Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen zur Zeit. Mehr als Unfug. Von W.K. Nordenham

09. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit

Stern.de 08.04.2012

Nach kritischem Gedicht: Israel lässt Grass nicht mehr einreisen.

Die Empörung über das Gedicht von Günter Grass hat jetzt handfeste Folgen: Der israelische Innenminister erklärt den deutschen Schriftsteller zur Persona non grata – und verhängt ein Einreiseverbot.

Literaturnobelpreisträger Günter Grass darf wegen seines israelkritischen Gedichts nicht mehr nach Israel einreisen. Die israelische Regierung erklärte ihn am Sonntag zur Persona non grata, bestätigte ein Sprecher des Innenministers Eli Jischai.

Die Sache ist zu ernst, um sie dem Boulevard und den Tagschreibern zu überlassen. Günter Grass darf also nicht mehr nach Israel reisen, was er wohl auch so nicht vorgehabt hätte, obwohl er doch nur eine abwegige, unsinnige Meinung geäußert hat, die des Aufhebens nicht wert gewesen wäre. Manchmal jedoch hat Dummschwätzerei unerwartete Folgen, denn offensichtlich ist es Herrn Grass gelungen, ein ganzes Land, bzw. dessen Regierung persönlich zu beleidigen. Demokratien pflegen mit abweichenden Meinungen minderer Qualität souveräner umzugehen und sich mit dem Wort zu wehren, ohne ordnungspolitische Mittel bemühen zu müssen. Übertriebene Empfindlichkeit und überzogene Reaktionen kennt man gemeinhin nur von totalitären Regimen. Man könnte die israelische Reaktion mit Fug und Recht als die Fortsetzung des groben Unfugs ansehen, den Herr Grass verzapft hat, gäbe es da nicht die Worte des großen Mahners Leibowitz, der hier zitiert sei. Im Jahre 1987 beschrieb Leibowitz die Situation eines Staates, der am siebten Tag des Sechs-Tage-Krieges mit der Besetzung eroberten Landes sein Gesicht veränderte. Er  sah einen Staat   geprägt von den Notwendigkeiten der Geheimpolizei und des Geheimdienstes  voraus, der sich zwangsläufig  verändern müsste.

„Mein politisches Programm fordert die Teilung des Landes zwischen dem jüdischen und palästinensischen Volk. Ich lehne den Autonomieplan in aller Schärfe ab, den dieser Plan ist nichts anderes  als ein heuchlerischer und gemeiner Trick um die jüdische Gewaltherrschaft über das palästinensische Volk  aufrechtzuerhalten. (…)

Wir müssen uns damit abfinden, dass weder Nablus, noch Hebron und Jericho  zu unserem Hoheitsgebiet gehören werden, die Araber aber werden sich damit abfinden müssen, dass Galiläa nicht zu ihrem Staat gehören wird. Wenn beide Seiten einer derartigen Teilung nicht zustimmen, dann wird es keine Lösung geben – dann gehen beide Völker einer Katastrophe entgegen. (…)

Die Welt bringt heute dem Staat Israel keinerlei Achtung und Wertschätzung mehr entgegen, von aufrichtiger Sympathie erst gar nicht zu sprechen, so wie es in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in weiten Kreisen üblich war. Aber noch viel entscheidender ist, dass der Staat Israel dem meisten Juden selbst immer fremder wird – und gerade nicht den schlechtesten unter ihnen –, weil der Staat in seinem heutigen Zustand wirklich keinen Lorbeerkranz für das Jüdische Volk darstellt.  Der ehemalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin hat einmal in einem Moment geistiger Erleuchtung gesagt: Warum ist es eine Katastrophe, wenn wir nach Etz-Zion (ein Block jüdischer Siedlungen in Westjordanien, zurzeit unter israelischer Herrschaft) mit einem jordanischen Visum fahren? Wenn wir das Land teilen, dann werden die Einwohner von Etz-Zion an ihrem Platz bleiben, mitsamt der großen Talmudschule, und es wird dort zahlreiche jüdische Siedlungen geben, so wie es arabische Dörfer  in Israel gibt. (…)

(…) Heute bin ich sicherlich gegen diese Siedlungen, denn sie verhindern die Teilung des Landes. Das ist ja auch Zweck und Absicht dieser Siedlungen. Aber, wenn die Teilung durchgeführt ist, und beide Staaten in friedlicher Koexistenz leben, dann sehe ich durchaus die Möglichkeit für eine Errichtung von jüdischen Siedlungen  jenseits der Grenzlinie. Wenn wir den Weg, auf dem wir uns befinden fortsetzen – dann wird das zum Untergang des Staates Israel führen, und zwar im Zeitraum von ein paar Jahren, dazu braucht es noch nicht einmal Generationen. Im Inneren wird Israel ein Staat mit Konzentrationslagern für Menschen wie mich werden, sobald Vertreter der rechtsnationalen Parteien (…) an die Macht kommen. (…)“

Eine Gesellschaft unter  andauernden Belagerungs und Besetzung muss sich verändern. Dieser Zustand dauert für die israelische Gesellschaft seit schon fünfundvierzig Jahren an und hat inzwischen bis zu einer freiwilligen Einmauerung geführt. Es gibt seither kaum noch Attentate, aber was ist mit der Freiheit? Der Freiheit für Andersdenkende? Religiöse Fanatiker verwischen die Trennung von Kirche und Staat.  Avigdor Liebermann darf auf Grund seiner Äußerungen schon als Faschist betrachtet werden, und er ist nicht allein.  Die Regierung Israels hat empfindlicher, reaktionärer und intoleranter reagiert, als es von einem demokratischen Gemeinwesen zu erwarten gewesen wäre. Anstatt den Unfug eines Grass zu ignorieren, folgt sie dem Muster totalitärer Staaten und gibt sich hochoffiziell beleidigt. Das ist mehr als Unfug. Leibowitz hätte es nicht überrascht, und mich macht es traurig. Auf welchem Wege ? Israel muss umkehren und Frieden mit sich machen, indem es ihn mit den anderen macht –  im eigenen Interesse, bevor es vollends in  Faschismus abgleitet. Und wenn die Palästinenser nicht wollen wie gewöhnlich und auch das Lebensrecht Israels nicht anerkennen, dann muss man raus aus der Westbank –  auf eigene Faust. Dann kann man sich um sich selbst kümmern und da es niemand sonst tut, die Welt vor der Bedrohung durch eine iranische Atombombe bewahren.


Notizen zur Zeit. Grober Unfug. Von W.K. Nordenham

06. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit

Welt online  6.4.2012

Hamburger Autorenvereinigung

Grass-Gedicht „Viel Lärm um nichts“

Hamburg (dpa/lno) – Die Hamburger Autorenvereinigung rät in der kontroversen Debatte um das jüngste Gedicht von Günter Grass zu mehr Gelassenheit. «Man sollte alles ein wenig tiefer hängen», sagte der Vorsitzende der Vereinigung, Gino Leineweber, am Freitag in Hamburg. «Betrachtet man das sogenannte Gedicht ohne den Namen des Verfassers, wäre es dieser Kunstform kaum zugeordnet worden. Es ist literarisch ein Nichts, dessen Bewertung die Mühe nicht lohnt.» Wenn Günter Grass seinen Ruf schädige, sei das bedauerlich für einen Schriftsteller, der Großes geleistet habe, betrachte man sein gesamtes künstlerisches Schaffen.

Der Hamburger Autorenvereinigung ist zu danken, auch dafür, dass sie das  Lebenswerk von dem „Gedicht“ trennt.  Wenn sie meint, eine Bewertung lohne  d e r  Mühe nicht, so trifft das zu, unterschlägt aber die Wirkung der Grass-Polemik auf  antisemitische Wirrköpfe und Schweinehunde im Geiste, deren Gebell aus dumpfen Tiefen umgehend herauftönt und die deutsch-reflexartig den Täter für das Opfer halten möchten. Darin  gibt es seit den Tagen des SS-Mannes Grass eine stillschweigende Übereinstimmung im Lande der Vollstrecker, die  sich mit übertreibender Kritik am Opfer  zu exkulpieren versucht. Welche Atombombe wir man fürchten müssen? Die israelische oder die Iranische? Das zu verwechseln erfordert eine betrrächtliche Atherosklerose.  Die Folgen hätten einem Günter  Grass bewusst gewesen sein müssen. Dennoch hat er sich geäußert. Aber so wenig ich zum Beispiel von einem Bäcker etwas über Fleischwaren erfahren möchte oder umgekehrt vom Metzger über  Backwaren, so wenig will ich von einem Schriftsteller pseudopolitisch , ja was eigentlich, informiert, belehrt, belästigt, ungebeten mit dem Wort überfallen  werden? Es ist von Allem etwas dabei. Profundere Köpfe haben sich zu dem Thema geäußert, allen voran sei  Jeschajahu Leibowitz genannt, der schon 1987 mit vierundachtzig Jahren mehr wusste, als Günther Grass bis heute offenbar vergessen hat.

Dass Selbstgerechtigkeit als  einzig verwirklichte Gerechtigkeit zu gelten hat, ist weder neu noch überraschend. Aber es stößt  in diesem Falle  besonders unangenehm auf, wenn Herr Grass sich nämlich nach der Veröffentlichung seiner Polemik, als zu Recht Kritisierter, selbstredend in  die Opferrolle begibt und sich darin gefällt,  plötzlich das ein oder andere an seinem Text zu relativieren, der  doch „mit letzter Tinte“  in die Tastatur getippt, als ultima ratio angelegt war und dem nun minima ratio nachgewiesen wird. Denn was da als „Gedicht“ daherkommt, erfüllt weder nach Form noch nach Inhalt die Erwartung oder den Anspruch, den man nur an einen Prosatext des noblen Preisträgers stellen dürfte. Es erweist sich , dass er vom Subjekt, über das er schreibt, keine Ahnung hat und daher objektiv nur fehlen kann, und er beweist sich daher weniger als Antisemit, denn als alter Simpel. Karl Kraus hätte ihn unter die „Mausis“  eingereiht. Der Herr macht sich eben nur mausig, und der bislang bemerkenswerteste Vorschlag, auf den Unsinn zu reagieren, stammt von dem scharfsinnigen Menschen Sebastian K., der vorschlug, Günter Grass anzuzeigen, wegen groben Unfugs nämlich!