Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Journalisten der Malerei. Von Karl Kraus

11. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten

DIE FACKEL

Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr.  S.  28 Tagebuch

Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die  Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht  wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt  mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten  Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache  schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist,  als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben  keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der  grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar  nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz  eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem  ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire  über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt  noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am  besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.