Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 2. Buch

12. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Marc Aurel

Das erste Buch enthält im Wesentlichen autobiographische  Einzelheiten und bleibt deshalb zunächst unberücksichtigt.

Marc Aurel

Zweites Buch

1.Morgens früh sagst Du Dir: Ich werde einen aufdringlichen, undankbaren, frechen, falschen, missgünstigen, unfreundlichen Menschen treffen.  All diese Eigenschaft haben sie ja nur, weil sie sich im Unklaren darüber sind, was gut und was böse ist. Ich aber, der das Wesen des Guten erkannt hat, dass es schön ist und des Bösen, dass es hässlich ist, wie auch die Natur des gegen mich Zuwiderhandelnden. Das heißt zwar, dass er mit mir verwandt ist-   hat er auch nicht an demselben Blut oder der Keimzelle mit mir teil, so doch an demselben Geist und der gleichen göttlichen Abkunft-, aber ich kann von ihm keine Schaden erleiden. Denn in Schande kann mich keiner stürzen. Ich kann auch meinem Verwandten nicht zürnen oder ihm ein feindlich gesinnt sein. Denn wir sind zur Zusammenarbeit bestimmt, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne. Einander entgegenzuarbeiten ist daher wider die Natur. Wir arbeiten uns aber entgegen, wenn wir einander zürnen oder uns meiden.

2. Was ich auch sein mag, dieses Gebilde hier: es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft. Weg mit den Büchern! Lass Dich durch sie nicht länger ablenken! Das darfst Du nicht! Sondern verachte das elende Fleisch, als wenn Du schon sterben müsstest.  Es ist nur  Unrat des Darms und Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. Bedenke  auch, was für ein Ding Dein Atem ist. Ein Lufthauch nur, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick wird er ausgestoßen und wieder eingezogen. Das Dritte in Dir ist also die herrschende Vernunft. Das bedenke nun, Du bist ein alter Mann. Lass sie also nicht länger Sklavin sein,  sich nicht länger durch selbstsüchtige Triebe hin und her gezerrt werden lassen, sich nicht länger aufzuregen über das Dir vom Schicksal Auferlegte  oder über Deine jetzige Lage  oder über das Kommende jammern.

3. Das Walten der Götter lässt überall die Vorsehung erkennen. Das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne die Verkettung der Verflechtung mit dem  Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und das Wohl des ganzen Kosmos, von dem Du ein Teil bist. Für jedes Teil der Natur aber ist gut, was die Natur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Wandlungen der Elemente wie auch die der zusammengesetzten Körper.- Diese Einsichten müssen Dir genügen und stets Grundsätze sein. Den Durst nach Büchern aber wirf ab, damit Du nicht irgendwann murrend stirbst, sondern guten Mutes und von Herzen dankbar gegen die Götter.

4. Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie genutzt hast. Du musst doch endlich einmal einsehen, was das für eine Kosmos ist, dem Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist und dass Dir eine Zeit zugemessen ist, die vergangen sein wird wie Du selbst, wenn Du sie nicht dazu verwendest Dich abzuklären, und die nicht wiederkommt.

5. Immer sei darauf bedacht, bei allem was es zu tun gibt,  eine entschiedene und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut und Gerechtigkeit zu üben, wie es einem Manne geziemt, und  dabei alle Nebengedanken von Dir fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die Letzte im Leben ansiehst, fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran anhängt.  Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht mehr.

6. Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück außer Dir verlegst in die Seelen anderer.

7. Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und Dein unstetes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Außendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur so festhältst. Denn das bleibt die größte Torheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Denken und Trachten ausrichtet.

8. Wenn man nicht herausbekommen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.

9. Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Teil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Teil Du bist.

10. Theophrast in seinem Vergleich der menschlichen Fehler – wie diese denn jeweils verglichen werden können – sagt, schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet, es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht mit unversehrter Haut.

11. Jegliches Tun bedenken wie einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Übel hört dann doch wohl gerade auf. Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind, und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Mehr noch, sie haben, was die Übel betrifft, und zwar die eigentlichen, sie ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Übel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst für die bloße Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen – ist gewiss, dass sie nicht vermag, dem Übel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen. Auch hätte sie dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteilwerden hieß. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen, also sind sie auch weder gut noch böse, weder ein Glück noch ein Unglück.

12. Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber, in der Welt der Geister deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht, wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, tot! – Man folge dem Zuge des Geistes, man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben, man untersuche, was eigentlich sterben heißt, und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken gestattet, darin nichts anderes als ein Werk der Natur erkennen. Kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten. Man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.

13. Nichts Elenderes als ein Mensch, der um alles und jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Mutmaßungen anzustellen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie es sich gebührt. Das aber ist sein Dienst, ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so viele nicht wissen, was Güter und was Übel sind;  eine Blindheit, nicht geringer als die, wie wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.

14. Und wenn Du  dreitausendJahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, hat doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als das, was er einmal verlieren wird. Und so läuft das Längste wie das Kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem niemand verlieren kann, weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken. Einmal, dass alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand etwas verlieren kann, was er nicht hat.

15. Alles beruht nur auf  Meinung. Denn klar ist der Ausspruch des Kynikers Monimos. Auch der Wert des Ausspruches ist klar, wenn man  den Kern erfasst.

16. Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie sich von der Allnatur abzusondern, gleichsam aus ihr geschwürartig herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgendetwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu tun, wie üblicherweise im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas tut oder spricht oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist, den Prinzipien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.

17. Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Endpunkt, des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch, sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er nichts ohne Überlegung tue, nichts erlüge und erheuchle und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, dass er alles, was ihm widerfährt und zugeteilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemäße, und das Naturgemäße ist niemals vom Übel.