29. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Heine und die Folgen, Richard Schuberth
Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der Text wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Kraus, Heine und die Folgen
„Was will die einsame Träne? Was will ein Humor, der unter Tränen lächelt, weil weder Kraft zum Weinen da ist noch zum Lachen?“
Karl Kraus
„Wahrheit im Fühlen und Denken hilft einem sehr viel in der Prosa, dem Lügner wird der gute Stil sehr erschwert.“
Heinrich Heine
„Nichts ist törichter als die Frage, welcher Dichter größer sei als der andere. Flamme ist Flamme, und ihr Gewicht lässt sich nicht bestimmen nach Pfund und Unze. Nur platter Krämersinn kommt mit einer schäbigen Käsewaage und will den Genius wiegen.“
Heinrich Heine
Wohl aber lässt sich qualifizieren, ob eine Flamme erleuchtet und brennt oder nur das begeisterte Blitzen und rebellische Funkeln der Dichteraugen illuminiert. Das zeigt Karl Kraus in seinem Essay „Heine und die Folgen“ aus dem Jahr 1910, und wer wie ich mit Heine sozialisiert wurde, der schützt sich gegen Kraus’ Kritik zunächst mit dem vorgedruckten Katalog der Unterstellungen, die von pedantisch bis besserwisserisch, von narzisstisch bis gehässig reichen – und wird an der stilistischen und ethischen Autorität dieses wundersamen Stücks Literatur resignieren, weil er mit Kieseln gegen einen Felsblock wirft. Nie wurde die Forderung, wer kritisiert, solle Besseres liefern, besser erfüllt als durch Kraus’ Kritik an Heine. Es ist sogar unbedingt von dessen Lektüre abzuraten, und wer es nicht lassen kann, sollte sich zumindest mit den Brech- oder Abführmitteln seiner Vorurteile vor ihrem Verständnis schützen. Denn es lässt sich keines seiner Argumente widerlegen, und selbst wenn, gäbe es keine Sprache, die es mit der seinen aufnehmen könnte. Nicht einmal zu kennen braucht man das Objekt seiner Kritik, Heinrich Heine. Was Kraus kritisierte, ist allgemein gültig, und wer „Heine und die Folgen“ wirklich verdaut hat, dem wird danach ein Großteil seiner kulturellen Lieblingskost, mit oder ohne Heine, kaum noch schmecken. Die formblinde Halbbildung, die in Kunst nur den Inhalt wahrnimmt und folglich Kraus und Heine als Geistesverwandte missversteht, mag in Kraus’ Kritik an Heine nur Stutenbeißerei vermuten.
Der Linken ist der Marx-Intimus und Verfasser der „schlesischen Weber“ wie die Ernst-Busch-Platte und der Che-Poster Requisite der eigenen Gesinnung. Für sie ist Literatur nicht interessant, weil sie gut ist, sondern weil der Autor in Spanien gekämpft hat oder Kirgise ist. Doch über die Kritik der Gesinnungsliteratur wurde in vorangegangenen Artikeln genug gesagt. Vielmehr interessiert die ungebrochene Tradition einer kulturindustriellen Heine-Verehrung, die seit 1910 das immer gleiche Gesicht zeigt, und im Jahr 2006 am authentischsten das von Marcel Reich-Ranicki annimmt, der im Fernsehen Heine zum größten deutschen Dichter hochkrächzt, nicht ohne nachzubelfern, dass „der Kraus“ ja nur neidisch war, weil er nicht konnte, was Heine konnte. Liest man „Heine und die Folgen“, kommt man zur überraschenden Einsicht, dass Reich-Ranicki zumindest in Letzterem Recht hat, ja Kraus gar nicht können wollte, was Heine konnte.
Bis zu diesem Text brachte Kraus Heine unschlüssiges Wohlwollen entgegen. 1906 schrieb er in der „Fackel“ noch: „Wir wollen nicht ungerecht gegen ihn werden, weil uns seine Grazie amoralischer Tugend heute im Zerrbild journalistischer Verkommenheit entgegentritt, weil seine künstlerischen Vorzüge an den Nachfolgern als sittliche Mängel wirken, an seinen künstlerischen Mängeln eine Generation schmarotzt, die noch immer unter Heines Tränen lächelt.“ Doch seine Redlichkeit gebietet Kraus, den jüdischen Kosmopoliten Heine gegen die Kritik der Bodenständigen zu verteidigen und mit der seinen erst anzusetzen, „nachdem man alle Urteutonen, die ihm die Denkmalswürdigkeit absprechen, beleidigt hat. Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen, auch nicht für die Geistreichen.“
Vier Jahre später ahndet er die Konsequenzen schon am Urheber selbst, Heine sei es gewesen, der „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“. Er klagt ihn als geistigen Ahnvater des Feuilletonismus an, der Ästhetisierung des Journalismus und der Journalisierung der Literatur, als Schutzheiligen all derer, die die Untugend, es sich in Sprache und Denken zu leicht zu machen, als Leichtigkeit feiern. Unter Kraus’ Lupe entlarvt sich Heine als der talentierte Poseur, als den ihn das geistige Bildungskleinbürgertum seit 150 Jahren bewundert, weil er ihnen romantisches Draufgängertum und flotten Rebellengeist vorgaukelt, die sie gerade noch selbst fertig brächten, ohne ihre fragilen Ego-Anmaßungen – die Bedingung jeglicher Erkenntnis – warten zu müssen. Sein Werk, so Kraus, führe „in unterirdischen Gängen direkt vom Kontor zur blauen Grotte“, oder aktualisiert: vom Kulturmanager- respektive Redakteursbüro direkt zu der berechneten Melancholie eines Truffautfilms oder dem glatten Zynismus von Harald Schmidts Late-Night-Show. Heine ist ewige Adoleszenz, weshalb er bei der Jugend und jenen so beliebt ist, welche das Erwerbsinteresse in unabgeschlossener Adoleszenz festfror. „Man hatte Masern, man hatte Heine, und man wird heiß in der Erinnerung an jedes Fieber der Jugend. Hier schweige die Kritik. Kein Autor hat die Revision so notwendig wie Heine, keiner verträgt sie so schlecht, keiner wird so sehr von allen holden Einbildungen gegen sie geschützt, wie Heine. (…) So kommt der Tag, wo es mich nichts angeht, dass ein Herr, der längst Bankier geworden ist, einst unter den Klängen von ‚Du hast Diamanten und Perlen’ zu seiner Liebe schlich. Und wo man rücksichtslos wird, wenn der Reiz, mit dem diese tränenvolle Stofflichkeit es jungen Herzen angetan hat, auf alte Hirne fortwirkt und der Sirup sentimentaler Stimmungen an literarischen Urteilen klebt.“
Lächeln unter Tränen
Heines Tränen, wirft ihm Kraus vor, hätten kein Salz und sein Witz keinen Boden. Alles, was Kraus heilig ist, Empfindung, Anschauung, Kritik, Witz und – Sprache, gebrauche Heine zum Dekor seiner Person, die Kraus zufolge erst zur Persönlichkeit reifte, wenn sie sich diesen Heiligtümern unterwürfe. Auch Oscar Wilde und Peter Altenberg sind eitle Gecken, doch in ihrer Egomanie spiegelt sich die Welt, während Heine dieser stets sein Spiegelbild aufdrängt. Auch Nestroy witzelt, doch in seinen Witzen lachen die Widersprüche der Gesellschaft, welche Heine bloß verlacht. Womit sich die in ihrer persönlichen Souveränität unsichere Nachwelt lückenlos identifizieren kann und ihn als den lässigen Überwinder der sperrigen Klassiker wie Goethe feiert. „Dass, wer nichts zu sagen hat, es besser verständlich sage, diese Erkenntnis war die Erleichterung, die Deutschland seinem Heine dankt nach jenen schweren Zeiten, wo etwas zu sagen hatte, wer unverständlich war.“ Präzise erhellt Kraus den Unterschied zwischen Lyrik, die die Dinge sprechen lässt, und solcher, die über die Dinge spricht: „Wie über allen Gipfeln Ruh’ ist, teilt sich Goethe, teilt er uns in so groß empfundener Nähe mit, dass die Stille sich als eine Ahnung hören lässt. Wenn aber ein Fichtenbaum im Norden auf kahler Höh’ steht und von einer Palme im Morgenland träumt, so ist das eine besondere Artigkeit der Natur, die der Sehnsucht Heines allegorisch entgegenkommt.“
Heines Beliebtheit liegt in seiner Gefälligkeit begründet, in einer Lyrik, „in der die Idee nicht kristallisiert, aber verzuckert wird“, in einem Witz, der im Gegensatz zum Nestroy’schen Humor „mit der Welt läuft, der sie dort traf, wo sie gekitzelt sein wollte, und dem sie immer gewachsen war“ – und in der augenzwinkernden Legerheit, die keck von einem Thema zum anderen hüpft und sich das als Überschmäh verbuchen lässt. Kraus sieht darin lediglich Unfähigkeit zur Komposition und geistige Kurzatmigkeit – jenen kurzen „Atem, der in einem Absatz absetzen muss, als müsste er immer wieder sagen: so, und jetzt sprechen wir von etwas anderm. Wäre Heine zum Aphorismus fähig gewesen, zu dem ja der längste Atem gehört, er hätte auch hundert Seiten Polemik durchhalten können.“
Stilkunde als Charakterkunde?
Auf rutschigen Boden begibt sich Kraus, wenn er vom Stil des Autors auf dessen Charakter schließt, doch überzeugt er auch dort mit unerwarteter Trittsicherheit. Seine Charakterologie setzt zunächst bei falschen Gefühlen und falscher Aufklärung an. Wenn Heine zum Beispiel die Erbauung einer jungen Dame beim Betrachten des Sonnenuntergangs entmystifizieren will – „Mein Fräulein, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter, / Und kehrt von hinten zurück.“ – dann kommt ihm Kraus schnell auf die Schliche: „Der Zynismus Heines steht auf dem Niveau der Sentimentalität des Fräuleins. Und der eigenen Sentimentalität.“ Heine gefällt sich als der ironische Überwinder der Romantik und ihrer Wirklichkeitsverweigerung. Doch Kraus weist ihm nach, dass er sie keinesfalls überwindet, sondern bloß ihre billigste Emotionalität in sich erhält und sie, sobald er sich dabei erwischt, an anderen verspottet. Kraus würde nie Romantik gegen Realismus oder etwa Naturlyrik gegen das politische Gedicht ausspielen. Ob so oder so, Literatur sollte tiefes Empfinden mit tiefem Denken vereinen, die Qualität ihrer Sprache ist ihr Senkblei.
Heine wurde oft ein brüchiger Charakter attestiert. Niemals hätte ihm Kraus das zum Vorwurf gemacht, wohl aber, dass er die Brüche dieses Charakters selten zu künstlerischer Stärke genutzt, sondern mit der Ironie der Beiläufigkeit überpudert hat.
In Anspielung auf den Publizisten Maximilian Harden hatte Kraus geschrieben: „Dass einer ein Mörder ist, muss nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist.“ Wie Harden die Homosexualität des Fürsten Eulenburg denunzierte, so hatte Heine zwei Generationen zuvor die homosexuellen Neigungen des Dichters August Graf von Platen verspottet.
„Die Gesinnung“, kommentiert Kraus, „kann nicht weiter greifen als der Humor. Wer über das Geschlechtsleben seines Gegners spottet, kann nicht zu polemischer Kraft sich erheben. (…) Schlechte Gesinnung kann nur schlechte Witze machen. Der Wortwitz, der die Kontrastwelten auf die kleinste Fläche drängt und darum der wertvollste sein kann, muss bei Heine (…) zum losen Kalauer werden, weil kein sittlicher Fonds die Deckung übernimmt.“
Auch am Beispiel der Polemik gegen seinen Konkurrenten Ludwig Börne überführt er Heine einer Spießermoral, die dieser hinter Frivolität und Freigeistigkeit zu verstecken trachtete. Heine hatte gemutmaßt, ob eine gewisse Madame Wohl die Geliebte Börnes sei oder „bloß seine Gattin“. Kraus: „Dieser ganz gute Witz ist bezeichnend für die Wurzellosigkeit des Heineschen Witzes, denn er deckt sich mit dem Gegenteil der Heineschen Auffassung von der Geschlechtsmoral. Heine hätte sich schlicht bürgerlich dafür interessieren müssen, ob Madame Wohl die Gattin Börnes oder bloß seine Geliebte sei.“
Nur vor Heines letzten Werken verneigt sich Kraus, dem „Romanzero“ zum Beispiel, den jener angesichts eines langsamen Todes in seiner „Matratzengruft“ verfasste: „Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein.“ – „Der Tod konzentriert, räumt mit dem tändelnden Halbweltschmerz auf und gibt dem Zynismus etwas Pathos. (…) Sein Witz, im Erlöschen verdichtet, findet kräftigere Zusammenfassungen; und Geschmacklosigkeiten wie: ‚Geh ins Kloster, liebes Kind, oder lasse dich rasieren’, werden seltener.“
Die Kommis von heute, gleich ob es sich bei ihnen um Museumskuratoren, Redakteure oder kultivierte Werbetexterinnen handelt, mögen noch immer wissen, was sie an ihrem Heine haben, die Schärfe, die nicht zu sehr brennt, die Gefühlstiefe, die auch nach Büroschluss seicht genug bleibt, und den aufgeklärten Sarkasmus, mit dem es sich insgeheim fies und konkurrenzfähig bleiben lässt. „Darum verlangt die Pietät des Journalismus, dass heute in jeder Redaktion mindestens eine Wanze aus Heines Matratzengruft gehalten wird. Das kriecht am Sonntag platt durch die Spalten und stinkt uns die Kunst von der Nase weg! Aber es amüsiert uns, so um das wahre Leben betrogen zu werden. In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst eins aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt.“
„Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist“, resümiert Karl Kraus, aber: „Höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.“ Doch auch vor dem Alterswerk finden sich bei Heine genug Sentenzen, die nicht mit, sondern in der Sprache großartig und gar nicht so weit von Kraus’ Satire entfernt sind. So ungerecht seine Kritik an Heine im Detail sein mag, die Kritik der „Folgen“ hat die Kraft, alles was wir für kritisch und klug halten, tosend in sich zusammenstürzen zu lassen und auf ein neues Niveau zu verweisen. Ob wir die Kraft haben, ihm dorthin zu folgen, steht auf einem anderen Blatt. So empfiehlt sich „Heine und die Folgen“ als Fegefeuer für jeden denkenden Menschen, es ist das Manifest einer stilistischen Ethik, deren Kenntnis verbietet, hinter sie zurückzufallen. Um sich diese Schäbigkeit zu ersparen, lese man „Heine und die Folgen“ besser nicht.
Lesetipp:
Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. Main 1989
25. Februar 2012 | Kategorie: Artikel
Die Fackel Nr. 241 15. JÄNNER 1908 IX. JAHR Vorurteile S.6
Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten dürfen. Aber man muss sagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten. Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehr violett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.
DIE FACKEL Nr. 324—25 2. JUNI 1911 XIII. JAHR
Die Künstler
Der Typus, der einen malerischen Schlapphut und einen architektonischen Umhängebart trägt und in besonders peinlichen Exemplaren auch vor Pumphosen nicht zurückscheut, die Sorte, die in den achtziger Jahren die Gegend zwischen dem Café Kremser und dem Restaurant Gause belebt hat und die man längst ausgestorben und nur zum Zweck der Veranstaltung von Gschnasfesten konserviert glaubte, kurzum jene Art von Mensch, bei deren Anblick sich dem Wiener sofort die Assoziation »Künstler« einstellt, — ist soeben fünfzig Jahre alt geworden. Und da sich die Künstlergenossenschaft zur Malerei ähnlich verhält wie der Männergesangverein zur Musik — wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass die beiden Korporationen einander im Bedarfsfalle aushelfen —, so herrschte große Aufregung bei allen, die Aussicht haben, ihr Verdienst, es miterlebt zu haben, gewürdigt zu sehen und die Ehre gehabt zu haben, in Anwesenheit des Truchsess Dobner von Dobenau gspeist zu haben, nicht ohne vorher den formschönen und gehaltvollen Prolog des Freiherrn von Berger, dem die Arbeit am Epilog des Burgtheaters zu allem Möglichen Zeit lässt, begeistert akklamiert zu haben. Der Statthalter war auch dabei. Er ist so kunstsinnig, dass wir noch immer zwanzig Automobiltaxen haben, und so fesch, dass das alte Wahrwort Recht behalten dürfte: Der Hannoveraner geht nicht unter. Wer da aber glaubt, dass mich die Lebensäußerungen des kunstsinnigen und geselligen Wien heute noch zu einem intimeren Eingehen reizen werden, ist im Irrtum. Mit einem leichten Aufstoßen gehe ich an den gedeckten Tafeln vorüber, an denen gestern eine achtzigjährige Zierde des Barreaus gepriesen wurde, als ob sie von Michelangelo selber entworfen wäre, und heute zu Ehren der fünfzigjährigen Kunst gegessen wird. Es ist immer dasselbe Schaugericht, süß zum hineinbeißen. Sie sind immer unter sich, harmlos und ohne Ahnung der Gefahr, dass ein Sachverständiger im internationalen Konditoreifach bezeugen könnte, die Creme der Wiener Gesellschaft sei der Abschaum der Menschheit. Und wenn sie nicht mehr »gemütlich« sein können, so ersetzen sie es wenigstens durch einstimmiges Klagen, dass sie es nicht mehr sind. Indem sie bei grimmigem Zeitgeist die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, machen sie sich warm wie die Dienstmänner, die im Winter die Arme übereinander schlagen. Und die Erinnerungen der alten Herren schweifen zurück in die Zeit, wo noch das »Sperrschiff« in der Kärntnerstraße herumgegangen ist und wo es noch keine Sezession gab. Ja, damals hat noch der Bratfisch gesungen und der Ranzoni hat noch geschrieben. Der Pötzl war noch Gerichtssaalberichterstatter, zeigte aber bereits Spuren von Humor, die Blütezeit der Fiakermilli war zwar schon vorüber, aber der Stern der Dukatenmali war eben im Aufgehen. Feuerbach wurde abgewiesen, Romaco ging zugrunde, und alle Kobolde des Ulks wusste Meister Goltz um sich zu versammeln. »Als man noch eins im Künstlerhause war …« — an diese Zeit erinnert sich in der Neuen Freien Presse, und nie wird er »an« diese Zeit vergessen: der alte Wiener Kunstfreund, der in der Rembrandtstraße wohnen dürfte und der vielleicht nur die Zeit gemeint hat, als man »nach eins« im Künstlerhaus war. Er preist den Geselligkeitszauber, die familiäre Gemütlichkeit und die Intimität der Vergnügungsabende von anno dazumal. Dafür zwei Belege. »Plötzlich hörte man dumpfes, wirres Geschrei aus dem Souperzimmer dringen. Erschrocken eilte man hinein und fand alles im wilden Alarm, alles von den Sitzen auf, Frau Papier schrie nach ihrer Garderobe … ihr Gatte stand in einer Art von Kampfesstellung gegen Canon. Was war geschehen? Auf Richard Wagner war das Gespräch gekommen und da hatte Canon, auf den der Name ‚Wagner‘ schon wie ein rotes Tuch wirkte, eine Behauptung aufgestellt, für deren Tatsächlichkeit er mit allem Aplomb seine Zeugenschaft einsetzte …« Als ein Wagnerianer widersprach, erbot sich Canon »ihm die Champagnerflasche um den Schädel zu hauen.« Erzählt der Historiker der Gemütlichkeit. Ein andermal war Adolf Menzel nach Wien zu Besuch gekommen. Man hatte ihm im Künstlerhaus »zum Sitznachbar den Wiener Ältesten, Rudolf Alt, gegeben. Alt führte die Unterhaltung in der Art, wie er muntere Gespräche zu führen pflegte, in einer Suite von Kalauern, der eine ärger als der andere … Für Menzel, den Berliner, wars das absolute Kauderwälsch, der Sitznachbar wurde ihm immer unverständlicher und damit auch immer rätselhafter, so dass er schon Zeichen von Ungeduld gab, die leicht explodieren konnte.« Erst später verstand Menzel, »und nun antwortete Sprühfeuer dem Sprühfeuer«. Es ist immerhin bedauerlich, dass er den Begriff, den er damals von Wien und seiner Kunst bekam, in keiner Tagebuchnotiz festgehalten hat. Der gemütliche Kunstfreund meint: »Das waren so innige, seriöse und minder seriöse Allotrias der Intimität, die aber jedenfalls auf die vorhandene Sphäre der Intimität hinwiesen.« Die Zeiten sind vorüber. Zwar hat nicht Wagner, sondern Herr Canon, auf den er wie ein rotes Tuch wirkte, in Wien ein Denkmal bekommen — jener Vollbart mit Pumphose, über den sich an der Ecke der Johannesgasse die Dienstmänner freuen, weil sie ihn noch persönlich gekannt haben —, aber die Gemütlichkeit ist tschihi. Der Geselligkeitsclub »D’Fürigspritzten« ist in das Zeichen der Sekzessiaun getreten und behauptet, dass der Makartsche Genius in Klimt wiedererstanden ist unter Beibehaltung des Kranzes blühender Jüdinnen. Aber alle, in denen noch ein Gefühl für die Vergangenheit lebt, vereinigen sich, um die Künstlergenossenschaft hoch leben zu lassen. Der Beginn der Feierlichkeiten gestaltete sich so: »Bildhauer Fänner erschien als Muse auf einem Pegasus, den ein ausrangiertes Komfortablepferd darstellte, und sprach den Prolog von Maler Zewy, der dann in gelungener Maske eines Dichterlings in Versen von Benjamin Schier die Künstlergenossenschaft von einst und jetzt feierte.« Das geschah im Künstlerhaus und man konnte somit glauben, es handle sich um ein Jubiläum der Schlaraffia. Am nächsten Tag wurden bereits freimaurerische Töne angeschlagen. »Gott grüß die Kunst!«, rief der Freiherr vonBerger durch den Mund des Herrn Reimers, dem schon früher die Kunst, grüß Gott! zu sagen, nachgerühmt wurde. Es soll sehr schwungvoll gewesen sein, und zweihundert Schlapphüte grüßten Gott zurück. Der Unterrichtsminister gedachte der Fülle von Schönheit, die die Wiener Bevölkerung von der Künstlergenossenschaft empfangen (natürlich ohne Hilfszeitwort) und durch die ihr Dasein voller, ihre tägliche Arbeit froher, ihre Ziele edler geworden. Der Bürgermeister aber, weit entfernt, die Wirkung der Herren Ameseder und Temple auf Wien zu beschränken, erklärte, dass die Kunst gemäß ihrer erhabenen Sendung im ringenden Leben der Menschheit diese über den Alltag, über Not und Tod des Einzelwesens erhebe, den Menschen zum Ebenbilde Gottes erhöhe (im Künstlerhaus hängen solche Ebenbilder Gottes nach Entwürfen von Horowitz und Adams) und ihm im weiteren Verfolg dieser Angelegenheit die edelsten sittlichen Handlungen zum Gebote und demnach dem Gemeinderat die Verleihung der großen goldenen Salvatormedaille zur Pflicht mache. Der Vorstand der Künstlergenossenschaft versetzte darauf, dass die künstlerische Entwicklung von der politischen Freiheit abhänge und dass erst nach Schaffung der Staatsgrundgesetze die »sublimen Wünsche der Wiener Bevölkerung in der Kunst Befriedigung« finden konnten. »Als sich der Zauber ihres Wirkens über die abgebrochenen Festungswälle legte, da habe sich der Schönheitsgeist der Wiener zur Begeisterung entzündet.« Die Kunst aber sei an Voraussetzungen geknüpft, deren Erfüllung in dem einsichtsvollen Wirken jener Männer ruhe, die den Staat zu lenken haben. Die Festversammlung, in der diese Perspektiven feierlich eröffnet wurden, tagte im Parlament, das zur Zeit infolge Verfassungsbruchs an Vereine vermietet wird. Es war sehr heiß im Saal. Es war ein Gedränge von Phrasen, die einander auf die Zehen traten, und da die Phrase ein gestärktes Vorhemd ist vor einer Normalgesinnung, die nie gewechselt wird, so entwickelte sich jene Atmosphäre, in der sich Menschen die Nase zuhalten und Künstler aufatmen. Als dann endlich der Tisch gedeckt war, ging es erst hoch her. Der Vorstand, Professor v. Weyr, der Schöpfer des Monumentalbrunnens »Die Macht zur See«, in welchem ein empörter Hilfsämterdirektor den Dreizack schwingt, erinnerte daran, dass Arbeit des Bürgers Zierde, anderseits aber Segen der Mühe Preis ist, und fuhr fort: »Sie werden uns gewiss berechtigt halten, hochverehrte Herren, den Wert der Kunst hoch einzuschätzen, aber bei aller Wahrung ihres Wertes waren wir doch immer die Empfangenden, wenn wir zu geben glaubten. Was bietet Wien nicht alles unseren Sinnen! Die Lebenswogen einer großen Stadt sind ja immer der Nährboden für die Phantasie des Künstlers. Alle Menschenlose von dem ersten Zittern bis zu den letzten Zuckungen des Herzens berühren ihn, das erste Liebemahnen des zarten Bürgersinnes, wie das Schicksalsdrama des dekadenten Weibes beschwingen seine Träume und wandeln sich zu Bildern in seiner Seele. Aus Spelunken, wie aus lichtumflossenen Gesellschaftsräumen, aus den Quartieren des Elends, wie aus den Regionen, welche die Goldfluten in erzumschmiedeten Räumen bergen, empfängt er den Pulsschlag seines Wirkens und den Lebensodem seines Daseins. Über alle diese Erscheinungen den verklärenden Mantel der Kunst zu breiten, um sie in den alles versöhnenden Begriff ‚Kultur‘ einreihen zu können, ist die Aufgabe, welche die Künstler zu erfüllen haben. Diese Aufgabe weisen Sie uns an, indem Sie uns in Ihre Dienste nehmen und uns betrauen, Paläste zu erbauen, um die menschlichen Schwächen zu umhüllen, Gotteshäuser für die Frommen und Hilfsbedürftigen und Heimstätten für die Arbeitsmüden zu errichten, indem Sie von uns fordern, in unseren Bildwerken Ihnen den Spiegel Ihres Lebens vorzuhalten. Diese Wünsche können wir aber niemals ganz erfüllen, da wir Ihnen immer nur Reflexe unseres künstlerischen Schauens, einen Bruchteil dessen bieten können, was wir aus dem reichen Seelenleben unserer Stadt empfangen haben. In diesem Bruchteile suchen wir jedoch die Vorgänge des Lebens durch die Kunst zu adeln, sie ihrer Niedrigkeit zu entrücken, um das Innenleben unserer Bürger auf seine höhere Bestimmung hinzuweisen. Und welcher Strich der Erde wäre empfänglicher für diese Weisung wie der Wiener Boden, in dem ja alle Schönheitskeime so reiche Nahrung finden? Das Wienerblut ist so von Gott gemischt, dass ….« Das wurde wirklich gesprochen. Es war ein Monumentalbrunnen der Beredsamkeit. Die Vertreter des Wienerbluts, die nicht müde werden, diese ganz besondre Marke zu empfehlen — während es zum Beispiel auffallend ist, dass nie in der Welt vom Pariser- oder Londonerblut die Rede ist —, hatten einen guten Tag. Und doch muss man sagen, dass jedes Blut von Gott gemischt ist und dass vielleicht gerade die slowakisch-bajuvarische Mischung nicht die glücklichste ist und überhaupt einem von Gott gemischten Blut ein mit Gott gemischtes vorzuziehen wäre. Zum Schlusse aber dankte Redner dem Stadtrat und versprach, dass die Verleihung der Salvatormedaille die Künstlergenossenschaft »in dem Bestreben stärken werde, aus den Regungen der Wiener Seele unsterbliche Menschheitswerte zu gewinnen«. Von nun an wollten die Künstler alle Quellen ihrer Phantasie springen lassen. Hier war der Moment gekommen, das Glas auf die Stadt der Blumen und der schönen Frauen, auf ihren wackeren Bürgermeister und ihre pflichtgetreue Stadtvertretung, »diesen Dreibund«, zu erheben. Da aber die Künstler, wie mir einmal ein Hausmeister gesagt hat, speziell »Damenfreunde« sind, so lag es nah, dass ein Baurat auf die Wienerinnen hinwies und unter allgemeiner Zustimmung ein »Poem«, wie die Zeitungen sagen, zum Besten gab, welches die folgenden Verse enthielt:
Im Stadtpark, dem famosen,
Da heben bunte Rosen
Sich ab vom grünen Buchs.
In diesem Blumenleben
Seh’n wir die Wienerin schweben,
Umrauscht von Donauwogen,
Zum Lachen gern bereit.
Das Schöne und das Gute,
Es liegt bei ihr im Blute
Und wallt drin jederzeit.
Die Frage, wo der Stadtpark und wo die Donau ist, und die Feststellung, dass die Wienerin in diesem Blumenleben höchstens von den Wogen des Wienkanals umrauscht sein kann, wäre ein rationalistischer Einwand, der gegenüber der Lyrik immer unstatthaft ist. Nicht verschwiegen darf aber werden, dass der Reim auf Buchs, wiewohl er sich bei dem bekannten Wuchs der Wienerin von selbst ergeben hätte, leider verloren gegangen ist und das Poem mithin nicht so gut gebaut ist wie die Wienerin. »Ausgezogen«, hätte sie zu guter Letzt auch die »Donauwogen« motiviert. Es ist umso bedauerlicher, als die Festgesellschaft in vorgerückter Stunde für die leiseste Anspielung auf etwas, was zum Anhalten ist, dankbar gewesen wäre, während sie den mehr metaphysischen Vorzügen der Wienerin, nämlich, dass das Schöne und das Gute drin jederzeit wallt, weniger Verständnis entgegenbrachte. Mindestens aber hätten sich, da schon einmal mit Schiller begonnen wurde, als Abschluss des Gedichtes die Verse empfohlen: Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer — Gehn’s weg, Sie Schlimmer! … Es waren schöne Tage. Ganz Wien war auf den Beinen. Als die Concordia fünfzig Jahre alt wurde — das gefährliche Alter, in dem eine à tout prix von den Spitzen der Behörden befriedigt werden muss —, war das Aufsehen nicht halb so groß. Das ist erklärlich. So schreiben wie die von der Concordia kann jeder Mensch in Wien. Aber so malen wie die von der Künstlergenossenschaft — dazu muss man schließlich doch bei Griepenkerl studiert haben!
19. Februar 2012 | Kategorie: Journalisten, Notizen zur Zeit, Wulff
Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution. Karl Kraus
Der Satz von Karl Kraus trifft, wie man da sieht, zu. Wer sich prostituiert, verlangt einen Gegenwert und sei es ein Ehrensold. Der sich verkauft hat, hat auf jeden Fall einen zu hohen Preis bezahlt. Deshalb ist das Vertrauen in die per se unglaubwürdige Aussage, man mache es im Grunde umsonst, schnell futsch, wenn man es dann zu auffällig treibt. Da reicht der Verdacht, und die Generalbeauftragten der Presse für jede Art Verdacht, bei denen die Absicht seit jeher Handlungsweise bestimmt, um einen Verdacht zu erzeugen und die noch aus jedem Verdacht eine Tat zu konstruieren wissen, die nicht begangen worden sein muss, um vollbracht worden zu sein. Keine nachgeschobene Unschuldsvermutung oder nachgewiesene Unschuld kann sie ungeschehen machen, denn das „semper aliquid haeret“, dass nämlich immer etwas hängen bleibt, gehört zum stillschweigend akzeptierten Grundkonsens boulevardjournalistischer Ethik , die als Phantom den Ungeist begleitet, dem keine Jauchegrube den Geruchsnerv abtötet und der das Licht des Tages nicht mehr zu scheuen hat, seit er mit Präsidialem sein Wesen trieb. Aber es bedurfte schon des Signals einer Staatsanwaltschaft, die sich der publizierten Meinung annahm und wegen Anfangsverdachtes der Vorteilsnahme ermittelt, nicht gegen die Journaille, sondern gegen einen bevorteilten und überforderten Präsidenten. Wohl angemerkt, die unerlaubte Vorteilsnahme, im Privatleben angenehm, im Geschäftsleben gang und gäbe, für Journalisten mit ihren Firmenrabatten und Freikartenabonnements Bedingung, ist in der Politik nur dann unerwünscht, wenn sie öffentlich wird und für einen Bundespräsidenten obsolet, dem eine Bildzeitung vordem holder war, als es der Anstand erlaubt hätte. Der Wulff, als er den Schafspelz ablegte, hat sich als Schaf erwiesen. Nachdem der Boulevard ihm den Vorteil strich, erwies er sich reif für die Schlachtbank des Tagesjournalismus, vermutlich als Unschuldslamm. Nun hat ihm die Stunde geschlagen und das Halali einer Hetze mit allen Mitteln darf geblasen werden, das das vorläufige Ende der Jagd bestätigt. Denn wer wollte schon von sich behaupten, sauber bleiben zu wollen, wenn erneut der nächste erste Stein geworfen wird, vor allem dann, wenn es sich um einen der Kotsteine der Bildzeitung handelt. Lange hat sich die bilderprobte, bundesdeutsche Öffentlichkeit vorgegaukelt, man sei in deutschen Landen von der Unart eines Journalismus à la „News of the world“ noch weit entfernt. Das war ein Irrtum, und bei der größten Boulevardzeitung Deutschlands wird man klammheimlich die Korken knallen lassen und sich bestätigt sehen auf einem Umweg, der direkt mit den Ratten durch die Kanalisation bis in die Privatsphäre nunmehr eines jeden Berufspolitikers führen wird, die zwar durch das Grundgesetz geschützt ist, aber nicht vor Kloakenjournalismus bewahrt, der pseudoinvestigativ daherschleicht. Ohne den Wulff fängt nicht nur in den vorgeblich seriöseren Redaktionsstuben das Nachdenken darüber an, ob denn ab sofort jeder Amtsträger durch den Nacktscanner einer Journaille gejagt wird, die noch den letzten Flecken auf der Weste immer des Anderen sichtbar macht und vor dem Blick in die herunter zu lassende Hose nicht zurückschreckt, in die zu guter Letzt alles gegangen sein wird. Wenigstens einer soll so sein, wie man selbst sein sollte, wenn man so wäre, wie man gern wäre, also anständig, ehrlich, edel, hilfreich und gut, dazu überparteilich, mit messbarem Intelligenzquotienten, erlesenen Manieren, also jemand, der im Dutzend die Gänge der Parlamente des Landes bevölkert. Das fällt die Auswahl schwer. Viele werden dennoch ablehnen, weil sie begründet um den letzten Rest an Privatleben fürchten, indem ihnen zum Beispiel nachgewiesen wird, dass sie seinerzeit in der Schule vom Klassenprimus abschreiben durften, nachdem sie ihn mit einem Bier bestochen hatten. Ich warte gespannt auf die journalistische Nachlese in den Fußnoten der Lebensläufe von Ministern und Abgeordneten, mit ihren Nebeneinkünften, mit ihrem Bundestags-Golf, Bundestags-Tennis und sonstigem Tourismus im Namen des Sponsors und des Volkes.
11. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten
DIE FACKEL
Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr. S. 28 Tagebuch
Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist, als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.
09. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland
Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911 erfunden und apostrophierte damit frei Erfundenes, das die Presse willig aufnahm. Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.
Wenn es dem Esel zu wohl wird, wissen wir, wohin er geht. Der Journalist begibt sich aufs Land, wo tiefentelepsychopathische Abgründe ihn so anziehen, dass er es nicht für sich behalten kann und den durch die tägliche Informationsflut quasi demenzierten Leser für reif genug hält, folgenden, ganzseitigen Artikel ohne Schaden zu überstehen, der hier gekürzt erscheint, um vermeidbaren Schaden abzuwenden.
Kölner Stadtanzeiger 15/16.1.2012
„Tiere berichten mir von Liebeskummer“
Von Brian Schneider
Kommunikatorin Katharina Küsters spricht im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ über das Schaf Schwarzöhrchen, Telepathie und Hunde-Hobbys. Sogar mit toten Tieren will sie sich unterhalten haben.
Köln. Eine abgelegene Straße in Overath, Blick ins Tal, gepflegte Gärten. Katharina Küsters steht am Eingang ihres Hauses, braune Haare, braune Augen, Brille, ungeschminkt. (…)
Was ist das, Tierkommunikation?
KÜSTERS: Die intuitive Fähigkeit, sich in andere Lebewesen einzufühlen und auf diesem Weg Informationen zu erhalten. Man nennt das auch telepathische Kommunikation.
Wie kann so etwas funktionieren?
KÜSTERS: Das kann im Grunde genommen jeder. Viele Kinder sprechen ja auch mit ihren Tieren, bis die Eltern ihnen das dann irgendwann ausreden.
Küsters hat vier große Beagle: George, Paul, Dana und Liesbeth. Ihrem Mann gehört ein Handwerksbetrieb, das Paar ist kinderlos. Eine Suchanfrage mit dem Stichwort „Tierkommunikation“ bringt bei Google 116 000 Treffer. Sogenannte „Tierkommunikatoren“ gibt es im ganzen Land, mit den unterschiedlichsten Angeboten: telefonische Beratung und simultanes Dolmetschen, Körperscannen, Klangschalenmusik für Tiere.
Was erzählen Ihnen die Tiere?
KÜSTERS: Das ist unterschiedlich. Sie berichten von körperlichen Problemen, Liebeskummer oder ihren Hobbys.
Tiere haben Hobbys?
KÜSTERS: Ja. Mein Hund Paul hat mir berichtet, dass er Sport total doof findet, aber gern wandern geht. Ein Pferd hat mir erzählt, dass es gern nach Löchern im Zaun sucht. (…)
Seit fünf Jahren lässt sich die 34-Jährige in Seminaren und Kursen zur Tierkommunikatorin ausbilden. Allerdings: Letztlich kann sich jeder so nennen. Als Honorar nimmt sie 45 Euro die Stunde, hat nach eigener Aussage etwa 60 Kunden.(…)
Auch die Kölner Polizei hat schon einmal auf übernatürliche Hilfe gesetzt. Nach der N a g e l b o m b e n a t t a c k e i n M ü l h e i m f u h r e n z w e i K r i m i n a l i s t e n d e r S o k o “ S p r e n g s t o f f “ z u e i n e r H e l l s e h e r i n n a c h M ü n c h e n . Außer dass die Frau geheimnisvolle Geräusche auf einem Kassettenrekorder abspielte, brachte die Reise nichts.
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Nehmen wir mal an,dass die Kriminalisten die Seance nicht im ehemaligen Braunen Haus in München abgehalten haben, denn dort hätten sie fündig werden können. Aber bleiben wir bei der Tierkommunikation. Die ließ einen gewissen Dr. Dieter von Schützfeld – mir gleich wie ein Ei dem anderen – nicht ruhen, der, aus dem Nichts ertstanden, sogleich aus den Tiefen der erfundenen Erinnerung seine ganz persönliche Geschichte beitrug zum Leserbetrug, die prompt abgedruckt wurde und die Frage impliziert, wie weit man noch gehen muss, damit es nicht gedruckt wird.
Dr. Dieter von Schützfeld Spechtweg 12
50374 Erftstadt
Tierkommunikation vom 14.1.2012
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das klingt ja sehr ungewöhnlich, aber ich kann eine Geschichte dazu beitragen, die ich selbst erlebt habe. Anlässlich der Sturmflut 1962, als Hamburg überschwemmt wurde, war ich bei meiner Oma, die einen einen Papagei besaß. Der konnte tatsächlich sprechen, aber wiederholte eigentlich nur, was man ihm vorsprach. Ich war damals erst 14 Jahre alt, aber weiß noch genau, das der Papagei am 16. Februar als die Flut am höchsten stand und die Deiche nicht mehr hielten, immer wieder „fünfsiebzig“ sagte. Darüber haben wir gelacht und konnten nichts damit anfangen, aber als an den Tagen danach der höchste Pegelstand mit 5,70 m gemessen, wurde uns doch etwas mulmig. Vielleicht ist ja doch etwas dran an der Kommunikation mit Tieren.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dieter von Schützfeld
06. Februar 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Hölderlin, Verdichtetes
In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.
Reflexion. Von Friedrich Hölderlin
Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn, der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, gibt es eine unendliche Stufenleiter. Auf dieser auf- und abzusteigen, ist Beruf und Wonne des Dichters.
Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten angehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.
Das ist das Maß Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, dass der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nötigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben, als er will. Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das letztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt. Das Gefühl ist aber wohl die beste Nüchternheit und Besinnung des Dichters, wenn es richtig und warm und klar und kräftig ist. Es ist Zügel und Sporn dem Geist. Durch Wärme treibt es den Geist weiter, durch Zartheit und Richtigkeit und Klarheit schreibt es ihm die Grenze vor und hält ihn, dass er sich nicht verliert; und so ist es Verstand und Wille zugleich. Ist es aber zu zart und weichlich, so wird es tötend, ein nagender Wurm. Begrenzt sich der Geist, so fühlt es zu ängstlich die augenblickliche Schranke, wird zu warm, verliert die Klarheit, und treibt den Geist mit einer unverständlichen Unruhe ins Grenzenlose; ist der Geist freier, und hebt er sich augenblicklich über Regel und Stoff, so fürchtet es eben so ängstlich die Gefahr, dass er sich verliere, so wie es zuvor die Eingeschränktheit fürchtete, es wird frostig und dumpf, und ermattet den Geist, dass er sinkt und stockt, und an überflüssigem Zweifel sich abarbeitet. Ist einmal das Gefühl so krank, so kann der Dichter nichts besseres, als dass er, weil er es kennt, sich, in keinem Falle, gleich schrecken lässt von ihm, und es nur so weit achtet, dass er etwas gehaltener fortfährt, und so leicht wie möglich sich des Verstands bedient, um das Gefühl, es seie beschränkend oder befreiend, augenblicklich zu berichtigen, und wenn er so sich mehrmal durchgeholfen hat, dem Gefühle die natürliche Sicherheit und Konsistenz wiederzugeben. Überhaupt muss er sich gewöhnen, nicht in den einzelnen Momenten das Ganze, das er vorhat, erreichen zu wollen, und das augenblicklich Unvollständige zu ertragen; seine Lust muss sein, dass er sich von einem Augenblicke zum andern selber übertrifft, in dem Maße und in der Art, wie es die Sache erfordert, bis am Ende der Hauptton seines Ganzen gewinnt. Er muss aber ja nicht denken, dass er nur im crescendo vom Schwächern zum Stärkern sich selber übertreffen könne, so wird er unwahr werden, und sich überspannen; er muss fühlen, dass er an Leichtigkeit gewinnt, was er an Bedeutsamkeit verliert, dass Stille die Heftigkeit, und das Sinnige den Schwung gar schön ersetzt, und so wird es im Fortgang seines Werks nicht einen notwendigen Ton geben, der nicht den vorhergehenden gewissermaßen überträfe, und der herrschende Ton wird es nur darum sein, weil das Ganze auf diese und keine andere Art komponiert ist.
Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im Ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle setzt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Dies ist auch die höchste Poesie, in der auch das Unpoetische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hierzu ist schneller Begriff am nötigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brauchen, wenn du noch scheu darüber verweilst, und nicht weißt, wie viel an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, dass man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen setzt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisiertes Gefühl keine Vortrefflichkeit, kein Leben.
Muss denn der Mensch an Gewandtheit der Kraft und des Sinnes verlieren, was er an vielumfassendem Geiste gewinnt? Ist doch keines nichts ohne das andere!
Aus Freude musst du das Reine überhaupt, die Menschen und andern Wesen verstehen, »alles Wesentliche und Bezeichnende« derselben auffassen, und alle Verhältnisse nacheinander erkennen, und ihre Bestandteile in ihrem Zusammenhange so lange dir wiederholen, bis wieder die lebendige Anschauung objektiver aus dem Gedanken hervorgeht, aus Freude, ehe die Not eintritt, der Verstand, der bloß aus Not kommt, ist immer einseitig schief.
Da hingegen die Liebe gerne zart entdeckt, (wenn nicht Gemüt und Sinne scheu und trüb geworden sind durch harte Schicksale und Mönchsmoral,) und nichts übersehen mag, und wo sie sogenannte Irren oder Fehler findet, (Teile, die in dem, was sie sind, oder durch ihre Stellung und Bewegung aus dem Tone des Ganzen augenblicklich abweichen,) das Ganze nur desto inniger fühlt und anschaut. Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen. Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern. Übrigens ist auch Schwärmerei und Leidenschaft gut, Andacht, die das Leben nicht berühren, nicht erkennen mag, und dann Verzweiflung, wenn das Leben selber aus seiner Unendlichkeit hervorgeht. Das tiefe Gefühl der Sterblichkeit, des Veränderns, seiner zeitlichen Beschränkungen entflammt den Menschen, dass er viel versucht, übt alle seine Kräfte, und lässt ihn nicht in Müßiggang geraten, und man ringt so lange um Chimären, bis sich endlich wieder etwas Wahres und Reelles findet zur Erkenntnis und Beschäftigung. In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.
Es kommt alles darauf an, dass die Vortrefflichen das Inferieure, die Schönern das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschließen, sich aber auch nicht zu sehr damit vermischen, dass sie die Distanz, die zwischen ihnen und den andern ist, bestimmt und leidenschaftslos erkennen, und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden. Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter. Vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich, denn entweder sprechen und handeln sie gegen die andern, wie gegen ihresgleichen, und übersehen den Punkt, wo diesen es fehlt, und wo sie zunächst ergriffen werden müssen, oder sie richten sich zu sehr nach diesen, und wiederholen die Unart, die sie reinigen sollten, in beiden Fällen wirken sie nichts und müssen vergehen, weil sie entweder immer ohne Widerklang sich in den Tag hinein äußern, und einsam bleiben mit allem Ringen und Bitten oder auch, weil sie das Fremde, Gemeinere zu dienstbar in sich aufnehmen und sich damit ersticken.