Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Karl Kraus der Sozialismus III: Rosa Luxemburg . Von Richard Schuberth

17. Juni 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Sozialismus

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

 

Karl Kraus der Sozialismus III:                Rosa Luxemburg

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus (und Rosa Luxemburg), Teil 19

„Ich bin unzufrieden mit der Art, wie man in der Partei meistens die Artikel schreibt. Es ist alles so konventionell, so hölzern, so schablonenhaft. Das Wort eines Börne klingt jetzt wie aus einer anderen Welt. Ich weiß – die Welt ist ja eine andere und andere Zeiten wollen andere Lieder haben. Aber eben ‚Lieder’, unser Geschreibsel ist ja meistens kein Lied, sondern ein farbloses und klangloses Gesurr, wie der Ton eines Maschinenrades. Ich glaube, die Ursache liegt darin, dass die Leute beim Schreiben meistenteils vergessen, in sich tiefer zu greifen und die ganze Wichtigkeit und Wahrheit des Geschriebenen zu empfinden. Ich glaube, dass man jedes Mal, jeden Tag bei jedem Artikel wieder die Sache durchleben, durchfühlen muss, dann würden sich auch frische, vom Herzen und zum Herzen gehende Worte für die alte, bekannte Sache finden.“

Rosa Luxemburg in einem Brief an Robert Seidel

Die beiden kannten einander nicht persönlich. Sie warf von Zeit zu Zeit ein paar neugierige Blicke in sein Schaffen, nicht ohne das Gefühl der Überlegenheit eines marxistisch geschulten Geists gegenüber einer bürgerlichen Bürgerkritik, aber auch nicht ohne tiefen Respekt vor seiner menschlichen und sprachlichen Größe. Er indes erschauderte vor der menschlichen und sprachlichen Größe ihres marxistisch geschulten Geistes, nachdem er per Zufall, ein Jahr nach ihrem Tode, einen ihrer Briefe fand.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, soll als Liebesgeschichte erzählt werden – nicht weil sich Karl Kraus und Rosa Luxemburg wirklich geliebt haben, das war gar nicht nötig – sondern als Geschichte der Liebe zwischen geistigen Prinzipien, die die dingliche Welt durchdringen und sich von Zeit zu Zeit sprach- und denkmächtiger Menschen bedienen, um einander Liebesbotschaften zu schreiben.
Das Wort Sozialismus im Titel ist eine Irreführung. Ausnahmsweise soll dieses Mal weniger die Sphäre des Politischen behandelt werden, als jene persönliche und literarische, in der die Kommunistin Luxemburg und Kraus sich treffen, dem Politik, wie er bekannte, „bloß als Voraussetzung für ein Leben ohne sie beträchtlich“ war, was wiederum, wie sie ihn hätte lehren können, durchaus dem marxistischen Fernziel des „Absterbens des Staats“ entspräche.
Nicht unproblematisch ist das, besonders im Fall der kämpferischen Intellektuellen Luxemburg, deren privaten Briefe zu Ungunsten ihres theoretischen Werks die denkfaulen, aber gefühlsgierigen Rezipienten zum Kult um ihre Person verleiteten. Und es bestärkt die populäre Halbwahrheit, dass Kraus nie auf Theorie, sondern das Wirken von Tatmenschen vertraute, der Revolutionärin also, nicht der Revolution seine postume Wertschätzung galt, die sie sich dann sogar mit einem Dollfuß teilen musste, so wie sie sich schon Bismarck mit dessen sozialistischen Widersacher Wilhelm Liebknecht hatte teilen müssen.
Zu Recht fühlten die Theorien von den gesellschaftlichen Wirkkräften sich der idealistischen Überbewertung des Individuums überlegen, doch pochte stets in ihnen die Gefahr, in vorauseilendem Gehorsam die letzten unzerstörten Überreste tatsächlicher Persönlichkeit zu negieren. Sowohl Karl Kraus als auch Rosa Luxemburg hatten einen besonderen Riecher dafür, wenn unter dem Vorwand, dass das Sein das Bewusstsein zu bestimmen habe, jegliches Bewusstsein, welches aufs Sein hätte positiv zurückwirken können, erstickt wurde. Das Wissen um die soziale Determiniertheit der Person entlastet nicht von der Pflicht zur Persönlichkeit; die sich nicht etwa im charismatischen sozialistischen Führer zeigt, welcher in den Massen kaum andere Impulse entfesselt als der faschistische, sondern am Beispiel gelebter unkorrumpierbarer Individualität. Die Aparatschiks von einst wünschten einer solchen den Tod, die Intellektuellen von heute erklären diesen, aber nur, um sich die entspannte Gleichzeitigkeit von Kulturpessimismus, Spaß am Kitsch und einem gut bezahlten Posten in der Kulturindustrie oder anderswo nicht madig machen zu lassen.
Wie mit der Dialektik der Persönlichkeit, so verhält es sich mit jener von Humanität und Naturbeziehung. So überlegen sich rational reflektierende Gesellschaftskritik einer bloß moralischen zeigte, so sehr fiel jene hinter diese zurück – und kalter Zweckrationalität in die Hände, sobald sie sich ihres ethischen Fundaments enthob. Denn die berechtigte Kritik der Heulsusen wird nur zu oft von den Gefühlsarmen zur Denunziation der letzten Emotionsstarken benutzt. Desgleichen die begrüßenswerte Entlarvung von zivilisationsfeindlichem Ökologismus und eskapistischem Naturkitsch sich allzu leicht der Verdinglichung von Natur, auch der menschlichen unterwirft. Und Ergriffenheit etwa, die ein Sonnenuntergang auslöst, mit der Ergriffenheit, die ein Ölbild davon auslöst, gerne von jenen verwechselt wird, welche gar nichts mehr ergreift. Sentimentalität ist eine verdächtige Gefühlslage, doch das coole Prahlen mit Unsentimentalität um nichts besser, weil bloß das sich erfahrener dünkende Diapositiv dieser.
Zu ihrer Zeit gelang einzig Luxemburg und Kraus ein dialektisches Fortschreiten aus besagten Widersprüchen, weil sich beide nicht nur die rationalste und kaltschnäuzigste Kritik bürgerlicher Ideologie leisten konnten, ohne auf zartfühlende Humanität und Naturliebe zu verzichten, sondern sich das auch von niemandem als Widerspruch aufschwatzen ließen.
Rosa Luxemburg hatte es da als Frau besonders schwer. Zu schnell legte man ihre Emotionalität als die Rebellion ihrer femininen Seite gegen die angebliche Männlichkeit ihrer theoretischen und agitatorischen Arbeit aus. Nichts ist unsinniger! Gerade jenes Zartgefühl, das ihre Gefängnisbriefe beseelt, zeigt sich stets als Ausdruck von Selbstbewusstsein und Stärke. Auch hier trifft sie sich mit Kraus, der nie auf die Idee gekommen wäre, seine Empathie für Menschen und Dinge als seine Anima, seine weibliche Seite, wahrzunehmen. „Ein ganzer Kerl“ zu sein, dürfte für beide eine geschlechtsneutrale Forderung gewesen sein. Einer Anekdote zufolge soll Rosa Luxemburg beim Lunch mit August Bebel und Karl Kautsky sich und Clara Zetkin als die letzten Männer der deutschen Sozialdemokratie bezeichnet haben.

… entehrt, im Blute watend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da


Mannigfaltig sind die Parallelen zwischen Kraus und Luxemburg. Beide wuchsen als deutsprachige Juden in slawischer Umgebung auf, er in Österreichisch-Böhmen, sie in Russisch-Polen. Beide erlebten früh die beginnende Nationalisierung der Bevölkerungen. Und beide glichen sie sich in sprachlichem Duktus, Ironie sowie ihrer begründeten Überheblichkeit. Sie hinkte von klein auf, er litt unter einer Rückgratverkrümmung. Dafür, dass er kaum Marx gelesen haben dürfte, verblüfft sein dialektischer Denkstil, dafür, dass sie Marxistin war, verblüfft ihre Schöngeistigkeit. Die Lösung findet sich in beider geistigen Wurzeln in der ersten bürgerlichen Moderne, der Aufklärung, als Ratio und Empfindung, Naturverehrung und Fortschrittsglaube noch ein Programm waren. Wie sehr hätte ihn aber beeindruckt, dass auch sie Goethe dem politischeren Schiller, Börne dem rebellischen Heine den Vorzug gab. Rosa Luxemburg lobte Kraus’ frühen sozialkritischen „Fackel“-Artikel, wovon er freilich nichts wusste. Eine erstaunliche Verbindung stellt sich auch durch ihre Einschätzung des seinerzeit als kritisches Gewissen Deutschlands gefeierten Publizisten Maximilian Harden her. Immerhin hatte Harden 1899 dem jungen Kraus den beinahe marxistischen Rat gegeben, sich in seiner Kritik mehr mit den ökonomischen Verhältnissen als korrupten Einzelpersonen und der Presse zu beschäftigen. Den gleichen Rat sowie eine präzise Polemik gegen Hardens Bildungshuberei, wie sie später Hauptbestandteil seiner eigenen Harden-Kritik werden sollte, hätte Kraus von R. Luxemburg bereits 1905 bekommen können, als er und Harden noch Freunde waren. Darin mokierte sie sich, wie dieser mit der Kenntnis der Völker des Zarenreichs prahlt („aus dem Brockhaus abgeschrieben“), um schließlich deren Demokratieunfähigkeit zu behaupten. „Es ist eigentlich recht merkwürdig, dass von der Höhe oder vielmehr von der Tiefe der bürgerlichen Dekadenz aus jeder Literatenbengel, an dem kein heiler Faden ist, sich berufen fühlt, über die Reife oder Unreife ganzer Völker letztinstanzliche Urteile zu fällen.“
Rosa Luxemburgs Kritik von Bürokratismus und Philistertum, speziell innerhalb der Sozialdemokratie, hätten Karl Kraus’ ungeteilte Zustimmung gefunden, ebenso ihr Engagement für den Arbeiteraktionismus, vor allem aber ihr unerbittlicher Antinationalismus und Pazifismus, der ihren Bruch mit der SPD besiegelte.
Das Erlebnis des Weltkriegs synchronisierte letztlich beider Auffassung und Sprachgewalt. Folgende Worte der Revolutionärin hätten ebenso von Kraus stammen können: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, vor Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ Nach Kriegsende gründete Rosa Luxemburg gemeinsam mit Karl Liebknecht in Berlin den Spartakusbund, den Vorläufer der KPD. Jänner 1919 wurde sie von rechten Milizen gelyncht.

Brief einer Unsentimentalen


Ein Jahr nach ihrer Ermordung entdeckt Kraus in der „Arbeiter-Zeitung“ einen Brief, den R. Luxemburg aus dem Gefängnis an Sonja Liebknecht geschrieben hat. Sofort druckt er ihn in der „Fackel“ ab mit den Geleitworten: „Schmach und Schande jeder Republik, die dieses im deutschen Sprachgebrauch einzigartige Dokument von Menschlichkeit und Dichtung nicht (…) zwischen Goethe und Claudius in ihre Schulbücher aufnimmt und nicht zum Grausen vor der Menschheit dieser Zeit der ihr entwachsenden Jugend mitteilt, dass der Leib, der solch eine hohe Seele umschlossen hat, von Gewehrkolben erschlagen wurde.“ Und nahm diesen als einen der wenigen zeitgenössischen Texte – zwischen Goethe und Claudius – in sein Lesetheater auf. In ihrem Brief beschreibt sie ein Erlebnis im Gefängnishof, wie ein zum „Kriegsdienst“ requirierter Büffel von einem Soldaten mit einem Stock malträtiert wird. Der Text ist neben seiner hohen dichterischen Qualität weit mehr als ein rührendes Dokument „weiblichen“ Mitgefühls mit dem erniedrigten „Tierbruder“, es enthüllt in lyrischem Ton die Ideologie von Naturunterdrückung, der Knechtung menschlicher wie nichtmenschlicher Natur. „Mit bösem Lächeln“ antwortet der Soldat der Aufseherin, die ihn zur Rede stellt: „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid.“ – Eine Fackel-Abonnentin, eine Innsbrucker Aristokratin, reagiert auf diesen Text mit ihrem anonymen „Brief einer Unsentimentalen“, in der sie ihre Verachtung gegenüber der „Volksaufwieglerin“, die besser „Wärterin in einem zoologischen Garten“ hätte werden sollen – „dann hätte sie gewiss keine Bekanntschaft mit Gewehrkolben gemacht“ – mit ihrem Spott über Luxemburgs Sorge um ein stumpfsinniges Nutztier verknüpft. Als ehemalige Gutsbesitzerin in Südungarn wüsste sie, dass die Viecher keine andere Sprache verstünden als Schläge …
Der Ekel, den dieser sich ihm anbiedernde Brief in Kraus hervorruft, eruptiert in einem dermaßen wuchtigen Einklang von Wut, stilistischer Brillanz und Gedankendichte, der „stärksten bürgerlichen Nachkriegsprosa“, als welche Walter Benjamin sie erkannte, dass Einzelzitate daraus eine Beleidigung der Gesamtkomposition darstellten. Es ist so, als würde Kraus dem Soldaten den Stock aus der Hand reißen und sowohl den Stier als auch die Revolutionärin an dieser „Megäre“, dieser „Bestie“, wie er sie nennt, und mit ihr an ihresgleichen und ihresgleichen Gesinnung rächen, und jeder Stockhieb lässt statt Blut Erkenntnis spritzen. Mit der dialektischen Progression des Gefängnisbriefs, dem der „Unsentimentalen“ und des Satirikers Antwort darauf, nehmen Luxemburg und Kraus – sie positiv, er negativ – die Verschränkung von Unmenschlichkeit und pragmatischer Rationalität in die Zange, und geben Lehrbeispiele für den Gleichklang von Ethos, Stil und Denken, die eigentlichen Protagonisten dieser Liebesgeschichte. Kraus’ Antwort auf die Unsentimentale markiert den endgültigen Bruch mit den Illusionen der Vorkriegszeit, zugleich seinen letzten großen Reifesprung. Und es war zweifellos Rosa Luxemburg, die ihm dazu verhalf.
Die lehrreichste und bezauberndste Analogie zwischen den beiden aber ist die Selbstverständlichkeit, mit dem in ihrer Wesen und Denken Natur mit Vernunft versöhnt ist. Das ästhetische Naturerlebnis war für sie, deren Negativität sich Utopismus verbat, der lebenslange Geheimpfad zurück in die Unbeschwertheit der Kindestage. Karl Kraus’ Erinnerungen werden wiederholt von Schmetterlingen umflattert. „Als ich zehn Jahre alt war, verkehrte ich auf den Wiesen von Weidlingau ausschließlich mit Admiralen. Ich kann sagen, dass es der stolzeste Umgang meines Lebens war. Auch Trauermantel, Tapfauenauge und Zitronenfalter machten einem das junge Leben farbig.“ Und traurig, doch zielsicher resümiert er: „Mit Fliegenprackern schlägt die Menschheit nach den Schmetterlingen. Wischt sich den farbigen Staub von den Fingern. Denn sie müssen rein sein, um Druckerschwärze anzurühren.“ Was die Schmetterlinge Karl Kraus bedeuteten, das waren für Rosa Luxemburg die Singvögel.
In einem Brief an eine Freundin verordnete sie: „Auf meiner Grabtafel dürfen nur zwei Silben stehen. Zwi-zwi. Das ist nämlich der Ruf der Kohlmeisen, die ich so gut nachmache, dass sie sofort herlaufen.“

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Karl Kraus antwortet der  unsensiblen Gräfin unter anderem mit dem überzeugendsten Argument für eine starke linke Kraft, das je in solcher Prägnanz formuliert wurde, zur Mahnung an alle saturierten Konservativwähler, Sesselsitzer und Finanzjongleure :

Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen »Widersprüchen« auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden, nämlich weil ich den Weltkrieg für eine unmissdeutbare Tatsache halte und die Zeit, die das Menschenleben auf einen Dreckhaufen reduziert hat, für eine unerbittliche Scheidewand — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht   noch   frecher  werde,      d a m i t         d i e        G e s e l l s c h a f t     d e r     a  u  s  s  c  h l i e ß l i c h       G e n u s s –        b e r e c h t i g t e n ,  d i e    d a    g l a u b t ,   d a s s    d i e    i h r    b o t –  m ä ß i g e   M e n s c h h e i t   g e n u g    d e r   L i e b e    h a b e ,            w e n n   s i e   v o n    i h n e n     d i e   S y p h i l i s   b e k o m m t ,           w e n i g s t e n s   d o c h  a u c h   m i t    e i n e m    A l p d r u c k             z u   B e t t e   g e h e !     D a m i t    i h n e n   w e n i g s t e n s   d i e          L u s t    v e r g e h e ,  i h r e n    O p f e r n   M o r a l   z u   p r e d i g e n,   u n d   d e r    H u m o r ,   ü b e r   s i e   W i t z e   z u   m a c h e n !

 

Siehe auch unter :  Rosa Luxemburg

 

 

 



Karl Kraus und der Sozialismus I: Die Sozialdemokraten. Von Richard Schuberth

17. Mai 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Sozialismus

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
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ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Karl Kraus und der Sozialismus I: Die Sozialdemokraten

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 18

„Nur die Krawatte, die Krawatte mit den wimmelnden weißen Bohnen, die den Blick förmlich faszinieren! – So eine Krawatte ist ein Scheidungsgrund.“

Rosa Luxemburg über Karl Kautsky, um 1900

„Jede Annäherung an die Parteibande hinterlässt in mir ein derartiges Unbehagen, dass ich mir jedes Mal danach vornehme: drei Seemeilen weiter vom tiefsten Stand der Ebbe! (…) Nach jedem Zusammensein mit ihnen wittere ich so viel Schmutz, sehe so viel Charakterschwäche, Erbärmlichkeit etc., dass ich zurückeile in mein Mauseloch.“

Rosa Luxemburg, um 1900

„In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. (…) Sie ist in keinem Geist zuhause – sie geht uns nichts mehr an.“

Karl Kraus, 1932

Die Frage, wie links oder rechts, wie progressiv oder reaktionär Karl Kraus war, lässt sich schwer beantworten, denn so er überhaupt ein Programm verfolgte, dann das, alle die nach seiner Farbe fahndeten, konsequent vor den Kopf zu stoßen. Ein Schleichpfad jedoch zum Begreifen seines politischen Bewusstseins führt über sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Zu keiner politischen Kraft hatte sich Kraus expliziter geäußert, zu keiner war er in wechselhafterem Verhältnis gestanden.
Die ersten Jahrgänge der „Fackel“ sind noch von erwartungsvollem Wohlwollen für die junge Sozialdemokratie gekennzeichnet. Darin flankiert Karl Kraus deren Bestrebungen auch noch mit sozial engagierten Artikeln, z. B. gegen die Ausbeutung der Minenarbeiter in Schlesien, die ihm das Lob Rosa Luxemburgs eintragen. Als Kraus die Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ kritisiert, Annoncen der Privatwirtschaft abzudrucken – August Bebel hatte nicht lange zuvor den Parteiausschluss solcher Redakteure verlangt –, erteilt ihm der von ihm geschätzte Viktor Adler einen Rüffel, der eine Tradition sozialdemokratischer Kritikabwehr initiiert, die bis in die Gegenwart fortwirkt: Wann immer Karl Kraus die Sozialdemokratie von links kritisierte, will heißen, an ihren eigenen Ansprüchen maß, würde diese einen Parteiintellektuellen ins Feld schicken, der ihm vorwirft, ein bourgeoiser Gefühlssozialist zu sein, von Theorie keine Ahnung zu haben und mit seiner Sprach-, Presse- und Kunstkritik lediglich im gesellschaftlichen Überbau herumzuirren. In den 20er Jahren übernimmt Oscar Pollack diese Aufgabe, und Mitte der 70er Jahre rächt sich die Sozialdemokratie für die Wahrheiten, die ihr Kraus eintätowiert hatte und immer noch unter ihrer Haut brennen, durch das ambitionierte Werk eines jungen Politologen. Alfred Pfabigans Buch „Karl Kraus und der Sozialismus“, erschienen im ÖGB-eigenen Europa Verlag, versteht sich als linke Kritik des „Fackel“-Herausgebers, enthält viel Wahres, strotzt vor Verkürzungen, und beruht auf dem Missverständnis vieler Krausverehrer, das Objekt ihrer Verehrung für einen Sozialisten zu halten. Ein Missverständnis, dass weniger Kraus’ Unkenntnis marxistischer Theorie als die seiner sozialistisch gesinnten Anhänger bekundet. Bereits 1909 wusste der Sozialist Robert Scheu in seiner Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der „Fackel“: „Er ist kein Sozialdemokrat, kein Anarchist, aber am allerwenigsten Bourgeois.“
Folgende Worte Kraus’ schallen all die 37 Jahre, die die Fackel bestand, als Kampfruf mit unverminderter Lautstärke (selbst wenn sie erst 1923 formuliert wurden): „Ich, der allem Missverstand zum Trotz weit von jeder Möglichkeit steht, es mit einer Partei zu halten, aber nie vor der Gefahr, um nicht für einen Politiker zu gelten, die Partei der Menschlichkeit zu verlassen, behaupte in diesen Dingen doch den einen unverrückbaren Standpunkt, das Bürgertum in allen Gestalten und in seinem ganzen Ausdruck in Presse und Staatsleben mit einem Hasse zu hassen, der ihm durch Generationen anhaften wird.“
Anders als die liberale Presse, die es nicht zu verbessern, sondern zu vernichten galt, hatte er in der „Inseratenaffäre“ die „Arbeiter-Zeitung“ mit besorgter Anteilnahme zur Einstellung dieser bürgerlichen Praxis gemahnt. Seit Viktor Adlers Polemik distanzierte sich Kraus von der Partei, für die er fortan, zum Zeitpunkt seiner Hinwendung von „Gesellschaftskritik zur Kulturkritik“ (R. Scheu) nur noch Spott übrig haben würde. So folgte eine Phase in seinem Schaffen, die Pfabigan und andere lediglich mit Ästhetizismus, Elitarismus, Antidemokratismus sowie Hang zu Reaktion und Aristokratie zu assoziieren wissen. Wie eigenartig nimmt sich da ein Artikel des Eisenbahnergewerkschaftsblatts „Verkehrs-Zeitung“ aus dem Jahr 1910 aus, den Karl Kraus vollständig in der „Fackel“ abdruckte, von Pfabigan jedoch mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt wird. Dessen Autoren geben im Grunde Karl Kraus’ elementare Kritik der Parteileitung späterer Jahre wieder, die sich keineswegs nur auf deren kulturelle Verbürgerlichung beschränken, sondern durchaus ihre politische Praxis ins Visier nehmen würde. „Die Logik der Sozialdemokratie“, konstatieren sie, „wird immer famoser, immer befremdender für gewöhnliche Arbeiter. Die Logik der Sozialdemokratie wird immer mehr die Logik der Verwaltungsratsliberalen und der Geldmännercliquen.“ So kritisieren die Autoren unter anderem, dass Viktor Adler „ nicht durch Streiks und Gewerkschaftstätigkeit (…) für den Metallarbeiter höhere Löhne erzielen“ wolle, „sondern einzig und allein durch Bittgänge für die Industriellen“. Der Artikel endet mit einem Aufruf, der sich mit Kraus’ Intentionen gedeckt haben dürfte: „Das alles gefällt selbst den Folgsamsten unter den Sozialdemokraten nicht mehr. Mögen diese stutzig gewordenen Leute auf die Stimmen im Innern hören lernen. Wir wollen hoffen, dass diese Leute wieder Sozialisten werden, wirklich freie Gewerkschaftler, welche (…) bei den Worten ‚parlamentarische Intervention’, ‚einflussreiche Tagespresse’ und ‚große politische Partei’ einfach ausspucken.“

Hühneraugenoperation an Krebskranken

Auch Karl Kraus sparte nicht mit radikalen Breitseiten, die marxistische Opportunismus- und Revisionismuskritik zu überdonnern schienen, wenn er zum Beispiel schrieb, dass „Sozialpolitik der verzweifelte Entschluss“ sei, „an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen.“ – oder aber im Ton Jack London’scher Kraftmeierei feststellte, dass es „… auf Erden unter allen Lebewesen, die sich nach rechts und links zugleich krümmen können, nebst dem Regenwurm nichts annähernd so Erbärmliches wie einen Rechtssozialisten gebe“. Doch wusste er nur zu gut, wovon er da schrieb. Bereits am Vorabend des I. Weltkriegs war die europäische Sozialdemokratie dem nationalistischen Taumel erlegen – einzig der französische Sozialistenchef Jean Jaurès bildete eine rühmliche Ausnahme, die er mit dem Leben bezahlen musste. Die österreichischen Sozialdemokraten revidierten ihre anfängliche Kriegsbegeisterung und reiften zur neben Kraus einzigen pazifistischen und oppositionellen Kraft innerhalb der Habsburger-Monarchie. Aus dem Zweckbündnis wurde wechselseitige Sympathie, zur Liebe aber reichte es nie. Auf den Trümmern der Habsburgermonarchie agitierte Karl Kraus, der es weiter vorzog, als kritische Instanz „parteimäßig unverschnitten“ zu bleiben, nun eifrig für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), rief zweimal zu ihrer Wahl auf, führte ihr viele junge bürgerliche Intellektuelle zu und fand in den Arbeitern Wiens sein bislang enthusiastischstes Publikum. Die Sympathie für die Proletarier sollte ihm bleiben, jene für die Partei sich jedoch alsbald in wechselseitige Aggression auflösen. Kraus’ Popularität bei den Arbeitern und vielen linken Intellektuellen war der Parteibürokratie ein Dorn im Auge. Die Vorwürfe ihrer Funktionäre (wie Oscar Pollak) lassen sich in der hier gebotenen Kürze darauf reduzieren, Kraus sei ein unmarxistischer bürgerlicher Individualist, worauf dieser konterte, sie seien weder individualistisch noch marxistisch, dafür aber bürgerlich, kleinbürgerlich sogar. Am übelsten nahm ihnen Kraus, die Arbeiterschaft – per Eintrittskartenermäßigung – zum Konsum der verhassten bürgerlichen Populärkultur zu animieren, deren Überwindung, wie in der jungen UdSSR, ihr Ziel hätte sein sollen. „Aber ehe Sie mit dem vorliebnehmen, was aus den Garküchen des bürgerlichen Geschmacks Ihnen gegönnt wird und was Sie schmecken müssen, wenn die verwöhnteren Kostgänger nicht mehr zusprechen wollen – sollen Sie lieber zum Hungerstreik entschlossen sein!“
Und Sie sollen getrost glauben, dass sogar in der Kneipe der Lebensgenüsse Ihre Menschenwürde besser bewahrt bleibe als beim Fusel der neuzeitlichen Operette! Nein, ich könnte darin kein Kennzeichen revolutionärer Gesinnung erblicken, dass man Sie animiert, an den Zerstreuungen der Bourgeoisie teilzunehmen, sich mit den Todfeinden im Gelächter über deren Hanswurste zu begegnen und im Einverständnis der Zoten, mit denen jene, für einen Abend Freigelassene ihrer Heuchelei, die Knechtschaft ihres Geschlechtslebens begrinsen.“
1926 war Kraus, vor allem nachdem sie ihn im Kampf gegen den kriminellen Medientycoon Békessy im Stich gelassen hatte, fertig mit der SDAP. Als aber am 15. Juli 1927 Sicherheitskräfte auf Befehl des Polizeipräsidenten Schober, im Laufe einer spontanen Demonstration gegen den Freispruch der Mörder von Schattendorf, 84 Demonstranten töteten und über tausend verletzten, sistierte Kraus seinen Bruch mit der Partei und nahm für kurze Zeit noch deren Assistenz im leidenschaftlich geführten Kampf gegen den „Arbeitermörder“ Schober in Anspruch.
Danach würde, gemäß der kritischen Krausforschung, die Phase folgen, in der Karl Kraus wieder zum Reaktionär, ja zum Austrofaschisten wurde, was alle seine linken Verbalradikalismen rückwirkend entwertete, wäre da nicht jene berühmte Rede unter dem Titel „Hüben wie Drüben“ aus dem Jahr 1932, die er der SPDA, jener „staatlich konzessionierten Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien“ als Abschiedsgeschenk hinterließ und deren starke Echos noch immer unerträglich durch die Parteibüros der SPÖ hallen müssten. Seine Kritik der Verbürgerlichung der Partei wurde darin ein letztes Mal an Intensität gesteigert, nun aber durch seine spezifische Variante der Sozialfaschismusthese ergänzt: Die Sozialdemokraten – so Kraus – trügen Mitschuld am Siegeszug des Nationalsozialismus. Dass sie seit 1919 immer wieder den Anschluss an Deutschland als einen weiteren Schritt in Richtung Internationalismus anstrebten, wertete Kraus als Selbstbetrug – „… doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müsste sie ganz ebenso die österreichische und die französische Arbeiterklasse vereinen.“
Ganz gleich, ob Kraus ein „romantischer Sozialist“ (Ernst Fischer) war oder den „Sozialismus des Kavaliers“ (Ernst Bloch) pflegte, wenn sich die Linke dem Antisemitismus, jenem „Sozialismus der dummen Kerle“, als den ihn August Bebel bezeichnet hatte, oder dem Nationalstolz annäherte, wenn also Marx „Turnunterricht bei Vater Jahn“ nahm, bekannte er nicht nur Persönlichkeit, sondern Farbe. Und mit kräftigen Farben malte er sein Bild von einer Sozialdemokratie, welche ihre Resignation vor den Kapitalinteressen durch kleinbürgerliche Vereinsmeierei, bürokratischen Korpsgeist, allerhand Wimpeln, Fahnen und Arbeiterfolklore kompensiere, die nahtlos in die echte Folklore, die Bodenständigkeits- und Deutschtümelei übergehe. Somit stelle sie die Weichen für eine Entwicklung, an deren Ende ihr die Nazis den Rang abliefen.

Gebot der Reinlichkeit

„Wäre Kraus ein diszipliniertes Parteimitglied gewesen, hätte er sich – im Guten wie im Schlechten – nie zu dem entwickeln können, was er wurde. Umgekehrt wäre eine Sozialdemokratie, der Kraus, ohne seinen Überzeugungen untreu zu werden, hätte beitreten können, ein sicherlich hochinteressantes, romantisches, politisch jedoch völlig ineffizientes Gebilde gewesen“, folgert Alfred Pfabigan im Jahr 1976 durchaus plausibel. Nun, eine klassische No Win/NoWin-Situation, wie man heute sagen würde, denn die europäischen Sozialdemokratien sind auch 30 Jahre später weder romantisch noch interessant, hingegen – gemessen an ihrer einstigen Programmatik – noch ineffizienter, als es ihnen Kraus seinerzeit aufgerechnet hatte. Natürlich wusste er um die Inhumanität eines totalitären Kommunismus, zudem wusste er jedoch, dass selbst sozialpolitische Errungenschaften in demokratischem Rahmen nicht durch Kuschen vor liberalen Interessen, sondern allein durch den unerbittlichen Kampf gegen diese durchzusetzen sind. Ein Kapitalismus, den keine Gegenkraft das Fürchten lehrt, schwingt sich, wie’s geschieht und geschehen ist, zu totaler Herrschaft auf. Kraus wies aber der Sozialdemokratie auch ihre fast naturhafte Neigung nach, vor diesen Widersprüchen in Rechtspopulismus zu flüchten, nicht durch Anbiederung an nationale Sentimentalität etwa, sondern durch bewusstes Schüren dieser – hüben wie drüben, 1932 wie 1992. Denn wie der Politologe Peter Zuser in einer Studie detailliert nachgewiesen hat, war es nicht die FPÖ, sondern die SPÖ, welche die Anti-Ausländer-Hetze Anfang der 90er Jahre vom Zaun gebrochen hatte. Haiders Yuppie-Faschisten war danach zwar nicht das Wasser abgegraben, aber gemeinsam mit der SPÖ setzten sie den Rassismus fort. Karl Kraus hielt den Antinationalismus für die edelste Errungenschaft der Linken; lassen wir uns also ruhig von einem Nichtsozialisten lehren, dass man eine linkspolitische Kraft, die die Interessen der Wirtschaft erfüllt und Modernisierungsverlierern am Stammtisch Heimatliebe und Ausländerhass beibringen will, links liegen zu lassen hat.