Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Entwicklung. Von Karl Kraus.

22. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Entwicklung, Notizen zur Zeit

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen.    Karl Kraus

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Entwicklung.

Kürzlich las ich einen Vorschlag zur Abschaffung der deutschen Satire. Hätte ein Greisler nachgewiesen, dass auch der gesalzene Kaviar keine Volksnahrung sei, ich wär’s zufrieden gewesen. Aber er sagte, das Volk verlange bessere Nahrung. Die Satire auf vaterländische Übel habe sich überlebt, denn das Vaterland habe kein Übel mehr. Die bösen Zeiten der kulturellen Zerrissenheit seien vorüber und seit genau fünf Jahren sei die Entwicklung abgeschlossen. Und da es keinen Schwindel und keine Hässlichkeit mehr gibt, so ist auch kein ersichtlicher Grund für die geringste satirische Anstrengung vorhanden. Also ein Vorschlag zur Güte, der annehmbar wäre, wenn er nicht selbst die Satire auf ein noch wenig bebautes Feld verwiese, nämlich auf die Dummheit.

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Nicht einmal die Entwicklung eines Kindes, geschweige denn die eines Volkes. Wenn ich nach fünf Jahren in ein Familienhaus kam, so war es wohl nicht zu verkennen, dass der kleine Rudolf inzwischen gewachsen war, aber ich fragte mich sogleich, ob mir der Unterschied zwischen einst und jetzt auch aufgefallen wäre, wenn ich die ganze Zeit dabei gestanden, meine Hand auf seinem Kopfe gehalten oder wenigstens jeden Morgen nachgesehen hätte, ob er größer geworden sei. Ich glaube, um eine Entwicklung recht zu genießen, muss man sich von ihr überraschen lassen. Aber fünf Jahre im Leben eines Volkes sind vielleicht nicht einmal so viel wie ein Tag im Leben eines Kindes, und wenn man dort alle fünf Jahre nachsieht, so fällt einem keine Veränderung auf. Die Fähigkeit, eine Entwicklung zu übersehen, wächst mit der Entfernung, in der man von ihr steht, und nur dem sogenannten »historischen Sinn« ist es gegeben, sie aus unmittelbarer Nähe aufzuspüren. Der historische Sinn ist aber eine Eigenschaft, die man gerade bei den jüngeren Zeitgenossen antrifft, weil für sie jede Erfahrung den Reiz des Ungewohnten hat, jedes zeitliche Erlebnis zum Ereignis wird und jeder Glockenschlag eine Ewigkeit einläutet. Gewiss wäre der kleine Rudolf, von dessen Entwicklung ich mir erst Rechenschaft geben kann, wenn sie abgeschlossen sein wird, schon jetzt imstande, die Entwicklung des deutschen Volkes von gestern auf heute festzustellen. Die Häufigkeit dieser Erscheinung ist selbst wieder eine Tatsache der kulturellen Entwicklung, die man nicht übersehen darf. Denn seitdem die Zeitgeschichte täglich zweimal erscheint,  ist jeder in die Lage versetzt, Phrasen zu gebrauchen,  die sonst erst nach einem Jahrhundert in der Leute Mund kämen. So kann einer zum Beispiel behaupten, die deutsche Nation sei bis vor fünf Jahren in der Umbildung begriffen gewesen, seit damals aber habe sie pünktlich die Verpflichtung erfüllt, eine »aus heterogensten Ständen plötzlich nach außen einsgewordene Gemeinschaft innerlich zur homogenen Rasse zu verarbeiten«. Wer sollte leugnen, dass dies ein Ziel sei, aufs innigste zu wünschen? Wer außer den Satirikern ist so blind, nicht zu sehen, dass es über Nacht erreicht wurde? Jene glauben noch immer, an der Tafel einer Kultur zu sitzen, in deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Wie Petron vom Gastmahl des Trimalchio sagt: »Nun folgte ein Gang, welcher unserer Erwartung nicht entsprach, doch zog er durch seine Neuheit aller Augen auf sich«, so sehen sie Wunder über Wunder,  und sind unzufrieden. Ein »Mischmasch von einem Spanferkel und anderem Fleische«, »ein Hase mit Flügeln, damit er dem Pegasus gleiche«, und »in den Ecken des Aufsatzes vier Faune, aus deren Schläuchen Brühe auf die Fische herunterfließt, die in einem Meeresstrudel schwimmen«. Zum Lob der Brühe singt ein ägyptischer Sklave mit abscheulicher Stimme ein Liedchen. Aber die satirischen Gäste finden sie trotzdem nicht schmackhaft und erdreisten sich, all ihr Salz hineinzuschütten. Und nachdem sie sich noch an der protzigen Aufschrift des hundertjährigen Falerners berauscht haben, träumen sie diesen Traum:

Die Entwicklung ist eine G. m. b. H., das Schicksal ist ein Kaufhaus des Westens, das Leben ist eine Stehbierhalle. Um die Seele des Menschen ringen Wertheim und Tietz. Zweimal täglich löst eine Generation die andere ab, aber die Zeitrechnung beginnt mit der Einführung der orthozentrischen Kneifer, der Reformglücksehe und der Eröffnung der Halenseer Terrassen. Alles, was vorher geschah, hat nur dazu gedient, die sogenannte Entwicklung vorzubereiten, wenn es sich nicht etwa zum Beweise der Homosexualität des Fürsten Eulenburg heranziehen lässt. Nicht nur die Geschichte, auch die Bibelforschung hat wertvolles Material geliefert, aus dem klar hervorgeht, wie seit Erschaffung der Welt alles auf eine Entwicklung hingearbeitet hat, die erst jetzt abgeschlossen vor uns liegt. Schon die Häufigkeit der Bemerkung »Und der Herr sprach« scheint darauf hinzudeuten. »Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom, das ist groß und ihre Sünden sind schwer … Da ließ der Herr Schwefel regnen auf Sodom …« Merkwürdig ist auch der Hinweis auf die Affäre von Loths Töchtern: »Also gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in dieser Nacht … Und sie wurden schwanger von ihrem Vater. Und die älteste gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter, bis auf den heutigen Tag«. Und dann war wieder eine Leiter da, »die stand auf Erden und rührete mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel des Herrn stiegen daran auf und nieder«, denn es waren Flügeladjutanten Gottes … Hier verlässt der Traum die logische Linie und ist plötzlich an dem Punkt, wo die eigentliche Entwicklung ansetzt. Es braust ein Ruf wie Donnerhall:

Pauline, au au, au au, au au
Wie haben sie dir verhaun!

Fünf Jahre später schon ist der Spieß umgekehrt:

Und er rief: Geliebte Krause — immer mit der Hand lang
Machen Se doch ’ne kleine Pause — immer mit der Hand lang!

Die Entwicklung ist im Zuge, wir wissen, wie viel’s geschlagen hat. Zuerst hieß es bloß: Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt! Bald aber wird schüchtern hinzugesetzt: Und höchstens noch die strengen Masseusen! Es ist nicht schimpflich, sich im Frieden schlagen zu lassen, und kriegerische Tüchtigkeit steht nach wie vor in hohem Ansehen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher versicherte die Schangsonette:

Ja, so ein Leudenant, so fesch und sauber,
Wirkt auf ein Mädchenherz als wie ein Zauber.

Jetzt singt zwar noch immer eine ganze Kompagnie:

Ja, wir sind doch ’ne eigne Rasse,
Zivil ist ganz ’ne faule Klasse!

Aber die es singen, sind uniformierte Mädchen … Die Satiriker träumen weiter. Von einer Politik, die durch eine eifrige Ausnützung der Verkehrsmittel, wie Post und Telegraph, sich in der ganzen Welt Geltung verschafft, da man einsehen gelernt hat, dass das gesprochene Wort nicht ausreicht. Von einer Justiz, die den Tod eines Angeklagten für keinen Vertagungsgrund hält, von einem Lauf der Gerechtigkeit, bei dem zuerst sie vor den Fürsten und dann die Fürsten vor ihr ohnmächtig werden, und überhaupt von all den Dingen, die man Schmutzereien nennt. Der Schlaf der Satiriker wird unruhig, aber sie haben nichts zu fürchten, denn zu ihren Häupten stehen die Schutzmänner Michael und Gabriel. Sie träumen von einer Welt der Speisehäuser, deren Portiers auf die Frage, was die Göttinnen im Stiegenraum mit der Verdauung zu tun haben, prompt die Auskunft geben: Herr, das hat doch den Zweck, um dem Schönheitssinne Rechnung zu tragen! … Die Satiriker wälzen sich auf ihrem Lager. Da sehen sie Böcklins Toteninsel mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Es ist erreicht. Die Entwicklung ist soeben auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Nation zur homogenen Rasse verarbeitet. Und fünfundzwanzig Jahre hat es gebraucht, bis das Volk in den Besitz der unentbehrlichsten Schmutzereien gelangte, und nur fünf,  bis es die Kultur bekam … Die Satiriker erwachen. Die Polizeihunde Edith und Ruß bellten so laut.

Karl Kraus.