Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Tagebuch IV. Von Karl Kraus

02. November 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"

Die Fackel

Nr. 259 – 60 WIEN, 13. JULI 1908 X. JAHR S .35 -56

Tagebuch.

Der moderne Geschmack braucht die ausgesuchtesten Komplikationen, um zu entdecken, dass ein Wasserglas in der Rundform am bequemsten sei. Er erreicht das Sinnvolle auf dem  Weg der Unbequemlichkeiten. Er arbeitet im Schweiße seines Angesichts, um zuzugeben, dass die Erde kein Würfel, sondern eine Kugel sei. Dies Indianerstaunen der Zivilisation über die Errungenschaften der Natur hat etwas Rührendes.

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Auch die Dummheit hat Ehre im Leib, und sie wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott, als die Gemeinheit gegen den Tadel. Denn diese weiß, dass die Kritik recht hat, jene aber glaubt’s nicht.

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In einem geordneten geistigen Haushalt sollte ein paar Mal im Jahr ein gründliches Reinemachen vor der Schwelle des Bewusstseins stattfinden.

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Schönheitsfehler sind die Hindernisse, an denen sich die Bravour des Eros bewährt. Bloß Weiber und Ästheten machen eine kritische Miene.

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Wer zu den Dingen in seinem Zimmer eine persönliche Beziehung gewonnen hat, rückt sie nicht gern von der Stelle. Ehe ich ein Buch aus meiner Bibliothek leihe, kaufe ich lieber ein  neues. Sogar mir selbst, dem ich auch nicht gern ein Buch aus meiner Bibliothek leihe. Ungelesen an Ort und Stelle, gibt es mir mehr als ein gelesenes, das nicht da ist.

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Es wäre eine interessante Statistik: Wie viel Leute durch Verbote dazu gebracht werden, sie zu übertreten. Wie viel Taten die Folgen der Strafen sind. Wie viel Menschen etwa von der  Altersgrenze, die die Sexualjustiz festgesetzt hat, gereizt werden, sie zu überschreiten. Interessant wäre es, herauszubringen, ob mehr Kinderschändungen trotz oder wegen der  Altersgrenze begangen werden.

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Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.

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Es verletzt in nichts den Respekt vor Schopenhauer, wenn man die Wahrheiten seiner kleinen Schriften manchmal als Geräusch empfindet. Wie plastisch wirkt in seiner Klage das  Türenzuschlagen! Man hört förmlich, wie offene Türen zugeschlagen werden.

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Ein Soldatenzeichner, dessen Figuren Habtacht vor dem Betrachter stehen. Und wenn er eine Armee malte, es wären lauter Einzelne. Ein anderer malt einen Soldaten und man sieht die Armee.

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Auf den Bildern derer, die ohne geistigen Hintergrund gestalten und den Nichtkenner durch eine gewisse Ähnlichmacherei verblüffen, sollte der Vermerk stehen: Nach der Natur  kopiert. Hätten sie ein Wachsfigurenkabinett zu zeichnen, so wüsste man zwischen den Figuren und den Besuchern nicht zu unterscheiden.

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Mit einem Blick ein Weltbild erfassen, ist Kunst. Wie viel doch in ein Auge hineingeht!

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Weh dem armen Mädchen, das auf dem Pfad des Lasters strauchelt!

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Er war so eifersüchtiger Natur, dass er die Qualen des Mannes, den er betrog, empfand und der Frau an die Gurgel fuhr.

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Sich im Beisammensein mit einer Frau vorzustellen, dass man allein ist — solche Anstrengung der Phantasie ist höchst ungesund.

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Passende Wüste für Fata morgana gesucht.

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Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.

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Welch sonderbarer Aufzug! Sie geht hinter ihm, wie eine Leiche hinter einem Leidtragenden.

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In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.

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Wie unperspektivisch die Medizin die Symptome einer Krankheit beschreibt! Sie passen immer auch zu den eingebildeten Leiden.

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Wenn ein Künstler Konzessionen macht, so erreicht er oft nicht mehr als der Reisende, der sich im Ausland durch gebrochenes Deutsch verständlich zu machen hofft.

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Wie unwesentlich und ungegenwärtig dem Mann das Geschlechtliche ist, zeigt sich darin, dass selbst die Eifersüchtigen ihre Frauen auf Maskenbällen sich frei bewegen lassen. Sie haben  vergessen, wie viel sie sich ehedem mit den Frauen anderer dort erlauben konnten, und glauben, dass seit ihrer Verheiratung die allgemeine Lizenz aufgehoben sei. Ihrer Eifersucht genügen sie durch ihre Anwesenheit. Dass diese ein Sporn ist und kein Hemmschuh, sehen sie nicht. Keine eifersüchtige Frau würde ihren Mann auf die Redoute gehen lassen.

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Das kurze Gedächtnis der Männer erklärt sich aus ihrer weiten Entfernung vom Geschlecht, welches in der Persönlichkeit verschwindet. Das kurze Gedächtnis der Frauen erklärt sich aus ihrer Nähe zum Geschlecht, in welchem die Persönlichkeit verschwindet.

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Wenn ein Vater, der aus Liebe geheiratet hat, seinem Sohn eine Eheschließung verbietet und die Mutter sie befürwortet, so geht es durchaus mit natürlichen Dingen zu. Denn die Mutter hat sich genug Natur bewahrt, um eine Kupplerin aus Gefühl zu sein, und dem Vater ist nichts übrig geblieben als die Fähigkeit, die Rentabilität menschlicher Verhältnisse abzuschätzen.

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Jemand gab zu, dass Hetären Genies entzünden: aber Mütter bestünden als unbedingter Wert. Das ist wahr, aber man hat immer das Recht, den Acker oder die Landschaft vorzuziehen.

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Es kommt schließlich nur darauf an, dass man überhaupt über die Probleme des erotischen Lebens nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen eigenen Resultaten finden mag, beweisen nur, dass man in jedem Falle recht hat. Und die Widersprüche zwischen den eigenen und den Resultaten, zu  denen andere Denker gelangt sind, entfernen uns nicht so weit von diesen, wie uns der Abstand von solchen entfernt, die überhaupt nicht über die Probleme des erotischen Lebens nachgedacht haben.

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Nicht immer muss, wer an der Seele krank ist, den Unterleibsspezialisten aufsuchen, und nicht immer braucht man mit einer Darmfistel zum Psychologen zu gehen. Im Allgemeinen sind aber die Kompetenzen zwischen den Rationalisten des Seelenlebens und den Mystagogen des Unterleibes schwer abzustecken.

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Daß eine Sache künstlerisch ist, muss ihr nicht unbedingt beim Publikum schaden. Man überschätzt das Publikum, wenn man glaubt, es nehme die Vorzüglichkeit der Form übel. Es beachtet die Form überhaupt nicht und nimmt getrost auch Wertvolles in Kauf, wenn nur der Stoff zufällig einem  gemeinen Interesse entspricht.

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Man glaubt mit einem Mann zu sprechen und plötzlich fühlt man, dass sein Urteil aus dem Uterus kommt. Das beobachtet man häufig, und man sollte so gerecht sein, die Menschen nicht nach den physiologischen Merkmalen, die zufällig da sind, zu unterscheiden, sondern nach denen, die fehlen.

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Daß Bäcker und Lehrer streiken, hat einen Sinn. Aber die Aufnahme der leiblichen und geistigen Nahrung verweigern, ist grotesk. Wenn es nicht etwa deshalb geschieht, weil man sie für verfälscht hält. Die lächerlichste Sache von der Welt ist ein Bildungshungerstreik. Ich stimme schon für die Sperrung der Universitäten, aber sie darf nicht durch einen Streik herbeigeführt werden. Sie soll freiwillig gewährt, nicht ertrotzt sein.

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Den Frauen gegenüber ist man durch die Gesellschaftsordnung immer nur darauf angewiesen, entweder Bettler oder Räuber zu sein.

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Die gefährlichsten Literaten sind die, denen zufällig etwas Fremdes angeflogen ist und die nichts dafür können, dass sie nicht immer originell sind. Da ist mir ein ehrlicher Plagiator viel lieber.

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Wenn ein Wagen rollt, legt der Hund trotz längst erkannter Aussichtslosigkeit immer wieder seine prinzipielle Verwahrung ein. Das ist reiner Idealismus, während die Unentwegtheit des liberalen Politikers den Staatswagen nie ohne eigensüchtigen Zweck umbellt.

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Die Einteilung der Menschheit in Sadisten und Masochisten ist beinahe so albern wie die Einteilung in Esser und Verdauer. Von Abnormitäten muss man in jedem Fall absehen, es gibt ja auch Leute, die besser verdauen als essen und umgekehrt. Und so wird man, was den Masochismus und den Sadismus betrifft, getrost behaupten können, dass ein gesunder Mensch über beide Perversitäten verfügt. Scheußlich an der Sache sind bloß die Worte, besonders entwürdigend jenes, das sich von dem deutschen Romanschriftsteller herleitet, und es ist schwer, sich von den Bezeichnungen nicht den Geschmack an den Dingen verderben zu lassen. Trotzdem gelingt es einem Menschen mit künstlerischer Phantasie, vor einer echten Frau zum Masochisten zu werden und an einer unechten zum Sadisten. Man brutalisiert dieser die gebildete Unnatur heraus, bis das Weib zum Vorschein kommt. Die es schon ist, gegen die bleibt nichts mehr zu tun übrig, als sie anzubeten.

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Gewiss, der Künstler ist ein Anderer. Aber gerade deshalb soll er es in seinem Äußeren mit den anderen halten. Er kann nur einsam bleiben, wenn er in der Menge verschwindet. Lenkt er die Betrachtung durch eine Besonderheit auf sich, so macht er sich gemein und führt die Verfolger auf seine Spur. Es ist ja auch töricht, mit der Extraausgabe einer Zeitung in ein Lokal zu treten, denn man lockt sogleich hundert Dummköpfe auf sein Terrain. Je mehr den Künstler alles dazu berechtigt, ein anderer zu sein, um so notwendiger ist es, dass er sich der Tracht der Durchschnittsmenschen als einer Mimikry bediene. Auffälliges Aussehen ist die Zielscheibe der Betrunkenheit. Diese, sonst verlacht, dünkt sich neben langhaariger Exzentrizität noch planvoll und erhaben. Über den Mann in der Narrenjacke lacht der Betrunkene, über den der Pöbel lacht. Sich absichtlich verwahrlosen, um sich vom Durchschnitt abzuheben, schmutzige Wäsche als ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft tragen, über die Verkehrtheit der Gesellschaftsordnung eine ungekämmte Mähne schütteln — ein Vagantenideal, das längst von Herrschaften abgetragen ist und heute jedem Spießbürger erreichbar! »Mutter Landstraße« will von solchen Söhnen nichts mehr wissen; denn auch sie ist heute schon gepflegter. Die Bohême macht den Philistern nicht mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern, und die wahren Zigeuner leben nach der Uhr, die nicht einmal gestohlen sein muss. Armut ist noch immer keine Schande, aber Schmutz ist keine Ehre mehr.

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Fechten und Keulenschwingen sind trügerische Entfettungskuren. Sie schaffen Hunger und Durst. Was den meisten Menschen abgeht und was ihnen unfehlbar helfen könnte, ist die Möglichkeit, geistige Bewegung zu machen.

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Ein sonderbarer Ehrgeiz, einem Mädchen der erste zu sein. Und gerade das nennt sich Genießer und behandelt eine Frau wie einen beliebigen Labetrunk. Daß auch Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen. Aber jedenfalls würde ich mir die Flasche von einem Küfer öffnen lassen und dann erst trinken.

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In männermordenden Kämpfen kann man manchmal einer Frau einen Blumenstrauß zuwerfen, ohne dass ein Zuschauer es merkt. Aber bei der zweiten Lektüre offenbart sich dem Feingefühl ein Pamphlet als Liebesbrief.

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Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um die Vorspeise der Neugier bereichert und durch die Nachspeise der Reue verdorben.

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Es ist ein schmerzliches Erlebnis, zu sehen, wie eine lebensfähige Frau ihren faulen Frieden mit der Welt macht: Sie verzichtet auf ihre Persönlichkeit und bekommt dafür die Galanterien zugestanden.

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Kinder spielen Soldaten. Das ist sinnvoll. Warum aber spielen Soldaten Kinder?

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Nichts kränkt den Pöbel mehr, als herablassend zu sein, ohne heraufzulassen.

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Beim Vergnügen, das einer am Betrug empfindet, ist die Schönheit der Frau eine angenehme, wenn auch nicht notwendige Begleiterscheinung.

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Der ist ein unkluger Berater einer Frau, der sie vor Gefahren warnt.

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Aus purer Romantik nimmt sich manche Schöne einen Handeljuden. Denn sie hofft immer, dann werde der erotische Raubritter auch nicht mehr weit sein.

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Praterfahrt: Das Pferd hat die Welt vor sich. Dem Kutscher ist die Welt so groß wie ein Pferdehinterer. Dem Kavalier ist die Welt so groß wie der Rücken des Kutschers. Und dem gaffenden Volk, dem ist die Welt nur so groß wie das Gesicht des Kavaliers.

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Drei Stufen der Zivilisation gibt es: Wenn in einem Anstandsorte überhaupt keine Tafel angebracht ist. Wenn eine Tafel angebracht ist, auf der die Weisung steht, dass die Kleider vor dem Verlassen der Anstalt in Ordnung zu bringen sind. Wenn die Weisung ausdrücklich bemerkt, dass es aus Schicklichkeitsrücksichten zu geschehen habe. Auf dieser höchsten Stufe der Zivilisation stehen wir.

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Die Bildung schlottert an seinem Leib wie ein Kleid an einem Haubenstock. Bestenfalls sind solche Gelehrte Probiermamsellen des Fortschritts.

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Wem »glauben« nicht mehr bedeutet als »nichts wissen«, der mag über die Dogmen demonstrativ den Kopf schütteln. Aber es ist jämmerlich, sich zu einem Standpunkt erst »durchringen« zu müssen, bei dem ein Hilfslehrer der Physik längst angelangt ist.

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Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten gehören Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid.

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Unverstandene Frauen gibt es nicht. Sie sind bloß die Folge einer Wortverwechslung, die einem Feministen passierte, weil sie nämlich nicht verstanden, sondern begriffen sein wollen. Es gibt also doch unverstandene Frauen.

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So lange die Frauenrechtsbewegung besteht, sollten es sich die Männer wenigstens zur Pflicht machen, die Galanterie einzustellen. Man kann es heute gar nicht riskieren, einer Frau auf der Straßenbahn Platz zu machen, weil man nie wissen kann, ob man sie dadurch nicht in ihren Ansprüchen auf den gleichen Anteil an den Unannehmlichkeiten des Daseins beleidigt. Dagegen sollte man sich gewöhnen, gegen die Feministen in jeder Weise ritterlich und zuvorkommend zu sein.

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Ob Goethe oder Schiller bei den Deutschen populärer sei, ist ein alter Streit. Und doch hat Schiller mit dem Wort »Franz heißt die Kanaille« nicht entfernt jene tiefgreifende Wirkung geübt, die dem Satz, den Goethes Götz dem Hauptmann zurufen lässt, dank seiner allgemeinen Fassung beschieden war. Da seit Jahrzehnten kaum ein Gerichtstag vergeht, ohne dass der Bericht von dem Angeklagten zu sagen wüsste, er habe an den Kläger »die bekannte Aufforderung aus Goethes Götz« gerichtet, so ist es klar, dass Goethes Nachruhm bei den Deutschen fester gegründet ist. Wie das Volk seine Geister ehrt, geht aber nicht nur daraus hervor, dass es in Goethes Werken sofort die Stelle entdeckt hat, die der  deutschen Zunge am schmackhaftesten vorkommt, sondern dass heute keiner mehr so ungebildet ist, die Redensart zu gebrauchen, ohne sich dafür auf Goethe zu berufen.

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Der Momo ist ein unentbehrlicher pädagogischer Behelf im deutschen Familienleben. Erwachsene schreckt man damit, dass man ihnen droht, der Gerichtspsychiater werde sie holen.

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Wenn man bedenkt, dass dieselbe technische Errungenschaft der Verbreitung der »Kritik der reinen Vernunft« und den Berichten über eine Reise des Wiener Männergesangsvereines gedient hat, dann weicht aller Unfriede aus der Brust und man preist die Allmacht des Schöpfers.

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Wie viel Stoff hätte ich, wenn keine Ereignisse gäbe!

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Was doch die soziale Sitte aus den Frauen machen kann! Nur ein Spinnweb liegt über dem Krater, aber es gibt nicht nach.

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Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sage sie sie mit verhülltem Haupt. Aber selbst dann ist das Schweigen eines schönen Antlitzes noch immer anregender.

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Ein selbstbewusster Künstler hätte dem Fiesko zugerufen: Ich habe gemalt, was du nur tatest!

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Sire, geben Sie wenigstens bis auf Widerruf freiwillig eröffnete Gedankengänge!

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Polonia est omnis divisa in partes tres.

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Ein Zitatenprotz leitete einen Nekrolog mit den Worten ein: De mortuis nil admirari.

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Sie hatte immerhin noch so viel Schamgefühl, dass sie errötete, wenn man sie bei keiner Sünde ertappte.

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In Berlin wächst kein Gras und in Wien verdorrt es.

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Wie hier alles doch den Flug lähmt! Aus Einfliegern werden Einsiedler.

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Es ist eine schreckliche Situation, dazuliegen, wenn die Pferdehufe der Dummheit über einen hinweggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe!

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An einem Wintersonntag nachmittags in einem Wiener Kaffeehause, eingepfercht zwischen kartenspielenden Vätern, kreischenden Weibern und witzblattlesenden Kindern, erfasst einen ein solches Gefühl der Einsamkeit, dass man sich nach dem wechselvollen Leben sehnt, das um diese Stunde an der Adventbai herrschen mag.

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O über die gemeine Geschäftsmäßigkeit der Berliner Prostitution! Der Wiener ist gewohnt, für drei Gulden seelische Hingabe und das Gefühl des Alleinbesitzes zu verlangen.

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Ich kannte einen Mann, der fuhr beim Sprechen mit dem Finger in die Nase und nicht einmal in seine eigene.

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So wie es immer noch neue Gesichter gibt, wiewohl sich der Inhalt der Menschen wenig unterscheidet, so muss es bei analogem Gedankenmaterial immer noch neue Sätze geben. Es kommt eben auch da auf den Schöpfer an, der die Fähigkeit hat, die leiseste Nuance auszudrücken.

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Die einzige Konzession, zu der ich mich etwa noch herbeiließe, wäre die, mich so weit nach den Wünschen des Publikums zu richten, dass ich das Gegenteil tue. Aber ich tue es nicht, weil ich keine Konzessionen mache und eine Sache selbst dann schreibe, wenn sie das Publikum erwartet.

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In der literarischen Arbeit finde ich einen Genuss und der literarische Genuss wird mir zur Arbeit. Um das Werk eines andern Geistes zu genießen, muss ich mich erst kritisch dazu anstellen, also die Lektüre in eine Arbeit verwandeln. Trotzdem werde ich noch immer lieber und leichter ein Buch schreiben als lesen.

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Der wahrhaft und in jedem Augenblick produktive Geist wird zur Lektüre nicht leicht anstellig sein. Er verhält sich zum Leser wie die Lokomotive zum Vergnügungsreisenden. Auch fragt man den Baum nicht, wie ihm die Landschaft gefällt.

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Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?

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Einen Roman zu schreiben, stelle ich mir als ein reines Vergnügen vor. Nicht ohne Schwierigkeit ist es bereits, einen Roman zu erleben. Aber einen Roman zu lesen, davor hüte ich mich, so gut es irgend geht.

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Von einem Bekannten hörte ich, dass er durch Vorlesen einer meiner Arbeiten eine Frau gewonnen hat. Das rechne ich zu meinen schönsten Erfolgen. Denn wie leicht hätte ich selbst in diese Situation geraten können!

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Wohl hat das Grinzinger Bachl Beethoven zur Pastoral-Symphonie angeregt. Das beweist aber nichts für das Grinzinger Bachl und alles für Beethoven. Je kleiner die Landschaft, desto größer kann das Kunstwerk sein, und umgekehrt. Aber zu sagen, die Stimmung, die der Bach einem beliebigen Spaziergänger vermittelt, sei kongruent mit der Stimmung, die der Hörer von der Symphonie empfängt, ist töricht. Sonst könnte man ja auch sagen, der Geruch von faulen Äpfeln gebe uns Schillers Wallenstein.

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Ein Hungerleider, der Anarchist wird, ist ein verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinnloser als sich über die Söhne besitzender Bürger lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen. Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jedenfalls verdächtigt kein abgerissenes Gewand die geistige Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen.

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Die Sozialdemokraten lassen den Armen klassenbewusst werden und überlassen ihn dann der Pein. Dieses Vorgehen nennen sie Organisierung.

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Dass Bildung der Inbegriff dessen sei, was man vergessen hat, ist eines der schönsten Worte. Darüber hinaus ist Bildung eine Krankheit und eine Last für die Umgebung des Gebildeten. Eine Gymnasialreform, die auf die Abschaffung der toten Sprachen mit der Begründung hinarbeitet, man brauche sie eben nicht fürs Leben, ist lächerlich. Brauchte man sie fürs Leben, so müsste man sie eher abschaffen. Sie dienen freilich nicht dazu, dass man sich einst in Rom oder Athen durch die Sehenswürdigkeiten durchfragen könne. Aber sie pflanzen in uns die Fähigkeit, uns diese vorzustellen. Die Schule dient nicht der Anhäufung praktischen Wissens. Aber Mathematik reinigt die Gehirnbahnen, und wenn man Jahreszahlen büffeln muss, die man nach dem Austritt sogleich vergisst, so tut man trotzdem nichts Unnützes. Verfehlt ist nur der Unterricht in der deutschen Sprache. Aber dafür lernt man sie durch das Lateinische, das noch diesen besonderen Wert hat. Wer gute deutsche Aufsätze macht, wird in der Regel ein Kommis. Wer schlechte macht und dafür im Lateinischen besteht, wird wahrscheinlich ein Schriftsteller. Was die Schule bewirken kann, ist, dass sie jenen Dunst von den Dingen schafft, in den eine Individualität hineingestellt werden kann. Weiß einer noch nach Jahren, aus welchem klassischen Drama und aus welchem Akt ein Zitat stammt, so hat die Schule ihren Zweck verfehlt. Aber fühlt er, wo es stehen könnte, so ist er wahrhaft gebildet und die Schule hat ihren Zweck vollauf erreicht.

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Nicht der Stock war abzuschaffen, sondern die Lehrer, die ihn schlecht anwenden. Die neue Gymnasialreform ist, wie alles humanitäre Flickwerk, ein Sieg über die Phantasie. Dieselben Lehrer, die bis nun nicht imstande waren, mit Hilfe des Katalogs zu einem Urteil zu gelangen, werden sich jetzt liebe voll in die Schülerindividualität versenken müssen. Die Humanität hat den Alpdruck der Furcht vor dem »Drankommen« beseitigt, aber das gefahrlose Schülerleben wird unerträglicher sein als das gefährliche. Zwischen vorzüglich und ganz ungenügend lag ein Spielraum für romantische Erlebnisse. Ich möchte den Schweiß um die Trophäen der Kindheit nicht von meiner Erinnerung wischen. Mit dem Stachel ist auch der Sporn dahin. Der Gymnasiast lebt ehrgeizlos wie ein lächelnder Weltweiser und tritt unvorbereitet in die Streberei des Lebens, die sein Charakter ehedem schadlos antizipiert hatte, wie der geimpfte Körper die Blattern. Er hatte früher alle Gefahren des Lebens bis zum Selbstmord verkostet. Anstatt dass man die Lehrer verjagt, die ihm das Spiel der Gefahren manchmal zum Ernst erwachsen ließen, wird jetzt der Ernst des geruhigen Lebens verordnet. Früher erlebten die Schüler die Schule, jetzt müssen sie sich von ihr bilden lassen. Mit den Schauern ist die Schönheit vertrieben und der junge Geist steht vor der Kalkwand eines protestantischen Himmels. Die Schülerselbstmorde, deren Motiv die Dummheit der Lehrer und Eltern war, werden aufhören, und als legitimes Selbstmordmotiv bleibt die Langeweile zurück.

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Die Humanität ist eine physikalische Enttäuschung, die mit Naturnotwendigkeit eintritt. Denn der Liberalismus stellt immerzu sein Licht unter eine Glasglocke und glaubt, dass es im luftleeren Raum brennen werde. Eher brennt es noch im Sturm des Lebens. Wenn der Sauerstoff verzehrt ist, geht das Licht aus. Aber glücklicherweise steht die Glocke im Phrasenwasser und dieses steigt in dem  Augenblick, da die Kerze erloschen ist. Hebt man die Glocke ab, so verspürt man erst die wahren Eigenschaften des Liberalismus. Er stinkt nach Kohlenwasserstoff.

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Man meidet die Gesellschaft. So sucht sie einen auf »neutralem Boden« auf, setzt sich dreist in einem Lokal an unseren Tisch. Die Frage: »Sie gestatten doch«, die nie einen fragenden Ton hat, ist die ärgste Perfidie. Man wird mit der Schlinge der Konvention gefangen. Im Augenblick ist man in medias res eingeführt. Wird nach dem neuen Roman von Schnitzler gefragt, um seine Ansicht über das Wetter und um die Sommerpläne. Der Feind rechnet damit, dass man nicht grob werden, »kein Aufsehen« machen wird. Er ist gar nicht hochmütig, sondern behandelt mich wie seinesgleichen, und als ob ich zur guten Gesellschaft gehörte. Da sieht er sich plötzlich getäuscht; es zeigt sich, dass ich keine Manieren habe. Aber da ich eben nicht gewillt bin, meinen Bekanntenkreis zu erweitern, sondern zu verringern, so wird mir das in meinem weiteren Fortkommen nicht schaden.

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Wenn man mir persönliche Antipathien vorwirft, weil ich einen Literaten für einen Pfuscher erkläre, so unterschätzt man meine Bequemlichkeit. Ich werde doch nicht meine Verachtung strapazieren, um eine literarische Minderwertigkeit abzutun!

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Das Gesindel besichtigt »Sehenswürdigkeiten«. Noch immer wird also bloß gefragt, ob das Grab Napoleons würdig sei, vom Herrn Schulze gesehen zu werden, und noch immer nicht, ob Herr Schulze des Sehens würdig sei.

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Ich las eine Beschreibung, die E. Pötzl von einem niederösterreichischen Städtchen gab, und eine von der Ruhe der Inneren Stadt am Tage des Festzuges. Ich fand wieder, wie ungewöhnlich fein dieser Kleinkünstler ist, dessen Enge erst stört, wenn er ihrer bewusst wird und gegen die Außenwelt sich wendet. Bei seinen Wiener Schilderungen, die voll lyrischer Prosa sind, ist mir, als ob ein Einspännerross an der Hippokrene getrunken hätte; an seinen übrigen Sachen spürt man, dass der Musenquell in Böotien entspringt.

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P. A., der ein Fetischist der Frauenseele ist und den Frauenleib zu jenen Objekten rechnet, die man in der irdischen Ausstellung nur ansehen und nicht berühren darf, steht um einer Weisheit willen, die genug Humor hat, sich selbst in Frage zu stellen, trotz alledem über dem schreibenden Haufen. Wenn man den Durchschnitt zieht zwischen dem, was man ihn im Verkünderton tagtäglich stammeln lässt,  und dem Kunstwert seiner beiläufigen lyrischen Betrachtung — deren feinste Proben er jetzt gesammelt hat —, so bleibt erst recht ein Original übrig. Kürzlich verkündete er freilich: »Eine getreue Frauenseele muss also mit einem Walle von Unnahbarkeit und Uneinnehmbarkeit, von Würde und Seelenadel geschützt, behütet und verteidigt sein, dass Don Juans Blick sich senkte und scheu zur Seite sich wendete! … Frauen, seiet so, dass der wilde Krieger vor dem Walle eures Tempels freiwillig umkehre! … Dann wird die Eifersucht, diese schrecklichste Erkrankung der Mannesseele, gebannt, verbannt, besiegt sein!« Was hat er denn?! Das ist ja durchaus vom Standpunkt des Besitzers gesprochen, der den weiblichen Seelenadel monopolisieren möchte, während der Wegnehmer ihn vielleicht so gut wie der bekannte Wanderer die Wiese empfindet. Aber andererseits — müsste der Dichter gewiss auch zugeben, dass die Uneinnehmbaren, die sich hinter Adel, Wall und Würde verschanzen, »perfide Heldenreizerinnen« sind. Und eine Anschauung, die die Wunschfähigkeit einer Gewünschten überhaupt nicht gelten lässt und alles Unheil vom Don Juan und nie von der Frauenseele erwartet, führt uns in eine ästhetische Puppenwelt, deren Friede von dem keuschen Blick des Betrachters abhängt. Wo bleibt da noch Raum für  Eifersucht? Es genügt eine Weisung, die ausgestellten Gegenstände nicht zu berühren; und Erotik wäre die objektive Wertung einer Rückenlinie, einer Nasenform, einer Hand. Aber in unserer Welt werden die Puppen lebendig oder hysterisch. Je nach der Strenge der Vorschriften. Und manchmal hilft es dem Don Juan nicht, dass er ordnungsgemäß den Blick senkt und scheu zur Seite wendet. Schon hat die getreue Frauenseele den wilden Krieger beim Wickel, oder bei der Uniform. Er kehrt zum Tempel zurück, und alles ist verziehen. Erforderlichenfalls dient auch die Würde als Lockung und der Seelenadel als Lasso. Die Unnahbarkeit ist Annäherung und die Uneinnehmbarkeit Herausforderung. Vorläufig dürfte also der Vorschlag des Dichters nicht den gewünschten praktischen Erfolg erzielen. Und dass er in einem Buche erschienen ist, das den Titel führt »Felix Austria: Österreichische Dichter im Jubeljahre 1908«, ist nicht günstig. P. A. lässt sich besser repräsentieren als durch Rezepte zur Heilung der Eifersucht, und Felix Austria wird nicht heiraten, wenn sie sie befolgt.

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Der ständige Mitarbeiter eines militärischen Witzblattes: Der Clown in der Menage.

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Ich kann einen Festzug oder eine gewisse Sorte von Theaterstücken wirklich nur dann objektiv nach dem ästhetischen und kulturellen Wert beurteilen, wenn ich nicht dabei war. Sonst unterliege ich einer beliebigen Nervenwirkung, höre auf, kritisch zu sein und rede wie der Blinde von der Farbe. Wie leicht kann Musik oder Glockenläuten einen zur Duldung einer Geschmacklosigkeit bringen! Um mir also ein gerechtes Urteil zu bewahren, darf ich es gewissenhafter Weise nicht unterlassen, dem Schauspiel fernzubleiben.

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Die Gewalttätigkeit des Daseins und die Unmotiviertheit aller menschlichen Dinge geht einem nie so deutlich auf, wie wenn man das Malheur hat, in einem Wagen zu sitzen, der halten muss, weil ihn die Burgmusik umbrandet.

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Die populärsten Gesichter in Wien sind die zweier Heurigenwirte. In Überlebensgröße sind sie an jeder Straßenecke plakatiert, und ihr Ruhm hat sicher die Größe des Überlebens. So etwa haben sich die Deutschen die Köpfe ihrer Schiller und Goethe eingeprägt. Aber das österreichische Kulturniveau ist wahrlich ein höheres. Denn zu Schiller und Goethe besteht nur jene dekorative Beziehung, die das Geflunker von Bildung herstellt, während gewiss ein innerer Zusammenhang zwischen den Wienern und ihren Heroen besteht. Großväter werden einst aufhorchenden Enkeln erzählen, dass sie noch den Wolf in Gersthof gesehen haben, und Großmütter werden von der Erinnerung verjüngt sein, dass das Auge Hartwiegers auf ihnen geruht hat.

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Was ist alles Machtbewusstsein eines Nero, was ist aller Vernichtungsdrang eines Tschingiskhan, was ist die Machtvollkommenheit des jüngsten Gerichtes gegen das Hochgefühl eines Konzipisten der konskriptionsämtlichen Abteilung des magistratischen Bezirksamtes, der einen wegen  Nichtfolgeleistung einer Vorladung zur Anmeldung behufs Veranlagung zur Bemessung der Militärtaxe zu einer Geldstrafe von zwei Kronen verurteilt!

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Viele Leute möchten mich persönlich kennen lernen. Wenn aber einer ein Beamter des magistratischen Bezirksamtes ist, so erreicht er es. Ich verkehre seit Jahren nur noch mit Beamten des magistratischen Bezirksamtes; habe aber wenig Anregung davon.

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Wer Gehirngymnastik treiben will, versuche das Gespräch einer Tafelrunde, dessen Entfernung von dem ursprünglichen Thema ihm an einem Punkt besonders auffällt, so schnell als möglich zu rekonstruieren. Man blättere in diesem Konversationslexikon und man wird einen Zickzackweg übersehen, an dessen Anfang und Ende Gegenstände sind, die einen an die drollige Zusammenhanglosigkeit der Aufschriften erinnern: Von Gotik bis Heizanlage und von Newton bis Pazifik.

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Im Kampf zwischen Natur und Sitte ist die Perversität eine Trophäe oder eine Wunde. Je nachdem, ob die Natur sie erbeutet oder die Sitte sie geschlagen hat.

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Wer Witz hat, kann nie einen Witz entlehnt haben, auch wenn dieser noch so bekannt wäre. Es kommt gerade hier auf das Gewordene an. Wer Zeuge der Geburt ist, kann an eine Unterschiebung nicht glauben, auch wenn das Kind aufs Haar einem fremden gliche.

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Den Witz eines Witzigen zitieren heißt bloß einen Pfeil aufheben. Wie er abgeschossen wurde, kann das Zitat nicht zeigen.

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Der Nachahmer verfolgt die Spuren des Originals, und hofft, irgendwo müsse ihm das Geheimnis der Eigenart aufgehen. Aber je näher er diesem kommt, um so weiter entfernt er sich von der Möglichkeit, es zu nützen.

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Nicht ob das Resultat originell, sondern ob man selbst dazu gelangt sei, darauf kommt es an. Also eigentlich auf den Kredit des Finders. Ich habe dies und das in mir gefunden und fand es nachträglich in Büchern. Da erkannte ich, dass es nur auf den Weg ankomme und nicht auf das Ziel. Und fand auch diesen Gedanken in Büchern.

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Zum Beispiel fiel mir auch ein: Schimpfworte sind nicht an und für sich zu verpönen. Nur wenn sie an und für sich stehen. Ein Stilist muss ein Schimpfwort so gebrauchen können, als ob es nie zuvor noch ein Kutscher gebraucht hätte. Die Unfähigkeit sucht ungewohnte Worte. Aber das Gewöhnlichste kann getrost verwendet werden, wenn es nur so gebracht wird, als ob es eben zum ersten Male gebracht  würde. So kann eine Drohung mit Ohrfeigen nicht nur als der organische Ausdruck einer Stimmung, sondern sogar wie eine Novität wirken … Nachdem ich dies niedergeschrieben hatte, fand ich bei Goethe den Satz: »Die originalsten Autoren der neuesten Zeit sind es nicht deswegen, weil sie etwas Neues hervorbringen, sondern allein, weil sie fähig sind, dergleichen Dinge zu sagen, als wenn sie vorher niemals wären gesagt gewesen.« Und dann diesen: »Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.« Und diesen Gedanken hatte schon La Bruyère ausgesprochen.

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Ich hatte diesen und Goethes Maximen nie zuvor gelesen. Nun fand ich, dass ich manches Gescheite gedacht habe. Denn Goethe schreibt zum Beispiel: »Es ist nicht immer nötig, dass das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umher schwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernstfreundlich durch die Lüfte wogt.« Oder: »Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publikum einen bösen Stand.« Oder: »Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, dass er niemals bringt was man erwartet, sondern was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung für recht und nützlich hält.« Oder: »Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch über  die Sprache sprechen zu können.« Und da ich mich so zu stützen vermesse, berufe ich mich auch auf das Wort: »Man sagt, eitles Eigenlob stinket; das mag sein: was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publikum keine Nase.«

Karl Kraus.