Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Zu Karl Kraus – Von Reiseschriftstellern, Bildungs- und Wissenschaftlhubern. Von Richard Schuberth

24. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Richard Schuberth

Zwei Formen der Verdummung: Keine Information und Information ohne Maß und Ziel. Für die zweite Möglichkeit sind die Medien zuständig, die täglich den Nachweis  ihrer Verdummungseffizienz führen.  W.K. Nordenham

Der folgende Artikel ist vor allem jenen ans Herz zu legen, die da glauben, ungezählte Fernsehprogramme mit ausufernder Information oder das Internet sorgten mit einem Mehr an Wissen für ein Mehr an Denkvermögen. Das Gegenteil ist für die überwiegende Mehrheit  als gegeben zu betrachten.

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Von Reiseschriftstellern, Bildungs- und Wissenschaftlhubern.

Gelehrsamkeit, die –

Staub, aus einem Buch in einen leeren Schädel geblasen.“

Ambrose Bierce

„Es hat jemand mit großem Grunde der Wahrheit behauptet, dass die Buchdruckerei Gelehrsamkeit zwar mehr ausbreitet, aber im Gehalt vermindert hätte. Das viele Lesen ist dem Denken schädlich. Die größten Denker (…) waren grade unter allen den Gelehrten, die ich habe kennen gelernt, die, die am wenigsten gelesen hatten.“

Georg Christoph Lichtenberg

„Jedes Ereignis, über das ich nichts lese, ist Ruhe, jedes Gebiet, das ich nicht betrete, Erholung. Je weniger ich weiß, desto besser errate ich.“

Karl Kraus

Zu den zeitlos wertvollen Anregungen des Kraus’schen Vermächtnisses zählt seine Respektlosigkeit gegen alles, was die bürgerliche Gesellschaft für Geist und Intellekt hält. Nicht nur bietet jene der Nachwelt ein weites, gut ausgeleuchtetes Tor in sein Denken, sondern die letzte Möglichkeit, gründlich zu revidieren, was sie für gescheit hält. Dies gelingt aber erst nach Revidierung des abgelutschten Vorurteils, solch Radikalität der Kritik an Wissenschaft, Bildung und Empirie sei Ausdruck seiner narzisstischen Originalitätssucht gewesen. Denn hat man einmal kapiert, welchen Spott Kraus auch dieser entgegenbringt, wird man verstehen, welch gründlicher ethischer Ernst seine Abneigung nährt.

Da es sich für Kraus nur in und nicht mit der Sprache denken lässt, stehen die Geistes- und Kulturwissenschaften auf der Liste der zu bestrafenden Sprachvergewaltiger ganz oben, nicht nur wegen ihrer Jargons, sondern auch aufgrund ihrer Entkoppelung von Form und Inhalt zugunsten größerer Objektivität. Der Einwand von Wissenschaftsseite her, es ginge zunächst um Faktizität und Schlüssigkeit der Theorie, Arbeit an der Form sei eine Stilfrage, ästhetische Fleißaufgabe, ließe Kraus niemals gelten. Wer an der Form nicht hart arbeitet, bleibt auch der Wahrheit fern und setzt bloß die nach den wissenschaftlichen Moden wechselnden Analysebausteine immer wieder neu zusammen. An der positivistischen Vereinheitlichung der Sprache zu methodischen Instrumenten lässt sich das Verhältnis allgemein des Forschergeistes zum Erforschten ablesen, nämlich nicht das des Verstehens, sondern des Beherrschens. Jene „hoffnungslose Intelligenz, die alles Geistige nach seinem Wert fürs Fortkommen abschätzt“, kann sich nur per Obduktion vom Innenleben einer lebendigen Wirklichkeit Begriffe machen. Dabei hält Kraus stets an der kritischen Rationalität fest und verordnet selbst der Kunst, dass ihr die „Logik einmal geschmeckt haben“ müsse. Auch wissenschaftliche Systematik, so ließe sich seine Allegorik frei variieren, schadet nicht, zumindest zur Disziplinierung sich naturgemäß überschätzender adoleszenter Individualität. Nur sollte man rechtzeitig aus dem Wissenschafts-Internat türmen, ehe einem nicht nur die Adoleszenz, sondern auch gleich die Individualität ausgetrieben wird, man sich für die Fähigkeit, auch ohne akademische Gehhilfen voranzukommen, zu genieren beginnt.

Die wissenschaftliche Initiation erfolgt stets nach demselben biographischen Muster. Vor der Universität reagiert man auf alles Denken, das die Frechheit besitzt, von einem nicht verstanden zu werden, mit Minderwertigkeitsgefühlen, Ablehnung und schließlich Anpassung. In diesem frühen Stadium sind akademische Geheimsprache und wahrer Tiefsinn noch nicht voneinander zu unterscheiden, doch man wird sich später immer mit Ersterer gegen Letzteren verbünden. Der Hausverstand kann sich mit dem Campusverstand stets besser arrangieren als mit dem Geist, und je obskurer der Fachjargon, desto besser lässt sich mit ihm bluffen, und die, welche durch dessen Beherrschung dem Magister- bzw. Doktorvater gefallen wollen, werden jenen, die allein Form und Sache verpflichtet sind, immer Selbstgefälligkeit vorwerfen.

Kraus propagiert Kunst mit einem Erkenntnisinteresse, das wissenschaftlicher Exaktheit nicht fern ist. Nur vor dem Hintergrund seiner nahezu religiösen Verehrung sprachlichen Denkens, das kritische Rationalität mit schöpferischer Phantasie versöhnt, ist seine herablassende Haltung gegenüber den „Wissenschaftlhubern“ verständlich. Diese lässt er zumindest als Zuträger von Fakten gelten. „Die Wissenschaft könnte sich nützlich machen. Der Schriftsteller braucht jedes ihrer Fächer, um daraus den Rohstoff seiner Bilder zu beziehen, und oft fehlt ihm ein Terminus, den er ahnt, aber nicht weiß. Nachschlagen ist umständlich, langweilig und lässt einen zu viel erfahren. Da müssten denn, wenn einer beim Schreiben ist, in den andern Zimmern der Wohnung solche Kerle sitzen, die auf ein Signal herbeieilen, wenn jener sie etwas fragen will. Man läutet einmal nach dem Historiker, zweimal nach dem Nationalökonomen, dreimal nach dem Hausknecht, der Medizin studiert hat, und etwa noch nach dem Talmudschüler, der auch das philosophische Rotwälsch beherrscht. Doch dürften sie alle nicht mehr sprechen als wonach sie gefragt werden, und hätten sich nach der Antwort sogleich wieder zu entfernen, weil ihre Nähe über die Leistung hinaus nicht anregt. Natürlich könnte man auf solche Hilfen überhaupt verzichten, und ein künstlerischer Vergleich behielte seinen Wert, auch wenn in seiner Bildung die Lücke der Bildung offen bliebe und einem Fachmann zu nachträglicher Rekrimination Anlass gäbe. Aber es wäre eine Möglichkeit, die Fachmänner des Verdrusses zu überheben und sie schon vorher einer ebenso nützlichen wie bravourösen Beschäftigung zuzuführen.“

Von denen, die leibhaftig dort waren

Die Entbehrungen und Gewinne des sprachlichen Denkens ersetzen tausende Weltreisen und Feldstudien. Nicht dass Karl Kraus die unmittelbare Erfahrung gering schätzen würde, den Beweis ihrer Intensität kann der Autor ja im adäquaten Ausdruck nachliefern. Der Bluff beginnt erst dort, wo sich der Künstler mittels interessanter Themen vor dem eigentlichen Tagwerk und somit der eigentlichen Erfahrung, der Komposition, drückt. „Den Autoren wird jetzt geraten, Erlebnisse zu haben. Es dürfte ihnen nicht helfen. Denn wenn sie erleben müssen, um schaffen zu können, so schaffen sie nicht. Und wenn sie nicht schaffen müssen, um erleben zu können, so erleben sie nicht.“

Der nach wie vor grassierenden Vergötzung des welterfahrenen Reiseschriftstellers hätte Kraus einiges entgegenzusetzen. Wer von seinem Schreibtisch aus die Galaxien der Sprache durchmessen hat, dem sind die fünf Erdteile nur noch Provinzen, und eine Wellnessreise wäre die Durchquerung der Atacamawüste gegen die Höllen und Erlösungen der sprachlichen Gestaltung. Karl Kraus reiste gerne, aber nur um sich von den wahren Abenteuern, die in seinem Schreibzimmer stattfanden, zu erholen, und entgegen der Unterstellung der Askese suchte er im Geschlechtsakt Entspannung von den Ausschweifungen des künstlerischen Schöpfungsaktes. Doch dem Spießer ist schon jeder Teufelskerl und somit irgendwie Künstler, der mehr schnackselt als er selbst, in Kneipen verkehrt, in die er sich nie traut, und mit exotischen Spießern per du ist. Das intellektuelle Spießerbedürfnis nach Authentizität bedient der Kulturmarkt en masse mit literarischen Bosnientagebüchern, Donaureiseimpressionen und „Ich war ganz alleine dort“-Reportagen. „Nach wie vor ist es das fremde Milieu, was sie für Kunst halten“, erkennt Kraus. „In den Dschungeln hat man viel Talent, und das Talent beginnt im Osten etwa bei Bukarest. Der Autor, der fremde Kostüme ausklopft, kommt dem stofflichen Interesse von der denkbar bequemsten Seite bei. Der geistige Leser hat deshalb das denkbar stärkste Misstrauen gegen jene Erzähler, die sich in exotischen Milieus herumtreiben. Der günstigste Fall ist noch, dass sie nicht dort waren; aber die meisten sind leider doch so geartet, dass sie wirklich eine Reise tun müssen.“

Dass geistiger Provinzialismus durch physische Standortveränderung zwingend überwunden würde, ist leider nicht wahr. Vielmehr neigt er dazu, sich mit exotischen Provinzialismen zu verbiedern. Niemand ist dadurch interessanter, dass er viel herumgekommen ist. Es muss in ihm viel herumgekommen sein. Mit seinem Interesse an der Fremde hebt sich der aufgeklärte Spießer vom xenophoben Spießer ab, doch beide bekunden sie, wie fremd ihnen die Welt ist. Denn zwischen dem Großgöpfritzer, der den anderen Großgöpfritzer darum beneidet, in den Salons von Zwettl ein- und auszugehen, und der Bewunderung des Hietzingers für den Balkanexperten und der des Belgraders für den Schulfreund, der sich in den Hindukusch, nach Hietzing oder gar Großgöpfritz wagte, bestehen nur graduelle Unterschiede. Wer die Welt nicht konsumierend, sondern geistig, das heißt schöpferisch – und das heißt immer sprachschöpferisch – durchdrungen hat, dem ist irgendwann nichts mehr fremd außer der befremdliche Missstand geistiger und materieller Not. Nicht die Welt, wie sie woanders ist, sondern wie sie überall sein könnte, reizt den Denker, bei dem Scharfsinn und Ethik gemeinsam auf Reisen gehen. „Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal am Tag der Mist der Welt gekehrt wird.“

Von denen, die viel lesen und viel wissen

Dem Alltagsverstand ist die sprachliche Form bekanntlich nur Ausschmückung des Inhalts, für Kraus verhält es sich genau umgekehrt, und seine Argumente sind schwer von der Hand zu weisen. Nur lächerlich findet er Menschen, die durch Anhäufung von Faktenwissen Intellektualität reklamieren und das auch noch als literarischen Wert behaupten. Dumm sind niemals die Ungebildeten, sondern die, die so was für gescheit halten. „Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?“, spottet er dem Vielleser und Vielwisser indirekt, für den er auch direktere Aphorismen im Ärmel hat. „Die Bildung hängt an seinem Leib wie ein Kleid an einer Modellpuppe. Bestenfalls sind solche Gelehrte Probiermamsellen der Fortschrittsmode“ und „Der Vielwisser ist oft müde von dem vielen, was er wieder nicht zu denken hatte“ und „Vielwisser dürften in dem Glauben leben, dass es bei der Tischlerarbeit auf die Gewinnung von Hobelspänen ankommt.“

„Ein Bildungskünstler presst die Leckerbissen von zehn Welten in eine Wurst.“ Doch räumt Kraus der Bildung durchaus ihren Wert ein, so sich diese nicht als Eigenwert vor Gedanke und Empfindung drängt und der durch Wissen breitere Horizont nicht nur ausgewalzte Oberfläche ist: „Nun muss gesagt sein, dass diese Art, das Leben zu umschreiben oder um das Leben herumzuschreiben, immerhin einer Anschauung dienen könnte. Diese Umständlichkeit wäre Verkürzung oder die Verkürzung wäre sinnvoll, wenn die für die Dinge gesetzten Chiffren zugleich den Inhalt brächten, der von den Dingen ausgesagt werden soll, oder die Beziehung, in welche die Dinge gestellt werden sollen.“

Als Präzendenzfall, als Mutter aller Bildungshuberei führt Kraus in der „Fackel“ über Jahre hinweg den Berliner Starpublizisten Maximilian Harden vor, dessen gestelzter Bildungsbürgerjargon um 1900 Schule zu machen beginnt. „Man muss nachdenken; das ist eine harte Forderung, meist unerfüllbar. Aber die Forderung, die der Berliner Bildungsornamentiker stellt, ist bloß lächerlich: Man muss Spezialist in allen Fächern sein oder zum Verständnis eines Satzes zehn Bände eines Konversationslexikons wälzen. Der eine schlägt auf den Fels der nüchternsten Prosa, und Gedanken brechen hervor. Der andere schwelgt im Ziergarten seiner Lesefrüchte und in der üppigen Vegetation seiner Tropen. Hätte ich mein Leben damit verbracht, mir die Bildung anzueignen, die jener zu haben vorgibt, ich wüsste vor lauter Hilfsquellen nicht, wie ich mir helfen soll. Ein Kopf, ein Schreibzeug und ein Fremdwörterbuch — wer mehr braucht, hat den Kopf nicht nötig!“

Doch die Ungebildeten ließen sich durch Kraus nicht trösten – Faktenkenntnisse lassen sich aus der Illustrierten ausschneiden wie Gutscheine, denken muss man selbst. Doch Denken dotiert auf dem Markt nicht hoch. Denn schon in der Schule wurde einem eingebläut, dass Wissen Macht bedeute. So sinnlos eine Bildung, die nicht an ein Erkenntnisinteresse, zumindest eine emotionelle Erfahrung geknüpft ist, auch sein mag, die Gesellschaft sanktioniert anders. Faktenbildung, die über den praktischen Nutzen im Berufsleben hinausreicht, bringt zumindest soziales Prestige. Und so sehr Kraus’ Aphorismus zutreffen mag, dass „Bildung (…) eine Krücke“ ist, „mit der der Lahme den Gesunden schlägt, um zu zeigen, dass er auch bei Kräften sei“, so könnte auch stimmen, dass dieser „Gesunde“ schon zum Krüppel deklariert wurde, bevor die Gebildeten ihn zu einem solchen schlagen konnten, vielmehr dass die Gesundheit, für die sie den wahren Denker beneiden, zugleich Krankheit ist, denn die Stärke, aus Liebe zu Denken und Wahrheit auf das zu verzichten, worum jene einzig konkurrieren, nämlich soziales Prestige und materiellen Besitz, muss von ihnen als Schwäche ausgelegt und folglich getögelt werden.

Ob im Kampf um die knappen Ressourcen das ziellose Anhäufen von Bildungsgütern nützt, bleibt allerdings fraglich. Immerhin bietet die Kulturindustrie zur allgemeinen Ergötzung diesen Lumpenintellektuellen die Chance, in der Manege der „Millionenshow“ mit der gleichzeitigen Kenntnis von Pophits, Philosophennamen und Motorersatzteilen nach einzelnen Happen zu schnappen.