Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Kraus, Heine und die Folgen. Von Richard Schuberth

29. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Heine und die Folgen, Richard Schuberth

Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Kraus, Heine und die Folgen

Was will die einsame Träne? Was will ein Humor, der unter Tränen lächelt, weil weder Kraft zum Weinen da ist noch zum Lachen?

Karl Kraus

Wahrheit im Fühlen und Denken hilft einem sehr viel in der Prosa, dem Lügner wird der gute Stil sehr erschwert.“

Heinrich Heine

Nichts ist törichter als die Frage, welcher Dichter größer sei als der andere. Flamme ist Flamme, und ihr Gewicht lässt sich nicht bestimmen nach Pfund und Unze. Nur platter Krämersinn kommt mit einer schäbigen Käsewaage und will den Genius wiegen.

Heinrich Heine

Wohl aber lässt sich qualifizieren, ob eine Flamme erleuchtet und brennt oder nur das begeisterte Blitzen und rebellische Funkeln der Dichteraugen illuminiert. Das zeigt Karl Kraus in seinem Essay „Heine und die Folgen“ aus dem Jahr 1910, und wer wie ich mit Heine sozialisiert wurde, der schützt sich gegen Kraus’ Kritik zunächst mit dem vorgedruckten Katalog der Unterstellungen, die von pedantisch bis besserwisserisch, von narzisstisch bis gehässig reichen – und wird an der stilistischen und ethischen Autorität dieses wundersamen Stücks Literatur resignieren, weil er mit Kieseln gegen einen Felsblock wirft. Nie wurde die Forderung, wer kritisiert, solle Besseres liefern, besser erfüllt als durch Kraus’ Kritik an Heine. Es ist sogar unbedingt von dessen Lektüre abzuraten, und wer es nicht lassen kann, sollte sich zumindest mit den Brech- oder Abführmitteln seiner Vorurteile vor ihrem Verständnis schützen. Denn es lässt sich keines seiner Argumente widerlegen, und selbst wenn, gäbe es keine Sprache, die es mit der seinen aufnehmen könnte. Nicht einmal zu kennen braucht man das Objekt seiner Kritik, Heinrich Heine. Was Kraus kritisierte, ist allgemein gültig, und wer „Heine und die Folgen“ wirklich verdaut hat, dem wird danach ein Großteil seiner kulturellen Lieblingskost, mit oder ohne Heine, kaum noch schmecken. Die formblinde Halbbildung, die in Kunst nur den Inhalt wahrnimmt und folglich Kraus und Heine als Geistesverwandte missversteht, mag in Kraus’ Kritik an Heine nur Stutenbeißerei vermuten.

Der Linken ist der Marx-Intimus und Verfasser der „schlesischen Weber“ wie die Ernst-Busch-Platte und der Che-Poster Requisite der eigenen Gesinnung. Für sie ist Literatur nicht interessant, weil sie gut ist, sondern weil der Autor in Spanien gekämpft hat oder Kirgise ist. Doch über die Kritik der Gesinnungsliteratur wurde in vorangegangenen Artikeln genug gesagt. Vielmehr interessiert die ungebrochene Tradition einer kulturindustriellen Heine-Verehrung, die seit 1910 das immer gleiche Gesicht zeigt, und im Jahr 2006 am authentischsten das von Marcel Reich-Ranicki annimmt, der im Fernsehen Heine zum größten deutschen Dichter hochkrächzt, nicht ohne nachzubelfern, dass „der Kraus“ ja nur neidisch war, weil er nicht konnte, was Heine konnte. Liest man „Heine und die Folgen“, kommt man zur überraschenden Einsicht, dass Reich-Ranicki zumindest in Letzterem Recht hat, ja Kraus gar nicht können wollte, was Heine konnte.

Bis zu diesem Text brachte Kraus Heine unschlüssiges Wohlwollen entgegen. 1906 schrieb er in der „Fackel“ noch: „Wir wollen nicht ungerecht gegen ihn werden, weil uns seine Grazie amoralischer Tugend heute im Zerrbild journalistischer Verkommenheit entgegentritt, weil seine künstlerischen Vorzüge an den Nachfolgern als sittliche Mängel wirken, an seinen künstlerischen Mängeln eine Generation schmarotzt, die noch immer unter Heines Tränen lächelt.“ Doch seine Redlichkeit gebietet Kraus, den jüdischen Kosmopoliten Heine gegen die Kritik der Bodenständigen zu verteidigen und mit der seinen erst anzusetzen, „nachdem man alle Urteutonen, die ihm die Denkmalswürdigkeit absprechen, beleidigt hat. Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen, auch nicht für die Geistreichen.“

Vier Jahre später ahndet er die Konsequenzen schon am Urheber selbst, Heine sei es gewesen, der „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“. Er klagt ihn als geistigen Ahnvater des Feuilletonismus an, der Ästhetisierung des Journalismus und der Journalisierung der Literatur, als Schutzheiligen all derer, die die Untugend, es sich in Sprache und Denken zu leicht zu machen, als Leichtigkeit feiern. Unter Kraus’ Lupe entlarvt sich Heine als der talentierte Poseur, als den ihn das geistige Bildungskleinbürgertum seit 150 Jahren bewundert, weil er ihnen romantisches Draufgängertum und flotten Rebellengeist vorgaukelt, die sie gerade noch selbst fertig brächten, ohne ihre fragilen Ego-Anmaßungen – die Bedingung jeglicher Erkenntnis – warten zu müssen. Sein Werk, so Kraus, führe „in unterirdischen Gängen direkt vom Kontor zur blauen Grotte“, oder aktualisiert: vom Kulturmanager- respektive Redakteursbüro direkt zu der berechneten Melancholie eines Truffautfilms oder dem glatten Zynismus von Harald Schmidts Late-Night-Show. Heine ist ewige Adoleszenz, weshalb er bei der Jugend und jenen so beliebt ist, welche das Erwerbsinteresse in unabgeschlossener Adoleszenz festfror. „Man hatte Masern, man hatte Heine, und man wird heiß in der Erinnerung an jedes Fieber der Jugend. Hier schweige die Kritik. Kein Autor hat die Revision so notwendig wie Heine, keiner verträgt sie so schlecht, keiner wird so sehr von allen holden Einbildungen gegen sie geschützt, wie Heine. (…) So kommt der Tag, wo es mich nichts angeht, dass ein Herr, der längst Bankier geworden ist, einst unter den Klängen von ‚Du hast Diamanten und Perlen’ zu seiner Liebe schlich. Und wo man rücksichtslos wird, wenn der Reiz, mit dem diese tränenvolle Stofflichkeit es jungen Herzen angetan hat, auf alte Hirne fortwirkt und der Sirup sentimentaler Stimmungen an literarischen Urteilen klebt.“

Lächeln unter Tränen

Heines Tränen, wirft ihm Kraus vor, hätten kein Salz und sein Witz keinen Boden. Alles, was Kraus heilig ist, Empfindung, Anschauung, Kritik, Witz und – Sprache, gebrauche Heine zum Dekor seiner Person, die Kraus zufolge erst zur Persönlichkeit reifte, wenn sie sich diesen Heiligtümern unterwürfe. Auch Oscar Wilde und Peter Altenberg sind eitle Gecken, doch in ihrer Egomanie spiegelt sich die Welt, während Heine dieser stets sein Spiegelbild aufdrängt. Auch Nestroy witzelt, doch in seinen Witzen lachen die Widersprüche der Gesellschaft, welche Heine bloß verlacht. Womit sich die in ihrer persönlichen Souveränität unsichere Nachwelt lückenlos identifizieren kann und ihn als den lässigen Überwinder der sperrigen Klassiker wie Goethe feiert. „Dass, wer nichts zu sagen hat, es besser verständlich sage, diese Erkenntnis war die Erleichterung, die Deutschland seinem Heine dankt nach jenen schweren Zeiten, wo etwas zu sagen hatte, wer unverständlich war.“ Präzise erhellt Kraus den Unterschied zwischen Lyrik, die die Dinge sprechen lässt, und solcher, die über die Dinge spricht: „Wie über allen Gipfeln Ruh’ ist, teilt sich Goethe, teilt er uns in so groß empfundener Nähe mit, dass die Stille sich als eine Ahnung hören lässt. Wenn aber ein Fichtenbaum im Norden auf kahler Höh’ steht und von einer Palme im Morgenland träumt, so ist das eine besondere Artigkeit der Natur, die der Sehnsucht Heines allegorisch entgegenkommt.“

Heines Beliebtheit liegt in seiner Gefälligkeit begründet, in einer Lyrik, „in der die Idee nicht kristallisiert, aber verzuckert wird“, in einem Witz, der im Gegensatz zum Nestroy’schen Humor „mit der Welt läuft, der sie dort traf, wo sie gekitzelt sein wollte, und dem sie immer gewachsen war“ – und in der augenzwinkernden Legerheit, die keck von einem Thema zum anderen hüpft und sich das als Überschmäh verbuchen lässt. Kraus sieht darin lediglich Unfähigkeit zur Komposition und geistige Kurzatmigkeit – jenen kurzen „Atem, der in einem Absatz absetzen muss, als müsste er immer wieder sagen: so, und jetzt sprechen wir von etwas anderm. Wäre Heine zum Aphorismus fähig gewesen, zu dem ja der längste Atem gehört, er hätte auch hundert Seiten Polemik durchhalten können.“

Stilkunde als Charakterkunde?

Auf rutschigen Boden begibt sich Kraus, wenn er vom Stil des Autors auf dessen Charakter schließt, doch überzeugt er auch dort mit unerwarteter Trittsicherheit. Seine Charakterologie setzt zunächst bei falschen Gefühlen und falscher Aufklärung an. Wenn Heine zum Beispiel die Erbauung einer jungen Dame beim Betrachten des Sonnenuntergangs entmystifizieren will – „Mein Fräulein, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter, / Und kehrt von hinten zurück.“ – dann kommt ihm Kraus schnell auf die Schliche: „Der Zynismus Heines steht auf dem Niveau der Sentimentalität des Fräuleins. Und der eigenen Sentimentalität.“ Heine gefällt sich als der ironische Überwinder der Romantik und ihrer Wirklichkeitsverweigerung. Doch Kraus weist ihm nach, dass er sie keinesfalls überwindet, sondern bloß ihre billigste Emotionalität in sich erhält und sie, sobald er sich dabei erwischt, an anderen verspottet. Kraus würde nie Romantik gegen Realismus oder etwa Naturlyrik gegen das politische Gedicht ausspielen. Ob so oder so, Literatur sollte tiefes Empfinden mit tiefem Denken vereinen, die Qualität ihrer Sprache ist ihr Senkblei.

Heine wurde oft ein brüchiger Charakter attestiert. Niemals hätte ihm Kraus das zum Vorwurf gemacht, wohl aber, dass er die Brüche dieses Charakters selten zu künstlerischer Stärke genutzt, sondern mit der Ironie der Beiläufigkeit überpudert hat.

In Anspielung auf den Publizisten Maximilian Harden hatte Kraus geschrieben: „Dass einer ein Mörder ist, muss nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist.“ Wie Harden die Homosexualität des Fürsten Eulenburg denunzierte, so hatte Heine zwei Generationen zuvor die homosexuellen Neigungen des Dichters August Graf von Platen verspottet.

„Die Gesinnung“, kommentiert Kraus, „kann nicht weiter greifen als der Humor. Wer über das Geschlechtsleben seines Gegners spottet, kann nicht zu polemischer Kraft sich erheben. (…) Schlechte Gesinnung kann nur schlechte Witze machen. Der Wortwitz, der die Kontrastwelten auf die kleinste Fläche drängt und darum der wertvollste sein kann, muss bei Heine (…) zum losen Kalauer werden, weil kein sittlicher Fonds die Deckung übernimmt.“

Auch am Beispiel der Polemik gegen seinen Konkurrenten Ludwig Börne überführt er Heine einer Spießermoral, die dieser hinter Frivolität und Freigeistigkeit zu verstecken trachtete. Heine hatte gemutmaßt, ob eine gewisse Madame Wohl die Geliebte Börnes sei oder „bloß seine Gattin“. Kraus: „Dieser ganz gute Witz ist bezeichnend für die Wurzellosigkeit des Heineschen Witzes, denn er deckt sich mit dem Gegenteil der Heineschen Auffassung von der Geschlechtsmoral. Heine hätte sich schlicht bürgerlich dafür interessieren müssen, ob Madame Wohl die Gattin Börnes oder bloß seine Geliebte sei.“

Nur vor Heines letzten Werken verneigt sich Kraus, dem „Romanzero“ zum Beispiel, den jener angesichts eines langsamen Todes in seiner „Matratzengruft“ verfasste: „Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein.“ – „Der Tod konzentriert, räumt mit dem tändelnden Halbweltschmerz auf und gibt dem Zynismus etwas Pathos. (…) Sein Witz, im Erlöschen verdichtet, findet kräftigere Zusammenfassungen; und Geschmacklosigkeiten wie: ‚Geh ins Kloster, liebes Kind, oder lasse dich rasieren’, werden seltener.“

Die Kommis von heute, gleich ob es sich bei ihnen um Museumskuratoren, Redakteure oder kultivierte Werbetexterinnen handelt, mögen noch immer wissen, was sie an ihrem Heine haben, die Schärfe, die nicht zu sehr brennt, die Gefühlstiefe, die auch nach Büroschluss seicht genug bleibt, und den aufgeklärten Sarkasmus, mit dem es sich insgeheim fies und konkurrenzfähig bleiben lässt. „Darum verlangt die Pietät des Journalismus, dass heute in jeder Redaktion mindestens eine Wanze aus Heines Matratzengruft gehalten wird. Das kriecht am Sonntag platt durch die Spalten und stinkt uns die Kunst von der Nase weg! Aber es amüsiert uns, so um das wahre Leben betrogen zu werden. In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst eins aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt.“

„Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist“, resümiert Karl Kraus, aber: „Höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.“ Doch auch vor dem Alterswerk finden sich bei Heine genug Sentenzen, die nicht mit, sondern in der Sprache großartig und gar nicht so weit von Kraus’ Satire entfernt sind. So ungerecht seine Kritik an Heine im Detail sein mag, die Kritik der „Folgen“ hat die Kraft, alles was wir für kritisch und klug halten, tosend in sich zusammenstürzen zu lassen und auf ein neues Niveau zu verweisen. Ob wir die Kraft haben, ihm dorthin zu folgen, steht auf einem anderen Blatt. So empfiehlt sich „Heine und die Folgen“ als Fegefeuer für jeden denkenden Menschen, es ist das Manifest einer stilistischen Ethik, deren Kenntnis verbietet, hinter sie zurückzufallen. Um sich diese Schäbigkeit zu ersparen, lese man „Heine und die Folgen“ besser nicht.

Lesetipp:

Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. Main 1989