Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Tagebuch IV. Von Karl Kraus

02. November 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"

Die Fackel

Nr. 259 – 60 WIEN, 13. JULI 1908 X. JAHR S .35 -56

Tagebuch.

Der moderne Geschmack braucht die ausgesuchtesten Komplikationen, um zu entdecken, dass ein Wasserglas in der Rundform am bequemsten sei. Er erreicht das Sinnvolle auf dem  Weg der Unbequemlichkeiten. Er arbeitet im Schweiße seines Angesichts, um zuzugeben, dass die Erde kein Würfel, sondern eine Kugel sei. Dies Indianerstaunen der Zivilisation über die Errungenschaften der Natur hat etwas Rührendes.

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Auch die Dummheit hat Ehre im Leib, und sie wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott, als die Gemeinheit gegen den Tadel. Denn diese weiß, dass die Kritik recht hat, jene aber glaubt’s nicht.

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In einem geordneten geistigen Haushalt sollte ein paar Mal im Jahr ein gründliches Reinemachen vor der Schwelle des Bewusstseins stattfinden.

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Schönheitsfehler sind die Hindernisse, an denen sich die Bravour des Eros bewährt. Bloß Weiber und Ästheten machen eine kritische Miene.

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Wer zu den Dingen in seinem Zimmer eine persönliche Beziehung gewonnen hat, rückt sie nicht gern von der Stelle. Ehe ich ein Buch aus meiner Bibliothek leihe, kaufe ich lieber ein  neues. Sogar mir selbst, dem ich auch nicht gern ein Buch aus meiner Bibliothek leihe. Ungelesen an Ort und Stelle, gibt es mir mehr als ein gelesenes, das nicht da ist.

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Es wäre eine interessante Statistik: Wie viel Leute durch Verbote dazu gebracht werden, sie zu übertreten. Wie viel Taten die Folgen der Strafen sind. Wie viel Menschen etwa von der  Altersgrenze, die die Sexualjustiz festgesetzt hat, gereizt werden, sie zu überschreiten. Interessant wäre es, herauszubringen, ob mehr Kinderschändungen trotz oder wegen der  Altersgrenze begangen werden.

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Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.

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Es verletzt in nichts den Respekt vor Schopenhauer, wenn man die Wahrheiten seiner kleinen Schriften manchmal als Geräusch empfindet. Wie plastisch wirkt in seiner Klage das  Türenzuschlagen! Man hört förmlich, wie offene Türen zugeschlagen werden.

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Ein Soldatenzeichner, dessen Figuren Habtacht vor dem Betrachter stehen. Und wenn er eine Armee malte, es wären lauter Einzelne. Ein anderer malt einen Soldaten und man sieht die Armee.

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Auf den Bildern derer, die ohne geistigen Hintergrund gestalten und den Nichtkenner durch eine gewisse Ähnlichmacherei verblüffen, sollte der Vermerk stehen: Nach der Natur  kopiert. Hätten sie ein Wachsfigurenkabinett zu zeichnen, so wüsste man zwischen den Figuren und den Besuchern nicht zu unterscheiden.

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Mit einem Blick ein Weltbild erfassen, ist Kunst. Wie viel doch in ein Auge hineingeht!

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Weh dem armen Mädchen, das auf dem Pfad des Lasters strauchelt!

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Er war so eifersüchtiger Natur, dass er die Qualen des Mannes, den er betrog, empfand und der Frau an die Gurgel fuhr.

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Sich im Beisammensein mit einer Frau vorzustellen, dass man allein ist — solche Anstrengung der Phantasie ist höchst ungesund.

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Passende Wüste für Fata morgana gesucht.

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Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.

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Welch sonderbarer Aufzug! Sie geht hinter ihm, wie eine Leiche hinter einem Leidtragenden.

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In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.

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Wie unperspektivisch die Medizin die Symptome einer Krankheit beschreibt! Sie passen immer auch zu den eingebildeten Leiden.

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Wenn ein Künstler Konzessionen macht, so erreicht er oft nicht mehr als der Reisende, der sich im Ausland durch gebrochenes Deutsch verständlich zu machen hofft.

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Wie unwesentlich und ungegenwärtig dem Mann das Geschlechtliche ist, zeigt sich darin, dass selbst die Eifersüchtigen ihre Frauen auf Maskenbällen sich frei bewegen lassen. Sie haben  vergessen, wie viel sie sich ehedem mit den Frauen anderer dort erlauben konnten, und glauben, dass seit ihrer Verheiratung die allgemeine Lizenz aufgehoben sei. Ihrer Eifersucht genügen sie durch ihre Anwesenheit. Dass diese ein Sporn ist und kein Hemmschuh, sehen sie nicht. Keine eifersüchtige Frau würde ihren Mann auf die Redoute gehen lassen.

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Das kurze Gedächtnis der Männer erklärt sich aus ihrer weiten Entfernung vom Geschlecht, welches in der Persönlichkeit verschwindet. Das kurze Gedächtnis der Frauen erklärt sich aus ihrer Nähe zum Geschlecht, in welchem die Persönlichkeit verschwindet.

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Wenn ein Vater, der aus Liebe geheiratet hat, seinem Sohn eine Eheschließung verbietet und die Mutter sie befürwortet, so geht es durchaus mit natürlichen Dingen zu. Denn die Mutter hat sich genug Natur bewahrt, um eine Kupplerin aus Gefühl zu sein, und dem Vater ist nichts übrig geblieben als die Fähigkeit, die Rentabilität menschlicher Verhältnisse abzuschätzen.

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Jemand gab zu, dass Hetären Genies entzünden: aber Mütter bestünden als unbedingter Wert. Das ist wahr, aber man hat immer das Recht, den Acker oder die Landschaft vorzuziehen.

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Es kommt schließlich nur darauf an, dass man überhaupt über die Probleme des erotischen Lebens nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen eigenen Resultaten finden mag, beweisen nur, dass man in jedem Falle recht hat. Und die Widersprüche zwischen den eigenen und den Resultaten, zu  denen andere Denker gelangt sind, entfernen uns nicht so weit von diesen, wie uns der Abstand von solchen entfernt, die überhaupt nicht über die Probleme des erotischen Lebens nachgedacht haben.

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Nicht immer muss, wer an der Seele krank ist, den Unterleibsspezialisten aufsuchen, und nicht immer braucht man mit einer Darmfistel zum Psychologen zu gehen. Im Allgemeinen sind aber die Kompetenzen zwischen den Rationalisten des Seelenlebens und den Mystagogen des Unterleibes schwer abzustecken.

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Daß eine Sache künstlerisch ist, muss ihr nicht unbedingt beim Publikum schaden. Man überschätzt das Publikum, wenn man glaubt, es nehme die Vorzüglichkeit der Form übel. Es beachtet die Form überhaupt nicht und nimmt getrost auch Wertvolles in Kauf, wenn nur der Stoff zufällig einem  gemeinen Interesse entspricht.

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Man glaubt mit einem Mann zu sprechen und plötzlich fühlt man, dass sein Urteil aus dem Uterus kommt. Das beobachtet man häufig, und man sollte so gerecht sein, die Menschen nicht nach den physiologischen Merkmalen, die zufällig da sind, zu unterscheiden, sondern nach denen, die fehlen.

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Daß Bäcker und Lehrer streiken, hat einen Sinn. Aber die Aufnahme der leiblichen und geistigen Nahrung verweigern, ist grotesk. Wenn es nicht etwa deshalb geschieht, weil man sie für verfälscht hält. Die lächerlichste Sache von der Welt ist ein Bildungshungerstreik. Ich stimme schon für die Sperrung der Universitäten, aber sie darf nicht durch einen Streik herbeigeführt werden. Sie soll freiwillig gewährt, nicht ertrotzt sein.

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Den Frauen gegenüber ist man durch die Gesellschaftsordnung immer nur darauf angewiesen, entweder Bettler oder Räuber zu sein.

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Die gefährlichsten Literaten sind die, denen zufällig etwas Fremdes angeflogen ist und die nichts dafür können, dass sie nicht immer originell sind. Da ist mir ein ehrlicher Plagiator viel lieber.

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Wenn ein Wagen rollt, legt der Hund trotz längst erkannter Aussichtslosigkeit immer wieder seine prinzipielle Verwahrung ein. Das ist reiner Idealismus, während die Unentwegtheit des liberalen Politikers den Staatswagen nie ohne eigensüchtigen Zweck umbellt.

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Die Einteilung der Menschheit in Sadisten und Masochisten ist beinahe so albern wie die Einteilung in Esser und Verdauer. Von Abnormitäten muss man in jedem Fall absehen, es gibt ja auch Leute, die besser verdauen als essen und umgekehrt. Und so wird man, was den Masochismus und den Sadismus betrifft, getrost behaupten können, dass ein gesunder Mensch über beide Perversitäten verfügt. Scheußlich an der Sache sind bloß die Worte, besonders entwürdigend jenes, das sich von dem deutschen Romanschriftsteller herleitet, und es ist schwer, sich von den Bezeichnungen nicht den Geschmack an den Dingen verderben zu lassen. Trotzdem gelingt es einem Menschen mit künstlerischer Phantasie, vor einer echten Frau zum Masochisten zu werden und an einer unechten zum Sadisten. Man brutalisiert dieser die gebildete Unnatur heraus, bis das Weib zum Vorschein kommt. Die es schon ist, gegen die bleibt nichts mehr zu tun übrig, als sie anzubeten.

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Gewiss, der Künstler ist ein Anderer. Aber gerade deshalb soll er es in seinem Äußeren mit den anderen halten. Er kann nur einsam bleiben, wenn er in der Menge verschwindet. Lenkt er die Betrachtung durch eine Besonderheit auf sich, so macht er sich gemein und führt die Verfolger auf seine Spur. Es ist ja auch töricht, mit der Extraausgabe einer Zeitung in ein Lokal zu treten, denn man lockt sogleich hundert Dummköpfe auf sein Terrain. Je mehr den Künstler alles dazu berechtigt, ein anderer zu sein, um so notwendiger ist es, dass er sich der Tracht der Durchschnittsmenschen als einer Mimikry bediene. Auffälliges Aussehen ist die Zielscheibe der Betrunkenheit. Diese, sonst verlacht, dünkt sich neben langhaariger Exzentrizität noch planvoll und erhaben. Über den Mann in der Narrenjacke lacht der Betrunkene, über den der Pöbel lacht. Sich absichtlich verwahrlosen, um sich vom Durchschnitt abzuheben, schmutzige Wäsche als ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft tragen, über die Verkehrtheit der Gesellschaftsordnung eine ungekämmte Mähne schütteln — ein Vagantenideal, das längst von Herrschaften abgetragen ist und heute jedem Spießbürger erreichbar! »Mutter Landstraße« will von solchen Söhnen nichts mehr wissen; denn auch sie ist heute schon gepflegter. Die Bohême macht den Philistern nicht mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern, und die wahren Zigeuner leben nach der Uhr, die nicht einmal gestohlen sein muss. Armut ist noch immer keine Schande, aber Schmutz ist keine Ehre mehr.

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Fechten und Keulenschwingen sind trügerische Entfettungskuren. Sie schaffen Hunger und Durst. Was den meisten Menschen abgeht und was ihnen unfehlbar helfen könnte, ist die Möglichkeit, geistige Bewegung zu machen.

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Ein sonderbarer Ehrgeiz, einem Mädchen der erste zu sein. Und gerade das nennt sich Genießer und behandelt eine Frau wie einen beliebigen Labetrunk. Daß auch Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen. Aber jedenfalls würde ich mir die Flasche von einem Küfer öffnen lassen und dann erst trinken.

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In männermordenden Kämpfen kann man manchmal einer Frau einen Blumenstrauß zuwerfen, ohne dass ein Zuschauer es merkt. Aber bei der zweiten Lektüre offenbart sich dem Feingefühl ein Pamphlet als Liebesbrief.

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Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um die Vorspeise der Neugier bereichert und durch die Nachspeise der Reue verdorben.

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Es ist ein schmerzliches Erlebnis, zu sehen, wie eine lebensfähige Frau ihren faulen Frieden mit der Welt macht: Sie verzichtet auf ihre Persönlichkeit und bekommt dafür die Galanterien zugestanden.

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Kinder spielen Soldaten. Das ist sinnvoll. Warum aber spielen Soldaten Kinder?

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Nichts kränkt den Pöbel mehr, als herablassend zu sein, ohne heraufzulassen.

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Beim Vergnügen, das einer am Betrug empfindet, ist die Schönheit der Frau eine angenehme, wenn auch nicht notwendige Begleiterscheinung.

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Der ist ein unkluger Berater einer Frau, der sie vor Gefahren warnt.

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Aus purer Romantik nimmt sich manche Schöne einen Handeljuden. Denn sie hofft immer, dann werde der erotische Raubritter auch nicht mehr weit sein.

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Praterfahrt: Das Pferd hat die Welt vor sich. Dem Kutscher ist die Welt so groß wie ein Pferdehinterer. Dem Kavalier ist die Welt so groß wie der Rücken des Kutschers. Und dem gaffenden Volk, dem ist die Welt nur so groß wie das Gesicht des Kavaliers.

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Drei Stufen der Zivilisation gibt es: Wenn in einem Anstandsorte überhaupt keine Tafel angebracht ist. Wenn eine Tafel angebracht ist, auf der die Weisung steht, dass die Kleider vor dem Verlassen der Anstalt in Ordnung zu bringen sind. Wenn die Weisung ausdrücklich bemerkt, dass es aus Schicklichkeitsrücksichten zu geschehen habe. Auf dieser höchsten Stufe der Zivilisation stehen wir.

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Die Bildung schlottert an seinem Leib wie ein Kleid an einem Haubenstock. Bestenfalls sind solche Gelehrte Probiermamsellen des Fortschritts.

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Wem »glauben« nicht mehr bedeutet als »nichts wissen«, der mag über die Dogmen demonstrativ den Kopf schütteln. Aber es ist jämmerlich, sich zu einem Standpunkt erst »durchringen« zu müssen, bei dem ein Hilfslehrer der Physik längst angelangt ist.

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Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten gehören Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid.

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Unverstandene Frauen gibt es nicht. Sie sind bloß die Folge einer Wortverwechslung, die einem Feministen passierte, weil sie nämlich nicht verstanden, sondern begriffen sein wollen. Es gibt also doch unverstandene Frauen.

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So lange die Frauenrechtsbewegung besteht, sollten es sich die Männer wenigstens zur Pflicht machen, die Galanterie einzustellen. Man kann es heute gar nicht riskieren, einer Frau auf der Straßenbahn Platz zu machen, weil man nie wissen kann, ob man sie dadurch nicht in ihren Ansprüchen auf den gleichen Anteil an den Unannehmlichkeiten des Daseins beleidigt. Dagegen sollte man sich gewöhnen, gegen die Feministen in jeder Weise ritterlich und zuvorkommend zu sein.

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Ob Goethe oder Schiller bei den Deutschen populärer sei, ist ein alter Streit. Und doch hat Schiller mit dem Wort »Franz heißt die Kanaille« nicht entfernt jene tiefgreifende Wirkung geübt, die dem Satz, den Goethes Götz dem Hauptmann zurufen lässt, dank seiner allgemeinen Fassung beschieden war. Da seit Jahrzehnten kaum ein Gerichtstag vergeht, ohne dass der Bericht von dem Angeklagten zu sagen wüsste, er habe an den Kläger »die bekannte Aufforderung aus Goethes Götz« gerichtet, so ist es klar, dass Goethes Nachruhm bei den Deutschen fester gegründet ist. Wie das Volk seine Geister ehrt, geht aber nicht nur daraus hervor, dass es in Goethes Werken sofort die Stelle entdeckt hat, die der  deutschen Zunge am schmackhaftesten vorkommt, sondern dass heute keiner mehr so ungebildet ist, die Redensart zu gebrauchen, ohne sich dafür auf Goethe zu berufen.

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Der Momo ist ein unentbehrlicher pädagogischer Behelf im deutschen Familienleben. Erwachsene schreckt man damit, dass man ihnen droht, der Gerichtspsychiater werde sie holen.

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Wenn man bedenkt, dass dieselbe technische Errungenschaft der Verbreitung der »Kritik der reinen Vernunft« und den Berichten über eine Reise des Wiener Männergesangsvereines gedient hat, dann weicht aller Unfriede aus der Brust und man preist die Allmacht des Schöpfers.

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Wie viel Stoff hätte ich, wenn keine Ereignisse gäbe!

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Was doch die soziale Sitte aus den Frauen machen kann! Nur ein Spinnweb liegt über dem Krater, aber es gibt nicht nach.

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Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sage sie sie mit verhülltem Haupt. Aber selbst dann ist das Schweigen eines schönen Antlitzes noch immer anregender.

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Ein selbstbewusster Künstler hätte dem Fiesko zugerufen: Ich habe gemalt, was du nur tatest!

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Sire, geben Sie wenigstens bis auf Widerruf freiwillig eröffnete Gedankengänge!

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Polonia est omnis divisa in partes tres.

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Ein Zitatenprotz leitete einen Nekrolog mit den Worten ein: De mortuis nil admirari.

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Sie hatte immerhin noch so viel Schamgefühl, dass sie errötete, wenn man sie bei keiner Sünde ertappte.

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In Berlin wächst kein Gras und in Wien verdorrt es.

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Wie hier alles doch den Flug lähmt! Aus Einfliegern werden Einsiedler.

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Es ist eine schreckliche Situation, dazuliegen, wenn die Pferdehufe der Dummheit über einen hinweggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe!

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An einem Wintersonntag nachmittags in einem Wiener Kaffeehause, eingepfercht zwischen kartenspielenden Vätern, kreischenden Weibern und witzblattlesenden Kindern, erfasst einen ein solches Gefühl der Einsamkeit, dass man sich nach dem wechselvollen Leben sehnt, das um diese Stunde an der Adventbai herrschen mag.

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O über die gemeine Geschäftsmäßigkeit der Berliner Prostitution! Der Wiener ist gewohnt, für drei Gulden seelische Hingabe und das Gefühl des Alleinbesitzes zu verlangen.

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Ich kannte einen Mann, der fuhr beim Sprechen mit dem Finger in die Nase und nicht einmal in seine eigene.

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So wie es immer noch neue Gesichter gibt, wiewohl sich der Inhalt der Menschen wenig unterscheidet, so muss es bei analogem Gedankenmaterial immer noch neue Sätze geben. Es kommt eben auch da auf den Schöpfer an, der die Fähigkeit hat, die leiseste Nuance auszudrücken.

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Die einzige Konzession, zu der ich mich etwa noch herbeiließe, wäre die, mich so weit nach den Wünschen des Publikums zu richten, dass ich das Gegenteil tue. Aber ich tue es nicht, weil ich keine Konzessionen mache und eine Sache selbst dann schreibe, wenn sie das Publikum erwartet.

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In der literarischen Arbeit finde ich einen Genuss und der literarische Genuss wird mir zur Arbeit. Um das Werk eines andern Geistes zu genießen, muss ich mich erst kritisch dazu anstellen, also die Lektüre in eine Arbeit verwandeln. Trotzdem werde ich noch immer lieber und leichter ein Buch schreiben als lesen.

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Der wahrhaft und in jedem Augenblick produktive Geist wird zur Lektüre nicht leicht anstellig sein. Er verhält sich zum Leser wie die Lokomotive zum Vergnügungsreisenden. Auch fragt man den Baum nicht, wie ihm die Landschaft gefällt.

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Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?

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Einen Roman zu schreiben, stelle ich mir als ein reines Vergnügen vor. Nicht ohne Schwierigkeit ist es bereits, einen Roman zu erleben. Aber einen Roman zu lesen, davor hüte ich mich, so gut es irgend geht.

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Von einem Bekannten hörte ich, dass er durch Vorlesen einer meiner Arbeiten eine Frau gewonnen hat. Das rechne ich zu meinen schönsten Erfolgen. Denn wie leicht hätte ich selbst in diese Situation geraten können!

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Wohl hat das Grinzinger Bachl Beethoven zur Pastoral-Symphonie angeregt. Das beweist aber nichts für das Grinzinger Bachl und alles für Beethoven. Je kleiner die Landschaft, desto größer kann das Kunstwerk sein, und umgekehrt. Aber zu sagen, die Stimmung, die der Bach einem beliebigen Spaziergänger vermittelt, sei kongruent mit der Stimmung, die der Hörer von der Symphonie empfängt, ist töricht. Sonst könnte man ja auch sagen, der Geruch von faulen Äpfeln gebe uns Schillers Wallenstein.

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Ein Hungerleider, der Anarchist wird, ist ein verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinnloser als sich über die Söhne besitzender Bürger lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen. Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jedenfalls verdächtigt kein abgerissenes Gewand die geistige Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen.

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Die Sozialdemokraten lassen den Armen klassenbewusst werden und überlassen ihn dann der Pein. Dieses Vorgehen nennen sie Organisierung.

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Dass Bildung der Inbegriff dessen sei, was man vergessen hat, ist eines der schönsten Worte. Darüber hinaus ist Bildung eine Krankheit und eine Last für die Umgebung des Gebildeten. Eine Gymnasialreform, die auf die Abschaffung der toten Sprachen mit der Begründung hinarbeitet, man brauche sie eben nicht fürs Leben, ist lächerlich. Brauchte man sie fürs Leben, so müsste man sie eher abschaffen. Sie dienen freilich nicht dazu, dass man sich einst in Rom oder Athen durch die Sehenswürdigkeiten durchfragen könne. Aber sie pflanzen in uns die Fähigkeit, uns diese vorzustellen. Die Schule dient nicht der Anhäufung praktischen Wissens. Aber Mathematik reinigt die Gehirnbahnen, und wenn man Jahreszahlen büffeln muss, die man nach dem Austritt sogleich vergisst, so tut man trotzdem nichts Unnützes. Verfehlt ist nur der Unterricht in der deutschen Sprache. Aber dafür lernt man sie durch das Lateinische, das noch diesen besonderen Wert hat. Wer gute deutsche Aufsätze macht, wird in der Regel ein Kommis. Wer schlechte macht und dafür im Lateinischen besteht, wird wahrscheinlich ein Schriftsteller. Was die Schule bewirken kann, ist, dass sie jenen Dunst von den Dingen schafft, in den eine Individualität hineingestellt werden kann. Weiß einer noch nach Jahren, aus welchem klassischen Drama und aus welchem Akt ein Zitat stammt, so hat die Schule ihren Zweck verfehlt. Aber fühlt er, wo es stehen könnte, so ist er wahrhaft gebildet und die Schule hat ihren Zweck vollauf erreicht.

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Nicht der Stock war abzuschaffen, sondern die Lehrer, die ihn schlecht anwenden. Die neue Gymnasialreform ist, wie alles humanitäre Flickwerk, ein Sieg über die Phantasie. Dieselben Lehrer, die bis nun nicht imstande waren, mit Hilfe des Katalogs zu einem Urteil zu gelangen, werden sich jetzt liebe voll in die Schülerindividualität versenken müssen. Die Humanität hat den Alpdruck der Furcht vor dem »Drankommen« beseitigt, aber das gefahrlose Schülerleben wird unerträglicher sein als das gefährliche. Zwischen vorzüglich und ganz ungenügend lag ein Spielraum für romantische Erlebnisse. Ich möchte den Schweiß um die Trophäen der Kindheit nicht von meiner Erinnerung wischen. Mit dem Stachel ist auch der Sporn dahin. Der Gymnasiast lebt ehrgeizlos wie ein lächelnder Weltweiser und tritt unvorbereitet in die Streberei des Lebens, die sein Charakter ehedem schadlos antizipiert hatte, wie der geimpfte Körper die Blattern. Er hatte früher alle Gefahren des Lebens bis zum Selbstmord verkostet. Anstatt dass man die Lehrer verjagt, die ihm das Spiel der Gefahren manchmal zum Ernst erwachsen ließen, wird jetzt der Ernst des geruhigen Lebens verordnet. Früher erlebten die Schüler die Schule, jetzt müssen sie sich von ihr bilden lassen. Mit den Schauern ist die Schönheit vertrieben und der junge Geist steht vor der Kalkwand eines protestantischen Himmels. Die Schülerselbstmorde, deren Motiv die Dummheit der Lehrer und Eltern war, werden aufhören, und als legitimes Selbstmordmotiv bleibt die Langeweile zurück.

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Die Humanität ist eine physikalische Enttäuschung, die mit Naturnotwendigkeit eintritt. Denn der Liberalismus stellt immerzu sein Licht unter eine Glasglocke und glaubt, dass es im luftleeren Raum brennen werde. Eher brennt es noch im Sturm des Lebens. Wenn der Sauerstoff verzehrt ist, geht das Licht aus. Aber glücklicherweise steht die Glocke im Phrasenwasser und dieses steigt in dem  Augenblick, da die Kerze erloschen ist. Hebt man die Glocke ab, so verspürt man erst die wahren Eigenschaften des Liberalismus. Er stinkt nach Kohlenwasserstoff.

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Man meidet die Gesellschaft. So sucht sie einen auf »neutralem Boden« auf, setzt sich dreist in einem Lokal an unseren Tisch. Die Frage: »Sie gestatten doch«, die nie einen fragenden Ton hat, ist die ärgste Perfidie. Man wird mit der Schlinge der Konvention gefangen. Im Augenblick ist man in medias res eingeführt. Wird nach dem neuen Roman von Schnitzler gefragt, um seine Ansicht über das Wetter und um die Sommerpläne. Der Feind rechnet damit, dass man nicht grob werden, »kein Aufsehen« machen wird. Er ist gar nicht hochmütig, sondern behandelt mich wie seinesgleichen, und als ob ich zur guten Gesellschaft gehörte. Da sieht er sich plötzlich getäuscht; es zeigt sich, dass ich keine Manieren habe. Aber da ich eben nicht gewillt bin, meinen Bekanntenkreis zu erweitern, sondern zu verringern, so wird mir das in meinem weiteren Fortkommen nicht schaden.

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Wenn man mir persönliche Antipathien vorwirft, weil ich einen Literaten für einen Pfuscher erkläre, so unterschätzt man meine Bequemlichkeit. Ich werde doch nicht meine Verachtung strapazieren, um eine literarische Minderwertigkeit abzutun!

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Das Gesindel besichtigt »Sehenswürdigkeiten«. Noch immer wird also bloß gefragt, ob das Grab Napoleons würdig sei, vom Herrn Schulze gesehen zu werden, und noch immer nicht, ob Herr Schulze des Sehens würdig sei.

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Ich las eine Beschreibung, die E. Pötzl von einem niederösterreichischen Städtchen gab, und eine von der Ruhe der Inneren Stadt am Tage des Festzuges. Ich fand wieder, wie ungewöhnlich fein dieser Kleinkünstler ist, dessen Enge erst stört, wenn er ihrer bewusst wird und gegen die Außenwelt sich wendet. Bei seinen Wiener Schilderungen, die voll lyrischer Prosa sind, ist mir, als ob ein Einspännerross an der Hippokrene getrunken hätte; an seinen übrigen Sachen spürt man, dass der Musenquell in Böotien entspringt.

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P. A., der ein Fetischist der Frauenseele ist und den Frauenleib zu jenen Objekten rechnet, die man in der irdischen Ausstellung nur ansehen und nicht berühren darf, steht um einer Weisheit willen, die genug Humor hat, sich selbst in Frage zu stellen, trotz alledem über dem schreibenden Haufen. Wenn man den Durchschnitt zieht zwischen dem, was man ihn im Verkünderton tagtäglich stammeln lässt,  und dem Kunstwert seiner beiläufigen lyrischen Betrachtung — deren feinste Proben er jetzt gesammelt hat —, so bleibt erst recht ein Original übrig. Kürzlich verkündete er freilich: »Eine getreue Frauenseele muss also mit einem Walle von Unnahbarkeit und Uneinnehmbarkeit, von Würde und Seelenadel geschützt, behütet und verteidigt sein, dass Don Juans Blick sich senkte und scheu zur Seite sich wendete! … Frauen, seiet so, dass der wilde Krieger vor dem Walle eures Tempels freiwillig umkehre! … Dann wird die Eifersucht, diese schrecklichste Erkrankung der Mannesseele, gebannt, verbannt, besiegt sein!« Was hat er denn?! Das ist ja durchaus vom Standpunkt des Besitzers gesprochen, der den weiblichen Seelenadel monopolisieren möchte, während der Wegnehmer ihn vielleicht so gut wie der bekannte Wanderer die Wiese empfindet. Aber andererseits — müsste der Dichter gewiss auch zugeben, dass die Uneinnehmbaren, die sich hinter Adel, Wall und Würde verschanzen, »perfide Heldenreizerinnen« sind. Und eine Anschauung, die die Wunschfähigkeit einer Gewünschten überhaupt nicht gelten lässt und alles Unheil vom Don Juan und nie von der Frauenseele erwartet, führt uns in eine ästhetische Puppenwelt, deren Friede von dem keuschen Blick des Betrachters abhängt. Wo bleibt da noch Raum für  Eifersucht? Es genügt eine Weisung, die ausgestellten Gegenstände nicht zu berühren; und Erotik wäre die objektive Wertung einer Rückenlinie, einer Nasenform, einer Hand. Aber in unserer Welt werden die Puppen lebendig oder hysterisch. Je nach der Strenge der Vorschriften. Und manchmal hilft es dem Don Juan nicht, dass er ordnungsgemäß den Blick senkt und scheu zur Seite wendet. Schon hat die getreue Frauenseele den wilden Krieger beim Wickel, oder bei der Uniform. Er kehrt zum Tempel zurück, und alles ist verziehen. Erforderlichenfalls dient auch die Würde als Lockung und der Seelenadel als Lasso. Die Unnahbarkeit ist Annäherung und die Uneinnehmbarkeit Herausforderung. Vorläufig dürfte also der Vorschlag des Dichters nicht den gewünschten praktischen Erfolg erzielen. Und dass er in einem Buche erschienen ist, das den Titel führt »Felix Austria: Österreichische Dichter im Jubeljahre 1908«, ist nicht günstig. P. A. lässt sich besser repräsentieren als durch Rezepte zur Heilung der Eifersucht, und Felix Austria wird nicht heiraten, wenn sie sie befolgt.

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Der ständige Mitarbeiter eines militärischen Witzblattes: Der Clown in der Menage.

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Ich kann einen Festzug oder eine gewisse Sorte von Theaterstücken wirklich nur dann objektiv nach dem ästhetischen und kulturellen Wert beurteilen, wenn ich nicht dabei war. Sonst unterliege ich einer beliebigen Nervenwirkung, höre auf, kritisch zu sein und rede wie der Blinde von der Farbe. Wie leicht kann Musik oder Glockenläuten einen zur Duldung einer Geschmacklosigkeit bringen! Um mir also ein gerechtes Urteil zu bewahren, darf ich es gewissenhafter Weise nicht unterlassen, dem Schauspiel fernzubleiben.

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Die Gewalttätigkeit des Daseins und die Unmotiviertheit aller menschlichen Dinge geht einem nie so deutlich auf, wie wenn man das Malheur hat, in einem Wagen zu sitzen, der halten muss, weil ihn die Burgmusik umbrandet.

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Die populärsten Gesichter in Wien sind die zweier Heurigenwirte. In Überlebensgröße sind sie an jeder Straßenecke plakatiert, und ihr Ruhm hat sicher die Größe des Überlebens. So etwa haben sich die Deutschen die Köpfe ihrer Schiller und Goethe eingeprägt. Aber das österreichische Kulturniveau ist wahrlich ein höheres. Denn zu Schiller und Goethe besteht nur jene dekorative Beziehung, die das Geflunker von Bildung herstellt, während gewiss ein innerer Zusammenhang zwischen den Wienern und ihren Heroen besteht. Großväter werden einst aufhorchenden Enkeln erzählen, dass sie noch den Wolf in Gersthof gesehen haben, und Großmütter werden von der Erinnerung verjüngt sein, dass das Auge Hartwiegers auf ihnen geruht hat.

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Was ist alles Machtbewusstsein eines Nero, was ist aller Vernichtungsdrang eines Tschingiskhan, was ist die Machtvollkommenheit des jüngsten Gerichtes gegen das Hochgefühl eines Konzipisten der konskriptionsämtlichen Abteilung des magistratischen Bezirksamtes, der einen wegen  Nichtfolgeleistung einer Vorladung zur Anmeldung behufs Veranlagung zur Bemessung der Militärtaxe zu einer Geldstrafe von zwei Kronen verurteilt!

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Viele Leute möchten mich persönlich kennen lernen. Wenn aber einer ein Beamter des magistratischen Bezirksamtes ist, so erreicht er es. Ich verkehre seit Jahren nur noch mit Beamten des magistratischen Bezirksamtes; habe aber wenig Anregung davon.

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Wer Gehirngymnastik treiben will, versuche das Gespräch einer Tafelrunde, dessen Entfernung von dem ursprünglichen Thema ihm an einem Punkt besonders auffällt, so schnell als möglich zu rekonstruieren. Man blättere in diesem Konversationslexikon und man wird einen Zickzackweg übersehen, an dessen Anfang und Ende Gegenstände sind, die einen an die drollige Zusammenhanglosigkeit der Aufschriften erinnern: Von Gotik bis Heizanlage und von Newton bis Pazifik.

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Im Kampf zwischen Natur und Sitte ist die Perversität eine Trophäe oder eine Wunde. Je nachdem, ob die Natur sie erbeutet oder die Sitte sie geschlagen hat.

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Wer Witz hat, kann nie einen Witz entlehnt haben, auch wenn dieser noch so bekannt wäre. Es kommt gerade hier auf das Gewordene an. Wer Zeuge der Geburt ist, kann an eine Unterschiebung nicht glauben, auch wenn das Kind aufs Haar einem fremden gliche.

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Den Witz eines Witzigen zitieren heißt bloß einen Pfeil aufheben. Wie er abgeschossen wurde, kann das Zitat nicht zeigen.

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Der Nachahmer verfolgt die Spuren des Originals, und hofft, irgendwo müsse ihm das Geheimnis der Eigenart aufgehen. Aber je näher er diesem kommt, um so weiter entfernt er sich von der Möglichkeit, es zu nützen.

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Nicht ob das Resultat originell, sondern ob man selbst dazu gelangt sei, darauf kommt es an. Also eigentlich auf den Kredit des Finders. Ich habe dies und das in mir gefunden und fand es nachträglich in Büchern. Da erkannte ich, dass es nur auf den Weg ankomme und nicht auf das Ziel. Und fand auch diesen Gedanken in Büchern.

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Zum Beispiel fiel mir auch ein: Schimpfworte sind nicht an und für sich zu verpönen. Nur wenn sie an und für sich stehen. Ein Stilist muss ein Schimpfwort so gebrauchen können, als ob es nie zuvor noch ein Kutscher gebraucht hätte. Die Unfähigkeit sucht ungewohnte Worte. Aber das Gewöhnlichste kann getrost verwendet werden, wenn es nur so gebracht wird, als ob es eben zum ersten Male gebracht  würde. So kann eine Drohung mit Ohrfeigen nicht nur als der organische Ausdruck einer Stimmung, sondern sogar wie eine Novität wirken … Nachdem ich dies niedergeschrieben hatte, fand ich bei Goethe den Satz: »Die originalsten Autoren der neuesten Zeit sind es nicht deswegen, weil sie etwas Neues hervorbringen, sondern allein, weil sie fähig sind, dergleichen Dinge zu sagen, als wenn sie vorher niemals wären gesagt gewesen.« Und dann diesen: »Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.« Und diesen Gedanken hatte schon La Bruyère ausgesprochen.

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Ich hatte diesen und Goethes Maximen nie zuvor gelesen. Nun fand ich, dass ich manches Gescheite gedacht habe. Denn Goethe schreibt zum Beispiel: »Es ist nicht immer nötig, dass das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umher schwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernstfreundlich durch die Lüfte wogt.« Oder: »Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publikum einen bösen Stand.« Oder: »Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, dass er niemals bringt was man erwartet, sondern was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung für recht und nützlich hält.« Oder: »Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch über  die Sprache sprechen zu können.« Und da ich mich so zu stützen vermesse, berufe ich mich auch auf das Wort: »Man sagt, eitles Eigenlob stinket; das mag sein: was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publikum keine Nase.«

Karl Kraus.


Nachts. Von Karl Kraus

07. August 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Aus "Die Fackel", Nachts

DIE FACKEL


Nr. 360/361/362 7. NOVEMBER 1912 XIV. JAHR S.1- 10


Nachts

Ich muss wieder unter Menschen gehen. Denn zwischen Bienen und Löwenzahn, in diesem Sommer, ist mein Menschenhass arg ausgeartet.

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In der Schöpfung ist die Antithese nicht beschlossen. Denn in ihr ist alles widerspruchslos und unvergleichbar. Erst die Entfernung der Welt vom Schöpfer schafft
Raum für die Sucht, die jedem Gegenteil das verlorene Ebenbild findet.

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Flucht in die Landschaft ist verdächtig. Die Gletscher sind zu groß, um unter ihnen zu denken, wie klein die Menschen sind. Aber die Menschen sind klein genug, um unter ihnen zu denken, wie groß die Gletscher sind. Man muss jene zu diesem und nicht diese zu jenem benützen. Der Einsame aber, der Gletscher braucht, um an Gletscher zu denken, hat vor den Gemeinsamen, die unter Menschen an Menschen denken, nur eine Größe voraus, die nicht von ihm ist. Gletscher sind schon da. Man muss sie dort erschaffen, wo sie nicht sind, weil Menschen sind.

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Die Ärzte wissen noch nicht, ob es humaner sei, die Leiden des sterbenden Menschen zu verlängern oder zu verkürzen. Ich aber weiß, dass es am humansten ist, die Leiden der sterbenden Menschheit zu verkürzen. Eines der besten Gifte ist das Gefühl der geschlechtlichen Unsicherheit. Es ist vom Stoff der Krankheit bezogen. An welcher Krankheit denn leiden sie? Dass sie sich ihrer Gesundheit schämen. Die Menschheit stirbt heimlich an dem, wovon zu leben sie sich verbietet: am Geschlecht. Hier lässt sich nachhelfen, indem
man an das, was sie wie einen Diebstahl ausführen und hinterdrein Liebe nennen, noch etliche Zentner jener Vorstellung einer Zeugenschaft hängt, die das Vergnügen versalzt. Ein Alpdruck, schwerer als das Gewicht der Sünde. Und dies Gift wird die Männer umso gewisser bleich machen, als es für die Konkubinen ein Verschönerungsmittel ist. Es geht nicht länger an, den Frieden denaturierter Bürger ungestört zu lassen, und tausend Casanovas sind Stümper neben dem Gespenst, das ein Gedanke hinter die Gardine schickt. Ist denn solche Vorstellung schlimmer als die, mit der der Anblick der Zufriedenheit unsereinen peinigt? Soll
es wirklich noch Augenblicke geben dürfen, in denen ein Wucherer unbewusst wird? Dem Verstande der Gesellschaft, die das heutige Leben innehat, lässt sich mit nichts mehr beikommen. Will man die Heutigen treffen, so muss man warten, bis sie unzurechnungsfähig sind. Nicht im Rausch: denn was hätten sie dabei zu fürchten, und wüssten sie dort Gefahr, so würden sie enthaltsam. Nicht im Schlaf: denn nicht im Traum fällt es ihnen ein, unzurechnungsfähig zu sein. Aber manchmal liegen sie im Bett und wissen von nichts. Da sollen sie es erfahren.

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Die Tragik des Gedankens, Meinung zu werden, erlebt sich am schmerzlichsten in den Problemen des erotischen Lebens. Jedes Frauenzimmer, das vom Weg des Geschlechts in den männlichen Beruf abirrt, ist im Weiblichen echter, im Männlichen kultivierter als die Horde von Schwächlingen, die es im aufgeschnappten Tonfall neuer Erkenntnisse begrinsen
und die darin nur den eigenen Misswachs erleben. Das Frauenzimmer, das Psychologie studiert, hat am Geschlecht weniger gefehlt, als der Psycholog, der ein
Frauenzimmer ist, am Beruf.

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Die Lust des Mannes wäre nur ein gottloser Zeitvertreib und nie erschaffen worden, wenn sie nicht das Zubehör der weiblichen Lust wäre. Die Umkehrung dieses Verhältnisses zu einer Ordnung, in der sich eine ärmliche Pointe als Hauptsache aufspielt und nachdem sie verpufft ist, das reiche Epos der Natur tyrannisch abbricht, bedeutet den Weltuntergang: auch
wenn ihn die Welt bei technischer, intellektueller und sportlicher Entschädigung durch ein paar Generationen nicht spürt und nicht mehr Phantasie genug hat, sich ihn vorzustellen.

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Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputt macht.

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Die Verluste an Sinnlichkeit und Phantasie, die Ausfallserscheinungen der Menschheit, sind kinodramatisch.

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Die Eignung zum Lesen der Kriegsberichte dürfte bei mancher Nation schon heute die Kriegstauglichkeit ersetzen.

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Die Technik ist ein Dienstbote, der nebenan so geräuschvoll Ordnung macht, dass die Herrschaft nicht Musik machen kann.

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Es ist gut, dass es der Gesellschaft, die daran ist, die weibliche Lust trocken zu legen, zuerst mit der männlichen Phantasie gelingt. Sie wäre sonst durch die Vorstellung ihres Endes behindert.

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Der Mann hat keinen persönlicheren Anteil an der Lust, als der Anlass an der Kunst. Und wie jeder Anlass überschätzt er sich und bezieht es auf sich. Der einzelne Lump sagt auch, ich hätte über ihn geschrieben, und hält seinen Anteil für wichtiger als den meinen. Nun könnte er noch verlangen, dass ich ihm treu bleibe. Aber die Wollust meint alle und gehört keinem.

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Wer sich durch eine Satire gekränkt fühlt, benimmt sich nicht anders als der zufällige Beischläfer, der am andern Tage daherkommt, um seine Persönlichkeit zu reklamieren. Längst ist ein anderes Beispiel an seine Stelle getreten, und wo schon ein neues Vergessen
beginnt, erscheint jener mit der Erinnerung und wird eifersüchtig. Er ist imstande, die Frau zu kompromittieren.

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Was mir und jedem Schätzer von Distanzen einen tätlichen Überfall auf mich peinlich macht, ist die Verstofflichung der Satire, die er bedeutet. Anstatt dankbar zu sein, reinkarniert sich das, was mir mit Mühe zu vergeistigen gelang, wieder zu leiblichster Stofflichkeit, und der dürftige Anlass schiebt sich vor, damit mein Werk nur ja auf ihn reduziert bleibe. Darum muss mich in einer Gesellschaft, der es an Respekt fehlt, die Waffe schützen. Mir fehlt es nicht an Respekt vor den kleinen Leuten, die mich zu etwas anregen, was ihnen längst nicht mehr gilt, wenn’s fertig ist. Ich nehme jede nur mögliche Rücksicht. Denn lähmte mich nicht die Furcht, mit ihnen zusammengespannt zu werden, so würde ich sie doch selbst überfallen. Was mir nicht nur Genuss, sondern auch Erleichterung der satirischen Mühe brächte.

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Man muss dazu gelangen, die erschlagen zu wollen, die man nicht mehr verarbeiten kann, und im weiteren Verlauf sich von denen erschlagen zu lassen, von denen man nicht mehr verstanden wird.

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Alle sind von mir beleidigt, nicht einzelne. Und was die Liebe betrifft, sollen alle rabiat werden und nicht die, die betrogen wurden.

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Der Mann ist der Anlass der Lust, das Weib die Ursache des Geistes.

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Das Weib nimmt einen für alle, der Mann alle für eine.

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Die Lust hat es nur mit dem Ersatzmann zu tun. Er steht für den andern, für alle oder für sich selbst. Der ganze Mann in der Lust ist ein Gräuel vor Gott. Hierin dürfte die Wedekindsche Welt begrenzt sein:
vor dem tief erkannten Naturbestand des Weibes die tief gefühlte Sehnsucht des Rivalen. Weibliche Genussfähigkeit als Ziel des Mannes, nicht als geistige Wurzel:
Anspruch einer physischen Wertigkeit, mit der sich’s in Schanden bestehen ließe. Nicht Kräfte, die einander erschaffen, sondern Lust um der Lust willen. Tragisch das Weib erfasst, weil es anders sein muss als von Natur, und damit eine Tragik des Mannes gepaart, weil er anders von Natur ist. Aber tragisch wird nur das weiblich Unbegrenzte an einer Ordnung,
die sich die männliche Begrenztheit erfunden hat. Diese ist nicht tragisch, sondern nur traurig von Natur und hassenswert, weil sie die Freiheit des Weibes in das Joch ihrer Eitelkeit spannt, den eigenen Defekt an der Fülle rächt und etwas beraubt, um es zu besitzen. Hier ist nicht Schicksal, sondern ein Zustand, dessen Verlängerung, ja Verewigung selbst keine Schöpferkraft gewährte. Denn in nichts wird die Hemmungslosigkeit des Mannes umgesetzt. Sie bleibt irdisch. Die Lust aber, die der Erdgeist genannt wird, braucht ihren Zunder, doch auf den Funken kommt es an, den sie in eine Seele wirft. Dieser Dichter hat Lulu erkannt; aber er beneidet vielleicht ihren Rodrigo. Dieses Genie der Begrenztheit — in der genialen Hälfte genialer als irgendein Ganzer im heutigen Deutschland — stelle ich mir im Anblick des Fremier’schen Gorilla vor. Um die Ohnmacht der Frau — ihr Anblick gibt den Engeln
Stärke, wenn keiner sie ergründen mag — weiß er. Aber die Kraft des Tieres dürfte ihm imponieren.

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Trauer und Scham sollten alle Pausen wahrer Männlichkeit bedecken. Der Künstler hat außerhalb des Schaffens nur seine Nichtswürdigkeit zu erleben.

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Die Eifersucht auf die ungestaltete Materie, die mir täglich um die Nase schwippt und schwätzt, wippt und wetzt, auf Menschen, die leider noch existent, aber noch nicht erschaffen sind, lässt sich schwer dem andern begreiflich machen.

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Die wahren Wahrheiten sind die, welche man erfinden kann.

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Das Verständnis meiner Arbeit ist erschwert durch die Kenntnis meines Stoffes. Dass das, was schon da ist, noch erfunden werden muss und dass es sich lohnt, es zu erfinden, sehen sie nicht ein. Und auch nicht, dass ein Satiriker, der die vorhandenen Personen erfindet, mehr Kraft braucht, als der, der die Personen so erfindet, als wären sie vorhanden.

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Dieser Wettlauf mit den unaufhörlichen Anlässen! Und dieser ewige Distanzlauf vom Anlass zur Kunst! Keuchend am Ziel — zurückgezerrt zum Start, der sich
erreicht fühlt.

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Man kennt meine Anlässe persönlich. Darum glaubt man, es sei mit meiner Kunst nicht weit her.

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In keiner Zeit war das Bedürfnis so elementar wie in der heutigen, sich für das Genie zu entschädigen.

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Psychologie ist der Omnibus, der ein Luftschiff begleitet.

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Man sagt mir oft, dass manches, was ich gefunden habe, ohne es zu suchen, wahr sein müsse, weil es auch F. gesucht und gefunden habe. Solche Wahrheit wäre wohl ein trostloses Wertmaß. Denn nur dem, der sucht, ist das Ziel wichtig. Dem, der findet, aber der
Weg. Die beiden treffen sich nicht. Der eine geht schneller, als der andere zum Ziel kommt. Irgendetwas ist ihnen gemeinsam. Aber der Prophet ist immer schon da und verkündet den apokalyptischen Reiter.

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Analyse ist der Hang des Schnorrers, das Zustandekommen von Reichtümern zu erklären. Immer ist das, was er nicht besitzt, durch Schwindel erworben. Der andere hat’s nur, er aber ist zum Glück eingeweiht.

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Das Unbewusste zu erklären, ist eine schöne Aufgabe für das Bewusstsein. Das Unbewusste gibt sich keine Mühe und bringt es höchstens fertig, das Bewusstsein zu verwirren.

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Die Nervenärzte haben es jetzt mit den Dichtern zu schaffen, die nach ihrem Tode in die Ordination kommen. Es geschieht ihnen insofern recht, als sie tatsächlich nicht imstande waren, die Menschheit auf einen Stand zu bringen, der die Entstehung von Nervenärzten ausschließt.

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Alle Naturwissenschaft beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, dass ein Zyklop nur ein Auge im Kopf hat,  aber ein Privatdozent zwei.

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Der Handelsgeist soll sich im Pferch der Judengasse entwickelt haben. In der Freiheit treiben sie Psychologie. Sie scheint aber wie ein Heimweh jenes enge Zusammenleben zurückzurufen, unter dem die Ansprache zur Betastung wird. Was nun vollends eine
Verbindung von Handelsgeist und Psychologie für Wunder wirken kann, sehen wir alle Tage.

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Die Rache der Molluske am Mann, des Händlers am Helden, des Shaw an Shakespeare, des Ghetto an Gott macht jenen rapiden Fortschritt, gegen den aufzutreten rückschrittlich heißt.

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Nein, es spukt nicht mehr. Es spuckt.

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Die liberale Presse krebst jetzt mit neu aufgefundenen Bemerkungen Lichtenbergs: gegen den Katholizismus und »wenn noch ein Messias geboren würde, so könnte er kaum so viel Gutes stiften, als die Buchdruckerei«. Um sich aber mit Fug auf Lichtenberg zu berufen, wäre der Beweis nötig, dass er auch nach 125 Jahren noch derselben Ansicht ist. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Mann. Den wahren Segen der Buchdruckerei hat er nicht erlebt. Denn
er hat nicht nur nicht die Presse erlebt, sondern nicht einmal eine Drucklegung seiner Tagebücher, deren Tiefe dort, wo sie unverständlich ist, auf ihrem Grund Druckfehler hat, die die literarhistorischen Tölpel in Ehren halten, weitergeben und fortpflanzen. Darüber ließen sich ergötzliche Dinge sagen. Was muss aus den Gedanken Lichtenbergs geworden sein, wenn selbst Eigennamen, die er niederschreibt, verdreht wurden, und in Stellen, deren Nachprüfung den Herausgebern nicht nur geboten, sondern auch möglich war. Keines dieser
Subjekte aber hat sich auch nur die Mühe genommen, die von Lichtenberg gepriesene Stelle aus Jean Paul zu lesen. »Haben Sie wohl die Stelle in dem ‚Kampaner Tal‘ gelesen, wo Chiaur in einem Luftball aufsteigt?« Nein, sie haben es nicht getan, denn sonst hätten sie eine solche Stelle nicht gefunden. Wie das? Steigt Chiaur nicht auf? Im ganzen Buch nicht. Nur
eine Gione. Diese sonderbare Tatsache, dass Lichtenberg einen Chiaur und Jean Paul eine Gione aufsteigen lässt, gestattet vielleicht die Rekonstruierung der Handschrift
Lichtenbergs, die ich nicht gesehen habe:

Gione (handschriftlich Sütterlin)

Es lässt die Möglichkeit zu, dass jedes zweite Wort verdruckt wurde. Denn die Herausgeber dürften dort, wo sie nur auf die Handschrift Lichtenbergs und jeweils auf die vorhergehende fehlerhafte Ausgabe angewiesen waren, sich kaum findiger gezeigt haben, als dort, wo
ihnen ein Vergleich mit dem Jean Paul’schen Druck möglich war. Und dafür, dass dieselbe Schande, nur immer in anderer Einteilung und mit anderem Umschlag, wiederholt wird, zahlen Verleger Honorare. Die Erwartung des Messias dürfte also — gegen und für Lichtenberg — dem Glauben an die Buchdruckerei noch immer vorzuziehen sein. Kaum ein Autor ist gröblicher misshandelt worden; nicht nur durch eine wahllose Zitierung, die den aus
Vernunft, Stimmung oder Glauben entstandenen Notizen den gleichen Bekenntniswert beimisst. Man könnte, wenn eine von Natur meineidige Presse Lichtenberg zum Eidhelfer beruft, ihr auch mit dem Gegenteil dienen, und vor allem mit jenem Gegenteil, zu dem eine Menschlichkeit seiner Art vor der heutigen Ordnung der Dinge ausschließlich fähig wäre. Der Liberalismus ist, wenn alle Stricke reißen, imstande, sich auf Gott zu berufen, der einmal gesehen haben soll, dass es gut war. Aber heute, nach 5673 Jahren, ist er gewiss auch nicht mehr derselben Ansicht. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Gott.

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Die Druckerschwärze ist noch nie zu der Verwendung gelangt, für die sie erschaffen ist. Sie gehört nicht ins Hirn, sondern in den Hals jener, die sie falsch verwenden.

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Der Liberalismus beklagt die Veräußerlichung des christlichen Gefühls und verpönt das Gepränge. Aber in einer Monstranz von Gold ist mehr Inhalt als in einem Jahrhundert von Aufklärung. Und der Liberalismus beklagt nur, dass er im Angesicht verlockender Dinge,
die eine Veräußerlichung des christlichen Gefühls bedeuten, es doch nicht und um keinen Preis zu einer Veräußerung des christlichen Gefühls bringen kann.

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Ich habe von Monistenklöstern gehört. Bei ihrem Gott, keine der dort internierten Nonnen hat etwas von mir zu fürchten!

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Wiewohl es nicht reizlos wäre, einer Bekennerin des Herrn Goldscheid auf dem Höhepunkt der Sinnenlust »Sag: Synergetische Funktion der organischen Systeme!«
zuzurufen.

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Die gebildete Frau ist unaufhörlich mit dem Vorsatz befasst, keinen Geschlechtsverkehr einzugehen, und ist auch imstande, ihn, nämlich den Vorsatz, auszuführen.

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Der gebildete Mann ist nie mit dem Vorsatz befasst, keinen Gedanken zu haben, sondern es gelingt ihm, ehe er sich dazu entschließt.

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Zu der Blume mag ich nicht riechen, die unter dem Hauch eines Freidenkers nicht verwelkt.


Der Fortschritt. Von Karl Kraus

10. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Fortschritt

Die Fackel Nr. 275—276. 22. März 1909 S. 33 – 40 (Zuerst in: „Simplicissimus“ 1909 erschienen)

Ich habe mir eine Zeitungsphrase einfallen lassen, die eine lebendige Vorstellung gibt. Sie lautet: Wir stehen im Zeichen des Fortschritts. Jetzt erst erkenne ich den Fortschritt als das, was er ist — als eine Wandeldekoration. Wir bleiben vorwärts und schreiten auf demselben Fleck. Der Fortschritt ist ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus. Nur manchmal krümmt sich wirklich etwas vor meinen Augen: das ist ein Drache, der einen goldenen Hort bewacht. Oder es bewegt sich nachts durch die Straßen: das ist die Kehrichtwalze, die den Staub des Tages aufwirbelt, damit er sich an anderer Stelle wieder senke. Wo immer ich ging, ich müsste ihr begegnen. Ging ich zurück, so kam sie mir von der anderen Seite entgegen, und ich erkannte, dass eine Politik gegen den Fortschritt nutzlos sei, denn er ist die unentrinnbare Entwicklung des Staubes. Das Schicksal schwebt in einer Wolke, und der Fortschritt, der dich einholt, wenn du ihm auszuweichen wähnst, kommt als Gott aus der Maschine daher. Er schleicht und erreicht den flüchtigen Fuß und nimmt dabei so viel Staub von deinem Weg, als zur Verbreitung notwendig ist, auf dass alle Lungen seiner teilhaft werden; denn die Maschine dient der großen fortschrittlichen Idee der Verbreitung des Staubes. Vollends aber ging mir der Sinn des Fortschritts auf, als es regnete. Es regnete unaufhörlich und die Menschheit dürstete nach Staub. Es gab keinen, und die Walze konnte ihn nicht aufwirbeln. Aber hinter ihr ging ein radikaler Spritzwagen einher, der sich durch den Regen nicht abhalten ließ, den Staub zu verhindern, der sich nicht entwickeln konnte. Das war der Fortschritt.

Wie enthüllt er sich dem Tageslicht? In welcher Gestalt zeigt er sich, wenn wir ihn uns als einen flinkeren Diener der Zeit denken? Denn wir haben uns zu solcher Vorstellung verpflichtet, wir möchten des Fortschritts inne werden, und es fehlt uns bloß die Wahrnehmung von etwas, wovon wir überzeugt sind. Wir sehen von allem, was da geht und läuft und fährt, nur Füße, Hufe, Räder. Die Spuren verwischen sich. Hier lief ein Börsengalopin, dort jagte ein apokalyptischer Reiter. Vergebens … Wir können von Schmockwitz nach Schweifwedel telefonisch sprechen, wir wissen aber noch nicht, wie der Fortschritt aussieht. Wir wissen bloß, dass er auf die Qualität der Ferngespräche keinen Einfluss genommen hat, und wenn wir einmal so weit halten werden, dass man zwischen Wien und Berlin Gedanken übertragen wird, so wird es nur an den Gedanken liegen, wenn wir diese Einrichtung nicht in ihrer Vollkommenheit werden bewundern können. Die Menschheit wirtschaftet drauflos; sie braucht ihr geistiges Kapital für ihre Erfindungen auf und behält nichts für deren Betrieb. Der Fortschritt aber ist schon deshalb eine der sinnreichsten Erfindungen, die ihr je gelungen sind, weil zu seinem Betrieb nur der Glaube notwendig ist, und so haben jene Vertreter des Fortschritts gewonnenes Spiel, die einen unbeschränkten Kredit in Anspruch nehmen.

Besehen wir das Weltbild im Spiegel der Zeitung, so erweist sich der Fortschritt als die Methode, uns auf raschestem Wege alle Rückständigkeiten erfahren zu lassen, die in der weiten Welt vor sich gehen. Was mir jedoch den größten Respekt abnötigt, ist die Möglichkeit, bedeutende zeitgeschichtliche Tatsachen auf photographischem Wege dem Gedächtnis jener Nachwelt zu überliefern, die am Morgen des folgenden Tages beginnt und am Abend zu Ende ist. Der Fortschritt ist ein Momentphotograph. Ohne ihn wäre jener Augenblick unwiederbringlich verloren, da der König von Sachsen vom Besuche einer Sodawasserfabrik sich zu seinem Wagen begab. Wie sieht das aus? fragte man sich. Wie macht er das? Wie geht der König? Er setzt einen Fuß vor den andern, und der Momentphotograph hat es festgehalten. Aber dieser vermag vom Schreiten nur den Schritt zu erhaschen, darum wird das Gehen zum Gehversuch, und der Adjutant, der auf die Füße des Königs sieht, scheint die Schritte zu zählen, damit keiner ausgelassen wird: Eins, zwei, eins, zwei … So weiß man immerhin, wie die Sohle des Königs von Sachsen beschaffen ist; aber auch das mag dem Untertan genügen. Mehr bietet die Momentphotographie, wenn sie sich »in den Dienst des Sports stellt«, und ohne sie wäre der Sport am Ende gar kein Vergnügen. Eine Schlittenfahrt — hei, das macht Spaß! »Prinz Eitel Friedrich bremst.« Und was tut Prinz August Wilhelm? »Prinz August Wilhelm hilft als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten.« Ist das Bild das offizielle Dementi eines Gerüchtes, dass Prinz August Wilhelm ungalant sei und bei Schlittenfahrten seine Gemahlin von allein aussteigen lasse? Hatte sich solcher Argwohn im Gefühlsleben des deutschen Volkes eingenistet? Nein, das deutsche Volk liebt es zu hören, dass Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten helfe, auch wenn es nie daran gezweifelt hat und das Gegenteil nicht behauptet wurde. Wäre das Gegenteil behauptet worden, so könnte man sagen, es sei kleinlich, solche Gerüchte zu widerlegen; das deutsche Volk glaubt sie ohnedies nicht. Es glaubt nur, was es sieht. Darum glaubt es an die Galanterie des Prinzen August Wilhelm, sobald es eine Probe zu sehen bekommt. Und es will sehen, wie sich dieser Prinz benimmt, wenn er mit seiner Gemahlin aus dem Schlitten steigt. Da es nun unmöglich ist, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zur Besichtigung des Vorgangs, wie Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten hilft, zuzulassen und die Versicherung der Berichterstatter, dass er als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten half, nicht genügt, so stellt sich eben die Momentphotographie in den Dienst des Sports. Quälend wäre aber auch die Ungewissheit, ob der Badische Finanzminister anders geht, wenn er das Reichsschatzamt verlässt, als der Hessische Minister der Finanzen, wenn er desgleichen tut, oder ob Taft, die Grüße der Volksmenge erwidernd, den Mund weiter öffnet, als Roosevelt im gleichen Falle gewohnt war. Das eben ist der Fortschritt, dass solches Interesse heute schnellere Befriedigung findet als ehedem, ja dass sogar die schnellere Befriedigung solches Interesse heute erzeugen kann. Einst war der Geist auf Bücher angewiesen und der Atem auf Wälder. Wo sollen wir heute in Ruhe unsere Zeitung lesen? Die Papierindustrie blüht, aber sie gibt keinen Schatten. Und die Rotationsmaschine schleicht nachts durch die Straßen und wirbelt den Staub des Tages auf, um ihn für den kommenden Tag wieder abzusetzen.

Als ich ein Knabe war, sah ich den Fortschritt in der Gestalt eines deutsch-fortschrittlichen Abgeordneten. Er vertrat die Freiheit, er vertrat die böhmischen Landgemeinden, er vertrat die Stiefelabsätze. Was wollte ich mehr? Ich hörte zum ersten Mal, die Deutschen in Österreich seien von den Tschechen »vergewaltigt« worden. Ich verstand kein Wort davon, aber ich weinte vor Erregung. Es war eine Phrase, die mir einen Lebensinhalt offenbarte. Später, als die Vergewaltigung in eine Keilerei ausartete, sah ich selbst in dieser keine Äußerung natürlicher Kräfte, sondern die Folge einer Phrase. Da die Politik nicht mehr mein Gefühl ansprach, erkannte ich, dass sie nicht zu meinem Verstande spreche. Politik ist Teilnahme, ohne zu wissen wofür. Wenn sie aber nicht einmal das mehr ist, so kann es leicht geschehen, dass sich uns der Fortschritt als die Weltanschauung des Obmannes der freiwilligen Feuerwehr von Pardubitz enthüllt. Aus solcher Enttäuschung gewöhnte ich mich, das Prinzip der kulturellen Entwicklung nur noch in jenen Regionen des Lebens zu suchen, die dem Sprachenstreit entrückt sind. Ich fand den Fortschritt in allen, ohne in einer einzigen seine Physiognomie zu finden. Ich glaubte, ich sei in eine Maskenleihanstalt geraten. Jetzt war er ein Ausgleicher im sozialen Bankrott, jetzt ein Schaffner an jenem Zug des Herzens, der Hoheiten talwärts führt; bald Wahlagitator, bald Kuppler; hier Nervenarzt, hier Kolporteur. Rechts von mir sagte einer, der keine gerade Nase hatte: Ich sitze mit vier Reichsrittern, drei Markgrafen, zwei Fürsten und einem Herzog im Verwaltungsrat der Konservenfabrik … Das war der Fortschritt. Links von mir sagte eine Dame, die Boutons trug: Man kann die Neunte Symphonie am billigsten im Arbeiterkonzert hören, aber man muss sich dazu schäbig anziehen … Das war der Fortschritt.

Dann sah ich ihn als Ingenieur am Werke. Wir verdanken ihm, dass wir schneller vorwärts kommen. Aber wohin kommen wir? Ich selbst begnügte mich, es als das dringendste Bedürfnis zu empfinden, zu mir zu kommen. Darum lobte ich den Fortschritt und wollte in einer Stadt nicht fürder leben, in der mir Hindernisse und Sehenswürdigkeiten den Weg zum Innenleben verstellen. Eines Tages begann ich aber neuen Mut zu schöpfen, weil das Gerücht zu mir drang, in Wien sei eine Automobildroschke zu sehen gewesen. Die wird wohl schwer zu haben sein, dachte ich, aber wenn ich sie doch einmal erwische, so wird es ein anderes Leben werden! Im Sausewind an den Individualitäten vorbei, die mich an jeder Straßenecke belästigen, — das allein ist schon ein anregendes Erlebnis. Ich machte mich auf, den Fortschritt zu suchen: und fand ihn auf dem Standplatz. Die Automobildroschke stand da als eine Verlockung zu einem Leben ohne Hindernisse, der jeder Wiener aus dem Wege ging. Aber wenn ein solcher geahnt hätte, dass auch sie ihm allen Reiz des Umständlichen bieten konnte, den zu entbehren ihm so schwer fallt, er hätte eine Fahrt riskiert, umso mehr als der Chauffeur durch die Frage: »Fahr’n m’r Euer Gnaden?« das sympathische Bestreben verriet, an die Tradition anzuknüpfen und über den Mangel an Pferden taktvoll hinwegzutäuschen. Ich, ein Freund des Fortschritts, ließ mich nicht lange bitten, und ich kann heute sagen, dass jeder Wiener es bedauern kann, meinem Beispiel nicht gefolgt zu sein. Alle Befürchtungen, es könnte am Ende glatt gehen, sind überflüssig und getrost darf man sich dem neuen Fuhrwerk anvertrauen. Vor allem gab es viel zu sehen. Denn zehn unbeschäftigte Kutscher halfen dem Chauffeur, den Wagen flott zu machen, und hier zeigte es sich, dass unser Fortschritt keineswegs durch die Feindschaft des Alten gehemmt wird, sondern im Gegenteil durch dessen Unterstützung. Ein Wasserer eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er will nach alter Gewohnheit den Wagen waschen, ehe man fahrt. Aber als er dann auch den Pferden den Futtersack reichen wollte, stellte es sich heraus, dass keine da waren. Man konnte sie also nicht einmal abdecken und, schlimmer als das, man hatte nichts bei der Hand, um den Taxameter zuzudecken. Nachdem sich der Wasserer, der die Welt nicht mehr verstand, kopfschüttelnd entfernt hatte, setzte sich trotz alledem wie durch ein Wunder das Automobil in Bewegung, nicht ohne dass es mir aufgefallen war, wie der Chauffeur mit einem fremden Manne geheimnisvoll einige Worte wechselte. Als ich am Ziel ausstieg, sah ich denselben Mann wieder mit dem Chauffeur sprechen. Er war vorausgegangen und hatte das Automobil erwartet. Ich beruhigte mich bei dem Gedanken, dass es ein Vertreter der Firma sein könnte, die es erzeugt hatte, und fand nun Gefallen an der Vorstellung, dass ich als Vertreter des Fortschritts ausersehen war, die Probefahrt zu bestehen. Den Ovationen der Menge, die sich inzwischen angesammelt hatte, entzog ich mich, indem ich zu dem benachbarten Standplatz ging, um die Rückfahrt im Einspänner anzutreten. Der Standplatz war aber leer, weil sämtliche Kutscher zu dem Automobil geeilt waren. Nur einer war auf seinem Bock, der aber schlief, und als ihm ein Polizist, den ich schon aufgeweckt hatte, dieses Benehmen verwies, murmelte er aus dem Schlaf die Worte: »Jetzt könnts mi alle mitananda —« Er meinte hauptsächlich den Fortschritt.

Nun erst war ich begierig, diesen kennen zu lernen. Ich reiste, und wirklich, ich habe ihn oft genug in jener Tätigkeit gesehen, zu der er sich hierzulande nun einmal nicht schicken wollte: als Förderer des Fremdenverkehrs. Ich kam schneller vorwärts, aber zumeist auf falschem Wege, und so wurde ich in der Vermutung bestärkt, der Fortschritt sei ein Hotelportier. Und überall schien um seines Ehrgeizes willen jedes bessere Streben der Menschheit zu stocken. Es war, als ob nicht ein Ziel die Eile der Welt geboten, sondern die Eile das Ziel der Welt bedeutet hätte. Die Füße waren weit voran, doch der Kopf blieb zurück und das Herz ermattete. Weil aber so der Fortschritt vor sich selbst anlangte und schließlich auf Erden nicht mehr ein noch aus wusste, legte er sich eine neue Dimension bei. Er begann Luftschiffe zu bauen; doch an Garantien der Festigkeit konnte er es mit jenen, die bloß Luftschlösser bauen, nicht aufnehmen. Denn die haben die Phantasie, mit der sie selbst dann noch wirtschaften können, wenn alles schief geht. Was immer aber der Fortschritt weiter beginnen mag, ich glaube, er wird sich bei den Katastrophen des Menschengeistes nicht anstelliger zeigen, als ein Geolog beim Erdbeben. Er wird uns, wie hoch er sich auch versteige, keine Himmelsleiter errichten. Wenn er jedoch als Roter Radler Briefe befördert, könnte er immerhin von den Dienstmännern als Satan verschrien werden. Auch mag er dazu helfen, dass die Eifersucht der Weltstädte wachse und sie zu Kraftleistungen sporne. Etwa so: Berlin hat heute schon fünfhundert Messerstecher, Wien ist ein Krähwinkel dagegen; wenn man hier wirklich einmal einen braucht, ist keiner da! … Schließlich überlebt sich auch diese Mode. Nur der Tod stirbt nicht aus. Denn der Fortschritt ist erfinderisch, und dank ihm bedeutet das Leben keine Kerkerhaft mehr, sondern Hinrichtung mit Elektrizität. Wer es aber nicht erst darauf ankommen lassen will, den ganzen Komfort der Neuzeit zu erproben, der hat rechtzeitig Gelegenheit, von jener primitiven Erfindung Gebrauch zu machen, die ihm die erbarmungsvolle Natur an die Hand gegeben hat: von der Schnur, mit der der Mensch auf die Welt kommt!


Ein Organ der Intelligenz. Von Karl Kraus.

21. Mai 2012 | Kategorie: Annoncen, Artikel, Aus "Die Fackel"

Für „Ein Organ der Intelligenz“ hält sich heutezutage „Die Zeit“. Man kann nicht sagen, dass  deren Anzeigen intelligenter geworden wären im Vergleich mit den von Karl Kraus Veröffentlichten. Eigentlich klingen sie genauso  direkt und absichtsvoll und haben meist nichts mehr mit Kuppelei zu tun sondern mit eindeutiger Absicht. Noch eindeutiger wird es beim Druckprodukt für den Boulevard. Da bieten Dominas Überstunden an, Edelpuffs für die letzten Wünsche florieren wie nie,  und die erforderlichen Organe benötigen nur ausnahmsweise im Vorfeld die Hilfe bescheidener Intelligenz, wenn etwa über den Preis einer zeitlich begrenzten Organspende verhandelt wird.Wie lautete eine treffende Floskel: Alles ist schlechter geworden, nur eines ist besser geworden: die Moral, die ist auch schlechter geworden.    W. K. Nordenham

Die Fackel  1927XXIX. JAHR, Heft 759  S. 88-93

Ein Organ der Intelligenz

Das Organ der Herren Hacsak & Herczeg, von sozialdemokratischer Seite wegen des Verdachts der Erpressung verfolgt, hat sich in Wahlzeiten aushilfsweise mit einem Eifer betätigt, dem nur der gute Zweck die Befreiung von den Lasten des Kreuzelparagraphen im Leitartikel sichern konnte. Die Aufgabe der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ war es, vornehmlich die Intelligenzkreise, denen sonst mit den Sensationen eines abgehackten Beins, einer Giftmordverleumdung oder anderer publizistischen Alkoholexzesse streitbarer Ritter gedient wird, sozialen Interessen in einem edleren Sinne zugänglich zu machen, die herabzusetzen noch kurz zuvor keine weißgardistische Verleumdung schmutzig genug erschienen war. Ob es derselbe Brillantenschmock ist, der früher rechts geschrieben hat, oder ein neuer, der nur links schreiben kann, jedenfalls war auf demselben Papier nunmehr zu lesen:

Unser Blatt  ist nicht  dazu  da, parteiliche  Wahlparolen  auszugeben. W i r    s i n d     e i n    O r g a n    d e r    I n t e l l i g e n z, ein    Blatt  f r e i e r    K ö p f e, die jedem geistigen Zwang und daher auch dem Parteizwang inneres Widerstreben entgegensetzen. Darum unterlassen wir den aussichtslosen Versuch, unsere Leser in einen Parteipferch sperren zu wollen. Wir sagen ihnen nicht, stimmt für diese oder jene Liste, s o n d e r n  w i r   s a g e n  i h n e n   e t w a s   a n d e r e s.

U n s e r    L e s e r k r e i s ,  das  dürfen  wir wohl  behaupten, umfasst    d i e   g e i s t i g e   E l i t e   d i e s e s   L a n d e s , jene Bürger, die das stärkste Interesse am öffentlichen Geschehen bekunden und sich mit der publizistischen Hausmannskost des Morgens und Mittags nicht zufrieden geben. Diesen unseren Lesern rufen wir zu: Seht sie euch an, die berühmte Einheitsliste! Seht sie euch an, die Einheitskandidaten von Kink bis Riehl und von Blasel bis Jerzabek! …  Das also sind die erhabenen Führer, die leuchtenden Vorbilder bürgerlicher  I n t e l l i g e n z ! So sehen sie aus, die Herolde der österreichischen Geistigkeit!

Ohne Zweifel ist die Geistigkeit der genannten Herren keine solche, mit der man einen andern Staat als den österreichischen machen könnte, und selbst dieser Versuch ist ja größtenteils misslungen. Was aber die Intelligenz anlangt, deren eigentliches Organ die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ ist, so konnte man wahrnehmen, dass jene dem Ruf, der an sie von leitender Stelle erging, noch in derselben Nummer  und zwar auf der letzten Seite gehorsamt hat. Denn da finden sich, heute wie täglich, die fast immer intelligenten Herren und Damen zusammen, die, anpassungsfähig bis zum Äußersten, »Gegenpol« suchen, sei es, dass ein sympathischer ernster Künstler streng seriösen Einzelunterricht an Dame im Privatatelier unter »Ars severa« anbietet, sei es das eine sensible oder energische, rassige, jedoch zielbewusste Dame sich als »Domina« offeriert. Die Chiffren, nur den Intelligenzkreisen verständlich, schwanken zwischen »Kallipygos« oder der Umkehrung eines Begattungswortes oder etwa »S. M.«, was aber, wenn ein noch junger, anpassungsfähiger Mann eine energievolle Dame  sucht, und zumal in einem den republikanischen Interessen zugewendeten Blatt keineswegs als Ausdruck einer monarchistischen Sehnsucht aufgefasst werden könnte, obschon ein gewisser Drang nach Unterwerfung unverkennbar hervortritt. Nicht minder verständlich, als dass eine energische Dame noch einige Schüler zum Sprachunterricht wünscht, die ihre Methode durch die Chiffre »O. W.« andeutet, oder dass eine routinierte Lehrerin gesucht wird, wobei Energie Bedingung ist und die Offerte demgemäß unter »Strenge Disziplin« erfolgen muss, »da es sich um einen sehr zerstreuten und unaufmerksamen Jungen handelt«. Die Aufmerksamkeit der geistigen Elite zu fesseln dürfte aber insbesondere gelingen, wenn ein »Imperativus« oder eine »Dominatrix« aufmarschiert. Dass da nicht gut Kirschen essen ist, wiewohl es manche gerade wollen, beweisen auch Chiffren wie »Dominiert«, »Dominierend« und »Domination«. Da gibt es große, schlanke Herrennaturen, ja sogar gutsituierte Gentleman-Herrennaturen, von denen man nicht gleich weiß, ob sie Herren- oder Damennaturen sind, weil die Gegensätze ja auch innerhalb des gleichen Geschlechts Ergänzung suchen; es wäre denn, dass ein Intelligenzler solche unter der Chiffre »Gebund en« erwartet oder eine Fesche angibt, sie sei »Noch vom alten Schlag«. So unerbittlich da aber vorgegangen wird, so geht doch auch das Gemüt nicht leer aus, wie der folgende Fall dartut:

31jährige, häusliche, intelligente, gebildete Dame aus der Provinz sucht aus Mangel an Bekanntschaft auf diesem Wege ernste Ehebekanntschaft mit Akademiker, höherem Beamten oder größerem Geschäftsmann. Besitze nach dem Tode meiner Eltern, welche schon in vorgerücktem Alter sind, schöne Villa, welche bei Ehe umgeschrieben wird, nebst schöner Friedensausstattung und Möbel. Nur ernstgemeinte, ausführliche Anträge unter »Häusliches Glück« an die Exp.

Einen noch höheren Grad von Selbstlosigkeit zeigt ein Akademiker, der »Gesonderte Kosten« anbietet, wie auch ein seriöser Herr (Doktor gar), der eine Reisebegleiterin nach Monte Carlo sucht unter »Geteilte Rechnung, gemeinsames Glück«, während ihr wahrscheinlich gemeinsame Rechnung, geteiltes Glück lieber wäre. Hohe Intelligenz ist im Kreise der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ oft mit tiefer Gemütsart gepaart. »Redoutenmüde«, ersehnt ein 29jähr. Geistesmensch ein »Coeur en cuirasse«, während andere wieder unter »Apartesse«, »Extraordinaire« »Diskrete Siesta« das Äußerste gewähren oder begehren. Ja, délices inespérés auf einer Reise autour du monde sur une route pavée d’aventures amoureuses verheißt einer unter »Plaisir sensuell«, was will eine mehr? Ich vermute, dass es derselbe Schlankl ist, der, als »Adam« entkleidet, cherche Eve pour gouter fruit défendu, sie soll écrire unter »Delice paradis terrestre«. Er hat jedenfalls die Absicht, sie auszuziehen, sie täte gut zu antworten déjà bien, je viens und die Strafanzeige zu erstatten. Für alle Geschmacksrichtungen ist die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ tätig. Junge Ausländerin sucht verständnisvolle Freundin, was eine intelligente 30jährige Dame sehr gut verstehen kann und gleichfalls tut. Intelligenzler bevorzugt Blondine, ein andrer, der auch nicht auf den Kopf gefallen ist, versteift sich auf eine Vollschlanke, aber nur Rothaarige, wieder ein anderer will ausgerechnet eine Tizianblonde, wo soll die Allgemeine Zeitung alles das nur hernehmen? Und schon ist wieder ein Intelligenzler da — sie reichen einander die Türklinke —, der will eine, die sehr energisch, aber uneigennützig ist, dagegen lange, reiche Haare hat, er braucht sie als Ergänzung, während ein fester Charakter auf Freundschaft sanftmütigen Gegenpols besteht. Oft aber ist nur Frohsinn und Temperament Bedingung. Die kuriosesten Typen tummeln sich. Man denke nur, ein trink- und wetterfester Wanderkamerad wird unter »Nietzsche« erwartet, ein anderer tuts nicht unter »Eroica«, eine weltfremde, verspielte Seele wünscht älteren Herrn unter »Ruth«, ein Realpolitiker eine »Juno«, aber ohne Bubikopf, eine gebildete Dame ersehnt »Neue Hoffnung«, eine andere bildet sich ein, sie sei ein »rassiger Typ«, ein »Adonis« braucht Geld, ein japanischer Student offeriert sich als »exotischen Menschen«, ein veritabler »Wiking« trägt sich an, daneben gelüstet’s einen nach einem »Naschkatzerl«, und nur wirklich liebes Mädel wird folgerichtig unter »Liebling« begehrt, den wieder ein »fescher, vollwertiger Intelligenzler« Darling nennt. Und zwischendurch die unübersehbare Schar der Sensiblen, zumeist Dreißiger, die die Hauptkundschaft bilden, der Aparten, der Nichtalltäglichen — kurzum, es geht zu wie im G’wölb von Nestroys Weinberl, »plötzlich tritt neues Leben ins Merkantilische — — da kommt ein zartes Wesen um ein’n Bärnzucker, da ein Kuchelbär um ein Rosenöl, da lispelt ein brustdefekter Jüngling: ‚Ein’n Zuckerkandl‘, da schreit ein kräftiger Alter: ‚A Flaschel Schligowitz!‘, da will ein üppiges Wesen ein Halstüchel, da eine Zaundürre Fischbeiner zu ein’m ausg’schnittnen Leibel haben«, da will der eine ein’n Haring und die andre ein’n Kas — in solchen Momenten muss die Allgemeine zeigen, was eine Allgemeine ist: »d’Leut’ z’samm’schrein lass’n, wie s’ wollen, und mit einer ruhigen, ans Unerträgliche grenzenden Gelassenheit eins nach’m andern bedienen.« Ja, wenn alle so anspruchslos wären wie manche. Die wünschen »nur platonische Freundschaft«, was ist denn dabei, ein älterer Herr, schon ganz genügsam, bittet nur um »Ein bisschen Feuer«, einer will ja nichts als was umgekehrt zu lesen ist, ein anderer bloß »gemeinsamen Zeitvertreib«, wiewohl man sich da auch denken kann, was er sich da denkt. Manche verhalten sich direkt zugeknöpft, sind unwirsch und lehnen brüsk ab, was sie wünschen; »Abenteuer ausgeschlossen« ruft eine Dame mit Eigenheim, »Halbwelt ausgeschlossen« erklärt ebensolcher Herr, oder »Halbwelt verbeten« ein Akademiker, allerdings unter der Chiffre »Mulatschak«. Ein Vierziger, der sich nach Kultur und Statur sehnt, tritt schon etwas aus sich heraus, indem er zwinkernd  ragt: »Kleine Osterfahrt?«. (Offenbar der Verführer aus Terramares Gedicht, der da lächelt: »Seid’ne Ruh und süßer Wein.«) Sehr schwer zu behandeln dürfte ein Altersgenosse sein, der von vornherein darauf aufmerksam macht, dass er »äußerst pedantischer Wesensart« ist, und unter »Anständig 7« zu seinem Ziel gelangen will. Einer rühmt von sich, er sei mittelgroß und freidenkend, und macht sich damit übertriebene Hoffnungen, während ein mehr Besonnener einer Anpassungsfähigen unter der Chiffre »Vederemo« winkt (»Man wird doch da sehn«). Der Betrieb ist unerhört kompliziert, denn eine schmiegsame Frauennatur soll nur erstklassigst sein, eine Amazone

energisch, eine Eintänzerin unbedingt groß, eine Nichtalltägliche will, dass einer »kein absoluter Verstandesmensch« sei — was im Kreise der Intelligenz doch fast ein Ding der Unmöglichkeit ist —, und zwei große schlanke Jüdinnen suchen Tennispartner »für sofort«. Direkt aufsehenerregend aber ist es, wenn dafür wieder jene Dame, welche Samstag von zwei Herren bis ins Opernkino »verfolgt« wurde, um ein Wiedersehen gebeten wird. Das grenzt schon an Listenwahl! Aber das Organ der Intelligenz, das seinen Lesern keinen Zwang auferlegen will, bleibt seinem Programm doch viel treuer mit einer Parole wie dieser:

I c h  w ä h l e  35 bis 45jährige vorurteilsfreie Dame mit Eigenheim. Zuschr. unter »Freie Wahl«.

Und da sie allen Interessen dient, so interveniert die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ natürlich auch dort, wo das Wahlrecht noch nicht einmal erobert wurde, und offeriert »eine bildschöne, 16jährige Offizierswaise« unter »Unschuld«. Während sich dies und alles andere begibt, arbeitet eine schon routinierte Masseuse ununterbrochen, alles Leben und Treiben begleitend wie die Liliencron’sche Schwalbe, die weglang auf und niederjagt. Dieser junge Gentleman-Masseur dagegen, der heute bis 8 Uhr und zwar in und außer Haus bedient, während er gleich darunter versichert, dass er heute bis 9 Uhr bediene, stiftet Verwirrung. In welchem Grade aber Wien bereits Fremdenstadt geworden ist, ja ein Zentrum raffinierter Sinnenkultur, beweist der Plan eines »Neger- Masseurs«, akademisch gebildet, derzeit Paris, der  sich in Wien selbständig machen will und zu diesem Behufe vornehme Klientel unter »Othello« sucht. Erotischer Gipfel in einer Landschaft, in der allabendlich die intelligenten, unabhängigen Damen und die feschen, vollwertigen Intelligenzler lustwandeln, denn intelligent sind sie alle, denen das Organ der Intelligenz hinten dies und vorn etwas anderes sagt.

All dies spielt sich täglich mit einer sympathischen Offenheit ab, die der ‚Allgemeinen Zeitung‘ tatsächlich die geistige Elite dieses Landes gewonnen hat, zum Beispiel mich, der sicherlich weit entfernt von dem Verdacht lebt, den Vertretern welcher Spezialität immer, die da publizistisch versorgt wird, ihre Freude zu missgönnen; von den paar Fällen abgesehn, wo das Inserat als die Keimzelle der Chantage oder des Zuhältertums erkennbar wird. Wahrscheinlich sind es gemeinnützigere Menschen als die Politiker, von denen vorn die Rede ist, und

sicherlich ist die Rubrik, die solchen Reigen täglich mit so herziger Unbefangenheit vorführt, der am besten geschriebene, mit verständlicheren Adjektiven ausgestattete Teil des Organs der Intelligenz. Dass eine Publizistik an der Förderung und Vermittlung lebenswichtiger Angelegenheiten Geld verdient, wäre auch noch nicht der Übel größtes. Dieses ist aber die Heuchelei einer Gesellschaft, die es noch immer erlaubt, dass eine kleine Kupplerin für die Dienste, die sie ihr erweist, bestraft wird und dass die Zeitung, wenn in einem Pensionszimmer sich ein Teil von dem abgespielt hat, was sie täglich propagiert, das dreimal vertagte Hochgericht eines Bezirksrichters zur Sensation macht. Es ist, solange ein elendes Sexualgesetz besteht, das die Verfolgung der Vermittlerin eines straffreien Liebesverkehrs vorsieht, eine der aufreizendsten kriminalistischen Unterlassungen, den Gewinn der Pressekuppelei für legitim zu erklären, ganz abgesehen davon, dass durch diese und nur durch diese auch ein bestehendes Gesetz gegen die öffentliche Unsittlichkeit übertreten wird. Eine andere Frage ist die nach der Kompatibilität der Wahlpropaganda mit der Kuppelei. Wenngleich der Mann, der im Vordertrakt die geistige Elite anzusprechen hat, ein Verwandter des lebenslustigen Altbundeskanzlers Renner sein soll, so ist doch gerade von der offiziellen Sozialdemokratie keine Lockerung der moralischen und gesetzlichen Fesseln des Sexuallebens zu  erwarten.        (Wenn man etwa an jene polizeiterminologische Begutachtung des Leumunds einer Mutter durch den Professor Tandler denkt oder an den Ausspruch des Dr. Ellenbogen über den italienischen Arrest, wo sich

Räuber, Diebe, Mörder, Päderasten und Leute ähnlichen Kalibers

aufgehalten haben.) Freilich, eine Angelegenheit der Weltanschauung dürfte es für die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ weder sein, die Intelligenz vorn politisch, noch hinten anders zu befriedigen.

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Apokalypse. Von Karl Kraus

02. April 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Es gibt eine Aktualität, die zeitlos ist. Die Frage,  warum Karl Kraus von Jahr zu Jahr lebendiger wird, kann von niemandem besser beantwortet werden als im Folgenden von ihm selbst. Haufenweise haben sich an ihm die Geister, Plagegeister und Ungeister abgearbeitet und mit dem Versuch ihres Gegenbeweises den Beweis geführt, dass er  recht hat. W.K.Nordenham

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Apokalypse.

(Offener Brief an das Publikum.)

»Den Überwinder will ich genießen
lassen von dem Lebensholze, das in
meines Gottes Paradiese steht.«

Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.

Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und  Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die  Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …

Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel
hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.

Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller  Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe  Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.

Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist  abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.

Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.

Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere  gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«

Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«

Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Missgeburten. Aber die Natur arbeitet schon  darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener  geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!

Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen  wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat  man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die  misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten  wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure  bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen  genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und  knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich  nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine   politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden,  weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.

»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.

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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel’ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.

Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit  seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass  mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen  Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden,  als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin  größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.

Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.

Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für  den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der  Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut  gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat  und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder  Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse  der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion.  Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber  der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die  Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier  Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich  den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er  vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir  erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug  einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die  ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige  Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt  keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb  der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.

Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer  noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen  Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre  nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe  rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut  hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.

Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen,  damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns  einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu verdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.

Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass  ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, so lange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der  Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.

In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen  Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch  staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht  im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der  Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei  reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur  mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in  der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner  nach meinem Pfeil zurechtschnitze.

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt  hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf  eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen. Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit  unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man  unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die  Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die  tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«

Karl Kraus.


Tagebuch II. Von Karl Kraus

29. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch

DIE FACKEL

Nr. 254—255. 22. Mai 1908. X. Jahr. S. 33 -35


Tagebuch

Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, dass es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.

*

In Lourdes kann man geheilt werden. Welcher Zauber sollte aber von einem Nervenspezialisten ausgehen?

*

Ich habe um mancher guten Entschuldigung willen gesündigt und darum wird mir vergeben werden.

*

Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.

*

Der persönliche Umgang mit Dichtern ist nicht immer erwünscht. Vor allem mag ich die Somnambulen nicht, die immer auf die richtige Seite fallen.

*

Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber es geht darin zu, wie in Österreich.

*

»Zu neuen Taten, tapferer Helde, wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht!« So spricht das Weib Wagners. Dem Helden müsste bei solcher Bereitschaft die Lust an den Taten und die Lust  am Weibe vergehen. Denn die Lust an den Taten entstammt der Lust am Weibe. Nicht zu den Taten lasse sie ihn, sondern zur Liebe: dann kommt er zu den Taten. Solcher Psychologie  aber entspräche auch das Wort Wagners,  wenn nur die Interpunktion verändert wäre. Die Alliteration mag bleiben. Man lese also: »Zu neuen Taten, tapferer Helde! Wie liebt’ ich dich,  ließ’ ich dich nicht …«

*

Omne animal triste. Das ist die christliche Moral. Aber auch sie nur post, nicht propter hoc.

*

Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es, wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern Gedanken als dich und darum immer neue!

*

Zur Vollkommenheit fehlt ihr nur ein Mangel.

*

Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen, auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu beseitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei ungefährlich, wenn sie unter allen  Kautelen der theologischen Wissenschaft durchgeführt wird.

*

Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus. Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen.

*

Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt auch nichts der Sache.

*

Die alten Bücher sind selten, die zwischen Unverständlichem und Selbstverständlichem einen lebendigen Inhalt bewahrt haben.

*

Auch die sprachliche Trivialität kann ein Element des künstlerischen Ausdrucks sein, nämlich des Witzes. Der Schriftsteller, der sich ihrer bedient, ist echter Feierlichkeit fähig. Das  Pathos an und für sich ist ebenso wertlos wie die Trivialität als solche.

*

Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung  kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.

*

Die bange Frage steigt auf, ob der Journalismus, dem man getrost die besten Werke zur Beute hinwirft, nicht auch kommenden Zeiten schon den Geschmack an der sprachlichen Kunst verdorben hat.

*

Eine exklusive Kunst ist ein Unding. Es heißt die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganze Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder  will dann exklusiv sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung des Exklusiven zu leben. Es besteht der Verdacht,  dass die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen lebt. Die  Musik von Nebengeräuschen, die Schauspielerei von Mängeln.

*

Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen,  so bleibe ich lieber unverheiratet.

*

Die Gesellschaft braucht Frauen, die einen schlechten Charakter haben. Solche, die gar keinen haben, sind ein bedenkliches Element.

*

Das höchste Vertrauensamt: Ein Beichtvater unterlassener Sünden.

*

Ein Leierkasten im Hof stört den Musiker und freut den Dichter.

*

Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.

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Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!

 

K a r l    K r a u s .

 


Die Sprache. Von Karl Kraus

18. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Aus "Die Fackel", Sprache

DIE FACKEL


Nr. 885—887 ENDE DEZEMBER 1932 XXXIV. JAHR


Die Sprache

Der Versuch: der Sprache als Gestaltung, und der Versuch: ihr als Mitteilung den Wert des Wortes zu bestimmen — beide an der Materie durch das Mittel der Untersuchung beteiligt — scheinen sich in keinem Punkt einer gemeinsamen Erkenntnis zu begegnen. Denn wie viele Welten, die das Wort umfasst, haben nicht zwischen der Auskultation eines Verses und der Perkussion eines Sprachgebrauches Raum! Und doch ist es dieselbe Beziehung zum Organismus der Sprache, was da und dort Lebendiges und Totes unterscheidet; denn dieselbe Naturgesetzlichkeit ist es, die in jeder Region der Sprache, vom Psalm bis zum Lokalbericht, zum Lokalbericht, den Sinn dem Sinn vermittelt. Kein anderes Element durchdringt die  Norm, nach der eine Partikel das logische Ganze umschließt, und das Geheimnis, wie um eines noch Geringern willen ein Vers blüht oder welkt. Die neuere Sprachwissenschaft  mag so weit halten, eine schöpferische Notwendigkeit über der Regelhaftigkeit anzuerkennen: die Verbindung mit dem Sprachwesen hat sie jener nicht abgemerkt, und dieser so wenig wie die ältere, welche in der verdienstvollen Registrierung von Formen und Missformen die wesentliche Erkenntnis schuldig blieb. Ist das, was sie dichterische Freiheit  nennen, nur metrisch gebunden, oder verdankt sie sich einer tieferen Gesetzmäßigkeit? Ist es eine andere als die, die am Sprachgebrauch wirkt, bis sich ihm die Regel verdankt? Die Verantwortung der Wortwahl — die schwierigste, die es geben sollte, die leichteste, die es gibt —, nicht sie zu haben: das sei keinem Schreibenden zugemutet; doch sie zu erfassen, das ist  es, woran es auch jenen Sprachlehrern gebricht, die dem Bedarf womöglich eine psychologische Grammatik beschaffen möchten, aber so wenig wie die Schulgrammatiker imstande  sind, im psychischen Raum des Wortes logisch zu denken.

Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist. Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber  dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern  Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des  Gedankens Vater zu sein? Alles Sprechen und Schreiben von heute, auch das der Fachmänner, hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Wegwurf einer Zeit  gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung abnimmt. Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis  heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt. Und es ist, als  hätte das Fatum jene Menschheit, die deutsch zu sprechen glaubt, für den Segen gedankenreichster Sprache bestraft mit dem Fluch, außerhalb ihrer zu leben; zu denken, nachdem sie  sie gesprochen, zu handeln, ehe sie sie befragt hat. Von dem Vorzug dieser Sprache, aus allen Zweifeln zu bestehen, die zwischen ihren Wörtern Raum haben, machen ihre Sprecher  keinen Gebrauch. Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln, wenn der Deutsche keiner andern Ordonnanz gehorsamte als der der Sprache!

Nichts wäre törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der  tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen  Bodens bäumt sie sich dagegen auf. Sie ist schon in ihrer zugänglichsten Region wie eine Ahnung des höchsten Gipfels, den sie erreicht hat: Pandora; in unentwirrbarer Gesetzmäßigkeit seltsame Angleichung an das symbolträchtige Gefäß, dem die Luftgeburten entsteigen:

Und irdisch ausgestreckten Händen unerreichbar jene, steigend jetzt empor und jetzt gesenkt. Die Menge täuschten stets sie, die verfolgende. Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer  Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind — das wäre die pädagogische Aufgabe an  einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt sein — mehr durch die  Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen — ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an  einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. »Volk der Dichter und Denker«: seine Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst erschlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Außerhalb, das die Fülle entbehrten Glückes umfasst: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen!


 

 


Vorurteile. Von Karl Kraus

05. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Vorurteile

Die Fackel

Nr. 241 WIEN, 15. JÄNNER 1908 IX. JAHR  S. 1-8


Es gibt zweierlei Vorurteil. Das eine steht über allem Urteil. Es nimmt die innere Wahrheit vorweg, ehe das Urteil der äußern nahegekommen ist. Das andere steht unter allem Urteil; es kommt auch der äußern Wahrheit nicht nahe. Das erste Vorurteil ist über die Zweifel des Rechts erhaben, es ist zu stolz, um nicht berechtigt zu sein, es ist unüberwindlich und führt zur Absonderung. Das zweite Vorurteil lässt mit sich reden; es macht seinen Träger beliebt und ist auch als Verbindung eines Urteils mit einem Vorteil praktikabel.

*

Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nicht.

*

Ich unterschätze den Wert der wissenschaftlichen Erforschung des Geschlechtslebens gewiss nicht. Sie bleibt immerhin eine schöne Aufgabe. Und wenn ihre Resultate von den Schlüssen künstlerischer Phantasie bestätigt werden, so ist das schmeichelhaft für die Wissenschaft und sie hat nicht umsonst gelebt.

*

Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen!

*

Diese finden jenes, jene dieses schön. Aber sie müssen es »finden«. Suchen will es keiner.

*

Ich habe den Satz von der ersten Geliebten, die eine Kletterstange war, wörtlich, nicht metaphorisch gemeint. Ich werde doch nicht einer Frau den Rang einer Kletterstange anweisen. Wohl aber umgekehrt.

*

Das Gefühl, das man bei der Freude des andern hat, ist in jedem Fall selbstsüchtig. Hat man ihm die Freude selbst bereitet, so nimmt man die größere Hälfte der Freude für sich in Anspruch. Die Freude aber, die ihm ein anderer vor unseren Augen bereitet, fühlen wir ganz mit: die Hälfte ist Neid, die Hälfte Eifersucht.

*

Frauen sind hohle Koffer oder Koffer mit Einlage. In die hohlen packe man keinen geistigen Inhalt, er könnte in Verwirrung geraten. In die andern lässt er sich gut hineinlegen.

*

Wenn man einmal durch Erleben zum Denken gelangt ist, gelangt man auch durch Denken zum Erleben. Man genießt die wollüstigen Früchte seiner Erkenntnis. Glücklich, wem Frauen, auf die man Gedachtes mühelos anwenden kann, zu solcher Erholung beschieden sind!

*

Es ist die wichtigste Aufgabe, das Selbstunbewusstsein einer Schönen zu heben. Und das Selbstbewusstsein derer, die um sie sind.

*

Wenn ich eine Frau so auslegen kann, wie ich will, ist es das Verdienst der Frau.

*

Mein Gehör ermöglicht es mir, einen Schauspieler, den ich vor zwanzig Jahren in einer Dienerrolle auf einem Provinztheater und seit damals nicht gesehen habe, als Don Carlos zu imitieren. Das ist ein wahrer Fluch. Ich höre jeden Menschen sprechen, den ich einmal gehört habe. Nur die Wiener Schriftsteller, deren Feuilletons ich lese, höre ich nie sprechen. Darum muß ich jedem erst eine besondere Rolle zuweisen. Wenn ich einen Wiener Zeitungsartikel lese, höre ich einen Zahlkellner oder einen Hausierer, der mir vor Jahren einmal einen Taschenfeitel angehängt hat, reden. Oder es ist eine Vorlesung bei der Hausmeisterin. Mit einem Wort, ich muss mich auf irgend einen geistigen Dialekt einstellen, um hindurchzukommen. Mit meiner eigenen Stimme bringe ich’s nicht fertig.

*

Es müsste ein geistiger Liftverkehr etabliert werden, um einem die unerhörten Strapazen zu ersparen, die mit der Herablassung zum Niveau des Wiener Schrifttums verbunden sind. Wenn ich wieder zu mir komme, bin ich immer ganz außer Atem.

*

Dem Erotiker wird das Merkmal des Geschlechts nie Anziehung, stets Hemmung. Auch das weibliche Merkmal. Darum kann er zum Knaben wie zum Weib tendieren. Den durchaus Homosexuellen zieht das Merkmal des Mannes an, gerade so wie den hypersexuellen »Normalen« das Merkmal des Weibes als solches anzieht. Jack the ripper ist also viel »normaler« als Sokrates.

*

Der sexuelle Mann sagt: Wenn’s nur ein Weib ist! Der erotische sagt: Wenn’s doch ein Weib wäre!

*

Das Weib kann Sinnlichkeit auch zum Weib führen. Den Mann die Phantasie auch zum Mann. Hetären und Künstler. »Normwidrig« ist der Mann, den Sinnlichkeit, das Weib, das Phantasie zum eigenen Geschlecht führt. Der Mann, der mit Phantasie auch zum Mann gelangt, steht höher als jener, den nur Sinnlichkeit zum Weib führt. Das Weib, das Sinnlichkeit auch zum Weib führt, höher, als jenes, das erst mit Phantasie zum Mann gelangt. Der Normwidrige kann Talente haben, nie eine Persönlichkeit sein. Der andere beweist seine Persönlichkeit schon in der
»Perversität«. Das Gesetz aber wütet gegen Persönlichkeit und Natur, gegen Werte und Defekte.Es straft Sinnlichkeit, die das Vollweib zum Weib und den Halbma nn zum Mann, es straft Phantasie, die den Vollmann zum Mann und das Halbweib zum Weib führt. — Ich spreche diese Erkenntnis, die die Analphabeten aus meiner Abhandlung über »Perversität« nicht entnehmen konnten, hier noch einmal aus. Es muss mir vor allem darauf ankommen, die Analphabeten zu überzeugen, da sie ja die Strafgesetze machen.

*

Wenn man vom Sklavenmarkt der Liebe spricht, so fasse man ihn doch endlich so auf: die Sklaven sind die Käufer. Wenn sie einmal gekauft haben, ist’s mit der Menschenwürde vorbei; sie werden glücklich. Und welche Mühsal auf der Suche des Glücks! Welche Qual der Freude! Im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Genuss finden. Wie plagt sich der Mann um die Liebe! Aber wenn eine nur Wanda heißt, wird sie mit der schönsten sozialen Position fertig.

*

Ein schauerlicher Materialismus predigt uns, dass die Liebe nichts mit dem Geld zu tun habe und das Geld nichts mit der Liebe. Die idealistische Auffassung gibt wenigstens eine Preisgrenze zu, bei der die wahre Liebe beginnt. Es ist zugleich die Grenze, bei der die Eifersucht dessen aufhört, der um seiner selbst willen geliebt wird. Sie hört auf, wiewohl sie jetzt beginnen könnte. Das Konkurrenzgebiet ist verlegt.

*

Die Rechtsstellung des Zuhälters in der bürgerlichen Gesellschaft ist noch nicht geklärt. Ethisch ist seine Rolle, wenn er bloß achtet, wo geächtet wird. Ethisch ist er als Antipolizist. Also ein Auswurf der Gesellschaft. Vollends, wenn er für seine Überzeugung Opfer bringt. Wenn er aber für seine Überzeugung Opfer verlangt, fügt er sich in den Rahmen der Gesellschaftsordnung, die zwar dem Weibe Prostitution nicht verzeiht, aber dem Manne Korruption.

*

Verachtung der Prostitution? Die Huren schlechter als Diebe? Wisst: Liebe nimmt nicht nur Lohn, Lohn gibt auch Liebe!

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Hierzulande gibt es unpünktliche Eisenbahnen, die sich nicht daran gewöhnen können ihre Verspätungen einzuhalten.

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Ein skrupelloser Maler, der unter dem Vorwand, eine Frau besitzen zu wollen, sie in sein Atelier lockt und dort malt.

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Das Gesetz enthält leider keine Bestimmung gegen die Männer, die ein unschuldiges junges Mädchenunter der Zusage der Verführung heiraten und wenn das Opfer eingewilligt hat, von nichts mehr wissen wollen.

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Die einen verführen und lassen sitzen; die andern heiraten und lassen liegen. Diese sind die Gewissenloseren.

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Versorgung der Sinne! Die bangere Frauenfrage.

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Ich bin doch gewiss bereit, einen Gegner nachsichtig zu beurteilen. Aber ich muss so gerecht sein und zugeben, dass die Artikel, die H. über seinen Prozess geschrieben hat, der letzte Schund sind.

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Eine untrügliche Probe der Dummheit: Ich frage einen Diener, um welche Zeit gestern ein Besuch da war. Er sieht auf seine Uhr und sagt: »Ich
weiß nicht, ich hab’ nicht auf die Uhr gesehen!« Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen »ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten dürfen. Aber man musssagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten. Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehrviolett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in  holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.

*

Ein pornographischer Schriftsteller kann leicht Talent haben. Je weiter die Grenzen der Terminologie, desto geringer die Anstrengung der Psychologie. Wenn ich den Geschlechtsakt populär bezeichnen darf, ist das halbe Spiel gewonnen. Die Wirkung eines verbotenen Wortes wiegt alle Spannung auf und der Kontrast zwischen dem Überraschenden und dem Gewohnten ist beinahe ein Humorelement.

*

Es gibt seichte und tiefe Hohlköpfe. In der Vogelperspektive aber ist zwischen einem Paul Goldmann und einem Professor der Philosophie kein
Unterschied.

*

Es wäre immerhin möglich, dass eine Sitzung des Vereins reisender Kaufleute sich als eine Versammlung der Väter unserer jungwiener Dichter
entpuppte.

*

Die Boheme hat sonderbare Heilige. Ein Einsiedler, der von Wurzen lebt!

*

Ein amerikanischer Denker: Deutsche Philosophie, die auf dem Transport Wasser angezogen hat.

*

Die Persönlichkeit hat’s in sich, das Talent an sich.

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Es ist etwas Eigenes um die gebildeten Schönen. Sie krempeln die Mythologie um. Athene ist schaumgeboren und Aphrodite in eherner Rüstung dem Haupt Kronions entsprossen. Klarheit entsteht erst wieder, wenn die Scheide am Herkulesweg ist.

*

Sie gewährt, an die Pforte ihrer Lust zu pochen und lässt alle die Schätze sehen, von denen sie nicht gibt. Die Unlust des Wartenden bereichert indes ihre Lust: sie nimmt dem Bettler ein Almosen ab und sagt ihm, hier werde nichts geteilt.

*

Wir kürzen uns die Zeit mit Kopfrechnen ab. Ich ziehe die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt mich zur Potenz.

*

In der Nacht sind alle Kühe schwarz, auch die blonden.

 


Journalisten der Malerei. Von Karl Kraus

11. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten

DIE FACKEL

Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr.  S.  28 Tagebuch

Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die  Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht  wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt  mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten  Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache  schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist,  als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben  keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der  grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar  nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz  eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem  ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire  über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt  noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am  besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.


Entwicklung. Von Karl Kraus.

22. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Entwicklung, Notizen zur Zeit

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen.    Karl Kraus

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Entwicklung.

Kürzlich las ich einen Vorschlag zur Abschaffung der deutschen Satire. Hätte ein Greisler nachgewiesen, dass auch der gesalzene Kaviar keine Volksnahrung sei, ich wär’s zufrieden gewesen. Aber er sagte, das Volk verlange bessere Nahrung. Die Satire auf vaterländische Übel habe sich überlebt, denn das Vaterland habe kein Übel mehr. Die bösen Zeiten der kulturellen Zerrissenheit seien vorüber und seit genau fünf Jahren sei die Entwicklung abgeschlossen. Und da es keinen Schwindel und keine Hässlichkeit mehr gibt, so ist auch kein ersichtlicher Grund für die geringste satirische Anstrengung vorhanden. Also ein Vorschlag zur Güte, der annehmbar wäre, wenn er nicht selbst die Satire auf ein noch wenig bebautes Feld verwiese, nämlich auf die Dummheit.

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Nicht einmal die Entwicklung eines Kindes, geschweige denn die eines Volkes. Wenn ich nach fünf Jahren in ein Familienhaus kam, so war es wohl nicht zu verkennen, dass der kleine Rudolf inzwischen gewachsen war, aber ich fragte mich sogleich, ob mir der Unterschied zwischen einst und jetzt auch aufgefallen wäre, wenn ich die ganze Zeit dabei gestanden, meine Hand auf seinem Kopfe gehalten oder wenigstens jeden Morgen nachgesehen hätte, ob er größer geworden sei. Ich glaube, um eine Entwicklung recht zu genießen, muss man sich von ihr überraschen lassen. Aber fünf Jahre im Leben eines Volkes sind vielleicht nicht einmal so viel wie ein Tag im Leben eines Kindes, und wenn man dort alle fünf Jahre nachsieht, so fällt einem keine Veränderung auf. Die Fähigkeit, eine Entwicklung zu übersehen, wächst mit der Entfernung, in der man von ihr steht, und nur dem sogenannten »historischen Sinn« ist es gegeben, sie aus unmittelbarer Nähe aufzuspüren. Der historische Sinn ist aber eine Eigenschaft, die man gerade bei den jüngeren Zeitgenossen antrifft, weil für sie jede Erfahrung den Reiz des Ungewohnten hat, jedes zeitliche Erlebnis zum Ereignis wird und jeder Glockenschlag eine Ewigkeit einläutet. Gewiss wäre der kleine Rudolf, von dessen Entwicklung ich mir erst Rechenschaft geben kann, wenn sie abgeschlossen sein wird, schon jetzt imstande, die Entwicklung des deutschen Volkes von gestern auf heute festzustellen. Die Häufigkeit dieser Erscheinung ist selbst wieder eine Tatsache der kulturellen Entwicklung, die man nicht übersehen darf. Denn seitdem die Zeitgeschichte täglich zweimal erscheint,  ist jeder in die Lage versetzt, Phrasen zu gebrauchen,  die sonst erst nach einem Jahrhundert in der Leute Mund kämen. So kann einer zum Beispiel behaupten, die deutsche Nation sei bis vor fünf Jahren in der Umbildung begriffen gewesen, seit damals aber habe sie pünktlich die Verpflichtung erfüllt, eine »aus heterogensten Ständen plötzlich nach außen einsgewordene Gemeinschaft innerlich zur homogenen Rasse zu verarbeiten«. Wer sollte leugnen, dass dies ein Ziel sei, aufs innigste zu wünschen? Wer außer den Satirikern ist so blind, nicht zu sehen, dass es über Nacht erreicht wurde? Jene glauben noch immer, an der Tafel einer Kultur zu sitzen, in deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Wie Petron vom Gastmahl des Trimalchio sagt: »Nun folgte ein Gang, welcher unserer Erwartung nicht entsprach, doch zog er durch seine Neuheit aller Augen auf sich«, so sehen sie Wunder über Wunder,  und sind unzufrieden. Ein »Mischmasch von einem Spanferkel und anderem Fleische«, »ein Hase mit Flügeln, damit er dem Pegasus gleiche«, und »in den Ecken des Aufsatzes vier Faune, aus deren Schläuchen Brühe auf die Fische herunterfließt, die in einem Meeresstrudel schwimmen«. Zum Lob der Brühe singt ein ägyptischer Sklave mit abscheulicher Stimme ein Liedchen. Aber die satirischen Gäste finden sie trotzdem nicht schmackhaft und erdreisten sich, all ihr Salz hineinzuschütten. Und nachdem sie sich noch an der protzigen Aufschrift des hundertjährigen Falerners berauscht haben, träumen sie diesen Traum:

Die Entwicklung ist eine G. m. b. H., das Schicksal ist ein Kaufhaus des Westens, das Leben ist eine Stehbierhalle. Um die Seele des Menschen ringen Wertheim und Tietz. Zweimal täglich löst eine Generation die andere ab, aber die Zeitrechnung beginnt mit der Einführung der orthozentrischen Kneifer, der Reformglücksehe und der Eröffnung der Halenseer Terrassen. Alles, was vorher geschah, hat nur dazu gedient, die sogenannte Entwicklung vorzubereiten, wenn es sich nicht etwa zum Beweise der Homosexualität des Fürsten Eulenburg heranziehen lässt. Nicht nur die Geschichte, auch die Bibelforschung hat wertvolles Material geliefert, aus dem klar hervorgeht, wie seit Erschaffung der Welt alles auf eine Entwicklung hingearbeitet hat, die erst jetzt abgeschlossen vor uns liegt. Schon die Häufigkeit der Bemerkung »Und der Herr sprach« scheint darauf hinzudeuten. »Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom, das ist groß und ihre Sünden sind schwer … Da ließ der Herr Schwefel regnen auf Sodom …« Merkwürdig ist auch der Hinweis auf die Affäre von Loths Töchtern: »Also gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in dieser Nacht … Und sie wurden schwanger von ihrem Vater. Und die älteste gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter, bis auf den heutigen Tag«. Und dann war wieder eine Leiter da, »die stand auf Erden und rührete mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel des Herrn stiegen daran auf und nieder«, denn es waren Flügeladjutanten Gottes … Hier verlässt der Traum die logische Linie und ist plötzlich an dem Punkt, wo die eigentliche Entwicklung ansetzt. Es braust ein Ruf wie Donnerhall:

Pauline, au au, au au, au au
Wie haben sie dir verhaun!

Fünf Jahre später schon ist der Spieß umgekehrt:

Und er rief: Geliebte Krause — immer mit der Hand lang
Machen Se doch ’ne kleine Pause — immer mit der Hand lang!

Die Entwicklung ist im Zuge, wir wissen, wie viel’s geschlagen hat. Zuerst hieß es bloß: Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt! Bald aber wird schüchtern hinzugesetzt: Und höchstens noch die strengen Masseusen! Es ist nicht schimpflich, sich im Frieden schlagen zu lassen, und kriegerische Tüchtigkeit steht nach wie vor in hohem Ansehen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher versicherte die Schangsonette:

Ja, so ein Leudenant, so fesch und sauber,
Wirkt auf ein Mädchenherz als wie ein Zauber.

Jetzt singt zwar noch immer eine ganze Kompagnie:

Ja, wir sind doch ’ne eigne Rasse,
Zivil ist ganz ’ne faule Klasse!

Aber die es singen, sind uniformierte Mädchen … Die Satiriker träumen weiter. Von einer Politik, die durch eine eifrige Ausnützung der Verkehrsmittel, wie Post und Telegraph, sich in der ganzen Welt Geltung verschafft, da man einsehen gelernt hat, dass das gesprochene Wort nicht ausreicht. Von einer Justiz, die den Tod eines Angeklagten für keinen Vertagungsgrund hält, von einem Lauf der Gerechtigkeit, bei dem zuerst sie vor den Fürsten und dann die Fürsten vor ihr ohnmächtig werden, und überhaupt von all den Dingen, die man Schmutzereien nennt. Der Schlaf der Satiriker wird unruhig, aber sie haben nichts zu fürchten, denn zu ihren Häupten stehen die Schutzmänner Michael und Gabriel. Sie träumen von einer Welt der Speisehäuser, deren Portiers auf die Frage, was die Göttinnen im Stiegenraum mit der Verdauung zu tun haben, prompt die Auskunft geben: Herr, das hat doch den Zweck, um dem Schönheitssinne Rechnung zu tragen! … Die Satiriker wälzen sich auf ihrem Lager. Da sehen sie Böcklins Toteninsel mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Es ist erreicht. Die Entwicklung ist soeben auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Nation zur homogenen Rasse verarbeitet. Und fünfundzwanzig Jahre hat es gebraucht, bis das Volk in den Besitz der unentbehrlichsten Schmutzereien gelangte, und nur fünf,  bis es die Kultur bekam … Die Satiriker erwachen. Die Polizeihunde Edith und Ruß bellten so laut.

Karl Kraus.