Glossen. Von Karl Kraus
29. April 2013 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"
DIE FACKEL
Glossen
Von Karl Kraus
Ein weitverbreitetes Missverständnis
ist der Glaube an meine Feindseligkeit. »Sie zu überzeugen, versuche ich nicht. Aber ich darf trotzdem sagen, dass Sie mir in meinen Motiven und Absichten Unrecht tun.« Oder: »Ich gestehe, dass es mich kränkt, dass Sie mir mit solchem Übelwollen, ja mit solcher Feindseligkeit gegenüberstehen.« Welches Vorurteil! Ich stehe niemand in der Welt gegenüber und bin das Wohlwollen selbst. Ohne Ansehen der Person reagiere ich auf Geräusche, und interessiere mich nicht für die Richtung, aus der sie kommen. Wäre der Inhalt meiner Glossen Polemik, so müsste mich der Glaube, die Menge der Kleinen dezimieren zu können, ins Irrenhaus bringen. »Sie haben mich kürzlich zum Objekt Ihrer Satire genommen«, schreibt einer, streicht »genommen« und setzt dafür »gewählt«. Ich aber kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich mir noch nie einen zum Objekt meiner Satire genommen oder gar gewählt habe. Hätte ich da etwas dreinzureden, so wäre ich nicht Satiriker und würde eine bessere Wahl treffen. Denn die Satire wählt, nimmt und kennt keine Objekte. Sie entsteht so, dass sie vor ihnen flieht und sie sich ihr aufdrängen. Die Würdigkeit der Objekte mag den Wert der Polemik bestimmen; aber Name oder Andeutung eines Kleinen, oder was irgend von ihm in einer Satire steht, ist Kunstelement. Wie ein Schnäuzen, wie die Trompete eines Beiwagenkondukteurs oder wie sonst etwas, das ich mir nicht wähle; wie sonst ein Stoffliches, von dem ich den Stoff nicht wähle, sondern abziehe. Kann ich dafür, dass die Halluzinationen und Visionen leben und Namen haben und zuständig sind? Kann ich dafür,
dass es den Münz wirklich gibt? Habe ich ihn nicht trotzdem erfunden? Wäre er Objekt, ich wählte anders. Erhebt er Anspruch, von der Satire beleidigt zu sein, beleidigt er die Satire. Außerhalb dieser mag er ein Dasein haben, aber keine Berechtigung. Der Leumund mag in Ordnung sein, kommt aber für die Satire nicht in Betracht. Motive und Absichten prüfe ich nicht. Die sind unbesehen gut oder schlecht. Nichts ist der Satire egaler. Die Polemik kann es als Einmischung in ihr Amt empfinden, wenn das Objekt sie zu überzeugen versucht, oder sie mag mit sich reden lassen wie ein Amt. Der Satire Vorstellungen machen, heißt die Verdienste des Holzes gegen die Rücksichtslosigkeit des Feuers ins Treffen führen. Nun muss ja freilich der Brennstoff kein Verständnis für die Wärme haben und der Anlass mag sich so weit überschätzen, dass er sich durch die Kunst beleidigt fühle. Aber das Verhältnis der Satire zur Gerechtigkeit ist so: Von wem man sagen kann, dass er einem Einfall eine Einsicht geopfert habe, dessen Gesinnung war so schlecht wie der Witz. Der Publizist ist ein Lump, wenn er über den Sachverhalt hinaus witzig ist. Er steht einem Objekt gegenüber, und wenn dieses der polemischen Behandlung noch so unwürdig war, er ist des Objektes unwürdiger. Der Satiriker kann nie etwas Höheres einem Witz opfern; denn sein Witz ist immer höher als das was er opfert. Auf die Meinung reduziert, kann sein Witz Unrecht tun; der Gedanke hat immer Recht. Er stellt schon die Dinge und Menschen so ein, dass keinem ein Unrecht geschieht. Er richtet die Welt ein, wie der Bittere den verdorbenen Magen: er hat nichts gegen das Organ. So ist die Satire fern aller Feindseligkeit und bedeutet ein Wohlwollen für eine ideale Gesamtheit, zu der sie nicht gegen, aber durch die realen Einzelnen durchdringt. Das Lamentieren ist unnütz und ungerecht. Die sich beleidigt fühlen, unterschätzen mich; sie halten sich für meine Objekte, und da fühle ich mich beleidigt.
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Sie können nichts dafür
Mache ich die Reporter verantwortlich? Das konnte man nie glauben. Die Institution? Das tat ich vor zehn Jahren. Das Bedürfnis des Publikums? Auch nicht mehr. Wen oder was mache ich verantwortlich? Immer den, der fragt.
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Aber die Presse macht die Reporter und die Abonnenten verantwortlich. Alle Schande wälzt der Leitartikel auf die Kleine Chronik. Immer entledigt sich vorn einer des Drecks, der hinten gesammelt wird. Sie verleugnen einander. Als die hinten Orgien der Neugier in einem Totenzimmer feierten, rang vorn ein Ahnungsloser die Hände, einer, der glaubt, dass der Storch die Kinder bringt, und nicht weiß, dass sie längst der Reporter bringt:
»Zwei alte Leute feiern ihre silberne Hochzeit. Kein großes Fest, nichts, was in die Öffentlichkeit dringt oder, wie jetzt so üblich, an die große Glocke gehängt wird …«
Die große Glocke beschwert sich darüber, dass man es an sie hängt! Ja muss es sich denn die große Glocke gefallen lassen? Wenn sie die Glöckner unterscheiden kann, kann sie sie nicht wählen? Oder unbildlich gesprochen: Ist es nicht widerwärtig, wenn eine alte Kupplerin sich darüber beschwert, dass, wie jetzt so üblich, viele Klienten kommen, und gar der Zeit nachweint, wo sie selbst ein unbeschriebenes Blatt war?
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Wenn ich die Verlorenheit der Welt an ihren Symptomen beweise, so kommt immer ein Verlorener, der mir sagt: Ja, aber was können die Symptome dafür? Die müssen doch und tun’s selbst nicht gern! — Ach, ich tu’s auch nicht gern und muss doch.
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Was wir hoffen
»Eine merkwürdige Verfügung. Den Volksschullehrern im Großherzogtum Sachsen-Weimar ist durch eine Verfügung des Großherzoglichen Staatsministeriums verboten worden, für die Tagespresse irgendwie journalistisch tätig zu sein.«
Die Verfügung ist merkwürdig, und zumal in Österreich sollte man sie sich merken. Hier, wo nicht einmal die Volksschullehrer die Macht haben, das Staatsministerium von der Mitarbeit an der Tagespresse zurückzuhalten! Die Verhinderung der Volksschullehrer — das ist nur ein bescheidener Anfang. Die Hochschulprofessoren zu zügeln, das ist die schöne Aufgabe, die der sogenannten Reaktion — dem Kinderschreck erwachsener Idioten — vorbehalten bleibt. Wenn wir aber erst so weit sind und die Kompagnie der bebrillten und der bezwickerten Intelligenz getrennt haben, dann lasset uns auch daran gehen, die Hochschulprofessoren von der Hochschule zu entfernen, und dann verbieten wir der Tagespresse, irgendwie journalistisch tätig zu sein! Überhaupt bin ich dafür, dass alles was jetzt besteht, bei Todesstrafe verboten und diese auch im Falle der Befolgung vorläufig vollstreckt wird.
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Was man im Traum aufsagen kann
… »Dass dieser Ruf besonders lebhaft aus Deutschböhmen
erscholl —« »Es gibt kein Deutschböhmen!« … Dieser Zwischenruf entfesselt eine ungeheure Lärmszene … Die Deutschen protestieren in lauten Rufen … während die Tschechen … Abzug Hochenburger! … Auf die Abzugrufe der Tschechen antworten die Deutschen mit demonstrativem Händeklatschen … Heil Hochenburger! …bemüht sich vergeblich, Ordnung zu schaffen … Deutsche und Tschechen stehen dicht gedrängt vor der Ministerbank … Über lebhafte Zurufe der Deutschen versucht der Justizminister … es gelingt ihm auch tatsächlich … welche jedoch kaum den dicht neben ihm stehenden Stenographen verständlich sind … Die Tschechen zeigen die deutliche Absicht …drängen mit Macht gegen den Platz … Von deutscher Seite eilen einige mit großer Körperkraft ausgestattete Abgeordnete … Wedra … Da hört man plötzlich einen schrillen Pfiff … Fresl … Die Deutschen sind im ersten Moment verblüfft … antworten aber bald mit ironischem Händeklatschen … großes Gedränge, aus welchem man die Hünengestalt … vergeblich bemüht … Die Situation droht in Tätlichkeiten auszuarten … Da erhebt sich … erklärt die Sitzung für unterbrochen … nimmt sein Portefeuille … verlässt, von den »Abzug!« – und »Pfui!«-Rufen der Tschechen begleitet, den Saal … kommt es zu einem drohenden Wortwechsel … getrennt … Fast eine halbe Stunde
tobt … Mittlerweile finden im Präsidialbüro Besprechungen … Um 3 Uhr 20 Minuten wird die Sitzung … unter lautloser Stille … erklärt, mit dem Ausdruck »Deutschböhmen« habe er nur jene Gebiete Böhmens bezeichnen wollen, die vorwiegend von Deutschen bewohnt sind …
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Der Historiker
» … Diese Anschauung ungefähr liegt folgender Äußerung des berühmten Historikers Dr. Heinrich Friedjung zugrunde, die er in liebenswürdiger Weise vor einem unserer Mitarbeiter abgab: Friedensaussichten ergeben sich in einem Kriege erst, wenn einer der beiden Teile zur Erkenntnis kommt, der Kampf sei aussichtslos….Dann erst kann in Konstantinopel die Friedenspartei ihr Haupt erheben…. So traurig es auch ist, so muss Europa dem Blutvergießen vorerst mit verschränkten Armen zusehen…. Die Waffen werden die Entscheidung darüber bringen, ob …«
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Der Psychiater
» … Njegus ist wiederholt abgestraft, er hat sich immer als gewalttätig erwiesen und man kann ihm schon von diesem Standpunkte aus ein derartiges Delikt zutrauen. Er hat sich auch keineswegs als solcher Held, als Altruist gezeigt, wie dies hier behauptet worden ist. Er hat sein Vermögen in kurzer Zeit verprasst, er hat sich infiziert …«
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Ohne Ansehen der Person
Einen vollgültigen Beweis für richterliche Unabhängigkeit hat einer im Prozess gegen den Parlamentsattentäter geliefert. Der Fall dieses Njegusch, der zuerst in der »Lustigen Witwe« und hierauf in der nach einer Idee von Viktor Leon verfassten österreichischen Politik vorkam, ist abgedroschen wie eine achthundertste Aufführung. Pikant wird die Chose nur durch die Einlagen. Der Justizminister leibhaftig tritt als Zeuge auf, und die Justiz, die in ihrer Unabhängigkeit es bisher nie glauben wollte, überzeugt sich endlich davon, dass es so etwas gibt. Das ist aber noch gar nichts.
»Es tritt hierauf Ministerpräsident Dr. Karl Graf Stürgkh vor die Zeugenbarre. Präs.: Exzellenz werden als Zeuge geführt, und ich brauche wohl nicht erst die Wahrheitserinnerung zu machen. Sie haben selbstverständlich die volle und reine Wahrheit auszusagen.«
Das ist kolossal. Der Präsident heißt Wach. Nicht: Sie werden selbstverständlich, sondern: Sie haben selbstverständlich. Es macht Eindruck. Auch der Präsident kann sich diesem Eindruck nicht entziehen. Er hat die Wahrheitserinnerung ohne Ansehen der Person gemacht. Aber jetzt sieht er die Person an. Ein ausgewachsener Ministerpräsident steht vor ihm. Was tut man da?
»Präs.: Darf ich Eure Exzellenz bitten, über die tatsächlichen
Eindrücke gelegentlich des Attentats Mitteilung zu machen?«
Der Zeuge erfüllt die Bitte. Gegen eine unabhängige Justiz ist eine Regierung immer entgegenkommend.
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Sieben Gentlemen und eine Zugereiste
»Gestern fand beim Bezirksgericht Margareten (Strafrichter Dr. G.) die Verhandlung statt, in welcher die 19jährige, aus London zugereiste Konservatoristin Gertrude Wright der wörtlichen und tätlichen Amtsehrenbeleidigung angeklagt war. Miss Wright fuhr nämlich am 23. Oktober in einem Wagen der Straßenbahn über die Favoritenstraße. Da sie dem Kondukteur damals einen Fahrschein vorwies, der keine Gültigkeit mehr besaß, wurde sie von ihm aufgefordert, eine neue Karte zu lösen oder den Wagen zu verlassen. Sie tat keines von beiden und der Kondukteur sah sich genötigt, am Rainerplatz den Sicherheitswachmann S. um Intervention zu ersuchen. Nach längerem vergeblichen Zureden, der Aufforderung des Kondukteurs nachzukommen, erklärte sie der Wachmann für arretiert, worauf sie ihm zwei Ohrfeigen versetzte und mit ihrem Geigenkasten den Kondukteur traf …. Kondukteur G. bestätigte die Klagedarstellung. Wachmann S. behauptete überdies als Zeuge, sie habe mit dem Geigenkasten auf den Kondukteur losgeschlagen. Er sei genötigt gewesen, einen zweiten Wachmann herbeizurufen, weil die Angeklagte sich weigerte, mitzugehen. Auf dem Wege zum
Kommissariat habe die Angeklagte dann zweimal versucht, davonzulaufen. Am Kommissariat selbst habe sie derartig geschrien, dass niemand mit ihr reden konnte. Der Möbelpacker E., ein Fahrgast, sagte aus, sie habe im Wagen gesagt: ‚Eine derartige Wirtschaft wie in Wien gibt es im Ausland nicht.‘ Als die Dame den Wagen verließ, sei sie halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben worden. Der Zeuge Wemola, ein Hilfsarbeiter, erklärte auf Befragen des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs, ob die Angeklagte den Wachmann geohrfeigt oder nur Abwehrbewegungen gemacht habe: ‚Das waren schon Ohrfeigen; ich werd’ doch die Ohrfeigen kennen.‘ (Heiterkeit.) Die Angeklagte erklärt, sie sei erst am 1. Oktober d. J. nach Wien gekommen; der Sprache nicht mächtig, habe sie die Worte des Kondukteurs und des Wachmannes nicht verstanden. Sie habe bereits zweimal Fahrscheine gelöst und dass sie nun noch einen dritten lösen solle, sei ihr nicht eingegangen. In der Aufregung habe sie wohl herumgefuchtelt, doch geohrfeigt und geschlagen habe sie niemanden. Auf Antrag des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs Dr. v. K. trat der Richter schließlich den Akt an das Landesgericht ab, da das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit vorzuliegen scheine.«
Der Hebung des Zugereistenverkehrs wird es nicht nützen. Ein besserer Gerichtsbeschluss wäre gewesen, die Wiener Einrichtungen zu ändern, wenn sie so sind, dass sie zu Ohrfeigen und einem Hieb mit dem Geigenkasten führen können. Man muss kein Zugereister sein, um bis zum Wunsche solcher Abwehr zu gelangen, und man muss nicht aus England kommen, um der Sprache dieses Landes nicht mächtig zu sein. Eine Miss, die mit ruhigen Nerven durch dieses Gedränge von Möbelpackern, Strafrichtern, Kondukteuren und Funktionären durchkommt, kann von Glück sagen. Der Hilfsarbeiter Wemola trägt auch nicht zur Hebung des Lebensmutes bei. Und dieses Verkehrsleben, bei dem man nur vorwärts kommt, wenn man halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben wird, ist eine Katastrophe. Und kurzum, der Kulturmensch, dem dreimal etwas abgezwickt werden soll, wird grob. Wenn das Vaterland das nicht verträgt, so ist Zuzug fernzuhalten. Aber Fremde mit dem Wald- und Wiesengürtel anlocken und dann durch die Elektrische schuldig werden lassen, ist gemein.
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