Tagebuch II. Von Karl Kraus
29. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", TagebuchDIE FACKEL
Nr. 254—255. 22. Mai 1908. X. Jahr. S. 33 -35
Tagebuch
Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, dass es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.
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In Lourdes kann man geheilt werden. Welcher Zauber sollte aber von einem Nervenspezialisten ausgehen?
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Ich habe um mancher guten Entschuldigung willen gesündigt und darum wird mir vergeben werden.
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Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.
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Der persönliche Umgang mit Dichtern ist nicht immer erwünscht. Vor allem mag ich die Somnambulen nicht, die immer auf die richtige Seite fallen.
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Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber es geht darin zu, wie in Österreich.
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»Zu neuen Taten, tapferer Helde, wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht!« So spricht das Weib Wagners. Dem Helden müsste bei solcher Bereitschaft die Lust an den Taten und die Lust am Weibe vergehen. Denn die Lust an den Taten entstammt der Lust am Weibe. Nicht zu den Taten lasse sie ihn, sondern zur Liebe: dann kommt er zu den Taten. Solcher Psychologie aber entspräche auch das Wort Wagners, wenn nur die Interpunktion verändert wäre. Die Alliteration mag bleiben. Man lese also: »Zu neuen Taten, tapferer Helde! Wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht …«
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Omne animal triste. Das ist die christliche Moral. Aber auch sie nur post, nicht propter hoc.
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Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es, wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern Gedanken als dich und darum immer neue!
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Zur Vollkommenheit fehlt ihr nur ein Mangel.
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Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen, auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu beseitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei ungefährlich, wenn sie unter allen Kautelen der theologischen Wissenschaft durchgeführt wird.
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Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus. Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen.
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Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt auch nichts der Sache.
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Die alten Bücher sind selten, die zwischen Unverständlichem und Selbstverständlichem einen lebendigen Inhalt bewahrt haben.
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Auch die sprachliche Trivialität kann ein Element des künstlerischen Ausdrucks sein, nämlich des Witzes. Der Schriftsteller, der sich ihrer bedient, ist echter Feierlichkeit fähig. Das Pathos an und für sich ist ebenso wertlos wie die Trivialität als solche.
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Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.
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Die bange Frage steigt auf, ob der Journalismus, dem man getrost die besten Werke zur Beute hinwirft, nicht auch kommenden Zeiten schon den Geschmack an der sprachlichen Kunst verdorben hat.
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Eine exklusive Kunst ist ein Unding. Es heißt die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganze Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder will dann exklusiv sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung des Exklusiven zu leben. Es besteht der Verdacht, dass die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen lebt. Die Musik von Nebengeräuschen, die Schauspielerei von Mängeln.
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Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen, so bleibe ich lieber unverheiratet.
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Die Gesellschaft braucht Frauen, die einen schlechten Charakter haben. Solche, die gar keinen haben, sind ein bedenkliches Element.
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Das höchste Vertrauensamt: Ein Beichtvater unterlassener Sünden.
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Ein Leierkasten im Hof stört den Musiker und freut den Dichter.
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Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.
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Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!
K a r l K r a u s .