Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer

07. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

DIE FACKEL

Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr. S. 6-13

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Das Gehirn des Journalisten.

»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.

Tausend Jahre Zeitungen — es ist ein Gedanke, den man nur mit Grauen denken mag! Wird es, kann es nach dreißig Generationen von Zeitungslesern noch eine Vernunft, einen Geist auf Erden geben? Einen Geist, der mehr ist als die tote, verschliffene Hülse geistloser Gemeinheit? Die schlimmsten Befürchtungen sind hier immer noch nicht schlimm genug. Mit der Geburt des Tagschreibers aus der Geistverlassenheit des Dünkels schloss sich der Ring der modernen demokratischen Unkultur. Und diese Spottgeburt, die sich durch Lumpen und Schwärze fortpflanzt, musste notwendigerweise erfolgen, sobald die unseligsten aller Erfindungen die Voraussetzungen hierzu geschaffen hatten. Der Zwang, in irgend einer Hinsicht ein Fürsichstehender, ein Eigner seiner selbst zu sein, ist dem Massenmenschen jederzeit eine unerträgliche Last gewesen; immer hat dieser es als Wohltat empfunden, sich sein Denken, Handeln und Fühlen vorschreiben zu lassen. Aber niemals — auch nicht zur Zeit der kirchlichen Allmacht — ist die intellektuelle und ethische Kastration der Menschheit mit so durchschlagendem Erfolg versucht worden wie von den unverfrorenen Faiseuren, die jetzt mit Hilfe einer wahrhaft schwarzen Kunst der Masse das lästige eigene Denken und Betrachten abnehmen und das Surrogat hierfür täglich zweimal ins Haus schicken. Gab es jemals ein glänzenderes Geschäft? Der hungernde Philister versagt sich ein Stück Brot, um ein Zeitungsblatt zu kaufen. Heute bereits ist die Lesemanie so allgemein verbreitet, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer Muße mit dem Verschlingen von Nachrichten und Betrachtungen ausfüllen, zu denen sie nicht die geringste innere Beziehung haben. Sie verschlingen die fragwürdigste geistige Kost ohne jede Not und ohne jede Möglichkeit der Verdauung, die schon wegen der übermäßigen Quantitäten ausgeschlossen ist, auch wenn die Nahrung selbst verdaulich wäre. Gibt es ein besseres Rezept zur schnellsten Erlangung der gründlichsten Stupidität? Und nun denke man an die Folgen dieser immer mehr sich verbreitenden und immer intensiver sich gestaltenden Praxis nach tausend Jahren! …

Die Kirche, die Vorgängerin der Presse in der Herrschaft über den Intellekt der Masse, hatte wenigstens ein Ideal, wenngleich ein lebensfeindliches. Sie besaß auch einen Geist, obgleich nur einen kranken, sie erschuf auch eine unvergängliche Kunst. Innerhalb der kirchlichen Allmacht war noch eine Kultur möglich. Der Kastratismus der Kirche war wenigstens ein System, der Kastratismus der Presse aber ist Unsinn und Gemeinheit als »Selbstzweck«, wie der Ausdruck für alle moderne Sinn- und Systemlosigkeit lautet. Die Kirche stand allezeit über den Gläubigen, die Presse kann ihre Macht nur erhalten, wenn sie den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. Die Popularität der Kirche war Klugheit, die Popularität der Presse ist wirkliche Gemeinheit, die Presse ist des Pöbels. Was der Zeitungsleser in den Blättern sucht und findet, ist der Abklatsch seiner eigenen Niedrigkeit, welche Welt und Leben von gesicherter Futterkrippe aus als ein weitläufiges Panoptikum für nimmersatte Gaffer betrachtet. Der Genius der Kultur wandte sich ab, als die Menschheit die Religion mit der Zeitung vertauschte. Aber dieser Tausch war ein unabweisliches Schicksal. Die Presse ist da, sie wächst, sie überwuchert alle Gebiete des Lebens, und der Tagschreiber löst den Pfaffen ab. Die Welt muss sich dafür interessieren, wie es in dem Gehirn aussieht, aus dem sie neu erschaffen ward: in dem Gehirn des Journalisten.

Es ist eine wenig erfreuliche Spezies Mensch, aus der die Tagschreiber sich rekrutieren. Es sind bestenfalls Menschen mit Ehrgeiz und Unternehmungslust ohne Rückgrat und Willen, Leute mit einem Zuviel an Phantastik und Überhebung, um es in einer bürgerlichen Nützlichkeitsexistenz auszuhalten, und mit einem Zuwenig an Verstandeskraft, Geschmack und Bildung, um im Geistigen und Kulturellen auch nur Kleines zu bedeuten. Es sind im bürgerlichen Sinne Deklassierte, im geistigen Sinne sterile Parasiten der wirklichen Bildung, Nebelgehirne, undisziplinierte Wildlinge mit Vandaleninstinkten. Wer irgendeine tiefere Bildung, wer auch nur das bescheidenste intellektuelle und ethische Reinlichkeitsgefühl besitzt, kann kein tauglicher Journalist werden. Bildung ist nämlich ein Hindernis für die journalistische Fixigkeit, sie untergräbt die dreiste Selbstgefälligkeit, die über alles so leicht und sicher urteilt. Bildung ist ein retardierendes Prinzip: die Erziehung zur Vorsicht im Urteil. Sie hält davon ab, einen Einzelfall bedenkenlos zu verallgemeinern oder eine Regel auf jeden Einzelfall zu beziehen. Die Bildung hat mit einem Wort Vorurteile, der Journalismus aber ist ‚vorurteilsfrei‘. Bildung verantwortet Urteile schwer und zögernd, der Journalismus verantwortet ohne weiteres alles und jedes.

Mit wirklicher Bildung kein Journalist, mit wirklicher Bildung daher auch kein Schriftsteller, kein Dichter, kein Künstler, kein Gelehrter nach dem Herzen der Zeitungskritiker. Es ist leicht zu erraten, was für eine Art von Literatur, Kunst und Wissenschaft die Presse propagiert, was für Leute sie am begeistertsten lobt: Alles, was mit ihr verwandt ist. Es gibt viele und darunter nicht wenig berühmte Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, die ihren Ruhm nur ihrem Mangel an tieferer Bildung und Einsicht verdanken. Aus diesem Mangel stammt jenes leichte Urteil, jene Bedenkenlosigkeit der Dummheit, jene kecke Geschwätzigkeit und aufdringliche Schamlosigkeit, die von der Ignoranz immer wieder mit Temperament, Mut des Geistes und künstlerischer Naivität verwechselt wird. Solche Berühmtheiten wirken im Grunde mit den Mitteln des Journalismus, sie sind dem Tagschreiber verwandt, — es sind vielfach nur entsprungene Tagschreiber …

Die Bildung ersetzt der Tagschreiber durch ein spezifisches Gedächtnis, durch ein Notizbuch oder einen Zettelkasten. Aus aufgeschnappten Namen und Aussprüchen, schlechtgehörten Urteilen und schlechtgelesenen Berichten, zusammenhangslosen Begriffen und Historien, aus schiefgesehenen Tatsachen, aus fünfzig gangbaren Phrasen und mit dem Zubehör des eigenen Fetzenwissens webt er die Ellen seiner Arbeit. Man darf billigerweise nicht übersehen, dass auch unser moderner Schulmechanismus kein anderes als ein solches Phrasenwissen hervorbringt, dass die Schule alles tut, die unheilvolle Verwechslung von Bildung (d. h. Zucht der Sinne und des Intellekts, um richtig sehen und denken zu lernen) mit wertlosem Gedächtnisballast und papageienhafter Nachplapperei vorzubereiten. Die Schule, die von jeder Ecke der Welt einen Theoriefetzen und von jedem Ding wenigstens den Namen in uns hineinstopfen will, verführt die Masse dazu, die Zeitungslektüre für die natürlichste Fortsetzung der »Bildung« zu halten. Der Tagschreiber hält heute den Posten für »Ausbau der Bildung« besetzt. Die Zeitung ist das Schulbuch der Erwachsenen. Und der Tagschreiber ist der Lehrer der großen Masse.

Allem, was heute als Bildungsfaktor gilt, der  Zeitung, der Schule, der Reisewut, den Ausstellungen, dem unmäßigen und sterilen Kunstbetrieb, all dem haftet der Fluch des Vielzuviel an. Wir liegen vor der Quantität auf dem Bauch, wir haben völlig vergessen, dass die eigentliche Geistigkeit, die innere Kultur gerade in der Abwehr des Zuvielen, des Angehäuften, in der Beschränkung auf das Wenige, das Verdauliche besteht. Wir haben die Bildung zu einem Kinematographentheater umgestaltet, in dem auf einem endlosen Film eine Kette von wahl- und zusammenhangslosen Momentbildern sich abhaspelt. Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen, Flüchtigen und Halbgesehenen …

Der Journalist ist nicht ein Schriftsteller aus innerem Zwang, sondern ein Schreiber, der einem Druck von außen gehorcht. Er schreibt nicht, weil er etwas zu sagen hat, sondern er sagt immerfort etwas, weil er schreiben muss. Und er hat beim Schreiben das Gefühl, nicht das sagen zu müssen, was er für richtig hält, sondern das, was »man« heute für richtig hält und was übermorgen bestimmt nicht mehr wahr ist. Der Tagschreiber hält beim Schreiben nicht Gericht mit sich selbst und jenem »Man«, sondern schielt ängstlich nach dem Leser, den er schon über seine Schulter gucken sieht. Beim Schriftsteller besteht zwischen Person, Stoff und Form ein organischer Zusammenhang. Das Verhältnis des Tagschreibers zu seinem Stoff aber ist ein durchaus widernatürliches und gezwungenes. Die Auswahl des Stoffes ist bereits ohne ihn vollzogen: er ist abhängig von der Augenblicksgegenwart, von der Aktualität, vom Vordergrund; er hat nur innerhalb des Heute, des »Modernsten« eine Auswahl. Das Heute, der Gischt der Unmittelbarkeit, ist aber gerade das Noch-nicht-zu-Beurteilende, ist dasjenige, was von einem Betrachter, der die Wahrheit und das Wesen einer Sache zu ergründen sucht, mit der feinfühligsten Behutsamkeit und dem kühlsten Misstrauen aufgenommen werden muss. Dem Tagschreiber ist es nicht im Geringsten um die Wahrheit zu tun — er führt dieses Wort, wie alle schönen Worte, im Munde —, sondern nur um Urteile überhaupt, um Urteile, die lediglich durch die Aktualität der beurteilten Substanz interessieren. Was weiß er von der vorsichtigen Gelassenheit, mit der ein geschulter Denker seinem Problem gegenübertritt, von der unbeirrbaren Geduld und zarten Unerbittlichkeit, mit der er es allmählig entwirrt und fasslich macht? Wie hätte der Schreiber des Tages auch nur die Muße zu wirklicher Denkarbeit! Er hat zu schreiben, nicht zu denken. Er kriecht auf den schwierigsten Problemen so geschäftig herum wie die Made auf dem Käse, um sich davon zu nähren und sie überdies noch zu beschmutzen. Der Ernst einer Sache schreckt ihn niemals ab; er hat nur einen Ernst: mit den Brocken, die er der Masse hinwirft, ihren Geschmack zu treffen, vor der Masse recht zu behalten, maßgebend zu sein, eine Macht zu sein, mit der man sich verhalten muss! Er sagt mit Pilatus: Was ist Wahrheit! Er fühlt sich als Anwalt einer Majorität, er stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf die Mode, auf das unisone Geschrei des Tages.

Die Presse hat mit Vernunft und Wahrheit nichts zu tun, sie schlägt ihnen täglich ins Gesicht;  sie sorgt für den Obskurantismus besser noch als die Kirche. Dass die Presse, die sich fortschrittlich nennt, irgendwie Aufklärung verbreite oder den Fortschritt fördere, das glauben nur solche, die durch Zeitungslektüre bereits hoffnungslos verdummt sind. Das Hauptargument für die »Berechtigung« oder »Notwendigkeit« der Presse ist jetzt dieses, dass sie die liberalen Institutionen in Schutz nehme. Nun, man mag über die liberalen Institutionen denken wie man will; was würde aber — gesetzt, es wäre wahr — der Schutz einzelner verbriefter (und trotz Presse meist eben nur verbriefter) persönlicher Freiheiten bedeuten gegen die scheußliche Tyrannei der Masse, welche gerade durch die Presse gefestigt und geheiligt wird! Schließlich steckt hinter jedem liberalen Ding immer ein Tyrann. Die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird, ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die illiberalste aller Institutionen. Die Presse wird immer den Erfolg anbeten und — um selbst daran teil- zunehmen — dem huldigen, der die Macht hat, oder dem, welchem die Macht winkt. Nein, die Presse hat nichts mit der Freiheit zu tun, die »freiheitliche« am wenigsten! Und mögen Präsidenten, Minister, Zelebritäten und Streber sie noch so oft als segensreiche Macht verhimmeln! Sie wissen, warum sie’s tun ….

Aber der Mensch ist ein zähes Tier. Vielleicht wird die Presse sich selbst ad absurdum führen und wie jener Frosch, der sich zum Ochsen aufblähen wollte, krepieren, noch ehe der menschliche Intellekt und die menschliche Würde ganz zuschanden werden. Eines aber wird schon in kurzer Zeit unwiederbringlich verloren sein: das lebendige Sprachgefühl. Der Tagschreiber, dem fast ausschließlich nur der Zufall Artikel diktiert, der sich für alles  interessieren Muss und daher für nichts interessiert, ist von vornherein zu einer affektierten Schreibweise verurteilt. Er schreibt nicht als Fachmann eines Gebietes, sondern über alles nach unzureichender Information. Er verwendet die Termini und Formeln aller Berufe und Wissenszweige, ohne deren Sinn zu kennen, er ist ein Ignorant, ein typischer Oberflächenmensch und drückt sich daher am liebsten verschwommen und zweideutig aus. Da er immer eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer übertrieben, ist er — nolens, volens — ein Liebhaber des Extrem-Expressiven. Er beherrscht, da er keinen eigenen Stil haben kann, alle Stilarten und hetzt jedes klingende Wort erbarmungslos zu Tode. Der Tagschreiber aber ist der einzige, der von einer ungeheuren Majorität gelesen wird. Die totale Korruption des Wortes ist unabwendbar, wenn es nur noch drei Generationen Tagschreiber und Zeitungsleser geben wird. Denn die Zeitungsleser sind Wiederkäuer! Anschaulicher, als lange Reden es vermöchten, malt Nietzsches Gedichtchen »Das Wort« — selbst ein sprachliches Kleinod — das trübselige Geschick, mit dem Sprache und Wort von ihren Schmarotzern und Würgern bedroht werden. Dem frommen Wunsch, in den es ausklingt, stimmen alle besorgten Schützer der Kultur zu, denen der Tag nicht in Morgen- und Abendblatt zerfällt:

»Pfui allen hässlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!«

K a r l H a u e r.

*
* *

Es ist unzulässig, dass Leute der Wissenschaft Tiere zu
Tode quälen; mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern
experimentieren.

I b s e n.

*

Die Zeitungsschreiber haben sich ein hölzernes Kapellchen
erbaut, das sie auch den Tempel des Ruhms nennen, worin sie
den ganzen Tag Porträts anschlagen und abnehmen, und ein
Gehämmer  machen, dass man sein eigenes Wort nicht hört.

L i c h t e n b e r g.

Aus „Die Fackel“ Doppel-Nummer Nr. 230—231. 15. Juli 1907 IX. Jahr.                             Das Gehirn des Journalisten. Von Karl Hauer.

 

»Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat.«
N i e t z s c h e.

Selbst nach über einhundert Jahren bleibt nur ungläubiges Staunen vor der Weitsicht dieses Denkers. Würde es heute jemand wagen können bei eintausend Fernsehkanälen eine auch nur fünfzigjährige  Konklusion zu ziehen, wo die multimediale Entmündigungsmaschine auf Hochtouren läuft? In Unmengen werden scheinbare Antworten auf  erfundene Fragen gegeben, die  niemand je stellen wollte und deren Beantwortung  so sinnlos ist wie die Frage selbst. Der Journaille  hat die Bescheidenheit  zur Frage von je her gefehlt, da sie  implizit vorher glaubt,  hinterher sowieso, alles besser zu wissen. Wieviel muss man wissen, um von sich zu behaupten zu dürfen, dass man nichts weiß? Meine Bewunderung gilt der Demut des Sokrates, die aus seiner lakonischen Bemerkung spricht. Dem Gehirn des Journalisten muss das  ein Rätsel bleiben.  Man kann sicher fragen, ob nun alle Journalisten gemeint seien. Nein,  nicht die Denker unter ihnen, die ihre Verantwortung kennen und wollte man Besipiele nennen, fiele einem Hermann Gremliza ein, Hans-Ulrich Jörges oder  eventuell noch  Klaus Kleber vom ZDF und manchmal sogar „Die Zeit“. Aber jene sind  in der Masse  selten , wie die Anderen  häufig und man muss lange suchen bevor man auf einen trifft, der spricht oder schreibt, weil er etwas zu sagen hat und nicht, um der Redaktion einen normierten  Beitrag  zu liefern. Nachhilfe kann  jedermann unter anderem bei Montaigne, den französischen Moralisten und bei Karl Kraus erhalten.   W.K. Nordenham

 

 

 

 



Der Löwenkopf oder Die Gefahren der Technik. Von Karl Kraus

02. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

(…) Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn
sie nackt sind, auffallend gekleidet gehen. Jede Gebärde eine Arabeske,
jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist
notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen
würde: mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem
Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies
Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe       und die Herzen von Katzen!                                                          Karl Kraus

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DIE FACKEL Nr. 384/385 13. OKTOBER 1913 XV. JAHR

Der Löwenkopf
oder
Die Gefahren der Technik

Eine ernste Nachricht, die eine Zeitung bringt, ohne dass sie einen Witz dazu macht, und keine andere, die es liest, macht einen Witz dazu:

[Die schweren Autobusse eine Gefahr für die Gebäude.]
Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die durch das Gewicht der Autobusse hervorgerufene Erschütterung des Bodens nicht ohne Einfluss auf Bauten bleibt, die sich in den Straßenzügen befinden, in denen die Autobusse verkehren …. Nun hatte sich die Bezirksvertretung Leopoldstadt vorgestern mit einem Antrage zu befassen, dessen Veranlassung beweist, dass unsere Forderung, es müsse bei der bevorstehenden Automobilisierung des Stellwagenverkehres vor allem das Gewicht der Wagen in Berücksichtigung gezogen werden, vollkommen berechtigt ist. Es haben sich nämlich mehrere Hausbesitzer der Praterstraße wiederholt beschwert, dass durch den Verkehr der ungemein schweren Autobustypen die Erschütterung der Häuser derart heftig sei, dass sich dadurch die Verzierungen an den Häusern lockern und leicht ein Unglück herbeiführen können. Um dieser Gefahr zu begegnen, soll die Praterstraße asphaltiert werden. — Außer der Bezirksvertretung Leopoldstadt haben sich ja auch schon andere Gemeindefunktionäre mit dieser Frage beschäftigen müssen, und man sieht, dass es gut sein wird, wenn bei der kommenden Automobilisierung die leichten Typen bevorzugt werden ….

Man hat keine Ahnung, von welchen Gefahren man stündlich bedroht ist. Wie leicht können sich die Ornamente lockern, wenn man gerade vorübergeht, und das Unglück ist geschehen.Ehedem war von den Ziegelsteinen das Ärgste zu befürchten, wiewohl sie viel fester saßen als die Ornamente. Aber wenn ein Ziegelstein an einem Kopf kaput geht, so ist das weiter kein Malheur, während durch die Vernichtung eines Ornaments unabsehbares Unglück herbeigeführt werden kann. Die schweren Autobusse sind eine Gefahr für die Gebäude, an
denen die Menschen vorbeigehen. Gewiss wird vielfach nicht nur an die Erhaltung der Ornamente, sondern auch an die Sicherheit der Passanten gedacht, wenn man den heutigen Zustand unhaltbar findet.Ein frivoler Mensch würde sogar den Vorschlag machen, die Ornamente abzuschaffen und Gott zu danken, dass die Autobusse uns die Trennung erleichtern, und diese Trennung lieber freiwillig vorzunehmen als sie von der Erschütterung durch die Autobusse herbeiführen zu lassen. Ja, man könnte geradezu sagen, die Gefahren der Technik seien ein wahres Glück und die Erfindung der Autobusse sei ein Fingerzeig der Vorsehung, der die Abschaffung der Ornamente dringend empfiehlt: die technische Entwicklung bringe doch die eine geistige Entschädigung mit sich, dass sie den Schnickschnack gefährdet! In dieser großstädtischen Zeit aber findet sich keine Bezirksvertretung, die den Konflikt zwischen der Technik und der Ästhetik zugunsten der ersten entscheidet. Denn jede hat ein Gemüt für die Ornamente und schafft lieber die Autobusse ab, die so viel brum brum machen, dass die Ornamente nicht schlafen können, sondern erschrecken und, bumstinazi, unten liegen. Ein frivoler Mensch würde den Vorschlag machen, durch sämtliche Straßen Wiens in derselben Stunde Autobusse zu jagen, auf dass dem Unfug ein jähes Ende bereitet werde, auf die Gefahr hin, dass ein paar Schock Verfasser von Zuschriften über »die Berge, die Eltern und die Gefahren« unter Ornamenten begraben würden und noch etliche andere unnütze oder verkehrshinderliche Existenzen dazu, und in der Hoffnung, dass die Erfinder der Ornamente selber darunter wären, wobei jeder jeweils den Vorzug hätte, seine eigene Pletschen auf sein eigenes Dach zu bekommen. Als der Erbauer des Michaelerhauses, dieser leibhaftige Autobus, der mit der Schönheit tabula rasa macht, von den Bezirksvertretern gemartert wurde, hätte er ihnen einfach einen Lohengrin und eine Leda mit je einem Schwan hinpappen sollen, damit die Seele eine Ruh hat, und dann einen tüchtigen Akkumulator arbeiten lassen sollen, um darzutun, dass die mythologischen Persönlichkeiten mit Pferdekräften doch noch schneller fortkommen. Ich wohnte einmal in einem Hause auf der Dominikanerbastei, da betete ich täglich, es möge endlich ein Autobus durchrasen, mich würde er nicht stören, denn ich wohnte in einem Zimmer mit Aussicht auf eine herrliche Feuermauer, auf die nichts gemalt war, so dass der Teufel noch Platz hatte, aber die Aeskulapschlangen, Gorgonenhäupter und sonstigen Utensilien, die auf der Fassade aufgeklebt waren, stierten mirs. Es war schwer, nachhause zu gehen. Zumal wegen der immer auftauchenden Sorge, was der Herr Wassertrilling, der das Haus erbaut hatte, nur mit der Mythologie habe. Eines Tages, ich saß geborgen vor meiner Feuerwand, — Riss es an der Klingel. Ich glaubte, es sei ein Leser, der mir einen Übelstand mitteilen wolle, es war aber ein Mann, der ganz echauffiert mir zurief: »Schaun S’ zum Fenster außi!« Ich erwiderte, dass es in meinem Hof Gottseidank nichts zu sehen gebe, worauf er unwillig versetzte: »Was, Sie wohnen gar nicht auf die Straßen?« Ich: »Nein, was ist denn geschehn?« Er: »Die Parteien, die was auf die Straßen wohnen, sollen außischaun!« »Ja, warum denn?« »’s Haus wird doch photographiert!« Ich warf die Tür mit einem so heftigen Wurf zu, dass ich einen Augenblick hoffte, die Aeskulapschlangen hätten sich von innen gelockert, das Haus werde nun kein freundliches Gesicht mehr machen und der Photograph erklären, unter solchen Umständen könne er nicht weiter arbeiten. Ich erfuhr aber, dass nichts passiert war, und ich ersah, dass es Menschen gibt, die sich zum Fenster hinausbeugen, wenn solch ein Haus photographiert wird, und die den Ehrgeiz haben, anstatt ihren Ursprung zu verleugnen, auf solche Platte zu kommen. Und kein Autobus fuhr durch. Das Haus, wiewohl ein neues Haus, steht noch heute, es ist eine Sehenswürdigkeit und vom Franz Josefskai leicht zu erreichen. Das Publikum, welches sich dort tummelt und das sichere Gefühl hat, dass dieses Haus das schönste auf der ehrwürdigen Dominikanerbastei ist, geht gern Samstag abends ins Café Imperial, des Staunens voll über die Pracht, die dort zu schauen ist. Als das freundliche alte Café von einem jungen Meister erneuert werden sollte und man lange nichts sah, da sah man zwar noch nicht die Klaue des Löwen, aber ein Löwenkopf hing doch schon an der Fassade und hielt einen Ring im Maul. Er hat einen Zweck, dachte ich mir. Er wird der künftigen Beleuchtung dienen. Geduld, dachte ich, zum Beleuchten einer finstern Gegend gehört vor allem ein Löwenkopf. Den hat man und dann wird man sich schon durchfretten. Vom Bauernschreck hat man auch nicht mehr und er erfüllt doch seinen Zweck. Genug, der Löwenkopf war da und er blieb durch Monate, als alles noch im Finstern lag. Schon aber kamen die entzückten Besucher aus der Leopoldstadt, wo sie für die Ornamente zittern, die vor den Autobussen zittern, und bewunderten den Löwenkopf. Ein Dorfschulbub wird bekanntlich gefragt, wie man eine Planke mache. Er weiß Bescheid, und wenn das Gestell so weit sei, schreibe er noch schnell  Lekmimoasch drauf und die Planke sei fertig.
Die Besucher des Café Imperial aber waren schon zufrieden, weil es drauf stand, noch ehe das Gestell so weit war. Die Planke ist auch heute mehr schön als brauchbar, aber die Wucherer haben einen so ausgeprägten Schönheitssinn, dass ihnen Löwenköpfe, Gottheiten oder Spargelbünde, die Licht geben, weiß Gott lieber sind, als eine Sitzgelegenheit. Den Schmutz der Gasse haben sie zuhause, und selbst der ist von Hoffmann. Je schöner aber die Welt wird,  desto mehr Wucherer ziehen in sie ein und bewundern die Arabesken. Es ist keine kleine Angelegenheit, dass einem der letzte Lebenswinkel austapeziert wird und die Verschönerung der Wände die Verschlechterung der Betrachter zur Folge hat. Die Welt der Autobusse ist nicht die, die man mit der Seele sucht. Aber man muss in ihr leben, um eine bessere zu finden, und eine schlechtere wird einem so zur Qual, dass man wünscht, ein Autobus möge nicht nur an einem renovierten Kaffeehaus vorbei, sondern auch durch seine Pracht hindurchfegen und alle Ornamente, die dort an den Wänden sitzen, und alle Bärte, die dort an den Ohren kleben, glatt mitnehmen. Denn allerorten drängen sich jetzt die Löwenköpfe, die Wände haben Ohren und es tauchen Menschen auf, die den Bauch wie einen Erker tragen und die Nase wie einen Risalit, und deren Hängebart sich im nächsten Augenblick, wenn die Arbeiten weiter fortgeschritten sind, als Beleuchtungskörper oder als Briefbeschwerer oder als  Bettvorleger entpuppen kann. Es muss etwas zu bedeuten haben, denn das Ding an sich kann es unmöglich sein. Wer wird denn mit so etwas im Gesicht herumgehen und es noch  offerieren,  wenn nicht was dahinter wäre? Aber man wartet vergebens, es wird nichts draus. Nun, praktisch ist so ein Vollbart nicht, »aber schen is«, sagt meine Bedienerin in solchen Fällen. Da ist ein Sprachlehrer, dessen Bild herumgetragen wird, Dienstmänner haben es auf dem Rücken, wo man jetzt hinkommt, sieht man diese Arabeske, selbst auf Zündsteinen, die sonst nur der Unterstützung des gefährdeten Deutschtums in der Ostmark dienen, taucht sie auf. Schön und stattlich, das ist der Eindruck. Man sieht es gern. Aber ein rasiertes Gesicht  hat auch seine Vorzüge, man kommt auf der Straße schneller vorbei, und wenn ich französischen Unterricht zu nehmen hätte, wegen des Fortkommens, würde ich geradezu darauf bestehen. Der Friseur am Lido, ein Idealist, der zwischen den Kapannen umherirrt und dessen Lebenslüge darin besteht, dass man nur von »manicure, pedicure!« leben könne,  verlangte drei Kronen für das Rasieren. Ich bot ihm dreihundert für den Bart des Bahr, der mir schon lange im Weg ist. Weiß der liebe Gott, ich mag solche Barben nicht! Man verstehe  mich recht. Der Löwe ist ein Löwe, er hat nicht nur einen Löwenkopf, sondern auch ein Löwenherz und man bleibt nicht stehen und sagt: Gut frisiert, Löwe! Ich weiß, wo die Manneszier den Mann beweist, und ich möchte um keinen Preis mir Tolstoi, Lear oder den Moses des Michelangelo rasiert wünschen. Aber wenn ein Wels aus Linz in der Adria vorkommt und sich in diesem Zustand gar photographieren lässt, sind physiognomische Beschwerden erlaubt. So möchte ich beim Barte des Propheten schwören, dass der des Bahr keine organische Notwendigkeit ist, sondern nur ein feuilletonistischer Behelf, ein Adjektiv,  eine Phrase. Es muss nicht sein. Oder vielmehr: es muss sein,  denn schon der gestutzte Schnurrbart verrät, wie dieses Gesicht aussähe, wenn es nicht phrasiert, sondern rasiert wäre. Die Augen sind gut, sie leuchten wie Rubine, aber man trägt nicht Rubine in einer Kartoffel. Ich möchte behaupten: gerade jene Gesichter, die des Vollbartes nicht wert sind, brauchen ihn. Es ist ein Dilemma. Köpfe gibt es, die dem Friseur nicht mit der Kundschaft weitergehen können, weil sie vom Raseur entlarvt würden. Der Historiker Friedjung hat einen Voll- und Ganzbart; man stelle sich vor, er hätte ihn nicht. Der Dichter Beer-Hofmann muss wie ein Hohepriester aussehen; sonst wär’s gefehlt, denn er sähe am Ende wie der Dichter Beer-Hofmann aus. Der Denker Bahr muss wie der liebe Gott aussehen; man stelle sich vor, wie er sonst aussehen würde. Und die Ähnlichkeit ist so zwingend, dass man sich, wenn man nur einmal am Lido geweilt hat, den lieben Gott künftig als Kapannenbewohner vorstellt, der binnen einer Stunde in vier verschiedenen Bademänteln an den Gläubigen vorüberwallt, in einem roten, in einem braunen, in einem blauen und in einem schwarzweißen, welcher der schönste ist, immer wechselnd, zieht an, zieht aus, zieht an, zieht aus, als ob der liebe Gott der Rothschild selber wäre. Ich habe Wunder über Wunder in diesem Sommer geschaut. Richard Wagner liebte Samt und Seide. Aber er brauchte nur zum Schreiben, was die Wiener Meister zum Baden brauchen. Und Schiller hat die faulen Äpfel nicht gegessen. Wunder über Wunder habe ich gesehn an jenem Strand. Quallen, die im Kaffeehaus arg darniederliegen, aber hier zu leuchten begannen, wenn jenes Gottes Sonne sie beschien, und alle Farben spielten, wenn ich in die Nähe kam. Tintenfische trugen Rezensionsexemplare in die Kapanne Nr. 20, liebe Schnecken, die im Winter plaudern, wanden sich vor mir, wenns  niemand sah, aber die ganze Fauna stand habtacht, wenn ihrer aller S. Fischer auftauchte. Der Bartsch fehlte mir in dem Aquarium. Aber wenn es Menschen waren, waren es Hohepriester. Nichts als Hohepriester sah ich, die nach dem Wetter auslugten und nach den Tantiemen. Sie wandelten nicht nur, sie badeten gern, denn wo sie hintraten, war das Meer seicht. Meine Anwesenheit störte sie nicht in den Geschäften, wenngleich sie unruhiger waren, als es Hohepriestern ansteht. Die Sonne war verhängt von farbigen Draperien und sie selbst schienen dahinter Schutz zu suchen. Aber solche Mimikry, dachte ich, macht nicht unkenntlich und schützt nicht vor Verfolgung, sondern im Gegenteil. Ich bin noch nüchtern genug, einen Hohepriester von einem Librettisten unterscheiden zu können. Ich trau mir’s zu. Ich weiß schon, wer die sind. Ihre Hülle verrät sie und über ihre Krücke straucheln sie. So leben sie. Wenn sie sterben, werden sie einem Hervorruf Folge leisten. Dass sie fünfzig Jahre alt werden, glaubt man ihnen zur Not, den Tod nicht, und nicht einmal wenn sie ihn erleben sollten, statt ihn bei S. Fischer erscheinen zu lassen. Es sind die Künstler, von denen, so wie sie da in ihrer Formen Fülle schreiten, das »Künstler-Beinfleisch« kommt, das jetzt in einem neuwienerischen Beisl angepriesen wird, und es ist jene Bohème, die das beliebte »Bohème-Gullasch« liefert. Der Bürger hat Geschmack, die Kunst schmeckt schon fast so gut wie Beinfleisch, und seitdem Gedichte vomiert werden, ist das Essen ein Gedicht. Die Landschaft ist malerisch, die Maler sind malerisch, alles ist malerisch bis auf das Malen. Alles ist wie wenn; es ist, wie wenn es wäre. Du liebe Zeit, verlange ich einen Scheiterhaufen, bringt man mir eine Mehlspeise. Wie gut wirs haben, sehen wir die Schönheit alter Formen so dem  weck gepaart! Ich lebe fern den Dominikanern und wohne jetzt in einem Hause, das ein Scheiterhaufen mit Schlagobers ist, der ein Gedicht ist. Nein, eine Symphonie von Bäuchen und Nasen,  und hat es gleich keine Aeskulapschlangen, die immer ein apartes Tragen sind, so meint es doch alles, was es sagt, anders und sagt es allegorisch. Wie reich ist die Welt und wie überbietet sie das Maß der Schöpfung! Wo das Auge sich umtut, findet es Schönheit. Nur in den Seelen macht die Technik Fortschritte. Der Mensch ist  außer sich geraten. Kein Wort lebt, keine Farbe — denn alles ist sowieso laut und bunt. Künstler heißen die, die man sofort erkennt, und die noch wenn sie nackt sind, auffallend gekleidet  gehen. Jede Gebärde eine Arabeske, jeder Atemzug instrumentiert, jeder Bart eine Redensart. Das alles ist notwendig, weil sonst in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen würde: mich täuscht die Fassade nicht! Ich weiß, wie viel Kunst dem Leben und Leben der Kunst abgezapft werden musste, um dies Kinderspiel zwischen Kunst und Leben zu ermöglichen. Löwenköpfe und die Herzen von Katzen! Der Autobus ist kein Ziel, aber eine Rettung. Ich kann tabula rasa machen. Ich fege die Straßen, ich lockere die Bärte, ich rasiere die Ornamente!


Prominente Pupperln. Von Karl Kraus

15. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Prommis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Heut nennt man es „Prommis“. Anm. W.K.Nordenham

 

DIE FACKEL

NR. 751—756 FEBRUAR  1927  XXVIII. JAHR

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Glossen S. 116 -119

Prominente Pupperln

Damit glaube ich, ist mir die Paarung des Fürchterlichsten geglückt, was die Vorstellung eines Höllenbordells schon auf Erden verwirklicht, ein Schulter an Schulter der Nachkriegswelt, das alle Schrecken von damals begrifflich und terminologisch überbietet. Hatte die Möglichkeit der Bezeichnung »Göttergatte« oder von Ansprachen wie »Küss’ die Hände!« und »Noch nicht auf die Länder?« die Unvermeidlichkeit des Kriegsausbruches dargetan; war in der Pestluft der Glorie solche Unzucht einer librettoverseuchten Zentralmenschheit zur Orgie  aufgeschwollen, so lässt doch das seit dem Umsturz Gehörte und Geschaute in jenen Erscheinungen ein verlorenes Paradies zurückträumen. Pupperl! Gewiss, das war vor dem Krieg ein  Feinschmeckerwort, das einem den Magen umdrehen mochte. Jetzt ist es ein Titel, der Rechtens der Begleiterin des »Herrn Doktors« zukommt. Ich hörte einen Friseur nach getanem  Werk die Glätte einer Wange rühmen und als höchsten Ausdruck des Gelingens die Worte sprechen: »Da wird das Pupperl eine Freud’ haben!« Die Erde tat sich nicht auf, um Mann und  Klinge, Doktor und Pupperl zu verschlingen. Es gibt bekanntlich eine eigene Pupperlzeitung in Wien, die in ihrer Blütezeit die Pupperlinteressen sogar durch Bedrohung der Pupperlinhaber zu vertreten wusste, wobei freilich der Löwenanteil des Erfolges ihr selbst zufiel. Aber noch heute ist sie mit der Sphäre so vertraut, dass sie den Bericht über ein  Praterabenteuer folgendermaßen einleiten kann:

Der bulgarische Arzt Dr. ….

den sie natürlich mit vollem Namen nennt

ging an einem Sommerabend mit einem Pupperl in den
Praterauen spazieren ….

Nicht etwa in geringschätzigen Anführungszeichen, sondern als Berufsbezeichnung. Diese Selbstverständlichkeit ist nur bei uns möglich, und im Ausland hätte man die größten  Schwierigkeiten,  dergleichen zu verstehen. Aber ein Pupperl, das spazieren geht, ist auch hier etwas Seltenes. Zumeist wird es an ein Motorrad angehängt. Das Motorrad tönt und riecht wie die Zeit, aber der Unhold, in den sein Herr verkleidet ist, der sieht so aus wie die Zeit. Und nun bedenke man, dass der Nebensitz offiziell — in fachlichen Beschreibungen —  »Pupperlsitz« genannt wird und in jenem Volksmund, der nach dem Humor des ‚Götz‘ gewachsen ist, »Pupperlhutschen«. Man stelle sich das Seelenleben der Frau vor, die, sich munter  nach dem Spalier der Betrachter umguckend, darauf Platz nimmt, in dem Bewusstsein, dass sie von allen als das zugehörige Pupperl agnosziert wird, welches demgemäß auf der  Pupperlhutschen mittut. Die Bundesbrüder, mehr dem homosexuellen Ernst des Lebens zugeneigt, sprechen schlicht von einem »Soziussitz«. Den Begriff des Pupperls kennen sie nicht  — Puppchen, das ist nicht das Richtige, und Puppal zu sagen macht ihnen denn doch Schwierigkeit. Aber was dafür das »Prominente« betrifft, da kennen sie sich aus, da wissen sie  Bescheid. Das dürfte überhaupt von ihnen zu uns gekommen sein. Wie ist nun die Affenschande dieser Benennung zu erklären? Natürlich hat es das immer schon gegeben, es ist ein gutes  Fremdwort, das, solange es Seltenheitswert hatte und nur der Person verliehen wurde, der es zukam, durchaus nicht widerwärtig klang. Aber es wurde eigentlich nie gebraucht,  denn man begnügte sich,  jemand verdientermaßen »hervorragend« zu nennen. Nach der Befreiung der Sklaven war wie auf einen Zauberschlag das Wort »prominent« da, nunmehr  allem verliehen, was vordem keineswegs hervorgeragt hätte. Das ist sicherlich so zu erklären, dass in der Seele des Deutschen ein tiefes und nun obdachloses Kaiserbedürfnis wohnt, das  nun Superioritäten herstellen musste. Unter dem Szepter scharten sie sich zu Vereinen, in der Freiheit legen sie auf Unterscheidung Wert. Der einzige Prominente, der nebst der  natürlichen Überlegenheit des militärischen Würdenträgers auch ehedem schon in Erscheinung trat, war der »Ober«, auch der »Herr Ober« genannt. »Die Prominenten« — das  grausliche Substantiv bezeichnet keine Eigenschaft mehr, sondern eine Kategorie, eine Steuergruppe —: sie haben dem Deutschen nach den Wirren des Umsturzes den Glauben an  Ideale gerettet. Die Prominenten, das sind die Obertanen. Eine allgemeine Verkaiserung setzte ein, es wurde auf Teilung gespielt und natürlich begann es bei den Schauspielern.

Da sie nun zwar wie kein anderer organisierter Stand das Bedürfnis nach sozialer Absonderung von ihresgleichen fühlen, aber doch gerade sie es nicht wagen können, sich selbst  » hervorragend« zu nennen, so nannten sie sich eben »prominent« oder vielmehr: »die Prominenten«. Die Einführung dieses Begriffes in das Metier führte dahin, dass Theaterparias  heute für drei Mark täglich mit Zulage von Insulten roboten müssen, damit »die Prominenten« zwischen 300 und 3000 Mark verdienen können, und zwar zumeist solche, die Zufall,  Konjunktur oder Willkür der journalistischen Selbstherrscher (der Prominenten der Kritik) aus der Fülle der Untalente emporgehoben hat. So sicher nun Demokratien, in denen solche Dinge möglich sind, wenn sie nur nicht Kriege führen, den Vorzug vor Monarchien verdienen, so gewiss kann man sich des Wunsches nicht erwehren, dass sie gleichfalls der Teufel hole. Und was das Gehaben der Prominenten betrifft, die sich nunmehr schon in jedem Beruf entwickelt haben, einfach durch Selbsternennung da sind und durch Frechheit sich erhalten, so lässt sich nur Nestroy zitieren, der prophezeit hat, dass die Gleichheit »noch bittrer den Abstand zwischen arm und reich« machen werde:

Mit zehn Fürsten und Grafen red’t man leichter ganz g’wiss,
Als mit ei’m Flecksieder, der Millionär worden is.

Denn

Es sitzt keiner in ein’ Wirtshaus, der nicht in sein’ Hirn
Sich denkt, wie das schön wär’, wenn er tät regier’n.

»Schaut man d’ Gleichheit so an, sagt man« (mit Nestroy): »‚nein‘, da hört s’ auf, ein Vergnügen zu sein.« Und doch gab es nach 1848 bei weitem nicht so viel Prominente wie nach  1918.  Das Ekelwort wuchert hauptsächlich in den Spalten der Presse, die wenn’s finster wird erscheint, und dementsprechend im Maule der Neureichen. Es wird wirklich im Umgang  verwendet. Komödianten, Filmfritzen, Kabarettfatzken, Boxer, Fußballer,  Parlamentarier, Eintänzer, Damenfriseure, Literarhistoriker, Persönlichkeiten schlechtweg — alle können  prominent sein. Aber neulich hat man etwas ganz besonders Herziges gelesen. Nach dem Prozess, in dem die größte Bubentat des Pupperlblattes als »vernachlässigte Obsorge« gesühnt  wurde — und alle Erinnerung wieder da war an die Zeit, wo sie Vater Vater, leih’ mir ’n Revolver gespielt haben und hinterdrein keiner etwas getan,  gewusst, geahnt haben wollte —,  konnte man die Verwahrung lesen:

Die Annahme des Chefredakteurs Austerlitz, es habe sich um ein förmliches Komplott gehandelt, in das sämtliche prominenten Redakteure der ‚Stunde‘ verwickelt gewesen seien,  muss aber als eine den Tatsachen widersprechende Mutmaßung zurückgewiesen werden.

Das dürfte wohl die äußerste Möglichkeit von Prominenz bedeuten! Aber in Berlin gibt es dafür schon prominente Gegenstände, Waren, Artikel, Realitäten.  Im ‚Tageblatt‘,wo es freilich alles gibt, war ein Häuseranbot inseriert unter dem Titel:

P r o m i n e n t e   H ä u s e r

Derlei ist heute in Berlin so selbstverständlich wie bei uns das Pupperl. Vorläufig wird dieses noch auf der Hutschen mitgenommen und entschwindet dem Blick. Oder geht anonym  neben einem bulgarischen Arzt einher. Aber es kann nicht mehr lange dauern, schon macht sich eine Bewegung unter den Pupperln geltend, und bald wird man aus ihren Reihen die prominenten Pupperln hervortreten sehen.



Warum die Fackel nicht erscheint. Anfang Januar bis 12. Februar 1934. Von Karl Kraus

12. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Die dritte Walpurisnacht ist angebrochen. Der Verleger der Fackel spricht über ein Schweigen von fast einem Jahr, dessen Echo nicht verhallen will und das in der schärfsten Anklage gipfelt:“ Zu Hitler fällt mir nichts ein.“

DIE FACKEL


Nr. 890—905 ENDE JULI 1934 XXXVI. JAHR


Warum die Fackel nicht erscheint

Anfang Januar bis 12. Februar 1934

Sehr geehrter Herr!

Als Verlag der Fackel bitten wir Sie, die folgende Erklärung entgegenzunehmen, von der wir fürchten, dass Sie sie noch weniger verstehen werden als das, was erklärt werden soll. Aber dann könnte man halt nichts machen, und es kommt doch nur darauf an, dass man alles versucht hat. Wir haben Ihnen also im Namen eines Schriftstellers, der der deutschen Literatur als Außenseiter angehörte, durch polemische Schriften Anteil an den Vorgängen der Umwelt zu nehmen schien und sich nun von deren Dummheit angegriffen, ja bis zur Erkenntnis seines Unvermögens überwältigt fühlt, das Folgende zu sagen:

Da der Herausgeber der Fackel und alleinige Verfasser ihres Textes — wie ihrer Umschlagsnotizen —  nun einmal, für das Sie hauptsächlich interessierende Thema, den Vorsatz ausgesprochen hat, stumm zu bleiben und auch nicht »warum« zu sagen; da aus diesem Grunde noch mehr gefragt wird und mithin vielleicht doch ein Hindernis im Weg stände, wenn er tun wollte, was ihm beliebt, nämlich zu den kleinen Themen im Gebiete des Geisteslebens übergehen; da es ihm schwer fällt, die unterbrochene Verbindung mit den Interessen der Sprache, der Kunst, der Menschheit höhern Ranges ohne ein vermittelndes Wort aufzunehmen, so schwer, wie ein solches zu sprechen, womit er eben keinem innern Gebot gehorchte gleich jenem, das die Vermeidung des eigentlichen Themas auf die Dauer seiner Aktualität erzwungen hat; da — aber der Satz würde so lang wie diese, während der Anfang einer begehrteren und gleich in medias res gehenden Abhandlung kurz gelautet hätte: »Mir fällt zu Hitler nichts ein.«

Wohl wäre die Erläuterung, die gerade dieser Notstand erfordert, umfänglich gewesen und von vielerlei Einfällen begleitet, die inzwischen als Kleingeld unter die Leute gekommen sind — geschöpft aus dem Bereich jenes lähmenden Zaubers, der zum ersten Mal der politischen Phrase die Tat, dem Schlagwort den Schlag entbunden hat und dem die Stirn zu bieten nicht mehr im Schutz der Metapher gewährt ist. Um diese wahrhaft geistesgeschichtliche Neuerung, um das Ereignis, dass die Faust aufs Auge passt, hätte sich alle Betrachtung gruppiert. Doch wie könnte solcher Erlebnisinhalt einer Generation, die durch den Bericht um das Erlebnis gebracht ist, nahe gehen? Und er hätte ihr doch so nahe zu gehen, dass sie ihn überhaupt nicht mehr als Lesestoff begehrte! Verstände sie, dass Erschütterung vor dem Unsäglichen den Verzicht erzwingen kann, es zu sagen? Dort ist eine Welt durch die Redensart, die man beim Wort nahm, zur Tat aufgebrochen; hier ist eine zurückgeblieben, die, kaum von Fall zu Fall erlebend, immer noch den Rückweg für gangbar hält, die von ihr verluderte Freiheit mit Worten beschwörend, als lebte sie nicht in der Wirklichkeit, die sie beschreibt, immer noch wähnend, die Tat lasse mit sich reden. Was sich die Zivilisation,  unwert ihrer  Erfolge, da eingebrockt hat, nimmt sie, wo die Kraft ihrer Lenden protestieren gegangen ist, als »Reaktion« zur Kenntnis, als politischen Rückschlag, den sie »Faschismus« nennt, pochend auf  Urväterhausrat einer politischen Opposition, die ein schönes Auskommen mit jener Tyrannei garantierte, deren Verkehrsformen von einem unwiederbringlichen kulturellen Inhalt bezogen waren. Glückliche Anlage einer Demokratie, die noch immer glaubt, sie sei dem Schutze des Publikums empfohlen, wenn nicht gar unter Denkmalschutz gestellt, welchem die deutsche Sozialdemokratie ihr Parteiarchiv vertraute, als Hannibal schon intra portas war. Und vollends die unsrige, die unverwüstliche komische Alte, die sich den Luxus leisten kann, gegen zwei Faschismen zugleich zu »kämpfen«, prinzipiell entschlossen, die Lebensrettung durch den sogenannten »Beelzebub« abzulehnen; dieser Glückspilz unter den Parteien, der nach jeglichem Unwetter phraseologisch gedeiht, von der Natur mit dem Talent ausgestattet, den Zusammenbruch als Unterpfand des Aufstiegs zu betrachten und noch am Grabe den »Wellenberg« aufzupflanzen, wenn man längst im Neandertal angelangt ist. Nein, sie machen keine Phrase, wenn sie sage: »Wir bleiben die Alten!«

Welche Entmutigung von diesen ungebrochenen Kampfscharen ausgeht zu einem, dem jetzt die Autorschaft der »Letzten Tage der Menschheit« nachgewiesen wird, und selbst dann ausginge, wenn er in der deutschen Katastrophe nicht die Wirklichkeit und Wirksamkeit erkennte, welche diejenigen nicht Wort haben wollen, die nur Worte haben — nicht einmal das lässt sich zur Sprache bringen. Doch was schiert es draufgängerische Leser, die, solange sie unbetroffen bleiben, mit dem angebornen oder erworbenen Mangel an Vorstellung für alles polemische Bedürfnis auskommen, indem sie, was geschehen ist, zwar wissen, aber nicht sehen, und was sie nicht erleben, wenigstens lesen möchten.

Denn selbst an die Grippe glaubt einer erst, wenn er sie hat — wenigstens seit der Erfindung des Mittels, das ihre Kenntnis verbreitet. Unerschrocken, weil vom papiernen Schrecken nicht berührt, vermissen sie an einer Prolongierung der letzten Tage der Menschheit, die sie ungefähr ahnen, den literarischen Nachtrag, welchen sie, immer auf die Fortsetzung gespannt, bis zum Hindernis des Giftgaskriegs in der Buchhandlung urgieren. »Wann erscheint endlich —?« »Warum erscheint nicht —?« »Warum schweigt er, wo doch gerade jetzt —?« »Er, der doch bekanntlich im Weltkrieg —«. Die einen geben die Hoffnung nicht auf; die andern stutzen und fangen an, ein »Mutproblem« zu erörtern; die sich lange genug der danklosen Mühsal des Verehrertums (mitunter glühend) unterworfen haben, benützen die Chance der Frechheit: Wanzen, die richtig vermuten, dass wegen größerer Gefahr nicht Licht gemacht  wird.

Derlei Anfechtungen — denn es sind Kampfnaturen und stechen, wenn sie vom Vorkämpfer im Stich gelassen sind —; derlei bis zur Sicherheit wachsender ethischer Zweifel aus  Regionen, mit denen es noch die Verbindung des Fußtritts gibt; derlei schamloser Versuch, unter Drohung mit Ausschluss aus einer »Gemeinschaft der Kämpfenden« (als ob man je zu  so was gehört hätte) eine Gehirnleistung zu erpressen, von der sie doch nichts als Stoff und Meinung kapieren würden — all das vermag nun eine Haltung und Enthaltung, eine  Untätigkeit (die nach Art, Maß, Grund und Ziel ihnen entrückt ist, wie nur das Werk selbst es wäre) wohl zu belästigen, keineswegs zu beeinflussen; zu stören, nicht zu hemmen. Ein geistiges Opfer muss nicht besser verstanden werden als eine geistige Tat, welche — wir verraten ein Redaktionsgeheimnis — gar keine wäre; und zu den tragischen Verlusten der Zeit,  von denen die »Kämpfer« die allergeringste Ahnung und die Mitschuldigen kein Gran Bewusstsein haben, wäre es hinzunehmen, wenn sich vollends erwiese, was schon in der  Friedenswelt den casus belli der Fackel gebildet hat: dass Leser den Ansprüchen, die sie ans Denken stellen, nicht gewachsen sind. Gleichwohl wurde ihr Wert und Beitrag niemals  unterschätzt: wenn die vielen, die nicht auf die Kosten der Lektüre kamen, ihr treu blieben, so erkannten sie wohl die mäzenatische Pflicht, sie den wenigen zu sichern, um deren  reinlicher Auswahl willen diese Klarstellung (welche ja gerade einem Verlag zusteht) erfolgen soll. Der Erhaltung einer publizistischen Möglichkeit für den Inhalt, auf den es ankommt,  wird keine Konzession gemacht werden. Fünfunddreißig Lebensjahre eines Werkes und sechzig seines Autors gestatten vielleicht, die Unerbittlichkeit seiner geistigen Entscheidung bis  zu dem Punkt der publizistischen Existenz zu führen, und Mäzenen, die Ansprüche stellen, könnte die Gelegenheit entzogen werden. Denn nun ist der Fall eingetreten, wo sie vermeinen, dass ihre Erwartung Inspiration, wenn nicht gar Auftrag sei, und ihre Enttäuschung hätte sich gewiss schon als Verzicht aufs Lesen geäußert, wenn sie nicht eben darin läge, dass die  Zwanglosigkeit des Erscheinens der Fackel ihren höchsten Grad erreicht hat. Dieser suchen sie jedoch mit einem Zwang entgegenzuwirken, dem eine Zensur, die nur auf die Unterdrückung des Veröffentlichten abzielt, kein Pendant zu bieten hat. Ihr Meinungsdruck wirkt herrischer, weil der Inquisition der Freiheit kein analoges Mittel zu Gebote steht,  indem es doch nicht einmal möglich ist, den Bezug einer Zeitschrift aufzugeben, die bloß dadurch Unzufriedenheit erregt, dass sie nicht erscheint. Es liegt aber der im Druckwesen gewiss  seltene Fall vor, dass Nachfrage ungünstig einwirkt, Ermunterung einschüchtert und es fast den Anschein hat, dass sich da mit Gewalt überhaupt nichts richten lassen wird. Pflichtartikel  einrückend zu machen — dieser Machtmöglichkeit hat sich die Freiheit begeben. So bleibt nichts übrig als das Schreiben von Mahnbriefen und im verschärften Fall deren Drucklegung, der publizistische Ausdruck der Beschwerde, der Enttäuschung, der Empörung darüber, dass im Gehirn eines Autors die Gedanken nicht reifen oder aus ihm nicht in Erscheinung treten wollen, die er pflichtgemäß haben müsste und an deren Identität mit den Gedanken der Erwartenden gar nicht zu zweifeln ist. Dass ihm zu Hitler nichts einfällt und gar aus dem Grunde,  weil ihnen schon alles eingefallen ist, das fällt ihnen nicht ein, und nicht einmal den Komplizierteren unter ihnen: dass gut Ding Weile braucht und durch Zuspruch aufgehalten wird; dass einer so grandiosen Konzeption zur Erneuerung der Menschheit, die sich selbst auf Jahrtausende bemessen hat, doch zumindest ein satirischer Fünfjahrplan angepasst wäre. Was sich  Leser und Schreiber unter schriftstellerischer Tätigkeit im Allgemeinen und der seinen im Besondern vorstellen, ist dem Autor der Fackel unbekannt. Bis zu seinem Schreibtisch sind sie noch nicht vorgedrungen, und das ist gut, weil sie sich dann vollends nicht auskennen würden. Er ist ja nicht faul gewesen, und es mag da vielleicht mehr versucht worden sein, als je an  solchem Platze vollbracht wurde. Aber wie enttäuscht wären sie doch von dem Bild eines Vorkämpfers, der sich in Protagonie gegen die Zeit befindet, und nur noch imstande, sich selbst den bessern Nachruf zu schreiben als die Dummköpfe, die es unternommen haben. Will man ihn trotzdem nicht in Ruhe lassen? »Welch ein Tosen! Welch ein Wühlen! .. Wildbewegte Wünsche stürzen aus den überdrängten Herzen, wälzen sich zu mir empor.« Freilich zumeist vom Papier her, zuweilen aus einem rührenden Kinderglauben an das »Wort«, der beschämt würde von der simpelsten Vergegenwärtigung des Sachverhalts wie des Verhältnisses der Kräfte, wenn die Phantasie zu ihr noch fähig wäre. Hie Waffe, hie Wort: mit  diesem schlichtsatirischen Hihi könnten wir uns eigentlich nach Hause schicken lassen; um, wenn wir fromm sind, zu beten, dass der Herr uns von dem Übel erlöse, und andernfalls, da  wir in der Mehrheit wohl Freidenker sind, auf den Ablauf der Natur zu warten.

Doch stattdessen auf Polemik dringen, dazukönnte einer Gedankenarmut entsprechen, die unter Umständen an eine Rohheit streift, die der innersten Beziehung zum Übel nicht entbehrt. Es gibt einen Punkt der Betrachtung, von dem aus nichts mehr links oder rechts, sondern alles nur dumm erscheint. Der Hohlkopf, der sich überhaupt nichts vorstellt, stellt sich doch  eine »Wirkung« vor, die etwas »umwirft«, etwas, dem er zufällig, meinungsmäßig, an der Oberfläche gefühlsmäßig widerstrebt, und womit er im tiefsten Grunde geistesverwandt ist. Als wäre es nicht ein Übel, von dem es leichter ist, umgeworfen zu werden! »Wollt ihr Macht? Der Mächt’ge hat sie.« Dem diente das »Wort« als der mitteilende Helfer der Tat und Untat.  Doch zu sich gebracht, in den Bereich seiner Natur zurückgeholt, dem Element wiedergegeben, aus dem sich das Sprachbild von Tat und Untat gestaltet — versagt es die zeitige  Gegenwirkung, die sein Teil nicht ist und nie gewesen; bewahrt sich, wenn noch so unmittelbar aus dem Tag erworben, als moralisches Erbe, verkümmert jedoch, bei aufgesparter Fülle,  am ungemäßen Anspruch. Dies war immer das Problem der vom Aktuellen bezogenen Satire, welche erst in der Entfernung vom Anlass wirksam, ja verständlich wird. Wie erst, wenn der Stoff als solcher ihre geistige Möglichkeit negiert, wenn der Gegenstand der Satire spottet und in der zeitlichen Konkurrenz, nach Wesen und Maß, über jeden Versuch triumphiert,  seiner habhaft zu werden! Über allem Erlebnis der Gewalt, der Lüge, des Irrsinns steht da, einzig gestaltbar, das Erlebnis des Inkommensurablen, der Unmöglichkeit diese Phänomene  zu gestalten — mindestens in der Gleichzeitigkeit des Wirkens —; das Gefühl des Hinschwindens aller Gestalt als publizistischer Erscheinung, vermöge des ungemäßen Anspruchs auf  Wirkung, des unerfüllbaren auf Bewältigung. »Sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!« Trost einer Phraseologie, die andere der Gewalt ausgeliefert hat; Zitat aus einem schlechten  Kampfgedicht, das unsereinem umso weniger sagt, als es dem Hingang einer Zeitung gewidmet war. Nicht weit entfernt von jenem unersetzlichen zerbrochenen Krug, mit dessen Eigenart ja alle Logik dieser Parteiwelten auskommt. Denn erstens töten sie den Geist vorbildlich, wenn er in Verkennung der Umstände sich unmittelbar manifestieren wollte; zweitens töten grade die Brüder den Geist, die ihn für sich reklamieren; drittens ist das, was sie so nennen, kein Geist, sondern bestenfalls Wahn, gemeinhin Betrug; und »letzten Endes« — zu welchem Begriff und Terminus sich die Gegner eben dann vereinigen — überlebt er beide, wenn er sich mit dem Geist, den sie begreifen, und mit der Freiheit, die sie meinen, in ihrer  Gegenwart überhaupt nicht abgibt, sondern sich auf sich selbst zurückzieht. Ein letztes polemisches Objekt gewährt ihm die Zeit, die am Ende ist: das Geistgesindel, das dieses Problem  nicht versteht, nicht wenigstens fühlt, sein Erleiden nicht ahnt, seiner Möglichkeit misstraut, und doch von den Brosamen fett wird eines Mahls, bei dem ein Schwelger fastet.

Aber bedarf es denn (wieder einmal und wohl  zum letzten Mal): vor dem beispiellosen Aufbruch der Problematik des Wortes; vor der Erledigung der Sprache im Namen der Nation, wogegen es doch keinen andern und wirksamern Protest als ihre Aufrichtung gäbe; vor der Vernichtung der Metapher, der das eigentliche Anschauen der Zeitdinge bestimmt wäre —  bedarf es der Klarstellung, dass das Wort in seiner Beziehungsfülle sich dichterisch allem verbindet, nur nicht dem, was die Meinenden gemeint haben? Hausväter-Unrat der Missdeutung: die Worte wären das Register der Sachen! Wenn sich nun die Sprache geflissentlich jenem Anspruch falscher Funktion entzieht, von dem die Gestaltung aus Farben und Klängen  verschont bleibt (wofern sie nicht als Plakat, als Gassenhauer zu wirken hat); wenn sie sich an den außerzeitlichen oder zweckfernen Inhalt vergibt — sich etwa im Sprachspiel Shakespearescher Sonette vergeudend —: so scheinen »ihre Gaben, ihre Töne mädchenhaft« gleich Elporens Anbot, und die Zweckhungrigen, die sich nicht abspeisen lassen, werden  ungebärdig, die Zeitstoffel werden rebellisch, die sich vorstellen, dass ein Satz aus nichts als ihrem Antrieb entsteht: das auszudrücken, was in ihnen vorgeht! Sind sie, denen dann der  Vorwurf des »Ästhetentums« einfällt, nicht die eigentlichen Ästheten, welchen in ihrer Politisiertheit nichts näher liegt als der Wunsch, dass man das Unwirksame, zur Unwirksamkeit  Verdammte, schöner als sie zum Ausdruck bringe? Es tritt der Moment ein, wo man nicht nur im akustischen Umkreis die beifällige Herabsetzung des satirischen Sprachwerks auf Ansicht und Anlass nicht mehr erträgt — älteste aller Beschwerden! —, nein, wo einem in jeglicher Verbindung die »eigenen Schriften« so unliebsam werden wie die Objekte, die  sie zufällig betrafen und die ihnen jeweils den Beifall errungen haben; und wie die Subjekte, die, den Sprachwert verschmähend, nur auf dem eigenen Niveau einem begegnen wollen. Weil es hier nichts Mechanisches und nichts Zufälliges gibt, so deckt sich die Unwegsamkeit des Stoffes ganz und gar mit der Verhinderung durch den Leser. Sein Verlangen beweist nicht, wie  sehr, sondern wie wenig er den Stoff erlebt hat. Er ist mit nichts als mit der Nervenspannung beteiligt, die den Kriminalaffären —  hier einer von weltgeschichtlichem Format — den publizistischen Erfolg sichert; und wie er sonst nichts spürt, so spürt er vor allem nicht, wie wenig solchem Interesse der Anteil des Autors gemäß ist. In nichts leidet der Leser mit ihm: weit entfernt von der Vorstellung, dass einer, den er sich als publizistischen Sammler gegebener Eindrücke wünscht, dem bestürzenden Erlebnis erliege, welches vielleicht als Antrieb  wirken könnte, sein Unmögliches zu gestalten, sicher aber als Hindernis aktueller Gegenwirkung.

Diese Lage, worin schließlich nach einem Bemühen, dessen Riesenmaß kein Tölpel ermisst, eine geistig-sittliche Rechenschaft entscheidet; worin Verantwortung den schmerzlichsten Verzicht auf den literarischen Effekt geringer achtet als das tragische Opfer des ärmsten, anonym verschollenen Menschenlebens — diese Lage, im allgemeinsten Erlebnis besonders durchlebt, sie könnte wahrlich weder durch die Enttäuschung einer törichten Anhängerschaft — auf die aus Offenbach gepfiffen sei! — noch durch die Schadenfreude der Lumperei alteriert werden. Hat diese oder jene Sorte denn eine Ahnung, wie sehr die anonyme Version, Herr Kraus habe »auch sonst Rücksicht zu nehmen«, den Nagel auf den Kopf trifft? Können sie vorstellungsmäßig ermessen, dass wenn der Satan, an dessen Greuelfähigkeit sie doch nicht zweifeln, eben deren Konsequenz betätigt, für polemische Taten, deren Nutzen nicht beweisbar wäre, um des Verdachtes der bloßen Anhängerschaft willen Menschenopfer fallen? Wissen sie, dass man ein Lump sein kann, wenn man durch seine verbotene Meinung, die man über die Grenze schmuggelt und die doch in Wort und Wirkung ein Mist bleibt, Proletarierleben in Gefahr bringt, und dass einer mehr Ehre aufhebt, wenn er einer zufällig nicht verbotenen Produktion den Markt freiwillig sperrt, damit Ahnungslose nicht noch die Opfer ihrer Bitte werden, sie »in geschlossenem Kuvert« zu erhalten? Weiß ein Lump, dass man auch einer sein kann, wenn man die Wahrheit sagt, sofern es sich um die Aussage über eine Pein handelt, die durch die Aussage vermehrt wird; und dass Samariter, sehend und wissend, sich vor dem Unabwendbaren entschlossen haben, zum Werkzeug des erpresserischen Willens zu werden, lieber zu schweigen und die Bitte um Schweigen zu verbreiten, als zu sagen, was ihnen das Herz beklemmt, und in ihren Traum die Vision einer Fortsetzung von Martern, vielleicht eines Verendens zu übernehmen? Sprechen ist Fortsetzung der Gewalt, Schweigen die der Erpressung: diese Notwahl ist ihre Gunst. Wer aber wagt, ohne Deckung durch die Gegenwaffe, die feldherrliche Entscheidung, dass zu größerem Nutzen Schaden zu bewirken sei — außer dem kämpferischen Pfuscher, der von seinem Meister alles, nur nicht das Gewissen stahl und der noch lügt, wenn er die Wahrheit sagt? Ahnt er, dass schon die Unmöglichkeit, solche Gedankengänge fortzusetzen — um den Zufall, der über Freiheit und Leben entscheidet, nicht in Plan zu wandeln —, eben den Inbegriff des Grauens, Problem und Inhalt des Ereignisses bildet? Nun haben sie, in die Umgebung ihrer Prominentenfreuden, glücklich die Sensation der Meldung eingebracht: »Das Schicksal« des besten Vertreters ihrer verlumpten Idee »besiegelt!«, nachdem sie durch Wochen ausposaunt hatten, Moskau (sonst nicht allzu rührig) rüste zu seinem festlichen Empfang und er werde vier Vorträge über Leipzig halten! (Vor einer Gefahr, gegen die Lindberghs es mit Lösegeld versucht hatten.) Zwischen Femina und Gyimes-Revue, wo sich alles Kulturgeschehen und alles Grauen der Menschheit einbettet, rufen sie das »Weltgewissen« auf — sanftestes Ruhekissen, das sich Herr Göring wünschen mag — und buchen die Opfer einer Dummheit, die den Triumph der Erbarmungslosigkeit herausfordert. Was spürt das Geistgesindel, das noch immer nicht weiß, was geschehen ist und wie viel und wie blutig es geschlagen hat, von dem Sinn eines  Verhängnisses, dessen Stoff es zur Not registriert und von dem doch kein Ausweg ans Licht führt, keine Hoffnung als die auf die Erschöpfung der Quäler, keine Aussicht als die, die der  große Mörder bei Shakespeare mit dem Wunsch bezeichnet, dass »der ganze Schatz der zeugenden Natur zusammentaumle, bis selbst Vernichtung matt wird«. Gewiss, auch wenn das Problem in den simplen Gehirnwindungen derer Platz hätte, die sich vom Erscheinen der Fackel den wirksamen Eingriff versprechen — auch dann wäre es klar, dass der »Aktivist«, der  en geformten Ausdruck seiner Erregung begehrt, eben der nichtsnutzige Ästhet ist, als den er den Zeitflüchtling zu demaskieren glaubt. »Wer zu denken versteht, wird das absolute Schweigen, mit dem er dieses Jahr schließt, voll erfassen; denn es ist eine gewaltige Anklage.« Beim Papst verstehen es die einen. »Von diesem Tage an ist er verstummt.« Bei Theodor Wolff würdigen es die andern. »Das Da-Sein des großen Schweigenden« — George — »bedeutete uns eine der stärkenden Gegebenheiten dieser in der Grundfeste schwankenden Epoche«, und »sein zu solcher Stunde so beredtes Schweigen sprach eindringlicher als tausend schwirrende Worte«. Vor allem solche Schwirrer konnten nicht fassen, dass eher vom Dichter des  siebenten Rings Stellung zum Dritten Reich zu erwarten und zu erlangen war — denn er hat sich ja schließlich doch zur »Ahnherrherrschaft« bekannt —, als von dem »Zeitkämpfer«, mit dessen Produktion die Namen Schober und Bekessy registerhaft verbunden sind. Doch sie sollen darum nicht glauben, dass er ein Werk so hoch schätzt wie sie, das so plumpen Missverstand ermöglicht hat!

Ganz und gar als Vertreter dieses Typus sprechen wir Sie, sehr geehrter Herr, an; des Typus, der seine Beschwerde in törichter Anfrage wie im publizistischen Angriff zum Ausdruck  gebracht hat; des Typus, von dem den Herausgeber der Fackel, welcher den Mut hat, vor pseudonymen Fechtern als Feigling dazustehn, geistig dasselbe Blutmeer trennt wie moralisch  von dessen Erzeugern. Eben von diesem Typus wünschen wir jenen, leider geringern, Teil der Leserschaft abgesondert, der auf die zehn Zeilen »Man frage nicht« mit Fühlen statt mit  Grinsen geantwortet hat. Wir haben — und koste es auch etliche tausend Anhängsel — durchaus den Wunsch, die Grinser dort liegen zu lassen, wo sie liegen: links; — ohne dass uns ein  anderer Gedanke als der der erkannten österreichischen Notwendigkeit mit rechts verbände. Wobei wir aber ganz und gar nicht die Gefahr scheuen, in politischen Verruf bei der  prinzipiellen Hirnverbranntheit zu kommen, die zur Zeit damit beschäftigt ist, das Einmaleins zu sabotieren, auf das unser aller Leben durch ihre Schuld herabgesetzt wurde, und einer politischen Sachlichkeit, der sie hoffentlich ihre Lebensrettung verdanken wird, phraseologisch entgegenzuwirken. Denn wir machen natürlich kein Hehl daraus, dass wir die  parlamentarische Inbrunst der Sozialdemokratie, nebst »Trutz« (mit dem man auf die Ringstraße geht), für keine respektwürdige Empfindung, sondern für groben Unfug halten; dass wir die tägliche Herabsetzung übermenschlicher Mühsal um leibliche Freiheit durch die Maulfreiheit »unerwünscht« finden, wie nur jenen deutschen Besuch, dem sie zu Hilfe kam, und dass  wir seit dem Gruß von Aspern, den die Sozialdiplomatie gerügt hat, im Gehirn des einen kleinen Retters aus großer Gefahr mehr Grütze vermuten, als vierzig Jahre österreichischer  Regierung und insbesondere österreichischer Opposition aufzuweisen hatten.
Viele Denkprobleme sind einem ja seit einer Wendung, die 1918 nicht abzusehen war, nicht geblieben, und der Kampf um die Bewahrung eines Landes vor der Pest verdient darunter  gewiss den Vorrang vor der Debatte, ob drei Pfeile, die nicht mehr treffen, nach oben, nach unten, nach vorn oder nach hinten zu tragen sind. (Das ist beileibe kein Spaß, sondern die  Erwägung fiel in eine Zeit, wo das Emblem dem armen deutschen Genossen, einstigen Oberpräsidenten von Schlesien, auf den Hosenboden genäht war und er, bei schwerer Lagerarbeit  ich bückend, es belustigten Schindern sichtbar machte.) Was wir selbst jedoch innerhalb der Lebensmöglichkeit, die durch eine Reduktion auf das Problem der Rettung und Fristung  hoffentlich gewährt bleibt, noch zu besorgen haben, das ist die Reinigung unserer spezifischen Sphäre von dem geistigen Mist, der trotz jahrelanger Abwehr immer wieder und nun  geradezu peremptorisch aus jener Gegend uns angeht, wo die, dass Gott erbarm, intellektuellen Urheber des Debakels sich mausig machen. Der Zudrang erregter und mitteilsamer  Dummköpfe, grundsätzlich und einzelweis verscheucht, er datiert von den »Letzten Tagen der Menschheit«, deren stoffliche Beurteilung als das gleiche Übel an den Verehrern wie an  den Verdammern erscheint und von denen jene eine Vertraulichkeit hergeleitet haben, die einem noch anklebt, wo das Werk von ihnen längst geplündert und infolgedessen auch als »überholt« bezeichnet ist. An der Quantität des Zeitstoffes, aber ohne Ahnung der geistigen Verschiedenheit, ist dieser Zudrang, den wir durch die Schäbigkeiten der »Linkspresse« abgeleitet glaubten, leider gewachsen, mit allem Gemisch aus Hass und Verehrung, das der Literatensorte eignet und seit der Erfindung der Psychoanalyse seine Norm gefunden hat. Dass  keine Fackel erscheint« — deren Verfasser doch auch etwas von der Problematik erleben dürfte, die solche Leser damit verknüpfen — scheint bereits, wenn nicht in Ordinationen,  o doch in Redaktionen, die Rolle eines »Trauma« zu spielen. Und dabei kann der Herausgeber nicht einmal behaupten, dass seine Enttäuschung an den Lesern größer sei als umgekehrt. Wäre er aber nur halb so »eitel«, wie sie vermuten, die Popularität, die er der nicht erscheinenden Fackel verdankt, könnte ihn in einen Rausch versetzen wie einst die Wirkung nach dem gestohlenen Biberpelz. Nur zur Leistung, welche sich doch auf solcher Basis besonders empfehlen würde, wäre er nicht zu bringen; und mag ihm inzwischen auch alles geistige Gut  gestohlen sein. Sie glauben, was einem scheinbar am Ruf zur Leidenschaft fehlt, durchs Stichwort ersetzen zu können. Gewissensmahnung nimmt exekutive Formen an, entartet zur  Leibespfändung an gedanklicher Habe; wie bei Nestroy packen sie einen, der zum Glück selten ausgeht, »völlig auf der Gassen um Kapitalien an«, und es ist mit Passanten schon passiert,  dass die Hoffnung, es werde bei der Bitte um Feuer sein Bewenden haben, durch die Frage nach der Fackel getäuscht wurde. So gebietet denn Notwehr den in Terrorzeiten möglichen  Aufschluss: dass eher das, was der Überzeugung entgegen ist, zu erzwingen wäre, als was ihr entspricht; und dass ein Autor, der, seitdem er wirkt und nicht wirkt, Art und Ablauf seiner Produktion selbst bestimmt, sich lieber von Diktatoren etwas verbieten als von Verehrern etwas diktieren ließe. Mit dieser rückhaltlosen Erklärung glaubt er sich hinreichend weit von Freiheitskämpfern, deren Gesinnung er natürlich irgendwo irgendwie aus innerstem Drang widerstrebend teilt, entfernt zu haben, so weit, dass sie ihn füglich in Ruhe lassen könnten,  welche noch immer eine weit größere Unruhe bedeutet, als auf sämtlichen Papierbarrikaden Platz hat. Er weiß, dass der einzige freie Geist der neudeutschen Welt, Frank Wedekind, so wenig durch sie wie durch ihre Antipoden eine Auferstehung zu erwarten hat; mit ihm bejaht er, ganz im Gegensatz zu ihnen und den andern Spießbürgern, jene weibliche Prostitutionsfähigkeit, bis zu deren sozialer Ächtung sie glücklich fortgeschritten sind. Er würde aber um keinen Preis der Welt ihr geistige Reize darbieten, von denen der Genießer früher als er weiß, dass sie zu »haben« sein werden. (Prostitution hier nicht als Begriff der Käuflichkeit, sondern der Verfügbarkeit gefasst.) Mit etwas, wofür er nicht zu »haben« ist, tritt  er auf Wunsch des Kunden nicht in Erscheinung! Er zieht es sogar vor, mit der Abweisung dieses Wunsches einen andern zu betrauen. Er hat eingewilligt, dass uns seine Geduld reiße.
Und zwar gegenüber dem Anspruch, der mit der Uhr in der Hand seine Fähigkeit überwacht, Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten, Einfälle zu haben und zu gestalten, zu schaudern oder zu spotten — Regungen, die doch im Nu ihre Kontrolle einbeziehen. Gegenüber dem Unterfangen, ihm, wenn ihm sein Widerwille, in dessen Tiefe er niemand Einblick schuldet, die Flucht aus der Zeitnahegelegt hat, schlechtgeschriebene Steckbriefe nachzusenden, als wäre die Flucht verdächtig und nicht die Zeit, die — nebst solchen Genossen! — sie verursacht hat. Beruf: Autor der »Letzten Tage der Menschheit«, besonderes Kennzeichen: »Mut«; und nun kann jede literarische Passkontrolle ihn dingfest machen. »Wer weiß etwas?« fragt im Briefkasten der anonyme Scherzbold, der an der Spitze des Blattes — Titel: »Wie sie uns fürchten« — verkündet, ein namentlich bezeichneter Proletarier sei mit 150 Exemplaren des Drecks über die Grenze gegangen und zu einer Zuchthausstrafe von 5 Jahren verurteilt worden:

Ruhm und Ehre den tapferen Kameraden, die für die Verbreitung der
Wahrheit selbstopfernd am Werk sind!

Wer etwas weiß? Der, der Rücksicht zu nehmen hat und, es ahnend, den armen Teufel an der Grenze zurückgehalten hätte, denn er weiß, dass an Prager Schreibtischen Schwachköpfe sitzen, die nicht einmal wissen, dass sie Lumpen sind. Bei aller Tauglichkeit zum Objekt Muss man ihnen selbst noch die Illusion nehmen, Stichwortbringer zu sein und die Antwort auf die Frage erzwungen zu haben, warum die Fackel nicht erscheint. Sie mögen die Adresse bilden, aber die Wohltat der Aufklärung verdanken sie doch anderen. Gerade solchen Lesern, denen für kein Briefpapier die Dummheit einfiele, die zu einem Druckpapier taugt. Da sich herausstellt, dass diese Gleichgestimmten zwar das nichtgesprochene Wort verstehen, aber den Zweifel der Phantasiearmut als Faktor mitleidig werten und den Zweifel der Frechheit für abweisungswürdig halten; dass sie vielleicht selbst — benommen von der Schwierigkeit, die zwischen den Neigungen des Gehirns und den Ansprüchen der Zeit eklatiert hat — ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Lage aus ihr nicht herausfinden, oder doch meinen, andere, die guten Glaubens sind, würden aus ihr nicht herausfinden; da sich vor allem herausstellt, dass sie, zwischen den Belangen der Geistigkeit und denen der Wirklichkeit zwar unterscheidend, dennoch die unmittelbare Befassung mit Werten scheuen, deren Erlebnis Trost, deren Erkenntnis Protest wäre — so haben wir, der Verlag der Fackel, uns entschlossen, demjenigen das  Heft aus der Hand zu nehmen, der sich so lange bedenkt, es herauszugeben, und der nun einmal zu einem Satz so viel Zeit braucht wie andere (und er selbst) zu einem Buch.

Wir sprechen in Vertretung eines Autors, dessen Meinung wir zu kennen glauben und dessen Stil wir uns durch langjährigen Vertrieb der Fackel mindestens so gut angeeignet haben,  wie durch deren Lektüre die Polemiker, die heute nicht nur seinen Mut besitzen, sondern auch wegen seiner Zurückhaltung frech werden. So leicht wie diesen würde es uns natürlich nicht gelingen, die Expedition einer Meinung vorzunehmen, die jener nun einmal nicht äußert. Umso schwerer, an seiner Stelle die Begründung für sein »Versagen« (transitiv und  intransitiv) zu finden, weil sie ja doch — wie sagen wir’s nur — das Sagen einbedingt. Aber hier ist, wenn schon keine geistige Notwendigkeit, so doch eine geistige Möglichkeit gegeben,  die gewünschte stoffliche Konfrontierung herbeizuführen. Und zwar mit aller sittlichen Förderung durch eine Selbstzensur, während dem unmittelbaren Sagen doch nur jene  Schrankenlosigkeit ziemte, die — solange das Thema lebt und der Polemiker zu leben wünscht, ja vielleicht bei Lebzeiten von Lesern — der gänzlichen »Selbstkonfiskation« zu weichen hat. Großmann, alte Liebe, die nicht rostet, hat es erraten, und weit gebracht der Herausgeber der Fackel, welcher von ihm — der nicht ahnen mag, wie viele anständige Juden seinem Pressewalten zum Opfer fielen — auf einer Regung des Schwachmuts, gleichsam in flagranti der Unterlassung, ertappt werden muss. (Beneidenswert aber jene ingeniöse Erfinderin des  »Mausi« — an dem wie an der »Journaille« die Fackel nur das Verdienst der Verbreitung hat —, wenn ihr das ausgewachsenste Exemplar unterkommt und sie es auch bei einem  Monolog belauschen kann:

.. und ich murmele zuweilen die Verse des größten deutschen Emigranten vor mich hin:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Bin ich um meinen Schlaf gebracht.

Zum Glück habe ich den Boden Österreichs nie ganz unter meinen Füßen verloren ….

Auch der Boden weiß es sich zu schätzen, denn Großmann ist eigentlich Heimkehrer, während echte Emigranten uns versichern, dass sie die Schlaflosigkeit, die ihnen der Gedanke an Deutschland verursacht, durch Lektüre der Artikel überwinden konnten, die Großmann über ihre Lage veröffentlicht hat.) Der Herausgeber der Fackel, der sich ja alles selbst  zuzuschreiben hat, darf sich nicht wundern, dass jetzt vieles, was da sonst vor ihm kreucht oder fleucht, standhaft wird und am Ende noch Haas und Swinegl zu kontrollieren anfangen,  wie er ans Ziel kommt.

Die Gestaltung, zu der wir uns da vorwagen — und im Grunde schon das Wesentliche beigetragen haben —, gewinnt dem Hindernis allen Reiz ab und verdankt selbst der Unlust, die das Gebot des Lesers erzeugt, jenen Anstoß, der in Bewegung setzt. Sie erscheint etwa als Motivenbericht zu dem Diktum des Komikers Valentin, dessen gedankliche Elision immer die  Ausfüllung der Zeitlogik bedeutet: »Ich sag gar nix. Das wird man doch noch sagen dürfen«. Hauptsächlich kommt aber der Widerstand als Anreiz zur Geltung, alles zu sagen, was gegen  das letzte polemische Objekt zu sagen ist, das die Zeit gewährt: gegen eine Anhängerschaft, die sich lange genug als das aliquid bewährt hat, das semper haeret, aber nun endlich doch  erkennen dürfte, dass die Freiheit, die sie meint, nicht so sehr die ihre ist, als die von ihr. Gegen den fordernden und enttäuschten Unverstand, der außerhalb der Wirklichkeit und darum nicht über sie hinaus denkt. Wurde der angebornen Farbe der Entschließung (die man wohl nicht von seinen Kopisten borgen Muss) die Blässe des Gedankens angekränkelt, so war es  doch einer, den sie bisher noch nicht gestohlen haben: dass die Tat des Wortes ungemäß, weil unwirksam ist, und nicht verlockend, weil von Zuschauern gewünscht. Blieb sie eher wegen  des Wunsches ungeschehen, als dass sie auf Wunsch geschehen könnte — so wird nun das »Versagen« (im Doppelsinn) zum Antrieb und zum Ausdruck. Die Materialverarbeitung ist hier  ein Spiel neben dem Zwang, den, täglich wechselnd, das große Panorama brachte; die Erfassung und Verknüpfung der gedanklichen Motive schwieriger und darum reizvoller. Nicht  mehr »Stellung zu nehmen« gilt es, sondern Klarstellung: welches Minus an Vorstellung dem Verlangen zugrundeliegt, und wie kongruent vom geistigen Punkt her alle Beschaffenheit  papiernen Denkens wird, der sowohl das Übel erwuchs wie der Wunsch, dass das Wort von ihm erlöse. Als hätte es die Macht, die wir Gott und der Natur zutrauen wollen, oder die jener  Gegengewalt, die wir uns nicht vorzustellen wagen und die — unsägliches Dilemma — wissend, dass ihr Heilmittel verderblicher sei als die Krankheit, sich bis zur Selbstvernichtung den  Gebrauch versagt.

So sei denn die Forderung, die von kühnen Lesern gestellt wird, zwar nicht mehr mit Schweigen und dem Ausdruck des Schweigens beantwortet, sondern mit der ausdrücklichen  Weigerung:  Erscheinungen, die durch eine exorbitante Mischung von Blut und Boden, Persönlichkeit und Volkstümlichkeit dem Menschenmaß und menschlichem Urteil entrückt sind,  Männern wie Hitler, Göring und Göbbels mit Geist, Mut, beziehungsweise Wahrheitsliebe entgegenzutreten. Wir sind, ganz im Sinne unseres Herausgebers, überzeugt, dass die Entfaltung  dieser Eigenschaften, die ihm bisher einigen Ruf und große Unbeliebtheit errungen haben, dem Begriff des Ereignisses nicht gemäß wäre — weder für die Aussicht im sogenannten »Kampf«, den starkmutige, aber schwachsinnige Anhänger fordern, noch zur Selbsterhaltung, deren Notwendigkeit sie vielleicht einsehen: indem ein solcher Versuch der Bewährung,  wenn er geistig überhaupt möglich wäre, weder hinreichenden Schutz des Kämpfers ermöglichte, noch, worauf es doch gewiss ankommen soll, Hilfe für die Bedrohten; im Gegenteil eher Vermehrung aller einschlägigen Gefahr. Das Wesentliche der Begebenheit erschöpft sich ja geradezu in dem Zwang, den sie dem Betrachter auferlegt; und eigentlich bleibt kein anderer  Weg, ihre akute Wirksamkeit einzudämmen, als der der geistigen Entfernung: um nur ja nicht an den Zufall zu stoßen, der als der wahre Führer im Chaos über Geister und Leiber raubvogelartig plant und richtet. Da hat die Phantasie des Menschenfreundes es mit der des Erpressers aufzunehmen und tatsächlich eine »Rücksicht« zu entwickeln, die etwa uns, als Vertriebsstelle der Fackel, eben alles vermeiden und versagen lässt, was den (ahnungslosen und ausgesetzten) deutschen Leser zum Merkziel der Betrachtung machen könnte. Schon dass hier ein Verlust — zunächst freiwillig — bewirkt ist, der das Dasein einer Zeitschrift verlagsmäßig gefährdet, stellt sich der Reklamierende nicht vor, und der radikale Lump ahnt nichts  von dem radikalen Unterschied zwischen ihm — aus dessen »Kampf« sich die Vorstellung, die er selbst nicht hat: von Geisel und Geißel, zu furchtbarer Fernwirkung verwirklicht — und dem Autor der Letzten Tage der Menschheit, der zwar Mut genug hatte, sich der legitimen Gefahr der Kriegsgewalt zu stellen, aber zu feige ist, den andern, den Unschuldigen, den  Unbekannten dem nämlichen Grauen auszuliefern, dessen Gestaltung er ihm vorerst zur Lektüre überlässt. Was ist denn der Gräuel größtes: eine Menschheit, die sie begeht; eine, die sie  nicht glaubt, weil sie sie nicht sieht; oder eine, die sie nur glaubt, während sie sie meldet, und der Konsequenz ihrer Vermehrung geistig nicht gewachsen ist? Sonst könnte sie dem Blut, das aus Papier aufbrach, nicht mit eben diesem zu imponieren glauben. Sonst würde sie sich mit der nützlichen und unerlässlichen Funktion, Tatsachen zu sammeln, begnügen, nicht  aber gegen Tod und Teufel unzulänglich polemisieren und dem, der seinem Vorrang nicht Wert noch Wirkung zuschreibt, nicht mit einer durch keine Katastrophe zu erschütternden Frechheit und Flachheit begegnen. Sonst würde sie verstehen, dass sein Rückzug moralische und gedankliche Motive hat, die nicht hinter, sondern über ihrer dürftigen Front walten; dass  er vermeintliche Mitkämpfer, der zwar nicht »beim Heraufziehen des Gewitters Offenbachlibrettos vorgelesen« hat, der Zeit seine tiefere Verachtung bewiese, wenn er mitten drin  ihren Stoff im Hohn einer Geniemusik auflöste, als wenn er in diesem grässlichen Dschungel von Pressalien und Repressalien, an der überwältigenden Unmittelbarkeit des heillosesten  Stoffes die Sprache ihre Ohnmacht erleiden lässt. Dass er, dem das Wort entschlief, bis dahin und dann noch im Traum mehr Einfälle zur täglichen Wirklichkeit hatte, als alle Marodeure ihm in dieser Lage stehlen könnten, dürfte doch wohl glaubhaft sein. Aber so hart die Vorenthaltung des Gedruckten sein mag und so unerwünscht der Zwang, zur Aktualität nur alte Wendungen der Fackel und eben jener Letzten Tage der Menschheit zu gebrauchen, deren pazifistisches Arsenal bald ausgeplündert sein wird — der Entschluss zu schweigen ist unumstößlich: sofern er den Verzicht auf den »Frontalangriff« Schulter an Schulter mit jenen bedeutet, deren Mut in der Unverantwortlichkeit besteht. Er entspricht der Erkenntnis,  dass ein Werk unmöglich wäre, das ihrer Forderung genügte, weil es bloß besser sein könnte als alles, was sie selbst leisten und was — Ehre dem Ehre gebührt — um des Minus willen wirksamer ist. Die ermüdende Dummheit eines Postulats, das gleichermaßen von der Unterschätzung des Übels wie von der Überschätzung des Polemikers eingegeben ist, kommt sich  besonders zugkräftig vor, wenn sie die »Haltung von heute« zu der Mutentfaltung von dazumal kontrastiert, und fast würde es ihr gelingen, dem Leser, den man leicht so blöd machen  kann, wie der Schreiber schon ist, mangels jeder andern Vorstellung zu der Illusion zu verhelfen, dass der Autor der Letzten Tage der Menschheit einen Sturmangriff gegen Armeen  unternommen habe, während er in Wahrheit bloß mit Zensoren zu ringen hatte, die nicht nur im Vergleich mit den Geisteswächtern des Dritten Reichs, sondern auch mit den Freiheitlern, die ein Nichterscheinen unterdrücken wollen, Kulturmenschen waren. Sie waren nicht ganz ohne Verständnis für die geistige Muthandlung, für das Verdienst, das darin bestand, dass einer als erster und allein gegen den Feind Vaterland kämpfte — denn erst jetzt führt es den »heiligen Verteidigungskrieg«! — und vor allem gegen eine Armee von Kriegsbarden, die später Revolutionäre wurden und ihn  heute in die Front gegen ein Unheil optieren oder pressen möchten, das, jedenfalls als Kampfthema, mit dem damaligen gar  nicht zu vergleichen ist; an dessen Einbruch sie mitschuldig sind und das mit dem Wort zu besiegen höchstens der Phantasie des Hohlkopfs gelingen könnte. Der Krieg gegen den  Kriegsgeist war ein Kinderspiel, verglichen mit der Aktion gegen ein Wesen, das, wäre es selbst nicht mit solcher Fragwürdigkeit einer Kampfgenossenschaft verbunden, in seiner  totalen oder totalitären Einfalt hundertmal abgründiger ist als alles, was zwischen Wahnschaffes und Schwarz-Gelbers sich damals angeknüpft hat, um heute aufzubrechen.

Nichts bleibt von dem Unsäglichen, als es nicht zu sagen und höchstens, wenn es gelänge: dies zu sagen. Das ist viel. Denn nichts gibt es, was im Umkreis des Primitiven — das Leben ist  auf die Formel seiner Rettung gebracht — nicht problematisch geworden wäre, und so einfach wie es sich die Gegentröpfe vorstellen, ist nicht einmal ihr Fall selbst. So mag, was sich  hier mit gebührendem Respekt vor einem Naturereignis indirekt ausspricht, gleich auch durch die mittelbare Form zu denken geben, deren Wahl zu weltgeschichtlichem Anlass und für  weltanschauliche Dinge die Vorstellung des Kämpfers vorweg ernüchtern soll, der sein notorisches Ich zurückzieht und hinter dem bequemen Wir verbirgt, welches aber nicht die Majestät der öffentlichen Meinung, sondern nur den Verlag der Fackel vorstellt. Denn ihr Herausgeber hat, da ihm die Weltgeschichte zu dumm wurde — wie der Wunsch, sie zu  meistern —, es einfach uns überlassen, mit den gesinnungsmäßigen Ansprüchen einer Zeit fertig zu werden, die sich noch immer nicht als Frist erkennen will; mit dem Plunder einer  Freiheit, durch deren Gunst das Leben so wohlfeil wurde wie das Denken. Unsere Aufgabe ist umso schwerer, als sie dem Wesen einer Administration widerstrebt, und nur weil diese  wegen des Nichterscheinens der Fackel unbeschäftigt ist, konnten wir jene übernehmen. Der Autor will sie besorgt haben, bevor er sich seiner Passion zuwendet, das zu tun, wovon  andere durch andere Sorgen abgelenkt sind: im Spiegel der Sprache zu fechten; in ihm die Schuldigen zu erkennen, an der Missform und dem Verrat der Schöpfung, der sie verrät, in  einem Abbild der Untergründe, worin Rechts und Links sich nicht mehr sondern. Denn wenn dem Ereignis überhaupt ein Sinn innewohnt, so ist es, meint er, nicht der der Hoffnung, dass  auf der tabula rasa die neue Schrift erstehe. Nur der: Vorwort zum Nichts zu sein, welchem ein Geisteswesen zustrebt, das sich mit unreiner Intelligenz eingelassen hat. Kein unreiner Tor wird es erretten — meint er —, der mit ihren eigensten Mitteln von Technik und Tinte zur Herrschaft kam. Was immer für Ideale den Lebensgeschäften da und dort vorgewandt sein mögen, vom Humanitären bis zum Heroischen, von der Freiheit des Büros der zweiten Internationale bis zu einem Nationsbegriff, mit dem man im Käfig das Hirn des Kanarienvogels  füttern könnte — es wird letzten Endes (bis dieses eintritt) darauf ankommen, auf der Flucht aus der Zeit den Steckbrief gegen die Verfolger zu erlassen, den die Sprache selbst diktiert  und der ihnen darum unverständlich bleibt. Denn solange die ultima ratio des Teufels, die Natur zu vergiften, noch abwendbar ist, hat das Denken nicht aufgehört; nur soweit es den  Teufel selbst betrifft, meint er. Wenn auf dem Fußbreit Leben, zwischen Phrasen und Gasen, statt des freien Entschlusses zur Selbstverblödung noch etwas satirische Laune Spielraum  hat, so möchte sie sich wohl gleichermaßen dem Phänomen hingeben, wie die geschlagene Freiheit den Verlust der Freiheit ertrug, und die sieghafte Nation das Opfer der Sprache. Er weiß nicht, ob dies und das zu den kleinen Themen gehört, die der Fackel ihr Lebtag zum Vorwurf gereicht haben und zu denen die Erwartung kontrastiert, deren Schmeichelgift sie nun widersteht. Was immer aber an diesem Punkte der Entwicklung geleistet werden kann, wird den Ansprüchen gegenüber, die so späte Überschätzung behauptet, als der Entschluss  wirken, beim Weltuntergang zu privatisieren. Und doch bleibt es ein Gegenstand, noch späterer Schätzung vorbehalten: der große Vorwurf, der der Zeit zu machen war und den sie sich durch leidenschaftliche Gewöhnung an die Presse wie kraft gänzlicher Unwirksamkeit der Fackel verdient hat.

Das alles verstehen Sie natürlich nicht, und auch nicht, wenn es Ihnen einfach damit erklärt würde, dass Gewalt kein Objekt der Polemik, Irrsinn kein Gegenstand der Satire sei und dass  Ihr Zeitkämpfer, den Sie sich ganz anders vorgestellt haben und der nun vor der Beweiskraft der Bombe resigniert, bloß noch gegenüber einem Missvergnügen Anhang Mut gewinnt,  indem er Satire gegen Dummheit und Polemik gegen Frechheit aufbietet, und selbst dies nicht von Mann zu Mann. Dies wäre ja schon darum schwierig, weil die Widersacher, die das  Mutproblem aufrollen, unter Spitznamen wirken — wobei sie sich vielleicht auf den Sinn eines »nom de guerre« berufen können —, wie zum Beispiel jener »Arnold«, der sichtlich von  einem Winkelried zurückgeblieben ist, so dass die Gasse der Freiheit schon etwas Anrüchiges bekam; und der im gerichtlichen Ernstfall sich von einer verantwortlichen Dame vertreten  ließ. Was hätte unsereins auf solcher Barrikade, die zur Not als Verkehrshindernis in Betracht kommt, zu suchen? Doch vor allem trägt man ja, zaghaft wie man ist, Bedenken, sich  persönlich auf ein Niveau der Debatte zu begeben, auf dem so ein er, sie oder es sich bewegt, ja man verleugnet überhaupt nicht einen gewissen Widerwillen vor der Nötigung einer  Rechenschaft in geistigen und zugleich so persönlichen Dingen, vor der Zumutung, das Einmaleins mit einer Zeit- und Raumgenossenschaft abzuhandeln, die man doch lieber noch für  die Vergangenheit kündigen als für die Gegenwart beziehen möchte. Der »ehemalige Redakteur der Fackel« kann sich zwar nie hinter ein Pseudonym zurückziehen, wohl aber hinter den Paravent, der ihm seit jeher eine starke satirische Aktivität ermöglicht hat, die er bei solcher Gelegenheit und gegen solchen Partner sonst nicht aufbrächte. Er kommt sich, wenn er so  den Geschäftsträger vorschiebt, wie jene »Frau von Schimmerglanz« bei Nestroy vor, die auf die Frage des Holzhackers: »Gehn Euer Gnaden vielleicht um a Holz?« die Antwort erteilen läßt: »Sage er ihm: Nein!«. (»Nein, wir nehmen’s vom Greisler«, versetzt der Bediente mit  analoger Herablassung, und damit ist die Sache erledigt, nur dass wir es noch ausführlich begründen.) Gewiss, groß ist die Enttäuschung, dass die Sprache, die einer nach alter Überlieferung und Anerkennung durch Analphabeten »beherrscht« (weshalb er geschwind ausdrücken soll, was sie sich denken), kein Bollwerk mehr sei, sondern bloß ein Asyl. Es stellt  ich heraus, dass sie die »Abenteuer der Arbeit« für Zeitvertreib gehalten haben und deren Opfer für einen Journalisten. Doch können wir ihnen (Ihnen) versichern, dass »in  sprachzerfallnen Zeiten im sichern Satzbau wohnen« auch keine Zuflucht mehr gewährt, seit eben dort die Schlieferl eingezogen sind und sich als Aftermieter selbständig gemacht  haben — davon zu schweigen, dass sie noch dann das »Wort« reklamieren, um es zu verhunzen.

Und man soll ihnen zusammenfassend das sagen, was sie einem inzwischen vorabgeschrieben haben. Daraus wird nichts! Ja bei allem Vorrat zeitgemäßer und zeitgegnerischer  Gedanken, mit dem eine Generation von Dieben zu versorgen wäre, reichte die psychische Lust nicht einmal zur Absage — wenn es nicht noch im Untergang Normen und Formen gäbe.  Staunen Sie nur über den heitern Hochmut, mit dem einer selbst in dieses Stadium der Entwicklung die Ironie der Distanz einlässt. Hinreichend verdächtig durch den Umstand, dass er  dem Scheiterhaufen entgangen ist — wiewohl es gewiss manches für sich hat, nicht mit Tucholsky verbrannt zu werden —, lässt er den Inquisitoren der Freiheit durch den Verlag der Fackel bekennen, dass er auch anders kann, als sie möchten. Das Moment der Stellvertretung — wie immer es zu deuten wäre, das heißt: wer hier wessen Stelle vertritt —, es entspricht  ganz dem polemischen Maß, das uns der Herausgeber der Fackel stets auferlegt hat, sooft er es sich aufzuerlegen wünschte und sobald ihm das Objekt die Vorsicht empfahl, sich hinter  uns zu verschanzen. Er ist trotz seinem Renommee eines Angreifers weder in der Lage, es mit dem ‚Angriff‘ noch mit dem ‚Gegenangriff‘ persönlich aufzunehmen. Immer, wenn ihm  etwas zu dumm wird, schiebt er uns vor und überlässt uns so den Stolz, auf eine Sammlung von Satiren zurückzublicken, die er neidlos für ungleich wertvoller hält als alles, was er in der  Ich-Form geschrieben hat, in der er sich überhaupt nicht so wohl fühlt wie diejenigen vermuten, die auf seine Eitelkeit bauen. Mit weit mehr Recht könnten sie ihn, der so sein Ich versteckt, für feige halten, für gleißnerisch, tückisch oder auch kindisch, weil er zwar selbst in dieser Form von sich spricht, aber per »er«. Dieser ungünstige Eindruck wird jedoch  durch unsere beglaubigte Unterschrift ein wenig verwischt, und auch was den Inhalt betrifft übernehmen wir die volle Verantwortung, die er trägt. Indem die Trennung der Ressorts bei der Fackel (welche so lange schon a non lucendo so heißt) ganz anders durchgeführt ist als bei anderen Druckschriften, mögen Sie überzeugt sein, dass wir, die im Besitze jedes  Redaktionsgeheimnisses sind — während der Herausgeber noch niemals in unsere Administration Einblick genommen hat —, alles sagen können, was wir über seine Beweggründe  wissen. Wir hoffen es so zu sagen, dass Sie am Ende schwören werden, dieses Schreiben sei in Vertretung des Verlags der Fackel von deren Herausgeber verfasst. War es nicht bisher  schon unverständlich genug? Wir können aber auch plaudern, und ausplaudern, dass schon so mancher Zusender an dieser Art der Abweisung Ärgernis genommen hat, ja einmal hat einer sogar gefunden, dass sie seiner geraden Natur widerstrebe, nach der er gewohnt sei, jedem ins Auge zu schauen — gewiss ein Vorzug vor dem Herausgeber der Fackel, der zwar vor  tausenden kein Lampenfieber kennt, aber immer noch verzagt wurde, sobald er einem einzigen Shakespeareübersetzer ins Auge schauen sollte. Außerdem wäre zu bedenken, dass es  manch ein Inkognito gibt, das selbst nach erfolgter Lüftung ein solches bliebe, während dem Autor der Fackel keine »Tarnung« hilft. Ferner wäre der Vorsprung kaum zu übersehen,  den mancher Kämpfer schon vermöge seiner Nase hat, die ihn geradezu zwingt, mit offenem Visier zu kämpfen. Der Herausgeber der Fackel, als Haudegen überwertet, verschmäht  solches gerade in Fällen, wo er der üblen Nachrede, ihm fehle es gegenüber der akuten Gefahr an Mut, satirisch entgegenkommen will, indem er darin ein Motiv der künstlerischen  Gestaltung erblickt. Denn nichts geht ihm über diese und indem er noch auf der Flucht um sie besorgt ist, ist ihm tatsächlich selbst ein Komma wichtiger als der »Kampf«, ja als die  Ehrensache einer Stellung zum »Mutproblem«, dem er keineswegs ausweichen, aber sowohl das Rauhe wie insbesondere das Heikle nehmen möchte, welches doch immer der  Diskussion anhaftet, wenn man persönlich darüber aussagen soll, ob man ein Feigling ist oder nicht. Warum sollte da nicht der schon so oft ins geistige Vordertreffen gesandte Verlag der Fackel eingreifen, der den Fall doch kennt; der die Frage: »Wann erscheint —?« unmittelbar empfängt; und dessen Intervention in allen Lagen nun einmal als ein Genre beglaubigt  ist, mit dem sich die künftige Literaturforschung, falls es eine geben sollte, wird befassen müssen und worin auch für den Kulturforscher die vorzügliche Hochachtung zum Ausdruck  kommen wird, die dem angebrochenen Jahrhundert gebührt hat, mit welchem man sonst nichts anzufangen wüsste. Schließlich, ja letzten Endes wird sich in dieser Abschiedsformel das  Bestreben nach äußerster Verfeinerung einer Verkehrsform ausgesprochen haben, die bei der Nation im Schwange war und deren Ausdruck ihr — im Gegensatz zum »Lebt wohl!«  (Iphigenie) — als die einzige Willenserklärung ihres größten Dichters vorgeschwebt hat, die übrigens auch nicht direkt, sondern durch eine Mittelsperson bestellt wird. Selbst nun auf die Gefahr hin, dass Sie, sehr geehrter Herr, an solcher Beziehung Anstoß nehmen könnten, welche keineswegs eine persönliche Spitze hat, kann der Satiriker — dem es ja von der Natur  noch weit mehr gegeben ist, über die Dummheit zu lachen, als die Schlechtigkeit anzuklagen — doch nicht umhin, auch diesmal, wo es nicht die Kalamität einer ‚Literarischen Welt‘,  sondern die Katastrophe der Welt betrifft und der Adressat in der Gasse der Freiheit wohnt, zwischen ihn und sich unsere Firma einzuschieben, da es sich ihm in dieser Form leichter  konversiert und umso mehr, als er stumm zu bleiben wünscht. Es ist ein Spiel der Einkreisung des Gegners und seiner ganzen Sphäre, das der direkten Aussprache, die immer etwas Brutales hat, vorzuziehen ist und schon von Eduard VII. gegenüber den Mittelmächten angewandt wurde. Es ist — bis man sich wieder mit Kleinigkeiten wie Shakespeare, Einfassung des
deutschen Verses in die Offenbach’sche Musik und so Dingen der Sprache abgeben kann — eine Art, um die Winkelriedforderung (Arnold) herumzukommen und vor den Spießruten der  Dummheit zu lustwandeln.

Aber wenn man sonst gern in kleinem Druck beigab — der als solcher schon die Lust nährt, mit der Welt Verstecken zu spielen (es ist noch nicht aller Glossen Abend!) —, so muss doch diesmal, wo Schweigen wieder einer großen Zeit antwortet, auch dem Auge gedient sein. Wir wären ja keineswegs so unbescheiden, den »Kampf« als solchen für den Herausgeber der  Fackel zu übernehmen, wiewohl er sich schon durch dieses Wort außer Gefecht gesetzt fühlt. Wir wollen Ihnen nicht einmal die entmutigende Wirkung beschreiben, die jener »Kampf«  auf ihn hervorgebracht hat, der seit dem Weltkriegssterben, durch die sogenannte Revolution hindurch, und besonders seit der endgültigen Niederlage, von der freiheitlichen Publizistik geführt wird, indem zwar der Wilde schon an den Mauern tobt, aber der Dumme noch in den Redaktionen. Wir können Ihnen höchstens verraten, dass ihm nicht nur die  Vergeudung von Papier, die solcher Zeitvertreib erfordert, sondern insbesondere die Vorstellung dessen, was mangels eben dieser von ihm selbst verlangt wird — denn er soll »vorkämpfen« —, beinahe das schwere Magenleiden zugezogen hätte, das vielfach als Erklärung seiner Passivität angenommen wird, weil man sich das Rätsel ja sonst gar nicht erklären  könnte. Diese wohlwollende Deutung — denn dass er vor akustischen Gespenstern davonlief, würde niemand glauben — musste schließlich oder letzten Endes zu Gerüchten führen, auf  Grund deren die Presse in aufopfernder Erfüllung ihrer traurigen Berufspflicht sich entschloss, Personen, die dem Verschollenen nahestehen und bei denen offenbar Details zu haben  waren, mit der telefonischen Erforschung seines Ablebens aus dem Schlaf zu wecken, was gewiss nicht geschehen wäre, wenn man bloß plötzlich eingetretene Feigheit als Ursache des  Verstummens vermutet hätte. Das begann in einer Nacht von Sonn- auf Montag, »in solcher Nacht«, wo der Chroniqueur auf Ehebrüche, Attentate, Lustmorde an Mitgeboten,  Zwietracht in Staat und Familie lauert und zur Not mit dem Hingang eines stadtbekannten Satirikers vorlieb nähme, der sich ausgeschrieben hat. Der Verstorbene selbst wurde aus Furcht vor einem Lebenszeichen nicht geweckt; bloß sein Hausbesorger, der aber nicht informiert und mit Recht grob war.

Doch selbst wenn der Optimismus der Presse durch den Fall Nahrung fände, für den sie bereit ist, ihr Totschweigen zu brechen, würde der Herausgeber der Fackel uns nicht letztwillig mit seiner Stellung zu Göring belasten, die so lebhaft, und vielleicht gerade von seinen Todfeinden, begehrt wird, und von der wir nur sagen können, dass er sie lieber als  Redaktionsgeheimnis mitnähme in das Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, ehe er einen Leser verleiten wollte, sie dorthin zu bringen, wo es gleichfalls passieren kann. Die  Sehnsucht nach dem kräftigeren Ausdruck dessen, was jeder und vermutlich Göring selbst schon weiß, ist auf jenen schmeichelhaften Drang zurückzuführen, der nun einmal der lokalen Menschennatur innewohnt, welche sich nur schwer die Gefahren der Nachbarschaft vorstellt, nicht glaubt, was sie nicht vor Augen hat, und selbst wenn sie’s sähe, wahrscheinlich dächte, es werde schon nicht so arg sein. Das ist nun einmal die Spielart, die sich einzelweis für die Ausnahme und vom Zufall protegiert hält; sie will zugleich hören und sich die Ohren zuhalten; in dem Staatsmann, der ausnahmsweise tut, was andere mit dem Maul besorgen, erkennt sie nicht den Lebensretter, sondern den Feind der Redefreiheit, und zum Weltuntergang, wiewohl er in der Fackel sattsam erörtert war, braucht sie halt deren Erscheinen. Es ist ein  Interesse, von dem kaum verwunderlich wäre, dass es jene Eitelkeit genährt hätte, die dieselbe Kundschaft noch lieber in Erscheinung treten sieht; das aber in Wahrheit überhaupt  nichts nährt als Grausen und die Erkenntnis eben der Phantasiearmut, die dem Verderben die Bahn gebrochen hat und den Zug des Unheils beschleunigt. Wie sollte denn, wenn das  Objekt schon den »Kampf« ermöglichte, der Anreiz entstehen, sich als Kämpfer für ein Milieu zu opfern, das alle Sorge und Sachlichkeit herabsetzt, »Mut«, der im Staatsleben am Platz ist und so sichtbar wird, dass die Maultrommler endlich verstummen müssten, verkleinert und dem Todfeind mit der Erwartung entgegentritt, er werde auf Gallert beißen! Zum großen Thema des Aufbruchs der Hölle versagt mit leidenschaftlicher Feigheit der, dessen Werk vergebens getan war: den Teufel an die Wand zu malen.

Ende Seite 33. Fortsetzung folgt.

 


Strophen zur Zeit. Was ist das für ein Tier, die Gier? Von Wilfried Schmickler

21. November 2011 | Kategorie: Strophen zur Zeit, Verdichtetes, Wilfried Schmickler, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

In der Rubrik Strophen zur Zeit werden Gedichte veröffentlicht.                     Das erste stammt von dem Kabarettisten und wie  man sehen wird               Dichter   Wilfried Schmickler  geb. 28. November 1954


Was ist das für ein Tier, die Gier?


Was ist das für ein Tier, die Gier?

Es frisst an mir,

Es frisst in dir,

Will mehr und mehr

Und frisst uns leer.

 

Wo kommt das her,

Das Tier, und wer

Erschuf sie nur,

Die Kreatur?

 

Wo ist das finstre Höllenloch,

Aus dem die Teufelsbestie kroch,

Die sich allein dadurch vermehrt,

Indem sie dich und mich verzehrt?

 

Und wann fängt dieses Elend an,

Dass man genug nicht kriegen kann

Und plötzlich einfach so vergisst,

Dass man doch längst gesättigt ist

Und weiter frisst und frisst und frisst?

 

Und trifft dann so nein Nimmersatt

Auf jemanden, der etwas hat,

Was er nicht hat und gar nicht braucht,

Dann will er’s auch.

 

Wie? Das soll’s schon gewesen sein?

Nein, einer geht bestimmt noch rein!

Und überhaupt – da ist doch wer,

Der frisst tatsächlich noch viel mehr.

Und plötzlich sind sie dann zu zweit:

Die Gier und ihre Brut der Neid.

 

Das bringt mich noch einmal ins Grab,

Dass der was hat, das ich nicht hab,

Dass der wo ist, wo ich nicht bin,

Das will ich auch, da muss ich hin!

 

Warum denn der?

Warum nicht ich?

Was der für sich,

Will ich für mich!

 

Der lebt in Saus

Und lebt in Braus

Mit Frau und Hund und Geld und Haus

Und hängt den coolen Großkotz raus.

 

Wahrscheinlich alles auf Kredit,

Und unsereiner kommt nicht mit.

Der protzt und prahlt

Und strotzt und strahlt.

Wie der schon geht.

Wie der schon steht.

Wie der sich um sich selber dreht.

 

Und wie der aus dem Auto steigt

Und aller Welt den Hintern zeigt.

 

Blasierte Sau!

Und seine Frau

Ist ganz genau

So arrogant

Und degoutant!

 

Und diese Blagen,

Die es wagen

Die Nasen so unendlich hoch zu tragen!

 

Dann hört er aber auf, der Spaß! –

So kommt zu Neid und Gier der Hass.

 

Und sind die erst einmal zu dritt,

Fehlt nur noch ein ganz kleiner Schritt,

Bis dass der Mensch komplett verroht

Und schlägt den anderen halbtot.

 

Und wenn ihr fragt:

 

Wer hat ihn bloß so weit gebracht?

Das hat allein die Gier gemacht!

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Es gibt den Text in einem Buch: Wilfried Schmickler „Es war nicht alles schlecht“   erschienen bei WortArt

Oder gesprochen auf CD: Wilfried Schmickler „Weiter“ ebenfalls erschienen bei WortArt