Ein Organ der Intelligenz. Von Karl Kraus.
21. Mai 2012 | Kategorie: Annoncen, Artikel, Aus "Die Fackel"Für „Ein Organ der Intelligenz“ hält sich heutezutage „Die Zeit“. Man kann nicht sagen, dass deren Anzeigen intelligenter geworden wären im Vergleich mit den von Karl Kraus Veröffentlichten. Eigentlich klingen sie genauso direkt und absichtsvoll und haben meist nichts mehr mit Kuppelei zu tun sondern mit eindeutiger Absicht. Noch eindeutiger wird es beim Druckprodukt für den Boulevard. Da bieten Dominas Überstunden an, Edelpuffs für die letzten Wünsche florieren wie nie, und die erforderlichen Organe benötigen nur ausnahmsweise im Vorfeld die Hilfe bescheidener Intelligenz, wenn etwa über den Preis einer zeitlich begrenzten Organspende verhandelt wird.Wie lautete eine treffende Floskel: Alles ist schlechter geworden, nur eines ist besser geworden: die Moral, die ist auch schlechter geworden. W. K. Nordenham
Die Fackel 1927XXIX. JAHR, Heft 759 S. 88-93
Ein Organ der Intelligenz
Das Organ der Herren Hacsak & Herczeg, von sozialdemokratischer Seite wegen des Verdachts der Erpressung verfolgt, hat sich in Wahlzeiten aushilfsweise mit einem Eifer betätigt, dem nur der gute Zweck die Befreiung von den Lasten des Kreuzelparagraphen im Leitartikel sichern konnte. Die Aufgabe der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ war es, vornehmlich die Intelligenzkreise, denen sonst mit den Sensationen eines abgehackten Beins, einer Giftmordverleumdung oder anderer publizistischen Alkoholexzesse streitbarer Ritter gedient wird, sozialen Interessen in einem edleren Sinne zugänglich zu machen, die herabzusetzen noch kurz zuvor keine weißgardistische Verleumdung schmutzig genug erschienen war. Ob es derselbe Brillantenschmock ist, der früher rechts geschrieben hat, oder ein neuer, der nur links schreiben kann, jedenfalls war auf demselben Papier nunmehr zu lesen:
Unser Blatt ist nicht dazu da, parteiliche Wahlparolen auszugeben. W i r s i n d e i n O r g a n d e r I n t e l l i g e n z, ein Blatt f r e i e r K ö p f e, die jedem geistigen Zwang und daher auch dem Parteizwang inneres Widerstreben entgegensetzen. Darum unterlassen wir den aussichtslosen Versuch, unsere Leser in einen Parteipferch sperren zu wollen. Wir sagen ihnen nicht, stimmt für diese oder jene Liste, s o n d e r n w i r s a g e n i h n e n e t w a s a n d e r e s.
U n s e r L e s e r k r e i s , das dürfen wir wohl behaupten, umfasst d i e g e i s t i g e E l i t e d i e s e s L a n d e s , jene Bürger, die das stärkste Interesse am öffentlichen Geschehen bekunden und sich mit der publizistischen Hausmannskost des Morgens und Mittags nicht zufrieden geben. Diesen unseren Lesern rufen wir zu: Seht sie euch an, die berühmte Einheitsliste! Seht sie euch an, die Einheitskandidaten von Kink bis Riehl und von Blasel bis Jerzabek! … Das also sind die erhabenen Führer, die leuchtenden Vorbilder bürgerlicher I n t e l l i g e n z ! So sehen sie aus, die Herolde der österreichischen Geistigkeit!
Ohne Zweifel ist die Geistigkeit der genannten Herren keine solche, mit der man einen andern Staat als den österreichischen machen könnte, und selbst dieser Versuch ist ja größtenteils misslungen. Was aber die Intelligenz anlangt, deren eigentliches Organ die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ ist, so konnte man wahrnehmen, dass jene dem Ruf, der an sie von leitender Stelle erging, noch in derselben Nummer und zwar auf der letzten Seite gehorsamt hat. Denn da finden sich, heute wie täglich, die fast immer intelligenten Herren und Damen zusammen, die, anpassungsfähig bis zum Äußersten, »Gegenpol« suchen, sei es, dass ein sympathischer ernster Künstler streng seriösen Einzelunterricht an Dame im Privatatelier unter »Ars severa« anbietet, sei es das eine sensible oder energische, rassige, jedoch zielbewusste Dame sich als »Domina« offeriert. Die Chiffren, nur den Intelligenzkreisen verständlich, schwanken zwischen »Kallipygos« oder der Umkehrung eines Begattungswortes oder etwa »S. M.«, was aber, wenn ein noch junger, anpassungsfähiger Mann eine energievolle Dame sucht, und zumal in einem den republikanischen Interessen zugewendeten Blatt keineswegs als Ausdruck einer monarchistischen Sehnsucht aufgefasst werden könnte, obschon ein gewisser Drang nach Unterwerfung unverkennbar hervortritt. Nicht minder verständlich, als dass eine energische Dame noch einige Schüler zum Sprachunterricht wünscht, die ihre Methode durch die Chiffre »O. W.« andeutet, oder dass eine routinierte Lehrerin gesucht wird, wobei Energie Bedingung ist und die Offerte demgemäß unter »Strenge Disziplin« erfolgen muss, »da es sich um einen sehr zerstreuten und unaufmerksamen Jungen handelt«. Die Aufmerksamkeit der geistigen Elite zu fesseln dürfte aber insbesondere gelingen, wenn ein »Imperativus« oder eine »Dominatrix« aufmarschiert. Dass da nicht gut Kirschen essen ist, wiewohl es manche gerade wollen, beweisen auch Chiffren wie »Dominiert«, »Dominierend« und »Domination«. Da gibt es große, schlanke Herrennaturen, ja sogar gutsituierte Gentleman-Herrennaturen, von denen man nicht gleich weiß, ob sie Herren- oder Damennaturen sind, weil die Gegensätze ja auch innerhalb des gleichen Geschlechts Ergänzung suchen; es wäre denn, dass ein Intelligenzler solche unter der Chiffre »Gebund en« erwartet oder eine Fesche angibt, sie sei »Noch vom alten Schlag«. So unerbittlich da aber vorgegangen wird, so geht doch auch das Gemüt nicht leer aus, wie der folgende Fall dartut:
31jährige, häusliche, intelligente, gebildete Dame aus der Provinz sucht aus Mangel an Bekanntschaft auf diesem Wege ernste Ehebekanntschaft mit Akademiker, höherem Beamten oder größerem Geschäftsmann. Besitze nach dem Tode meiner Eltern, welche schon in vorgerücktem Alter sind, schöne Villa, welche bei Ehe umgeschrieben wird, nebst schöner Friedensausstattung und Möbel. Nur ernstgemeinte, ausführliche Anträge unter »Häusliches Glück« an die Exp.
Einen noch höheren Grad von Selbstlosigkeit zeigt ein Akademiker, der »Gesonderte Kosten« anbietet, wie auch ein seriöser Herr (Doktor gar), der eine Reisebegleiterin nach Monte Carlo sucht unter »Geteilte Rechnung, gemeinsames Glück«, während ihr wahrscheinlich gemeinsame Rechnung, geteiltes Glück lieber wäre. Hohe Intelligenz ist im Kreise der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ oft mit tiefer Gemütsart gepaart. »Redoutenmüde«, ersehnt ein 29jähr. Geistesmensch ein »Coeur en cuirasse«, während andere wieder unter »Apartesse«, »Extraordinaire« »Diskrete Siesta« das Äußerste gewähren oder begehren. Ja, délices inespérés auf einer Reise autour du monde sur une route pavée d’aventures amoureuses verheißt einer unter »Plaisir sensuell«, was will eine mehr? Ich vermute, dass es derselbe Schlankl ist, der, als »Adam« entkleidet, cherche Eve pour gouter fruit défendu, sie soll écrire unter »Delice paradis terrestre«. Er hat jedenfalls die Absicht, sie auszuziehen, sie täte gut zu antworten déjà bien, je viens und die Strafanzeige zu erstatten. Für alle Geschmacksrichtungen ist die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ tätig. Junge Ausländerin sucht verständnisvolle Freundin, was eine intelligente 30jährige Dame sehr gut verstehen kann und gleichfalls tut. Intelligenzler bevorzugt Blondine, ein andrer, der auch nicht auf den Kopf gefallen ist, versteift sich auf eine Vollschlanke, aber nur Rothaarige, wieder ein anderer will ausgerechnet eine Tizianblonde, wo soll die Allgemeine Zeitung alles das nur hernehmen? Und schon ist wieder ein Intelligenzler da — sie reichen einander die Türklinke —, der will eine, die sehr energisch, aber uneigennützig ist, dagegen lange, reiche Haare hat, er braucht sie als Ergänzung, während ein fester Charakter auf Freundschaft sanftmütigen Gegenpols besteht. Oft aber ist nur Frohsinn und Temperament Bedingung. Die kuriosesten Typen tummeln sich. Man denke nur, ein trink- und wetterfester Wanderkamerad wird unter »Nietzsche« erwartet, ein anderer tuts nicht unter »Eroica«, eine weltfremde, verspielte Seele wünscht älteren Herrn unter »Ruth«, ein Realpolitiker eine »Juno«, aber ohne Bubikopf, eine gebildete Dame ersehnt »Neue Hoffnung«, eine andere bildet sich ein, sie sei ein »rassiger Typ«, ein »Adonis« braucht Geld, ein japanischer Student offeriert sich als »exotischen Menschen«, ein veritabler »Wiking« trägt sich an, daneben gelüstet’s einen nach einem »Naschkatzerl«, und nur wirklich liebes Mädel wird folgerichtig unter »Liebling« begehrt, den wieder ein »fescher, vollwertiger Intelligenzler« Darling nennt. Und zwischendurch die unübersehbare Schar der Sensiblen, zumeist Dreißiger, die die Hauptkundschaft bilden, der Aparten, der Nichtalltäglichen — kurzum, es geht zu wie im G’wölb von Nestroys Weinberl, »plötzlich tritt neues Leben ins Merkantilische — — da kommt ein zartes Wesen um ein’n Bärnzucker, da ein Kuchelbär um ein Rosenöl, da lispelt ein brustdefekter Jüngling: ‚Ein’n Zuckerkandl‘, da schreit ein kräftiger Alter: ‚A Flaschel Schligowitz!‘, da will ein üppiges Wesen ein Halstüchel, da eine Zaundürre Fischbeiner zu ein’m ausg’schnittnen Leibel haben«, da will der eine ein’n Haring und die andre ein’n Kas — in solchen Momenten muss die Allgemeine zeigen, was eine Allgemeine ist: »d’Leut’ z’samm’schrein lass’n, wie s’ wollen, und mit einer ruhigen, ans Unerträgliche grenzenden Gelassenheit eins nach’m andern bedienen.« Ja, wenn alle so anspruchslos wären wie manche. Die wünschen »nur platonische Freundschaft«, was ist denn dabei, ein älterer Herr, schon ganz genügsam, bittet nur um »Ein bisschen Feuer«, einer will ja nichts als was umgekehrt zu lesen ist, ein anderer bloß »gemeinsamen Zeitvertreib«, wiewohl man sich da auch denken kann, was er sich da denkt. Manche verhalten sich direkt zugeknöpft, sind unwirsch und lehnen brüsk ab, was sie wünschen; »Abenteuer ausgeschlossen« ruft eine Dame mit Eigenheim, »Halbwelt ausgeschlossen« erklärt ebensolcher Herr, oder »Halbwelt verbeten« ein Akademiker, allerdings unter der Chiffre »Mulatschak«. Ein Vierziger, der sich nach Kultur und Statur sehnt, tritt schon etwas aus sich heraus, indem er zwinkernd ragt: »Kleine Osterfahrt?«. (Offenbar der Verführer aus Terramares Gedicht, der da lächelt: »Seid’ne Ruh und süßer Wein.«) Sehr schwer zu behandeln dürfte ein Altersgenosse sein, der von vornherein darauf aufmerksam macht, dass er »äußerst pedantischer Wesensart« ist, und unter »Anständig 7« zu seinem Ziel gelangen will. Einer rühmt von sich, er sei mittelgroß und freidenkend, und macht sich damit übertriebene Hoffnungen, während ein mehr Besonnener einer Anpassungsfähigen unter der Chiffre »Vederemo« winkt (»Man wird doch da sehn«). Der Betrieb ist unerhört kompliziert, denn eine schmiegsame Frauennatur soll nur erstklassigst sein, eine Amazone
energisch, eine Eintänzerin unbedingt groß, eine Nichtalltägliche will, dass einer »kein absoluter Verstandesmensch« sei — was im Kreise der Intelligenz doch fast ein Ding der Unmöglichkeit ist —, und zwei große schlanke Jüdinnen suchen Tennispartner »für sofort«. Direkt aufsehenerregend aber ist es, wenn dafür wieder jene Dame, welche Samstag von zwei Herren bis ins Opernkino »verfolgt« wurde, um ein Wiedersehen gebeten wird. Das grenzt schon an Listenwahl! Aber das Organ der Intelligenz, das seinen Lesern keinen Zwang auferlegen will, bleibt seinem Programm doch viel treuer mit einer Parole wie dieser:
I c h w ä h l e 35 bis 45jährige vorurteilsfreie Dame mit Eigenheim. Zuschr. unter »Freie Wahl«.
Und da sie allen Interessen dient, so interveniert die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ natürlich auch dort, wo das Wahlrecht noch nicht einmal erobert wurde, und offeriert »eine bildschöne, 16jährige Offizierswaise« unter »Unschuld«. Während sich dies und alles andere begibt, arbeitet eine schon routinierte Masseuse ununterbrochen, alles Leben und Treiben begleitend wie die Liliencron’sche Schwalbe, die weglang auf und niederjagt. Dieser junge Gentleman-Masseur dagegen, der heute bis 8 Uhr und zwar in und außer Haus bedient, während er gleich darunter versichert, dass er heute bis 9 Uhr bediene, stiftet Verwirrung. In welchem Grade aber Wien bereits Fremdenstadt geworden ist, ja ein Zentrum raffinierter Sinnenkultur, beweist der Plan eines »Neger- Masseurs«, akademisch gebildet, derzeit Paris, der sich in Wien selbständig machen will und zu diesem Behufe vornehme Klientel unter »Othello« sucht. Erotischer Gipfel in einer Landschaft, in der allabendlich die intelligenten, unabhängigen Damen und die feschen, vollwertigen Intelligenzler lustwandeln, denn intelligent sind sie alle, denen das Organ der Intelligenz hinten dies und vorn etwas anderes sagt.
All dies spielt sich täglich mit einer sympathischen Offenheit ab, die der ‚Allgemeinen Zeitung‘ tatsächlich die geistige Elite dieses Landes gewonnen hat, zum Beispiel mich, der sicherlich weit entfernt von dem Verdacht lebt, den Vertretern welcher Spezialität immer, die da publizistisch versorgt wird, ihre Freude zu missgönnen; von den paar Fällen abgesehn, wo das Inserat als die Keimzelle der Chantage oder des Zuhältertums erkennbar wird. Wahrscheinlich sind es gemeinnützigere Menschen als die Politiker, von denen vorn die Rede ist, und
sicherlich ist die Rubrik, die solchen Reigen täglich mit so herziger Unbefangenheit vorführt, der am besten geschriebene, mit verständlicheren Adjektiven ausgestattete Teil des Organs der Intelligenz. Dass eine Publizistik an der Förderung und Vermittlung lebenswichtiger Angelegenheiten Geld verdient, wäre auch noch nicht der Übel größtes. Dieses ist aber die Heuchelei einer Gesellschaft, die es noch immer erlaubt, dass eine kleine Kupplerin für die Dienste, die sie ihr erweist, bestraft wird und dass die Zeitung, wenn in einem Pensionszimmer sich ein Teil von dem abgespielt hat, was sie täglich propagiert, das dreimal vertagte Hochgericht eines Bezirksrichters zur Sensation macht. Es ist, solange ein elendes Sexualgesetz besteht, das die Verfolgung der Vermittlerin eines straffreien Liebesverkehrs vorsieht, eine der aufreizendsten kriminalistischen Unterlassungen, den Gewinn der Pressekuppelei für legitim zu erklären, ganz abgesehen davon, dass durch diese und nur durch diese auch ein bestehendes Gesetz gegen die öffentliche Unsittlichkeit übertreten wird. Eine andere Frage ist die nach der Kompatibilität der Wahlpropaganda mit der Kuppelei. Wenngleich der Mann, der im Vordertrakt die geistige Elite anzusprechen hat, ein Verwandter des lebenslustigen Altbundeskanzlers Renner sein soll, so ist doch gerade von der offiziellen Sozialdemokratie keine Lockerung der moralischen und gesetzlichen Fesseln des Sexuallebens zu erwarten. (Wenn man etwa an jene polizeiterminologische Begutachtung des Leumunds einer Mutter durch den Professor Tandler denkt oder an den Ausspruch des Dr. Ellenbogen über den italienischen Arrest, wo sich
Räuber, Diebe, Mörder, Päderasten und Leute ähnlichen Kalibers
aufgehalten haben.) Freilich, eine Angelegenheit der Weltanschauung dürfte es für die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ weder sein, die Intelligenz vorn politisch, noch hinten anders zu befriedigen.
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