Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Geselligkeit. Von Karl Kraus

05. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 279 – 280  13. Mai 1909   XI. Jahr aus Tagebuch

Geselligkeit. Was mich zum Fluch der Gesellschaft macht, an deren Rain ich lebe, ist die Plötzlichkeit, mit der sich Renommeen, Charaktere, Gehirne vor mir enthüllen, ohne dass ich sie entlarven müsse. Jahrelang trägt einer an seiner Bedeutung, bis ich ihn in einem unvorhergesehenen Augenblick entlaste. Ich lasse mich täuschen, solange ich will. Menschen zu »durchschauen« ist nicht meine Sache, und ich stelle mich gar nicht darauf ein. Aber eines Tages greift sich ein Schwachkopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und hasst mich. Die Schwäche flieht vor mir und sagt, ich sei unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit gewähren, weil sie mir nicht schaden kann; einmal, wenn’s um ein ja oder nein geht, wird sie von selbst kaputt.  Ich brauche nur irgendwann Recht zu haben, etwas zu tun, was nach Charakter riecht, oder mich sonst wie verdächtig zu machen, und automatisch offenbart sich die Gesinnung. Wenn es wahr ist, dass schlechte Beispiele gute Sitten verderben, so gilt das in noch viel höherem Maße von den guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Beispiel zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form, und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Gefahr, verdorben zu werden. Die Ledernheit lässt sich mein Temperament gefallen, solange es in akademischen Grenzen bleibt; bewähre ich es aber an einer Tat, so wird sie scheu und geht mir durch. Ich halte es viel länger mit der Langweile aus, als sie mit mir. Man sagt, ich sei unduldsam. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mit den ödesten Leuten verkehren, ohne dass ich es spüre. Ich bin so sehr in jedem Augenblick mit mir selbst beschäftigt, dass mir kein Gespräch etwas anhaben kann. Die Geselligkeit ist für die meisten ein Vollbad, in dem sie mit dem Kopf untertauchen; mir benetzt sie kaum den Fuß. Keine Anekdote, keine Reiseerinnerung, keine Gabe aus dem Schatzkästlein des Wissens, kurz, was die Leute so als den Inbegriff der Unterhaltung verstehen, vermöchte mich in meiner inneren Tätigkeit aufzuhalten. Schöpferische Kraft hat der Impotenz noch allezeit mehr Unbehagen bereitet, als diese ihr. Daraus erklärt sich, dass meine Gesellschaft so vielen Leuten unerträglich wird, und dass sie nur aus einer übel angebrachten Höflichkeit an meiner Seite ausharren. Es wäre mir ein leichtes, solchen, die immerfort angeregt werden müssen, um sich zu unterhalten, entgegenzukommen. So ungebildet ich bin und so wahr ich von Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus weniger verstehe als ein neugeborenes Kind, so wäre ich doch wohl imstande, durch geschickt eingeworfene Fragen ein Interesse zu heucheln und eine oberflächliche Kennerschaft zu bewähren, die den Polyhistor mehr freut als ein Fachwissen, das ihn beschämen könnte. Aber ich, der in seinem ganzen Leben Bedürfnissen, die er nicht als geistfördernd erkennt, noch keinen Schritt entgegen getan hat, erweise mich in solchen Situationen als vollendeten Flegel. Und nicht etwa als Flegel, der gähnt — das wäre menschlich —, nein, als Flegel, der denkt! Dabei verschmähe ich es, von meinen eigenen Gaben dem Darbenden mitzuteilen, der vor seinen Lesefrüchten Tantalusqualen leidet und in den ägyptischen Kornkammern des Wissens verhungern muss. Hartherzig bis zur Versteinerung, mache ich sogar schlechtere Witze als mir einfallen, und verrate nichts von dem, was ich mir so zwischen zwei Kaffeeschlucken in mein Notizbuch schreibe. Einmal, in einem unbewachten Moment, wenn mir gerade nichts einfallen wird und Gefahr besteht, dass die Geselligkeit in mein Gehirn dringt, werde ich mich erschießen.


Menschenwürde. Von Karl Kraus

01. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Künstler, Menschenwürde

Die Fackel

Heft 250 – 251    1908  S. 30 -33

Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde in seine Hand gegeben oder es fasst ihn ihr  ganzer Jammer an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. Ich habe mich viel und eingehend mit  der Menschenwürde beschäftigt, habe in meinem Laboratorium die verschiedensten Untersuchungen darüber angestellt und muss bekennen, dass die Versuche in den meisten Fällen schon wegen der Schwierigkeit der Beschaffung des Materials kläglich verlaufen sind. Die Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer dort zu scheinen, wo sie nicht ist. Der Fähigkeit gewisser Tiere, die Gestalt lebloser Körper oder Pflanzen anzunehmen, welche man Mimikry nennt und die die Natur erfunden hat, damit sie ihre Verfolger zum Narren halten können, entspricht beim Menschen die sogenannte Würde. Er zieht ein Kleid an und stellt sich in Positur. Der Hauptmann von Köpenick aber war es, der dieser unterhaltlichen Schutzvorrichtung selbst wieder einen Possen gespielt und die menschliche Mimikry entlarvt hat; als er mit Würde daherkam, ergab sich die Würde, als er mit Trommeln und Pfeifen einzog, ging die Autorität flöten, und darum ist es begreiflich, dass er jetzt in einem Zuchthaus an der Schwindsucht sterben muss. Man sagt, er habe sich bloß den Scherz einer Verkleidung erlaubt; aber in Wahrheit hat er mehr getan, er hat die Verkleidung eines Ernstes enthüllt. Wenn ein Shakespearescher König wahnsinnig wird, so benützt er die Gelegenheit, um Weisheiten auszusprechen, die man ihm sonst übelnähme; man würde ihn für verrückt halten. Auch der Narr ihm zur Seite genießt die Vorteile seiner Stellung: nähme man ihn ernst, man ließe sich von ihm auch nicht die kleinste Wahrheit gefallen. Er darf seinen König einen Narren nennen, der König darf die Behauptung wagen, dass man »dem Hund im Amt gehorcht«, und der Schuster in der Uniform kann beweisen, dass der Hund im Amt dem Schuster in der Uniform gehorcht. Einem Mann, der lange Zeit im Kostüm eines persischen Generals die höchsten Kreise einer Residenzstadt zu seinem eigenen Besten gehalten  hatte, kam man endlich darauf, dass er eigentlich gar kein persischer General oder, wenn er einer sei, dass er noch avancieren müsste, um den Rang eines europäischen Korporals zu erreichen. Jener wahnsinnige König hat sofort die Wahrheit erkannt; denn er sagte: »Euch, Herr, halte ich als einen meiner Hundert; nur gefällt mir der Schnitt eures Habits nicht. Ihr werdet sagen, es sei persische Tracht; aber lasst ihn ändern.« Wenn er ihn nun ändern lässt und sich etwa zur Uniform des Schweizer Admirals aus »Pariser Leben« entschließen sollte, wird er darum nicht weniger beliebt sein. Die Menschenwürde, mag sie selbst als Takowa-Orden verliehen oder als päpstliche Jubiläumsmedaille um den Hals gehängt werden, sie gewährt in allen Formen Schutz vor Verfolgung und bringt den Respekt jener ein, die noch nicht auf die Idee verfallen sind, sie sich zu verschaffen. Die Würde, die das wahre Verdienst einst um den Vermittlungspreis bekam, ist jetzt unter dem Herstellungspreis zu haben. Vorbei die Zeiten, da ein Gregers Werle mit der idealen Forderung umherging, die Medaillen, die die Bahnhofportiers auf der Brust tragen, müssten revidiert werden. Heute schafft der Besitz die Berechtigung. Früher hatten die Hochstapler von der Dummheit gelebt; jetzt bereichert sich die Dummheit auf Kosten der Hochstapler und beutet sie in der rücksichtslosesten Weise aus. Denn die Menschenwürde verleitet zur Erzeugung falscher Ehrenzeichen und wenn der Schwindler eine Zumutung zurückweist, dem Dummen gelingt es stets noch, ihn zu überlisten. Vor allem aber wollen die Leute einen Titel hören, unter dem sie sich nichts vorstellen können. Man kann dem hochmütigsten Beamten den Fuß auf den Nacken setzen, wenn man ihm sagt: »Ich bitte mir diesen Ton aus, Sie scheinen nicht zu wissen, dass ich Exhibitionist bin!« Die Menschenwürde hat die Eigenschaft, sich selbst so zu imponieren, dass sie sofort nachgibt, wenn sie aufbegehrt. Ich kenne eine Stadt, in der sie an jeder Straßenecke solche Siege feiert. Auch dort hat jetzt Gottseidank ein Kutscher die gleichen politischen Rechte wie ein Baron, aber wenn er ihn zum Wahllokal befördert hat, so sagt er zu ihm: »Küss die Hand, Euer Gnaden!« Als der Staatswagen dahintorkelte, Riss das Volk die Tür auf. Aber es stellte sich heraus, dass es nur Wagentürl-Aufmacher waren. Man fragte sie, was sie wollten, und sie sagten: »Euer Gnaden, wissen eh!« Sie wollten ein Trinkgeld, man gab ihnen die Menschenwürde, und sie brummten: »So a notiger Herr! …« Ich habe eine wahre Hochachtung vor dem Menschenrechte der Freiheit, so sehr, dass ich der Freiheit das volle Recht auf die Menschen zuerkenne, die sie verdient. Ich habe eine unbegrenzte Ehrfurcht vor den politischen Rechten; wenn aber der Absolutismus des Trinkgelds nicht abgeschafft ist, so glaubt das Volk, ein Achtundvierziger sei die Rufnummer eines Fiakers, und ein Unnummerierter ist doch mehr. Ich kenne einen Hoflieferanten, der sich ins Privatleben zurückgezogen hat, nicht ohne dass ihm der Verkehr mit den hohen Herrschaften, die er bedient hatte, zu Kopf gestiegen wäre. Er benimmt sich noch heute in jeder Lebenslage so, als ob er eine Lieferung für die Königin von Hannover zu effektuieren hätte. Die geheimsten Wünsche und Beschwerden des Bürgerherzens kommen ans Tageslicht, und als er einmal in einem öffentlichen Lokal eines leibhaftigen Aristokraten ansichtig wurde, verbeugte er sich und rief: »Zu Füßen des Herrn Grafen, zu Füßen!« Es war mir wie die Vision eines unblutig niedergeworfenen Aufstandes. Ein radikales Gemüt kann wieder auf Lebenszeit von einer Leitartikelphrase verwirrt werden. Ich glaube, dass die Politik immer entweder daran krankt, dass die Ideen aus kleinen Köpfen in kleinere Herzen oder aus kleinen Herzen in kleinere Köpfe übergehen. Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, dann bekommt er die Masern, dann die Würde, und mit der weiß er schon gar nichts anzufangen. Ausgenommen, wenn er Kartellträger wird. Das ist nämlich die einzige Situation, in der der Philister herumgeht, als ob er der Mandatar der Vorsehung wäre. Weh dem, der ihn in dieser Würde nicht ernst nimmt, er erhebt sich mit einem »Pardon, dann hab ich hier nichts mehr zu suchen!«, und das Protokoll, die Reinschrift der Würde, ist fertig. Wenn nicht hin und wieder ein Kommis fixiert würde, wir wüssten nichts von den ehernen Gesetzen, die uns an das Schicksal binden. »Würde« ist die konditionale Form von dem, was einer ist. Wenn aber Würde nicht wäre, gäbs keine Würdelosigkeit. Sie provoziert die Gaffer, und wo Gaffer sind, stockt der Verkehr. Die Überwindung der Menschenwürde ist die Voraussetzung des Fortschritts. Ich habe sie in allen Situationen gesehen. Sie glaubte sich unbeobachtet, und ich sah, wie ein Kellner vor einem Trinkgeld, das ein Gast auf dem Tisch zurückgelassen hatte, sich verbeugte und »Ich danke vielmals« sagte. Ein anderes Mal bemerkte ich, wie er sich bückte, um eines Kreuzers, der in einen Spucknapf gefallen war, habhaft zu werden. In einem doppelten Symbol fasste mich der Menschheit ganzer Jammer an. Wo ist die Menschenwürde? fragte ich. Jener verstand schlecht, glaubte, ich verlange eine abgegriffene illustrierte Zeitung, und sagte: Bedaure, sie ist in der Hand!