatte. Und nicht zu sagen, wieviel Elan unsere Taktiker entwickeln! So nüchtern sie im Sozialen Wellenberge als die Vorläufer von Wellentälern und viceersa abzuschätzen wissen, im Nationalen schwelgen sie, können nachempfinden, was in den Gemütern einer Trautenauer Stammtischrunde vor sich geht, und haben jedenfalls schon den Anschluß an die Sudeten vollzogen. Da kehren denn die Termini wieder und immer wieder, mit denen der Protest gegen die Zumutung, »Vasallen Frankreichs« zu werden, der Abscheu vor den »Französlingen« bekundet wird, und dergleichen treue Ladenhüter mehr, wahre Eckarts politischer Mythologie. Natürlich unbeschadet des Umstandes, daß wir die Nationalsozialisten wegen der gleichen, aber glaubhafteren Aversion gegen den »Erbfeind« verhöhnen (denn wir wollen lieber freie Pharisäer sein, als »eine Kolonie von Frankreich«!). Ich, der sich einbildet, zur deutschen Sprache annähernd so gute Beziehungen zu unterhalten wie ein Leitartikler der Arbeiter-Zeitung, ja sogar der schlechthin Deutschösterreichischen, habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich eben im Hinblick auf das Sprachgut einem Anschluß an schießende Koofmichs die Aussicht vorzöge, von Frankreich kolonisiert zu werden (von den »französischen Kapitalisten«, die wenigstens das sind, was sie scheinen, und trotzdem oder eben deshalb vielleicht menschenähnlicher sind als deutsche Arbeiterführer; mögen sie auch als Kapitalisten einer Internationale angehören, die leider Gottes besser zusammenhält als die andere). Der richtige Anschluß, den ich den deutschen Brudervölkern mein Lebtag gewünscht habe, wäre der an die Sprache, die sie im Munde führen. Deutsches Fühlen, sich selbst-berufend bis zum Nichts der Redensart — hätte es denn nicht in der Wiedereroberung des wahren »Bodens«, in dem es wurzelt, die einzige Politik zu suchen, die Kampf und Opfer aller Parteiung lohnt? Wenn es ein überirdisches Wesen gibt, das einer Nation das Geheimnis der tiefsten Sprache anvertraut hat, so muß es sich doch sterblich lachen über die tägliche Preisgabe durch sie und durch den üblen Haufen der Wortführer, die da sagen und vielleicht glauben, ihr Wollen wäre deutsch. Denn es ist ein Greuel und ein Spott vor dem Herrn, wie diese Sprache, deutlicher als jede andere, zu dem Nachteil wurde, den die Menschen vor den Tieren voraushaben!

Können aber die Kopfjäger, die seit dem Irrsinn des Weltkriegs auf die Reste von Menschheit losgelassen sind und es Politik nennen — können sie uns denn nicht umbringen, ohne uns vorher blöd zu machen? Soll es uns nicht mehr gewährt sein, die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Menschenwürde zu erkennen? Und wenn ich es mir gewähre, weil ich mich weder von berufenen noch von unberufenen Agenten der dementia nationalis blöd machen lasse, so frage ich: Was hat ein Konsumverein mit Pathos zu schaffen?  Und wäre es nicht    der menschlichen Vegetation  zuträglicher,  daß wir ökonomisch von Frankreich versorgt werden, als dieses kulturell von Newyork, Budapest und Berlin? S. P. D., K. P. D., D. N. P.,         N. S. D. A. P. — all diese Verschwörerformeln, die Gut und Blut kosten, all dies W. E. H. E. wollte ich freien Herzens, offenbachschen Sinnes, vom Hohn einer zeitlosen Musik  herabgewürdigt hören auf jenes A. B. C. der Natürlichkeit! Vaterlandsfrei bekennen, daß mir, wiewohl auch dort die Zeit das ihre getan hat, das Lebensklima unter der Formel s. v. p. begehrenswerter erscheint: dem s’il vous plait, das es noch gibt und das selbst den Ämtern im Verkehr mit den Menschen vorgeschrieben ist, der Redensart, die im Gegensatz zu unseren Phrasen eine Lebensart bedeutet! Und diese Formel, deren Äußerlichkeit doch auf den Inbegriff der Freiheit weist: vom Nebenmenschen zu verlangen, was ihm gefällt; dies Gebot, nach welchem sich jegliche Politik zu orientieren hätte — es hat durch allen zeitlichen Verfall die dortige Volksnatur widerstandsfähig erhalten: gegen die Freiheit nicht minder als gegen die Sklaverei. Solche Bewahrung vollzieht sich durch einen Nationalismus, den der deutsche Widerpart nicht nur falsch sieht, sondern auch zum falschen machen könnte, der sich aber immer noch in dem Bewußtsein sprachlichen Besitzes erfüllt und in der Verantwortung vor einer Sprache, zu der es freilich die Nation nicht so weit hat wie wir zu der unsern, mit der sie jedoch umso vertrauter ist, in der Schrift wie im täglichen Umgang, welchen sie gleichsam mit ihr selbst pflegt. Deshalb wird der, dem Politik nicht die letzte Beziehung zur  Menschheit kompromittieren könnte, die Harmonie zwischen dieser und dem Begriff eines »Patriotismus« am ehesten dort gegeben finden. Mein Drüben — wenn’s schon nicht mein Hüben sein kann — ist dort! Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt; wo man zu Hause ist, ist man es nicht immer; und bestimmt nicht dort, wo der Tod drauf steht, solches zu bekennen! Es ist die erbärmlichste aller Verlogenheiten, die das parteijournalistische Lager vorrätig hat, wenn Intelligenzler, deren einziger Vorzug bisher darin bestand, vaterlandslose Gesellen zu sein, bei dem Klang des Namens »Deutschland« zu bibbern beginnen, Verengung des Wamses durch Herzerweiterung vortäuschen und Gefühlstöne, die bodenständigen Höhlenbewohnern ziemen, mit Auskennerschaft praktizieren. Gewiß wäre eine Geistesbildung, die zur politischen Praxis als solcher taugt, im Grunde keiner Enttäuschung wert; aber daß Leute, die immerhin ein paar nationalökonomische Bücher gelesen und vielleicht sogar Marx verstanden haben, sich auf ein Gedankenleben reduzieren können, das in der Inschrift  eines Bierkrügels, eines Gablonzer Wandtellers, einer Schlummerrolle Platz hat; daß Sozialisten rot werden wie erhitzte Kegelbrüder ob der »Nichtswürdigkeit« einer Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre, während doch der einzige Sinn jeglichen Fortschritts, der einzigewahre Gewinn des Weltkriegs in der Ausrottung dieses unseligsten aller Ehrbegriffe  gelegen sein müßte — das wäre tragisch, wenn es wahr wäre, es ist aber nur zum Speien, weil es gelogen ist! Denn man vergegenwärtige sich bloß die Schmach, die Vasallen Bauer und Pollack als die Vertreter der besiegten deutschen Nation, womöglich durch ein Spalier spottlustiger Französlinge (worunter ich), im Triumph aufgeführt und dem Genossen Blum vorgeführt zu sehen. (Während die Anbiederung ans Völkische nur das bekannte Erlebnis nach sich ziehen könnte, das jenem Großstädter widerfuhr, der sich in der Tiroler Tracht wohl fühlte, einem ihm begegnenden Landmann frohgemut »Grüaß Gott!« zurief und die loyale Antwort bekam: »Grüaß Gott, Herr Jud!«) Was die Wortführer der österreichischen Sozialdemokratie immer wieder antreibt, uns mit diesem Gejodel zu überraschen und mit ihrer Sehnsucht nach »deutscher Freiheit«, »deutscher Demokratie« und sonstigen Herzenssachen zu amüsieren, mag vielleicht einer Erkenntnis des Freiheitskämpfers Heine entsprechen, der freilich zu französischen Kapitalisten ganz gute Beziehungen unterhielt: »Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen«. Sicher aber ist es Ersatz durch eine Ideologie, die den Anhängern die Wartezeit bis zur Verwirklichung des programmgemäßeren Ideals erträglich machen könnte: aus dem kümmerlichen Drang, es mit der Attraktion des echten Nationalsozialismus aufzunehmen. Manche sozialdemokratische Bestrebung hat ja ihr Motiv nicht an der Oberfläche, wo ihr Gedanke liegt; selbst die programmatische des Antiklerikalismus wurde mir einmal von Frank Wedekind auf eine ungeahnte Triebkraft zurückgeführt: die des moralbürgerlichen Anstoßes an der freiheitlichen Institution der Pfarrersköchin. Eine keinesfalls abzuweisende Erklärung, wenn man die Hypokrisie bedenkt, die die Partei durch Jahrzehntevor Problemen des Menschendaseins bewährt hat, die noch vitaler sind als die Brotfrage, bis endlich jüngere Kräfte und talentierte Lehrlinge der Fackel für etwas sexuelle Aufklärung der sozialdemokratischen Väter sorgten. Aber noch nachdem ich selbst meine Schriften vor Arbeiterauditorien vertreten hatte (immer möchte ich solches Publikum, nie wieder solche Veranstalter!), konnte ich von dem Ärgernis hören, das der Gebrauch des Wortes »Hure« bei den Familien von Parteifunktionären erregt hatte. Leichter haben sie sich mit der Einführung des bürgerlichen Sexualtratsches in die Gerichtssaalrubrik befreundet.

Eine weit populärere Tendenz jedoch als die Freiheit der Geschlechter dürfte bei ihnen noch heute die Vermittlung zwischen Stämmen sein, die Anschluß suchen. Die Christlichsozialen  — und mögen sie hinter der Abneigung gegen ein Hitlerdeutschland ihr eigenes Österreich verteidigen, ihre eigene politische Ambition verfolgen — haben natürlich ganz recht, jetzt gegen solchen Anschluß rühriger zu werden und aus ihrem Herzen nicht die Mördergrube zu machen, in die wir längst hineingefallen wären, wenn eben Frankreich dem  außenpolitischen Drang unserer Sudetensozialisten  (wie zuletzt der Zollvereinsmeierei) nicht Kandare angelegt hätte. Anstatt nun das Wort »Anschluß«, das ja im Annoncenteil des Zentralorgans vorläufig noch keine Sehnsucht befriedigt, im redaktionellen Teil höchstens für Bahnfahrten innerhalb des Bundes zu verwenden, unternehmen es jene, mit dem gewissen »Nun erst recht!« — mit der Zuversicht aller Bankrotteure, die, vom Weltkrieg bis zur Zollunion, eine Dummheit zum zweiten Male machen würden —, die  Herzenssache, die keine Gehirnsache ist, ausgerechnet jetzt aufs Tapet zu bringen. Nicht was die Christlichsozialen da in Versammlungen geäußert, sondern was ihnen die Sozialdemokraten zum deutschen Wahltag geantwortet haben — der ja inkeinem Fall der Entscheidung eine für den »Anschluß« sein konnte —: es ist aufhebenswert, wie jeder dieser Leitartikel, die der ausgeliehenen und ausgeleierten Walze einer deutschen Gemeinbürgschaft Kopftöne des Gemütes entlocken. Da ist jedes Wort unerlebter als der Handgriff des Setzers, den doch ein Gefühl des Grausens angeht, wenn sein Parteischreiber sich in Gefilden gütlich tut, die so weit von der Welt proletarischer Sorgen liegen. Verarbeitet wird die endlich unabwendbare Erkenntnis, daß der »Anschluß« an ein faszistisches Deutschland unmöglich wäre. Aber freilich, dort wo der Hund begraben ist, dort hat der Taktiker noch lange nicht die Hoffnung begraben, die er eben an diesem Grabe aufpflanzt. Heute also fällt die Entscheidung: entweder nämlich siegen die faszistischen Söldner (in welchem Fall einer unserer Redaktionsgenossen deutscher Offiziosus werden könnte, wenn ihn jene nicht von dem Gesinnungskonflikt befreien — was aber soeben wir getan haben, lange nachdem die Berliner Börsenzeitung als eine der drei nominiert war, die im dritten Reich zensurfrei erscheinen dürfen); entweder siegen sie also — was ihnen nach langjähriger Vorarbeit der deutschen Sozialdemokratie ja gelingen könnte — oder, man hat es erraten: sie unterliegen. Dieses Entweder — Oder enthält nicht nur alle Prophetie des Zurechtlegers, sondern auch einen Trost:

Was immer aber dieser Tag bringe —                                                                                                                                                                                                                                                                                                            es wird eine Entscheidung von geschichtlicher Größe sein.

Das ist wahr; eine Entscheidung nicht nur »für unser großes deutsches Volk«, sondern auch eine, die das Gesicht Europas usw. Und nun kommt, aus Wellenbergen und Wellentälern zusammengeballt, der ganze Gefühlsozean, der Hüben und Drüben verbindet. Aber nicht daß eine Barbarei einbrechen würde, die mit dem zu entbehrenden Pofel einer Prominentenkulturauch allen Wert, ja das werteschaffende Leben selbst begrübe; nicht daß dann der Untergang einer Freiheit, deren Begriff die Sozialdemokratie bloß zum Hohn gemacht hat, besiegelt wäre — nicht solches wird nun erörtert. Sondern was? Die dann noch bleibenden und die immer bleibenden Chancen des »Anschlusses«.

Als im Novembersturm von 1918 die republikanische Demokratie in
Deutschland und in Österreich obsiegte,

um mit den von ihr besiegten Mächten zu packeln und deren Erholung vorzubereiten,

da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins. Da
erlebte am 12. November 1918 — — da obsiegte hüben und
drüben das Gefühl — —

»Selbst die Klerikalsten der Klerikalen«, was taten sie da? Sie

haben es seither nie gewagt, ihre innere Gegnerschaft gegen den
Anschluß offen zu bekennen. Sie haben es nicht gewagt,
bis — — Sie haben es nicht gewagt, bis — — Sie haben
es nicht gewagt, bis — — Jetzt aber wittern unsere
Schwarzgelben wieder —

na was läßt man den Gegner in solchem Fall wittern?

Morgenluft.

Seitdem nämlich die Phraseure sämtlicher Parteien sich des Leitartikels bedienen, werden die Gespenster, die selbstverständlich immer nur im feindlichen Lager umgehen, am Morgen aktiv, während es doch zu den verbrieften Lebensgewohnheiten von Gespenstern gehört, sich zur Ruhe zu begeben, sobald sie Morgenluft wittern. Diese verkehrte Lebensweise haben sie mit mir gemeinsam, der aber noch rasch den Leitartikel durchfliegt und, sooft er das mißverstandene Zitat findet, mit einem beruhigten »Schon faul!« sich schlafen legt. Auf diese  Art nehme ich Kenntnis davon, daß abwechselnd die »Marxisten« und die »Antimarxisten« Morgenluft wittern und einander wittern lassen. Aber die klerikalen Gespenstersind eben »jetzt« aktiv, und wenn sie es bisher viermal nicht gewagt haben, so müssen sie jetzt doch mindestens fünfmal etwas unternehmen. Da wären also zuerst die Unbilden jener Witterung (oder vielmehr die Unbildung jenes Witterns); und dann gehts los:

Jetzt fühlen sie: ein Deutschland, das seine Bürger wieder zu Untertanen der ostpreußischen Barone erniedrigt, verliert seine Anziehungskraft. Jetzt jubelt das christlichsoziale Hauptorgan — —   Jetzt spielt Herr Kunschak — — Jetzt erklärt Herr Dr. Aigner — —

Aber ganz mit Recht, da eben jetzt die ostpreußischen Barone gefährlicher sind als die französischen Kapitalisten, geschieht das alles jetzt, während die Sozialdemokraten sich mit ihrer Anschlußdummheit schon immer hervorgewagt haben. Ist es nicht, als ob sie »jetzt« dem Gegner die eigene Einsicht ankreiden wollten? Nein, pharisäischer, ihm die eigene Blamage vorwürfen?

Oh, wir wissen sehr genau, welch erbärmliche Heuchelei darin steckt,

nämlich immer in dem, was der Gegner tut. Nun wird diesem noch ein fehlender »Trennungsstrich« entgegengehalten, und dann heißt es nur dreimal:

die Partei der Herren Vaugoin und Rintelen, die Partei, die — —
die Partei, die — —

»Aber so erbärmlich die Heuchelei sein mag«, die solcher Tonfall überzeugend dartut — das Zentralorgan muß gestehen, und zwar bloß zweimal: daß diese »Wendung«, die der Sozialdemokratie offenbar unverhofft kommt, »doch eine eindringliche Lehre« ist. Immerhin hat nämlich »die Partei, die« recht, daß sie sich klerikal, wie sie ist, jetzt vor dem Anschluß zu bekreuzigen wagt. Die Begründung der Aversion mag den Sozialdemokraten verdächtig sein — daß diese endlich laut wird, ist ersprießlich.  Die eindringliche Lehre, die selbst jene  empfangen, besteht also in der Erkenntnis:

wie jeder Sieg der Reaktion in Deutschland die Anziehungskraft   Deutschlands dermaßen schwächt,  daß die, die ihre innere Feindschaft gegen die deutsche Einheit aus Furcht vor der öffentlichen Meinung ein Jahrzehnt lang zähneknirschend verbergen mußten, sie jetzt offen zu bekennen wagen können!

Das immerhin beträchtliche Fazit wäre, daß eine durch Leitartikel nicht nur blöd, sondern auch feig gemachte Öffentlichkeit aufgerüttelt wurde, nachdem sie des kompletten Ausbruchs eines allzeit drohenden nationalen Irrsinns bedurft hat, um dessen Anziehungskraft geschwächt zu finden. Die Nibelungentreue, mit der sie sich aushelfen, hat sich ja öfter in einem  gegenseitigen Opfer des Intellekts bewährt, vorbildlich im Jahre des Unheils 1914, als der große Blutsbruder in schimmernder Wehr einem Kadaver sekundierte. Dieser mußte nur den entsprechenden Gehorsam leisten und durchhalten, solange jenem beliebte, auf verlorenem Posten auszuharren. Man erinnert sich noch der grausigen Metapher von dem »Irrsinnigen auf dem Einspännergaul«, den er als Schlachtroß antrieb. Nach solcher Tour, in solchem Zustand sollen wir uns nun »anschließen«, der ärmste aller Klepper sucht seinen Herrn,  nachdem der imperialistische Wahnwitz dem weit tolleren Platz gemacht hat — diesem Produkt eines faulen Friedens nach einem verpfuschten Krieg, der mit Emblemen begonnen und mit Reparationen beendet wurde: statt mit einem Strafgericht an den Schuldigen mit einer Pfändung ihrer Opfer. Zwischen solchen Siegern und solchen Sozialdemokraten gewann die  unbesiegliche Denkart, die sich nie für besiegt halten könnte, Nahrung. Während hüben ein gutartiges Volk das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben — wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave! — nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat. Vor einer Entscheidung, die der Ausgang der Wahlen bestenfalls verzögern konnte, muß selbst die österreichische Sozialdemokratie eine Chimäre aufs Eis legen.

Aber was drüben zum Blutrausch wird, bleibt hüben ein Hirngespinst; gläubiger als »die Klerikalsten der Klerikalen«, die sich schließlich mit dem, was Gott gegeben und Gott genommen hat, abfinden, faßt man die »Gegebenheiten«, die Genommenheiten, als Unterpfand des Schicksals auf und weiß noch hier einem fatalistischen »Obzwar« ein optimistisches »Und wenn schon« entgegenzusetzen. Gewiß, die Anziehungskraft Deutschlands ist ausnahmsweise derzeit geschwächt:

Wir aber denken anders.

Nicht sehr tief, aber anders. Denn was bedeutet drüben ein Jahrzehnt Bürgerkrieg gegenüber den Äonen der Entwicklung, in denen wir hüben denken? Die »deutschösterreichische« Sozialdemokratie (welche sich so nennt) hat sich »immer als ein abgesondertes Korps der großen Armee des deutschen Sozialismus gefühlt«. Das ist aber nicht etwa eine Anspielung darauf, daß diese Armee 1914 den Fahnen Wilhelms, des Eroberers, sondern daß sie »Lassalles großen Worten« gefolgt ist, die »auch die österreichischen Arbeiter geweckt« haben. Zwar nicht so sehr, daß sie den Widerspruch zwischen Lassalles großen Worten über die Annoncenpresse und den großen Annoncen Krupniks bemerkt hätten. Doch als Krieg zwischen Preußen und Österreich war, »haben die Wiener Arbeiter Wilhelm Liebknecht zugejubelt«.  Nicht mehr später, als er in der Fackel die Wahrheit über die falschen Freiheitskämpfer schrieb. Aber 

nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

Drüben und hüben ist eine Abwechslung; doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müßte sie ganz ebenso die österreichische und die  französische Arbeiterklasse vereinen. Und welche Wendung durch Gottes Fügung läßt uns Materialisten an ein Geschick glauben, das wir doch bisher nur von der Seite des Ungeschicks kennen gelernt haben? Nun kommt die abgetakelte Redensart, daß der Sozialismus nur »werden« kann »in größerer, durch Volkszahl und Wirtschaftskraft und räumliche Ausdehnung selbständigerer Gemeinschaft«. Das wäre ja sogar bis zu der Erfüllung des Wunsches richtig, daß sich die Proletarier aller Länder vereinigen mögen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel dürfte der nationale Vorspann eher hinderlich sein, indem er die Nationalisierung der anderen Proletarier, welche der Anschluß nicht umfaßt, fördern könnte. Doch da wir ja anders  denken, bedarf es nur noch eines Wellenberges der Entwicklung, damit »unser Boden« ein Teil »des großen, freien Deutschland« sei, »des Deutschland der Arbeiter«, welches das  »Deutschland von morgen oder übermorgen« sein wird. (Sagen wir vorsichtshalber von übermorgen.)

Denn wir kennen die deutsche Arbeiterklasse. Sie war noch jung und schwach, als Bismarck sie vor einem halben Jahrhundert mit dem Sozialistengesetz zerschmettern wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Bismarck ist tot, und die Deutsche Sozialdemokratie lebt!

Wir denken wirklich anders. Denn anderen könnte etwa einfallen: Lassalle ist tot und die Deutsche Reaktion lebt! Es könnte ihnen sogar einfallen, daß eben das, was Bismarck mit dem Sozialistengesetz mißlungen ist, einem preußischen Leutnant mit drei Mann Reichswehr gelang, von denen die Machthaberder deutschen Arbeiterklasse sich widerstandslos jeder weitern amtlichen Strapaze entheben ließen. Aber uns Volksgenossen ficht dergleichen nicht an; und wir denken auch insofern anders, als wir gleich darauf den Hitler wegen des  Arguments verhöhnen, daß er Hindenburg überleben werde. »Eine politische Konzeption von erstaunlicher Genialität«, spotten wir da. Denn wir meinen es doch metaphysisch. Und mag es offenbar sein, daß die Sozialdemokratie älter als Bismarck wurde, wir können sie auch anders  messen:

Sie war noch ungleich schwächer als heute, als Wilhelm Hohenzollern sie vernichten wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Wilhelm ist in Verbannung und die Deutsche Sozialdemokratie lebt und kämpft!

Ob man das ein Leben und gar ein Kämpfen nennen kann, mag dahingestellt bleiben; es möchte kein Hund so länger leben und kämpfen. Aber der ‚Vorwärts‘, der ja nicht immer lügt, meldet beharrlich, daß Wilhelm demnächst aus der Verbannung heimkehren werde. (Um Pate zu stehn, wenn der Sohn Reichspräsident wird.) Sei’s drum, ihr Herren — »was immer der heutige Tag bringe und was immer die nächsten Jahre bringen mögen« (Morgen- oder Übermorgenluft wittern wir also nicht): die Deutsche Sozialdemokratie wird »schließlich doch sieghaft die Fesseln brechen!« Wie wird das geschehen? Sehr einfach, durch Unwiderstehlichkeit:

Man löse ihre Organisationen auf — morgen muß doch die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln.

Das nennt man Fesseln brechen! Da lachen die Rebhühner der ostpreußischen Barone, und diese sagen, es sei zum Schießen. Welch ein Anders-Gedanke! Welche Vorstellung von der Gottgewolltheit einer politischen Macht, die sogar noch mit dem Verzicht auf den Generalstreik imponiert! Als ob es Hindenburg oder Hitler verdrießen würde, daß die Arbeiter in die Fabrik gehen und daß man keine Streikbrecher brauchen wird. Als ob es nicht ihr Triumph wäre, daß nur noch solche Sirene und nicht mehr die parteiamtliche die Arbeiter versammelt. Das ist ja noch größer als der Stolz auf die Abbruchsparole von 1927!  Man erinnert sich vielleicht, wie exakt damals alles ging: Ein Ruck — schon war die Arbeit nieder gelegt; wieder ein Ruck — und schon war sie wieder aufgenommen! Wohlan! Wie klaglos der Apparat der Niederlagen funktioniert — ein Griff ein Gfrett —; und wie wir, beneidet von Bruderparteien, im Rückschritt vorangehen, das rechtfertigt schon ein erhöhtes Selbstbewußtsein, vollends wenn es unmöglich erscheint, noch mehr abzuwirtschaften. Und nichts ist dieser Genügsamkeit
unerschwinglich, die generalstäblerisch Pech in pures Gold verwandelt und aus dem unerschöpflichen Born der Selbstgerechtigkeit Beruhigung spendet; je größer die Verluste, umso klingender das Kleingeld, das ihr herauskommt; es fehlt nur noch, daß man bei erklärter Pleite »heißa« sagt. Wahrlich ein Seelenleben, das den Hang zum Anschluß beglaubigen könnte! Die Gewißheit, daß die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln wird, nachdem man sie entrechtet hat, als Raumgewinn zu imaginieren: solche Verzückung taktischer Nüchternheit ist selten. Man denke, hier wird nicht etwa das Wellental als Gewähr des Wellenberges, sondern dieser selbst zum Greifen vorgestellt. Denn nun folgt Konkretes. Verheißung — heißa — des gelobten Landes, das, wenn erst die Arbeiter zu Paaren und in die Fabrik getrieben sind, endlich betreten sein wird. Nun reißt es den Seher der Entwicklung zu einer Vision hin, die wohl das Stärksteist, was entsagende Größe einer dennoch ungebeugten Parteimacht bisher über sich gebracht hat.
Wortwörtlich:

Man unterdrücke ihre Presse — im Fabriksaal raunt doch ein Arbeiter dem andern die Botschaft des Sozialismus zu.

Ja! Und sogar die Verachtung der Presse, die sie dann nicht mehr haben! Und ihrer pensionierten Anführer, denen es gelungen ist, den Sozialismus auf mündliche Überlieferung anzuweisen, nein auf Raunen, und die, wenn selbst dieses verboten wäre, allerletzten Endes stolz darauf sein werden, daß sie im Kampf gegen die Reaktion die Zollfreiheit der
Gedanken erobert haben! Denn, wortwörtlich:

Das Erbe eines halben Jahrhunderts sozialistischer Erziehung ist nicht auszurotten. Das gebildetste Volk Europas wird nicht ein Volk von Untertanen sein.

Daß es ein solches ist, daran hat leider das Maß der Bildung (falls es eben so sicher nachweisbar wäre) nicht das geringste ändern können. Aber weil selbst wir Andersdenkenden den Zustand hinnehmen müssen, dem wir mit deutschen Redensarten nicht abzuhelfen vermögen, so werden wir beherzt, indem wir zwar weichen, aber nicht wanken:

Ja, wir wollen dieses unser Österreich abriegeln gegen die braune Pest, die in Deutschland so verhängnisvoll die Köpfe verseucht.

(Des gebildetsten Volkes Europas!)

Ja, wir wollen alles daran setzen — —

(Nur zweimal.)

Aber deshalb bleiben wir trotzdem, was wir immer gewesen
sind — —:

nicht das, was man glaubt, sondern:

treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben — —                                                                                                                                                                    für das sozialistische Großdeutschland der Zukunft! Darum schlagen unsere Herzen so stürmisch mit an diesem Kampftag — —

Mit einem Wort, die Großdeutschen müßten vor Neid vergehen, wenn sie nicht eben darum schon vergangen wären, weil sie ihr Lebtag nicht über so viel deutsche Gesinnung mit so schlechtem Deutsch zu verfügen hatten.

Was nun soll man zu Sozialisten sagen, die diese Sprache sprechen können? Zu den Auffrischern einer Ideologie und Phraseologie, deren Verlust wir als die kulturelle Entschädigung in all dem Unheil zu erlangen hofften, das eben dieser Geistestypus über uns verhängt hat! Zu den Vertretern einer Internationale, die jenen Anschluß ans Vaterland propagieren, dessen Verbot wir als die einzige Wohltat einem schonungslosen Siegerwillen danken! Drüben, wo eine Menschenart haust, die die Freiheit nur als das Recht erfaßt hat, einander aufzufressen, und deren Wesen eher die Welt anstecken wird, bevor sich ihr Wahn, daß diese an ihm genesen werde, erfüllt — drüben ist die Hölle ausgespien; hüben, wo das Dasein auf das Problem herabgesetzt ist, wie es zu fristen sei, betrügt man das Volk mit der Erwartung des nationalen Paradieses.Aber eine Hemmung wird doch bemerkbar: aus der schwelgerischen Vorstellung von einer Schicksalsgemeinschaft, die für alle Zukunft zum Gedeih auch den Verderb garantiert, wird mit taktischer Klugheit, ja sogar mit Takt, die des Weltkriegs ausgeschaltet. Denn  da hat Hüben denn doch etwas vor Drüben voraus: vor der Region, wo man noch heute mit Pathos dem Vorwurf begegnet, nicht treu pariert zu haben, als Wilhelm, der in Verbannung  ist, das Schwert zog; wo dem leisesten Verdacht defaitistischen Denkens von anno dazumal der Veteranenstolz antwortet; und wo noch heute die Gesinnung vorrätig ist, der 1914 für alle Zeiten der Stempel aufgedrückt ward: jener Max Stempel, mit dem Bekenntnis einer Parteilyrik, die den Begriff »Vorwärts« als Parole für Gott und Vaterland ausgab. Und weil sich  damals Bebel auf Säbel reimte, so ist es kein Wunder, daß heute Hindenburg den Severing nicht brauchen kann. Aber die Tragik der Zeitläufte ist es dafür, daß solche Gestalten wie dieser noch zu Märtyrern werden können, und daß man vor der Gefahr, die allem Bessern droht, den Angriff gegen sie so »relativ« halten muß, wie sie sich selbst zeitlebens hielten, die um des Verrats an der eigenen Sache vom Feind gefällt wurden. Doch in seinem Angesicht noch darf es nicht ungesagt bleiben, daß gemeinsame Feindschaft nicht gemeinsame Sache bedeutet; daß man, vor dem Übel neben dem Üblen stehend, nicht die Gesinnung teilt, die er nicht hat. Nie könnte Kampfnot Zorn und Hohn entwaffnen gegen die Erbärmlichkeit, die sie bewirkt  hat. Es bleibe Raum für den Abstand vom Genossen! Braucht er ihn nicht, um auf die Knie zu fallen? Verrät er uns nicht im Augenblick der Entscheidung? Jener Severing, in  privatisiertem Zustand, hat — wenn ich dem Hakenkreuzlerblatt glauben darf, das mit unserer Sozialdemokratie den Beiträger teilte — er hat als Wahlkandidat vor deutschen Rundfunkhörern Klage geführt, daß die Sozialdemokratie als Partei, als Gesamtheit, nicht die Rechtswohltat jedes einzelnen Staatsbürgers genieße — sonst hätte sie längst den Schutz der  Justiz gegen den schimpflichsten aller Vorwürfe, der noch heute gegen sie von politischen Gegnern erhoben werde, gesucht und gefunden: 1914 nicht mit Begeisterung ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllt zu haben! Heißt das nicht Leben und Kämpfen, seit Wilhelm in Verbannung ist? Aber dieser Severing, an den wir uns anschließen möchten, hatte recht: noch nie  hat Verleumdung die Wahrheit schmählicher entstellt. Die Bruderpartei, mit der wir Schicksalsgemeinschaft pflegen, sie kann ihre vaterländische Ehre durch den Beweis der Gefühle rehabilitieren, die sie 1914 beseelt haben. Er ist gedruckt und lautet:

Und besonders unser Kaiser —
Ede, stier’ mich nicht so an,
Deshalb sag’ ich’s doch nicht leiser —
Ist ein echter deutscher Mann!

Hörte täglich August Bebel
Jetzt den Jubel in Berlin:
Mensch, er zöge gleich den Säbel,
Und so forsch, wie ich, für ihn.
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Quatscht mir nicht vom Zukunftsstaate!
Republike her und hin!
Schöner ist’s, daß ich Soldate,
Und ein kaiserlicher, bin.

Und genügt nicht drüben noch heute der Ruf nach Waffen, der einem einzigen Zivilisten einfiel: ein Volk zu begeistern und die Führer einer Arbeiterpartei in das Lager der  ostpreußischen Barone zu treiben? Sie könnten wieder Landstürmer sein — und man wagt es, ihren Veteranenstolz zu kränken? Der Appell an deutsche Herzen, der Hinweis auf das Kriegsverdienst, der Anspruch einer Bürgerehre, die es sich nicht schmälern läßt, war das, was die deutsche Sozialdemokratie in die Wagschale zu werfen hatte, war die ultima ratio der  stärksten Abwirtschaftspartei am Kampftag — und unsere Herzen schlugen stürmisch mit.

Aber es ist nicht wahr! Ihr Schlag gehorcht nicht der Parole des papiernen Hirns, und der Ramsch nationalliberaler Geistigkeit wird dort nicht zu brauchen sein, wo Bestialität und Technik über Leben und Tod entscheiden. Hüben würde man das eigene Verdienst gegen den  Weltkrieg entehren, wollte man stürmisch mitmachen, wie drüben heute der Schlachtruhm reklamiert wird. Hüben hat doch immer hin vor Drüben ein Stück der antibürgerlichen Ehre voraus, nach dem Kopfsturz in die Raserei der Welt die sozialistische Besinnung gewonnen zu haben und den Mut zum Abscheu, wie er in den Angriffen gegen die Helfer der  Schlachtbank, gegen Militärrichter und Generalstäbler, sich bekundet hat: in der Tat eines Verstorbenen, dessen Gedenken dem schlechten Gewissen der Nachlebenden in den Ohren gellt, des Mannes, dessen Ausgang — und hier ist Schicksalsgemeinschaft — ähnlich, jedoch tragischer war als der jenes Wilhelm Liebknecht. (Denn hüben wurde Wahrheitsliebe von  dem Augenblick an, wo sie in Konflikt zu kommen drohte mit der Liebe zur Partei, davor bewahrt: ent-mündigt im eigentlichen Sinn des Wortes, entmannt und von der Übermacht in  jenen heillosen Wirbel getrieben einer Haßliebe gegen den, der mit um die Wahrheit wußte, und den er als Richtmaß der Wahrhaftigkeit eingesetzt hatte. Hüben wurde Festigkeit zerbrochen, Gradheit dazu gebracht, Krummes zu dulden, das sich nun für Existenz und Fortbestehn auf Pietät beruft. Dann und wann von der Stimme des Toten geweckt, an Gedenktagen, gibt das Schuldgefühl so stark sie wieder, als wäre sein Wirken bis zum Ende selbstherrlich gewesen. Doch dann und wann gedenkt auch Frechheit eines Erpressers, der nicht mehr da ist, als wäre es immer erlaubt gewesen, die Wahrheit über ihn auszusprechen, und nicht eben das Verbot die Ursache jenes seelischen Zusammenbruchs. Wenn die Wahrheit über eine Partei, der sich einer geopfert hat und der er sich opfern ließ, auch keinem letzten Willen zu entnehmen ist, wie er so tragischem Erlebnis gemäß wäre, so weiß ich doch um den letzten Willen, dessen er fähig war, als er im Begriffe stand, sich gegen die Partei und für die Wahrheit zu entscheiden: bevor ihn der Zwang ergriff und der Mut verließ, den er gegen Generalstäbler zu bewähren pflegte.)

Die Haltung im Krieg gegen den Krieg — seither, und insbesondere seit jenem Hingang, hundertmal wettgemacht durch Feigheit vor dem innern Feind, durch eine Haltung im Frieden, deren jeder Atemzug Kriegslüge ist —; das damals weithin sichtbare Verdienst war das Zeichen, in dem ich, in den Tagen trügerischer Hoffnung, hunderte junger Herzen einer Partei zugeführt habe, der ich nicht angehörte, die ich im Verhängnis politischer Übel für das kleinere nahm und die heute nichts ist als die zur Not und durch Not erhaltene Organisation einer Alterserscheinung. Solches hat damals mein Wort vermocht. Sollte es heute nicht mehr vermögen, jene der Sache, zu der sie als der Sache von damals stehen wollen, abzuwenden; sollte der Glaube an mich schwächer sein als der Glaube, den er geweckt hat, so würde es mir nicht über mich zu denken geben. Denn meiner Ohnmacht, auch vor dem wenigen, das ich vermocht habe, bin ich mir bewußt; ihr stolzes Gefühl ist in mein Wirken einbezogen, dem keine Wirkung zugehört. Diejenige, auf die ich stets am schnellsten verzichtet habe, ist die Verehrung solcher, deren Zwiespalt in ihr sich offenbart. Dagegen darf ich sagen, daß die Aussicht, von der Sozialdemokratie nicht mehr verehrt zu werden, etwas ist, was meinen Lebensabend verschönert, während der ihre vergällt wird durch den Zwang, noch hin und wieder von meinem Dasein Notiz zu nehmen, und durch den Krampf des Bestrebens, sich von der Bürgerwelt, die mich totschweigt, in meinen Augen vorteilhaft zu unterscheiden. Da ich den Unterschied gleichwohl nicht bemerke und zufrieden bin, in der sozialdemokratischen Presse ungenannt fortzuleben, so wäre vollends alles in Ordnung, wenn ich ihr auch noch diese Sorge abnehmen könnte. Nichts freilich, was immer die Sozialdemokratie mit mir vor hat, könnte sie, solange mir die Greuel des gesellschaftlichen Daseins noch Anreiz gewähren, davor schützen, von mir beachtet zu werden! Nichts mich verhindern, gegen sie wie gegen eine lästige Regierung, die kein Mißlingen vom Ruder bringt, zu Haß und Verachtung aufzureizen— ob sie nun als Partei, als Gesamtheit, mit Sack und Pack, den Schutz der bürgerlichen Justiz gegen Kränkung anrufen könnte oder stumm leiden müßte, wie sie stumm gelitten hat vor jenem, der die Macht hatte, von ihren Übeln zu schweigen. Was aber die betrifft, über  die sie selbst Macht hat, diejenigen, denen ich zum Anschluß an sie verholfen habe, so gehöre ich keineswegs zu der Sorte, die, stolz auf eine Dummheit, sie zum zweiten Male machen würde, und halte für eine solche auch die Bejahung des Hoffens, gegen die Übel einer Partei, die aus nichts anderm mehr besteht als Übeln, innerhalb ihrer wirken zu können. Trage ich  Schuld noch an solcher Betörung Gläubiger, so bin ich ihrer ledig, wenn ich ihnen gesagt habe, daß der Glaube nur durch die Abkehr von einer Kirche zu retten ist, die die Priester  entweiht haben. Wie sich die Treue zu diesen fortan mit der zu mir verbinden könnte, wäre ein Problem, das mir so lange Unbehagen schafft, als nicht da oder dort die Lösung erfolgt.  Nie würde es mir in den Sinn kommen, den reinlichen Austritt aus meiner schwachen Organisation, die nichts zu bieten hat als etwas geistige Nahrung und keine soziale oder gar  nationale Hoffnung, mit dem Wunsch zu belohnen, die, die ihn vollziehen, möge der Teufel holen — einer von denen, deren die Welt nun voll ist und an deren Erschaffung der Sozialdemokratie das Hauptverdienst gebührt. Drüben und hüben!


Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR


Geselligkeit. Von Karl Kraus

05. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 279 – 280  13. Mai 1909   XI. Jahr aus Tagebuch

Geselligkeit. Was mich zum Fluch der Gesellschaft macht, an deren Rain ich lebe, ist die Plötzlichkeit, mit der sich Renommeen, Charaktere, Gehirne vor mir enthüllen, ohne dass ich sie entlarven müsse. Jahrelang trägt einer an seiner Bedeutung, bis ich ihn in einem unvorhergesehenen Augenblick entlaste. Ich lasse mich täuschen, solange ich will. Menschen zu »durchschauen« ist nicht meine Sache, und ich stelle mich gar nicht darauf ein. Aber eines Tages greift sich ein Schwachkopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und hasst mich. Die Schwäche flieht vor mir und sagt, ich sei unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit gewähren, weil sie mir nicht schaden kann; einmal, wenn’s um ein ja oder nein geht, wird sie von selbst kaputt.  Ich brauche nur irgendwann Recht zu haben, etwas zu tun, was nach Charakter riecht, oder mich sonst wie verdächtig zu machen, und automatisch offenbart sich die Gesinnung. Wenn es wahr ist, dass schlechte Beispiele gute Sitten verderben, so gilt das in noch viel höherem Maße von den guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Beispiel zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form, und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Gefahr, verdorben zu werden. Die Ledernheit lässt sich mein Temperament gefallen, solange es in akademischen Grenzen bleibt; bewähre ich es aber an einer Tat, so wird sie scheu und geht mir durch. Ich halte es viel länger mit der Langweile aus, als sie mit mir. Man sagt, ich sei unduldsam. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mit den ödesten Leuten verkehren, ohne dass ich es spüre. Ich bin so sehr in jedem Augenblick mit mir selbst beschäftigt, dass mir kein Gespräch etwas anhaben kann. Die Geselligkeit ist für die meisten ein Vollbad, in dem sie mit dem Kopf untertauchen; mir benetzt sie kaum den Fuß. Keine Anekdote, keine Reiseerinnerung, keine Gabe aus dem Schatzkästlein des Wissens, kurz, was die Leute so als den Inbegriff der Unterhaltung verstehen, vermöchte mich in meiner inneren Tätigkeit aufzuhalten. Schöpferische Kraft hat der Impotenz noch allezeit mehr Unbehagen bereitet, als diese ihr. Daraus erklärt sich, dass meine Gesellschaft so vielen Leuten unerträglich wird, und dass sie nur aus einer übel angebrachten Höflichkeit an meiner Seite ausharren. Es wäre mir ein leichtes, solchen, die immerfort angeregt werden müssen, um sich zu unterhalten, entgegenzukommen. So ungebildet ich bin und so wahr ich von Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus weniger verstehe als ein neugeborenes Kind, so wäre ich doch wohl imstande, durch geschickt eingeworfene Fragen ein Interesse zu heucheln und eine oberflächliche Kennerschaft zu bewähren, die den Polyhistor mehr freut als ein Fachwissen, das ihn beschämen könnte. Aber ich, der in seinem ganzen Leben Bedürfnissen, die er nicht als geistfördernd erkennt, noch keinen Schritt entgegen getan hat, erweise mich in solchen Situationen als vollendeten Flegel. Und nicht etwa als Flegel, der gähnt — das wäre menschlich —, nein, als Flegel, der denkt! Dabei verschmähe ich es, von meinen eigenen Gaben dem Darbenden mitzuteilen, der vor seinen Lesefrüchten Tantalusqualen leidet und in den ägyptischen Kornkammern des Wissens verhungern muss. Hartherzig bis zur Versteinerung, mache ich sogar schlechtere Witze als mir einfallen, und verrate nichts von dem, was ich mir so zwischen zwei Kaffeeschlucken in mein Notizbuch schreibe. Einmal, in einem unbewachten Moment, wenn mir gerade nichts einfallen wird und Gefahr besteht, dass die Geselligkeit in mein Gehirn dringt, werde ich mich erschießen.